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Ein Young-Adult-Roman über Freundschaft, die Suche nach sich selbst und einen mysteriösen Lost Place voller Geheimnisse … Ich bin ein Blobfisch. Was zum Teufel ein Blobfisch sein soll? Genau das ist der Punkt. Felix ist 16 Jahre alt, vernünftig, kontrolliert, immer perfekt. Eine alte Seele, wie die Erwachsenen sagen. Doch davon hat er jetzt genug. Er will nicht länger den Aufpasser für seine kleine Schwester spielen und endlich mal Zeit für sich haben, vielleicht sogar Freunde finden. Aber so richtig aus seiner Haut kann er nicht. Eines Tages lernt er in einer verkommenen, verlassenen Villa die mysteriöse Lina kennen. Eine Hexe, wie sie sich selbst nennt, die sich vor nichts und niemandem zu fürchten scheint. Die beiden sind wie Feuer und Wasser, könnten unterschiedlicher kaum sein, und doch wird der Lost Place immer wieder ihr gemeinsamer Treffpunkt. Aber irgendetwas scheint dort ganz und gar nicht zu stimmen. Spukt es hier etwa? Sie tun sich zusammen, um das Geheimnis des alten Hauses zu ergründen und Felix muss nicht nur lernen, was wahre Freundschaft bedeutet, sondern auch, endlich für sich selbst einzustehen.
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Seitenzahl: 303
Ein Hinweis zu Beginn
Vom Mut des ersten Fisches, der das Wasser verlässtist ein fiktives Werk, doch es behandelt Themen,die potenziell triggernd wirken können.
Eine Auflistung dieser Themen (Achtung, Spoiler!)sowie mögliche Hilfestellen findet ihr hinten im Buch.
Euer Magellan Verlag
Für alle Hexen und Landfische
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
KAPITEL 25
KAPITEL 26
KAPITEL 27
KAPITEL 28
KAPITEL 29
KAPITEL 30
KAPITEL 31
KAPITEL 32
KAPITEL 34
KAPITEL 35
EPILOG
DANK
LESEPROBE
KAPITEL 1
KAPITEL 2
»Zappel nicht«, sage ich und tauche meinen Finger in ein Töpfchen mit weißer Farbe, das ich gestern im 1-Euro-Shop gekauft habe.
Emma hält abrupt inne und kneift ihr kleines Gesicht so fest zusammen, als hätte sie in eine Zitrone gebissen.
Ich muss lachen. »Hast du Verstopfung? Du sollst nur stillhalten!«
Emma kichert. Sechsjährige kriegt man mit solchen Witzen. Einfach übers Kacken reden, schon bist du der Held. Ich schmiere die Theaterschminke über ihre Wangen, male mit Schwarz tiefe Augenringe und dann mit Weiß spitze Zähnchen.
»Ich brauche noch Blut!«, fordert Emma.
»Du brauchst Blut? Bist du jetzt wirklich ein Vampir geworden?«
»Nein, ich brauche noch Blut am Mund, Felix!«
»Jaja, okay, setz dich wieder hin.«
Als ich fertig bin, springt Emma auf, um sich im Spiegel zu betrachten. Sie trägt einen schwarzen Umhang mit Stehkragen, schwarze Leggins, ein rot gesprenkeltes Shirt und dreht sich im Kreis wie eine Prinzessin, die gerade begeistert von ihrer ersten Menschenjagd heimgekehrt ist.
»Das muss ich Papa zeigen!«, ruft sie, rennt in den Flur und schreit: »Papa?!«
»Emmi«, seufze ich. »Papa musste früher los. Ich bring dich heute zur Schule. Komm, zieh dich an, und lass die armen Nachbarn schlafen.«
Vor unserem Block stehen Kürbisse in einer Reihe und warten darauf, abends angezündet zu werden. Ihre Fratzen sehen so früh am Morgen nicht besonders gruselig aus, eher müde.
Ich schließe Papas Lastenrad ab, Emma klettert in die Box und wir fahren los. Heute ist Halloween, trotzdem sind die Straßen voll mit dem üblichen Pendlerverkehr. Keuchend trete ich in die Pedale. Ich schwöre, dieses Kind wächst so schnell, dass sie mir bald Konkurrenz macht. Mein Blick fällt auf meine langen Finger, die Brille rutscht über den dünnen Nasenhöcker und ich schiebe sie ungeduldig wieder hoch.
»Felix!«, quengelt Emma, als wir an einer Ampel halten, mitten in einem Pulk anderer Fahrradfahrer.
»Was?«, erwidere ich.
»Können wir hier Stopp machen?«
»Wieso? Was ist los?«
»Ich muss dir etwas zeigen!«
»Emmi, wir müssen zur Schule.«
»Bitte, ganz kurz nur!«
Schnaufend steige ich vom Rad ab und drängle mich auf den Gehweg durch. Ich weiß nicht, ob das Fahrrad heute schwerer ist als sonst oder ich einfach besonders schlapp bin.
»Na gut«, keuche ich. »Was willst du mir zeigen?«
»Das lebende Haus! Lenny hat gesagt, es steht beim Schwimmbad.«
»Das – was?«
»Hast du nichts davon gehört? Fee, hast du keine Freunde? Alle reden über das Haus.«
»Sag mal!«, antworte ich. »Ich habe Freunde. Und ich geh sowieso nicht gerne auf den Rummel.«
»Nein, es gehört nicht zum Rummel, es ist ein richtiges Haus, hier um die Ecke. Lenny hat gesagt, dass es zum Leben erwacht ist!«
»Na, wenn Lenny das sagt …«, beginne ich und will unser Fahrrad zurück zur Ampel lenken, doch Emma greift blitzschnell nach ihrem Gurt und schnallt sich ab. »Hey«, füge ich hinzu, »sitzen geblieben!«
»Können wir uns das Haus angucken gehen? Bitte? Nur ganz kurz.«
»Nein.«
»Wieso?«
»Weil wir zur Schule müssen.«
Diese Antwort ist kein valides Argument für Emma. Trotz meiner Widerworte klettert sie aus ihrer Holzbox und rennt einfach los.
»Was zum Teufel? Stopp!«
Emma ist schnell. In ein paar Sekunden hat sie den kleinen Platz an der Kreuzung überquert und biegt hinter der glatten, hohen Mauer des Schwimmbads ab. Ich eile ihr hinterher, das Rad hüpft polternd über schiefe Gehwegplatten.
»Emma?«, rufe ich.
Hinter dem Eingang ist nichts von ihr zu sehen. Der Verkehr der Bundesstraße dröhnt in meinen Ohren und mischt sich mit dem Kreischen und Zischen einer nahen Baustelle. Mist. Wir sind am Rand von Berlin – die Stadt übertönt mich mit Leichtigkeit. Langsam werde ich panisch. Was, wenn Emma auf die Straße rennt? Sobald sie richtig aufgeregt ist, guckt sie nie nach links und rechts. Ich versuche schon ewig, ihr das abzugewöhnen. In einer Kurzschlussentscheidung stoße ich das Rad in einen struppigen Busch und bete zu den Fahrradgöttern, dass es dort für fünf Minuten unbehelligt bleibt. Dann kämpfe ich mich durch ein Wirrwarr aus Bauzäunen.
»Emma?!«, rufe ich wieder.
»Hier!«, antwortet sie.
Erleichterung schwappt über mich, als ich einen kleinen Vampir finde, der neben einem abgesperrten Gehweg steht und auf die Fassade einer alten Villa deutet. Doch Emma ist so unbekümmert, dass meine Erleichterung zu Wut wird. »Du kannst nicht einfach wegrennen!«, blaffe ich. »Hier ist überall Verkehr! Willst du überfahren werden? Mann, reiß dich jetzt zusammen. Ich muss auch zur Schule.«
»Aber guck erst mal!«
»Nein, ich hab jetzt die Schnauze voll!«
»Aber guck doch!« Emma springt auf und ab und zeigt weiter auf die Villa, die ihrerseits von Bauzäunen und hohen Brombeerbüschen umgeben ist. »Das ist das Haus! Das Haus, das um Hilfe ruft!«
Ich trete neben sie und greife nach ihrer kalten Hand. »Schluss jetzt. Wir haben keine Zeit für den Mist, den Lenny erzählt.«
»Das ist kein Mist! Es steht sogar in der Zeitung, kannst du alle fragen. Selbst die Polizei war schon da, weil das Haus sie angerufen hat.«
»Du redest so einen Stuss.«
Emma stemmt sich gegen meinen Zug, versteift sich und rutscht über die sandige Straße. Ich bleibe stehen.
»Lass das!«, sage ich.
»Erst, wenn du guckst.«
»Schön. Bitte.«
Demonstrativ drehe ich mich zum Haus um. Keine Frage, es ist imposant, mit großen Fenstern und Säulen. In verblassten Lettern steht Theodora über dem Eingang, wie bei den Kurhäusern an der Ostsee. Dennoch hat es die eigentümliche Atmosphäre eines verwaisten Gebäudes, einige Fenster sind vernagelt, der Garten ist überwuchert, das Dach eingesackt, und darüber hängt eine schiefe Antenne, so eine kümmerliche aus Draht. Alles scheint ein Stückchen gebeugt, als wären sogar die Mauern beschämt über ihren eigenen Verfall.
»So«, sage ich schließlich. »Ich habe geguckt. Jetzt gehen wir zur Schule.«
»Glaubst du, das Haus telefoniert, weil es sich einsam fühlt?«, fragt Emma.
»Das Haus kann niemanden anrufen, Emmi.«
Sie verdreht die Augen. »Hat es aber.«
»Unmöglich. Ich bezweifle, dass es in diesem Schuppen noch ein funktionierendes Telefon gibt, aber selbst wenn, dann wird es nicht vom Haus benutzt. Wahrscheinlich ist jemand eingestiegen und hat den Notruf gewählt. Als blöden Scherz.«
»Nein, eben nicht, weil als die Polizei hingefahren ist, war niemand da! Das hat das Haus gemacht. Glaub mir!«
Die Fensterfront der Villa spiegelt unschuldig den grauen Herbsthimmel. Emmas Story klingt für meinen Geschmack zu sehr nach etwas, womit man sich an Halloween gruseln will. Wahrscheinlich hat dieser Lenny sie aus der Kinderrubrik unserer Zeitung.
»Okay, du hast sicher recht«, erwidere ich versöhnlich. »Sind wir hier jetzt fertig?«
»Meinst du, ich kann meine Spirit-Box benutzen, um das Haus reden zu hören?«, antwortet Emma, ohne auf meine Frage einzugehen. »Wenn wir kurz noch mal zurückgehen und …«
»Spirit-Box?«, unterbreche ich sie. »Was hat Papa dir schon wieder für einen Scheiß gekauft?«
»Das ist kein Scheiß, das gab’s auch beim Channel von den Geistermädchen!«
»Du sollst so was nicht gucken. Du bist noch zu jung für Youtube.«
»Boah.« Emma stößt einen großen Seufzer aus und verdreht die Augen. »Du bist so langweilig, Felix!«
»Erzähl mir was Neues«, brumme ich. »Und nun komm. Die Schule wartet.«
Während ich Emma mit sanftem Druck zur Hauptstraße ziehe und sie tatsächlich mitkommt, schaue ich kurz zurück. Die Villa ragt wie ein verwitterter Holzstumpf aus dem Dickicht. Ein ungewohnter Anblick für diese Gegend, in der gerade so viel modernisiert und neu gebaut wird. Spitzengardinen hängen starr im Obergeschoss wie lange Teppiche aus vertrockneten Spinnenweben. Ich finde, es ist kein großes Rätsel, warum solche Ruinen ihre eigenen Geschichten kriegen. Etwas, das lange unbenutzt rumsteht, erregt halt Aufmerksamkeit. Wir sind es nicht gewohnt, wenn Dinge keinen Nutzen haben, also geben wir ihnen einen.
Ich führe Emma zurück zur großen Kreuzung, wo unser Rad im erstbesten Brombeerbusch steckt. Es wieder aus dem Strauch herauszubekommen, erweist sich als unerwartet kompliziert. Emma und ich zerren beide mit aller Kraft daran, bis die langen Dornenarme schließlich nachgeben und wir samt Lastenrad auf den Gehweg stolpern. Ein Geruch von Bier und Urin folgt uns und ich begutachte angeekelt den feuchten Rahmen.
Ganz toll. Ich hab unser Rad in einem von Berlins Pissebüschen abgestellt.
»Also dann«, sage ich so nonchalant wie möglich und suche in meiner Jacke nach einem Taschentuch, mit dem ich Emmas Sitz abwische, »weiter geht’s!«
Emma klettert wenig begeistert in ihre Box. Ich schwinge mich auf den Sattel und bringe sie die restlichen drei Kilometer zu ihrer Grundschule.
Die ganze Fahrt über redet Emma von dem Haus, aber ich bekomme nicht viel mehr mit, als sie mir eh schon weismachen wollte: Seit ein paar Wochen erhalten Leute in unserem Kiez Anrufe von einer komischen Nummer, doch wenn sie abnehmen, ist niemand in der Leitung. Oder vielleicht ist auch jemand in der Leitung, der- oder diejenige sagt jedenfalls nichts. Schließlich geht der erste Notruf bei der Polizei ein, die diese Nummer zur alten Villa zurückverfolgt. Mehrmals fahren sie nachschauen, was los ist, und jedes Mal finden sie das Gebäude leer und ohne Anzeichen eines Einbruchs. (Hier ist jetzt Platz für eine beklommene Stille oder einen theatralischen Paukenschlag oder so.) Bis jetzt weiß also keiner, was wirklich los ist.
Ich muss mich sehr bemühen, während Emmas Erzählung ernst zu bleiben und mir zynische Kommentare zu verkneifen, denn sosehr ich dieses paranormale Gequatsche auch hasse, sie ist immer noch meine kleine Schwester. Vor zwei Jahren hat sie an den Weihnachtsmann geglaubt, jetzt sind es eben Geister.
Am Schultor verabschieden wir uns. Meistens bedeutet das, dass ich kaum dazu komme, »Tschüss!« zu rufen, ehe Emma mich vergisst und abhaut, weil sie einen ihrer Freunde entdeckt hat. Dieses Mal jedoch hält sie mich für einen Moment zurück und fragt: »Du, Fee, können wir heute Abend zu dem Haus gehen und meine Spirit-Box ausprobieren? Wenn wir mit Lydia Süßigkeiten sammeln gehen?«
Fast will ich »nein« sagen. Es ist immerhin schlimm genug, dass Papa wieder Überstunden machen und ich mein Halloween dafür opfern muss, meine kleine Schwester und ihre Freundin zu babysitten. Ich will das Elend nicht auch noch mit sinnlosen Aktivitäten in die Länge ziehen. Doch ich kann Emma nichts abschlagen, nicht für lange, nicht ernsthaft.
»Na gut«, seufzte ich.
Vielleicht habe ich meine Schwester vorhin angelogen.
Ich habe eigentlich gar keine Freunde.
Es bringt nichts, mir da etwas vorzumachen. Wenn mein Papa fragt, sage ich mittlerweile: Ich bin mehr so der Typ für Bekannte. Oder, das füge ich aber nur in meinem eigenen Kopf hinzu, der Typ für ein Leben als verrückter Wissenschaftler, der irgendwann das Haus hochjagt, weil er zu lange nicht gelüftet hat. Jedenfalls bemühe ich mich vor anderen, mein Schicksal als ein selbst gewähltes darzustellen, doch das entspricht nicht der Wahrheit. Ich will Freunde haben – nur irgendwie will niemand mich.
Meine Theorie, woran das liegt, ist folgende: Ich bin ein Blobfisch. Was zum Teufel ein Blobfisch sein soll? Genau das ist der Punkt. Blobfische sind diese Tiefseekreaturen, um die sich, wenn sie an Land gespült werden, die Leute versammeln und fragen: »Was zum Teufel ist das?« Der Blobfisch gilt als eines der hässlichsten Tiere der Welt, denn sobald er das Meer verlässt, läuft er auseinander wie ein bemitleidenswerter Klumpen Wachs. Mich hat zwar noch niemand direkt gefragt, was zum Teufel ich bin, doch es würde mich nicht wundern, wenn die meisten Leute in meiner Klasse schon kurz davor waren.
Es klingelt zur letzten Schulstunde, was meine mentale Abhandlung über Blobfische jäh unterbricht. Ich packe meine Sachen zusammen und verlasse den Klassenraum als Erster, noch vor meinem Lehrer. Weshalb sollte ich mir auch Zeit lassen? Maximal spricht mich jemand darauf an, ob ich mitgekriegt habe, welche Hausaufgaben es gibt. Und gerade ist mir nicht nach dem Standard-Streber-Modus. Ich will einfach eine Pause machen, bevor Emma und ihre Freundin nachher kommen.
Zu Hause schiebe ich eine gefrorene Lasagne in die Mikrowelle und hole mir Nutella aus dem Kühlschrank. Papa hasst es zwar, wenn wir mit dem Löffel direkt ins Glas langen, doch ich kann sehen, dass Emma mir längst zuvorgekommen ist: Überall hat sie kleine Krater und Gräben gehauen, wie auf dem Tagebau. Ich schiebe die Reste zu einem großen Ball zusammen und lasse ihn in meinem Mund zergehen. Danach wandere ich in mein Zimmer, während im Hintergrund die Mikrowelle rödelt.
Der Raum ist so klein, dass ich mich entscheiden musste, was mir wichtig ist. Ich besitze einen großen, hässlichen Schreibtisch zum Zeichnen, und auf der Fensterbank dahinter reihen sich verschiedene Versteinerungen, die ich im Urlaub an der Ostsee sammle. Was ich zeichne? Na ja, die Fossilien. Das klingt vielleicht öde, ist es aber gar nicht. Fossilien sind unglaublich faszinierend! Ich könnte sie den ganzen Tag angucken und darüber nachdenken, wie verrückt es ist, dass da ein Millionen Jahre altes Tierchen vor mir liegt. Mir kommt schon die Zeitspanne, seit Emma geboren wurde und Mama gestorben ist, unendlich lang vor, und so ein Ammonit zum Beispiel hat mehr Zeitalter gesehen als die ersten Säugetiere.
Die Mikrowelle piepst.
Ich schaufle mir die Hälfte der Lasagne auf einen Teller, um Emma etwas übrig zu lassen, obwohl ich wetten würde, dass sie bei ihrer Freundin isst, bevor beide herkommen. Wahrscheinlich stopfen sie sich schon mit Süßigkeiten voll, und ich darf dann zwei hyperaktive Knirpse ausführen, die beim Anblick jeder schwarzen Katze einen Schreikrampf kriegen. (Ist nicht so, dass ich einen Ruf zu verlieren hätte, aber auf diese Aussicht freue ich mich trotzdem nicht. Immerhin wohnen alle meine Mitschüler in der Gegend.)
Die nächsten zwei Stunden verbringe ich deshalb im Bett, esse Lasagne und lese. Das gibt mir zumindest ein bisschen Kraft zurück, bis Emma und ihre Freundin um achtzehn Uhr von deren Eltern bei uns abgeladen werden. Mittlerweile zieht eine Kindergruppe nach der anderen für Süßes-oder-Saures durch die Straße. Zu meiner Überraschung jedoch interessieren Emma und Lydia sich dieses Jahr gar nicht für Süßigkeiten, sondern wollen unbedingt zu diesem Haus.
»Wir gehen da jetzt hin!«, verkündet Emma mit einem Seitenblick auf mich, als wolle sie sichergehen, dass ich mein Versprechen halte. »Das wird so cool!«
»Ja, meine Schwester hat gesagt, dass es dort Dämonen gibt«, ergänzt Lydia.
»Was? Wie krass!«
»Sie sagt, jemand muss einbrechen und alles erforschen.«
»Felix, sollen wir in das Haus reingehen?«
»Nein«, erwidere ich, während ich mir die Schuhe anziehe. »Natürlich nicht. Das ist verboten.«
»Wieso?«
»Weil es gefährlich ist, in ein verlassenes Gebäude einzusteigen«, antworte ich.
»Wegen der Dämonen«, fügt Lydia wissend hinzu.
»Nein.« Ich muss mir ein Lachen verkneifen. Kinder. »Wegen der Einsturzgefahr – ach, lasst uns einfach losgehen.«
Emma und Lydia laufen kichernd vorweg, schwenken Einkaufsbeutel und ich folge ihnen mit dem angemessenen Abstand einer alten Gouvernante. Der Abend ist kühl, Nebel kriecht aus den Vorgärten auf die Gehwege und verschluckt die Laternen, bis sie nur noch so blass schimmern wie ferne Hafenlichter. Auf unserem Weg kommen wir an kleinen Geistern, Zombies, Hexen und allen Varianten von Superhelden vorbei. Die Geschichten über das Haus scheinen herumgegangen zu sein, denn wir sind nicht die Einzigen, die sich davor einfinden. Ein Vater hat sein Kind auf den Schultern, damit es einen besseren Blick auf die ausdruckslos starrende Fassade erhaschen kann, und eine Gruppe Jugendlicher drückt sich im Abseits der Bauzäune herum.
»Juhu!«, ruft Emma, unbeeindruckt von den anderen Schaulustigen. »Los, Lydia, wir jagen jetzt Geister!«
Die beiden rennen zum Zaun, um mit ihren Handys Fotos zu schießen. Ihre Theorie ist, wie Lydia mir vorhin erklärt hat, dass Dämonen und Geister sich lieber auf Fotos zeigen als in echt. Ich beobachte die beiden mit verschränkten Armen.
Warum ist das eigentlich mein Leben? Alle anderen aus meiner Klasse sind jetzt sicher auf einer Party. Neid steigt in mir auf, aber auch Erleichterung. Ich hasse Partys. Sie sind laut und ich bin kein lauter Mensch. Warum fühle ich mich überhaupt, als würde ich etwas verpassen? Was ist falsch mit mir? Gibt es ein Wort für einen Menschen, der dazugehören will, ohne wirklich dabei sein zu müssen? Also, abgesehen von Weirdo…
Emma taucht wieder mit leuchtenden Augen vor mir auf. »Felix, können wir jetzt die Spirit-Box haben?«
»Okay«, antworte ich und nehme meinen Rucksack von der Schulter. »Ihr bleibt aber schön hier am Zaun, ja?«
»Jaja.«
Während ich das schmale Gerät auspacke, höre ich Schritte. Die Jugendlichen, denen ich zuerst keine große Beachtung geschenkt hatte, nähern sich.
»Ihr habt eine Spirit-Box?«, fragt einer von ihnen. »Oh«, fügt er hinzu, als er mich erkennt. »Felix.«
»Ben«, entgegne ich verdattert.
»Was machst du denn hier?«
Ben geht in meine Parallelklasse. Er und seine Zwillingsschwester Gia sind Emos; obwohl der Emo-Trend nie ganz gestorben ist, wirken ihre aufgebürsteten Haare und kajalumrandeten Augen auf mich ein bisschen peinlich, aber das scheint sie nicht zu stören.
»Babysitten.« Ich zögere, dann stelle ich die offensichtliche Gegenfrage: »Und ihr?«
Ben dreht sich zu seinen Freunden um und grinst. Neben Gia gibt es noch ein weiteres Mädchen, beide tragen My-Chemical-Romance-Shirts. Dann ist da ein Typ, den ich nicht kenne, auf dessen Jeansjacke »Be Gay, Do Crime« steht. Und Chris und Luke aus meiner eigenen Klasse. Verdammt. Damit hätte ich rechnen müssen. Eine sagenumwobene Gruselvilla direkt in unserer Nachbarschaft? Das ist gefundenes Fressen für den YouTube-Kanal, den sie haben.
»Hausfriedensbruch«, sagt Ben schließlich.
»Was?«, erwidere ich.
»Feee-lix«, quengelt Emma.
Sie ist komplett unbeeindruckt von der Anwesenheit der exzentrischen Gruppe. Ich gebe ihr geistesabwesend die Box und sie springt davon.
»Hausfriedensbruch?«, wiederhole ich in die eintretende Stille. »Heißt das – also –, meint ihr dieses Haus? Ihr wollt da rein?«
Ben grinst breiter. Er hat ein sehr markantes Kinn, weswegen ihm der Spitzname Jawline-Benni verliehen wurde. Ich bin nicht sicher, ob das als Kompliment oder Beleidigung zu verstehen ist. Wie ich unsere Schule kenne, wahrscheinlich irgendwie beides.
»Sag mal, ist das deine Spirit-Box?«, fragt jetzt auch Gia, die sich am liebsten Gigi rufen lässt. »Können wir uns die ausleihen?«
»Die gehört meiner Schwester«, antworte ich. »Ich weiß nicht mal, was das ist.«
»Irgendeine Chance, dass deine Schwester die Box nachher nicht mehr braucht?«
»Ich weiß nicht …«
Unbehaglich drehe ich mich nach Emma und ihrer Freundin um. Die beiden hängen am Zaun und wedeln mit ihrem Spielzeug herum. Eigentlich möchte ich Emmas Sachen nicht verleihen, erst recht nicht für solche Aktionen.
»Weißt du, eine Spirit-Box ist dazu da, um paranormale Energien hörbar zu machen«, fügt Gia hinzu. »Das Gerät spult in schneller Abfolge Radiofrequenzen durch. Geister können diese manipulieren und so mit uns sprechen. Wir würden die Box gerne mit ins Haus reinnehmen. Nur heute natürlich – morgen bringe ich sie dir wieder. Du bist doch bei Chris in der Klasse?«
Ohrenbetäubendes Rauschen übertönt fast Gias letzte Worte. Emma und Lydia jubeln begeistert. Anscheinend haben sie es geschafft, dieses Ding anzuschalten.
Was für ein pseudowissenschaftlicher Bullshit, denke ich, doch das will ich natürlich nicht laut aussprechen.
Gia scheint meine Zurückhaltung zu bemerken. Aus heiterem Himmel fragt sie: »Möchtest du mitkommen?«
Ganz ehrlich, ihr Angebot schockiert mich. Und nicht nur mich. Während ich erstarre wie ein geblendetes Tier, das zufällig auf die Straße geraten ist, platzt Chris heraus: »Hä? Wieso?«
Gia dreht sich zu ihm um. »Problem?«
»Nee, aber wir sind schon so viele.«
»Einer mehr schadet doch nicht.«
Chris scheint wenig überzeugt. »Okay.«
Er und ich haben tatsächlich so etwas wie eine Vergangenheit. Im Klassenzimmer sitzt Chris in der letzten Reihe, bei den coolen Kids, und ich sitze in der ersten, bei den Strebern. So weit, so gut. Die Sache ist jedoch, dass Chris eigentlich auch aus der ersten Reihe kommt. Damals, das ist kaum zwei Jahre her, waren wir Banknachbarn. Ich habe viel zu passionierte Vorträge über Mitochondrien gehalten (nenn mir einen Schüler, der Mitochondrien toll findet, ich warte …), und Chris ist immer mit seiner gebrauchten Spiegelreflex rumgerannt oder hat versucht, Hawkings Theorien von schwarzen Löchern (falsch) zu erklären. Wir waren zwar keine Freunde, aber immerhin herrschte zwischen uns ein stillschweigendes Einverständnis unter Losern. Jetzt hängt Chris mit Stoner-Lukas rum. Die beiden haben einen gemeinsamen Channel, Chris & Luke, wo sie Videos mit dummen Stunts oder Pranks hochladen. Lukas kann ziemlich gut skateboarden, und Christian mag Technik, insofern sind sie ein perfektes Team. Die eine Hälfte unseres Jahrgangs hält sie für komplett cringe, die andere guckt regelmäßig ihre Clips und lacht sich schlapp.
Ich sitze mittlerweile allein.
»Fee!« Emma kommt zurück, eine begeisterte Lydia auf den Fersen. »Wir haben ein Wort gehört!«
»Wirklich?«, murmle ich.
»Willst du wissen, was es war?«
Emma hängt sich an den Zipfel meiner Jacke wie ein Koala-Baby an seine Mutter, und ich wage es kaum, die Gruppe anzuschauen. Unglücklicherweise entscheidet sich Lydia sofort, es Emma nachzutun. Unter dem kombinierten Gewicht schwankend, erwidere ich gezwungen: »Was war es denn?«
»Kartoffelpuffer!«, ruft Emma.
Gia und Ben brechen in Gelächter aus. Chris schaut irritiert. Und ich würde am liebsten im Boden versinken.
»Ich glaube, wir müssen jetzt nach Hause«, fauche ich.
»Was? Wieso? Jetzt schon?«
»Ja, Em, es ist spät. Also dann, tschüss, Leute!«
Ich greife Emma und Lydia an den Händen und ziehe sie weg vom Haus und seinen sensationshungrigen Beobachtern. Was für eine Schnapsidee hierherzukommen. Selbstverständlich sehe ich Leute, die ich kenne. Und Leute, die mich kennen, sehen mich. Und finden mich komisch. Und peinlich. Und langweilig. Weil ich keinen Schritt tun darf, ohne meine Schwester dabeizuhaben.
»Warte!«, ertönt Bens Stimme hinter uns.
Ich bleibe nur sehr widerstrebend stehen, damit Ben aufschließen kann. Er überbrückt die verbleibenden Schritte mit einem lässigen Joggen.
»Sorry, wir wollten nicht lachen«, sagt er. Irgendwie glaube ich ihm das sogar. »Hast du Lust, nachher dazuzustoßen? Wir können die Box richtig ausprobieren.«
»Ich weiß nicht.«
»Also wenn du es dir überlegt hast, komm einfach zum Hintereingang. Wir warten eh noch auf eine günstige Gelegenheit. You know.« Ben nickt Richtung Zaun, wo sich bereits neue Schaulustige gesammelt haben. »Sobald alles ein bisschen ruhiger wird.«
Ich spüre Emmas und Lydias gespannte Blicke. Hoffentlich zählen sie nicht eins und eins zusammen und krakeelen durch die ganze Nachbarschaft, dass ich gerade dazu eingeladen wurde, an Halloween in dieses Haus einzusteigen.
»Ich überleg’s mir«, entgegne ich.
»Okay.« Ben grinst wieder. Es ist kein unfreundliches Grinsen. »Und noch mal: Sorry«, fügt er hinzu. Dann dreht er sich um und joggt zu der Gruppe zurück.
Wenn Papa abends nach Hause kommt, ist er ein bisschen wie ein Ballon: Man kann ihm wortwörtlich beim Luftablassen und Zusammensacken zuschauen. Wir finden ihn in der Küche, wo er Einkäufe auspackt, das runde Gesicht eingefallen und blass. Dennoch gibt er sich alle Mühe, Emma und Lydia nicht die Stimmung zu vermiesen.
»Habt ihr schon gegessen?«, fragt er fröhlich, während die beiden ihre wenigen erbeuteten Süßigkeiten auf dem Tisch ausbreiten. (Nach dem Zusammentreffen mit Ben & Co. hatte ich keine Lust mehr auf Süßes-oder-Saures und habe sie in Rekordgeschwindigkeit durch die Nachbarschaft geschleift.)
»Ja«, erwidert Emma abgelenkt und hebt einen Schokoriegel dicht vor ihre Augen, als wolle sie ihn einer Qualitätsprüfung unterziehen.
»Du auch, Felix?«
»Ich hatte Lasagne.«
»Gut.« Papa gähnt. »Das ist gut.«
»War die Station wieder sehr voll?«, frage ich.
»Kannst du wetten.« Papa lächelt müde. »Ein Notfall nach dem anderen. Egal. Wie läuft euer Abend?«
Bevor ich antworten kann, fängt Emma bereits eine ausführliche Erzählung über das Haus und ihr Geisterradio an, unterstützt von Lydia, die Emmas Pausen dazu nutzt, ihre eigene Variante der Ereignisse einzuschieben. Papa nickt bei den angemessenen Stellen, doch ich kann sehen, dass er nicht wirklich bei der Sache ist. Das ist per se nicht ungewöhnlich, bloß ein normaler Arbeitstag, an dem im Krankenhaus irgendein neues Chaos herrscht. Papa ist das gewohnt, ich bin Papa gewohnt. Heute allerdings fällt es mir schwer, in seine erschöpften Augen zu schauen. Vielleicht liegt das daran, dass ich genauso erschöpft bin, oder vielleicht sauge ich auch die Emotionen aus meiner Umgebung wie ein Schwamm. Ich spüre Papas unterdrückte Anspannung jedenfalls, als wäre es meine eigene.
»Ich glaube, ich dreh noch eine Runde um den Block«, unterbreche ich das hektische Kindergequassel.
»Wo willst du denn hin?«, fragt Emma.
»Nur spazieren«, antworte ich und ziehe den Reißverschluss meiner Jacke wieder zu. Bis jetzt hatte ich nicht mal Gelegenheit, sie oder den Rucksack überhaupt abzulegen.
»Gehst du zu den Leuten?«, erkundigt sich Lydia.
»Welche Leute?«, fragt Papa.
»Nein. Ach niemand.« Genervt verdrehe ich die Augen. »Wir haben nur ein paar von meinen Mitschülern gesehen. Ich geh einfach spazieren. Muss den Kopf freikriegen.«
»Na gut, aber guck auf dein Handy, ja?« Papa nimmt die restliche Lasagne aus dem Kühlschrank und tut sich selbst etwas auf. »Und sei leise, wenn du wiederkommst, deine Schwester muss bald ins Bett.«
»Was? Wieso? Aber es ist Halloween!«, ruft Emma.
Ich beeile mich, die Wohnung zu verlassen, ehe die nächste Diskussion in vollen Gang gerät. Die Straße ist mittlerweile leerer geworden und auch die Luft ist kälter. Ich schiebe beide Hände in die Jackentaschen, schließe für einen Moment die Augen und genieße die Stille.
Während ich so dastehe, fühle ich langsam all die fremden Gefühle von mir abfallen, die ich den Tag über mitgenommen habe. Sie werden durch etwas anderes ersetzt, eine komische Art Sehnsucht, die ich oft spüre. Ich bin mir nicht einmal sicher, wonach ich mich sehne, doch wenn das Gefühl sehr stark ist, dann kann ich einfach nicht still stehen.
Unvermittelt laufe ich los.
Mein Weg führt im Zickzack durch den Kiez und meine Gedanken wandern zu Ben und seinen Freunden. Zugegeben, ihre Einladung war nicht so enthusiastisch wie in meinen Träumen. (Ihr wisst schon, diese Tagträume, wo man der coolste Typ der Welt ist und alle einen unbedingt kennenlernen wollen … also ich hoffe zumindest, dass ich nicht der Einzige bin, der solche Träume hat.) Aber ich bin kaum in der Position, um Ansprüche zu stellen. Meine sechsjährige Schwester hat ein besseres Sozialleben als ich. Emma telefoniert abends mit Lydia, geht auf die übliche Parade an Kindergeburtstagen und spielt im Theater dieses Jahr eine verzauberte Wolfskriegerin. (Ich hab absolut keinen Plan, was das für ein Stück sein soll, aber Em ist total happy damit, wir haben schon drei Dokus über Wölfe in Brandenburg geguckt.) Währenddessen sitze ich zu Hause und male tote Tiere. Das kann es nicht sein, oder? So auf Dauer.
Meine Füße scheinen geahnt zu haben, welche Entscheidung ich treffen würde, denn plötzlich stehe ich wieder vor der alten Villa.
Die Schaulustigen sind verschwunden, Bens Gruppe auch. Ich blicke mich verstohlen um. Durch die Baustelle gibt es keinen Verkehr, dennoch fühle ich mich beobachtet. Über meine Unterarme kriecht Gänsehaut.
Eigentlich finde ich das Haus gar nicht unheimlich. Es ist eher bedrückend. Immerhin haben hier einmal Menschen gelebt, denen all die leeren Zimmer etwas bedeutet haben, für die das nicht nur eine große Kulisse war. Jetzt zerfällt alles zu Sperrmüll und Fremde stehen am Zaun und erfinden Geschichten über Geister. Das ist doch irgendwie traurig.
Für einen Moment werde ich unschlüssig. Vielleicht sollte ich umkehren. Ben ist sicher längst abgehauen. Niemand, der noch alle seine Sinne beisammenhat, würde in diese Bruchbude einsteigen. Ich trete schon einen Schritt zurück, dann höre ich aus dem Garten ein unterdrücktes Lachen und jemand anderen, der »Psst!« macht, sich dabei aber selbst kaum das Kichern verkneifen kann.
Sehnsucht pocht wieder laut in meiner Brust. Ich will nicht mehr allein sein. Ich will nicht zerfallen und verstauben wie eins meiner blöden Fossilien.
Ohne weiter nachzudenken, klettere ich über das hüfthohe Eingangstor und schlage mich durch dichtes Buschwerk, das die Villa wie ein zweiter Zaun umgibt. Zerkratzt komme ich auf der anderen Seite heraus.
»Leute?«, flüstere ich. »Seid ihr da?«
Im Vorgarten schichtet sich das Laub vieler Jahre, Schieferplatten blitzen aus dem Halbdunkel. Sie geben eine vage Ahnung davon, wo sich einmal ein Weg befunden hat. Ich folge dem Pfad, und als ich das rückseitige Grundstück erreiche, finde ich Ben, Gia, Lukas, das Mädchen und den Jeansjacken-Typ, angestrahlt von einer kleinen GoPro-Kamera, die Chris in der Hand hält.
»Felix!«, ruft Ben, und die Kamera zuckt kurz zu mir herüber. »Hast du uns erschreckt!«
»Hi.« Ich blinzle in das ungewohnt helle Gegenlicht. »Sorry, das wollte ich nicht. Ich – ich hab die Box dabei.«
»Ja nice, komm her, Gigi erzählt gerade, was vor vielen Jahren in der Villa passiert ist.«
»Es ist etwas passiert?«, frage ich.
»Klar«, sagt Gia. »Was denkst du, warum an einem Ort so viele paranormale Phänomene auftreten? Das ist kein Zufall.«
Ich öffne den Mund und verkneife mir dann eine Antwort. Wenn man Freunde finden will, sollte man wohl nicht alles, was sie mögen, für Bullshit halten. Diplomatisch zucke ich die Schultern und suche Christians Blick. Er muss das auch bescheuert finden – so als ehemaliger Science-Nerd. Aber Chris ist ganz aufs Filmen konzentriert und bemerkt meinen Kommunikationsversuch nicht.
»Okay, wo war ich?« Gia legt den Kopf in den Nacken und betrachtet die rissige Fassade, bevor sie sich wieder der Kamera zuwendet. »Ach ja. Nachdem die ursprünglichen Besitzer verstorben waren, gab es lange niemanden, der es in dem Haus ausgehalten hat. Sicherlich hing das mit den Wirren der damaligen Zeit zusammen, doch es wurden auch schon früh Gerüchte verbreitet, dass die Villa selbst ihren Teil dazu beiträgt. Dass sie nicht bewohnt werden will. Nach der Wende versuchte ein Eigentümer nach dem anderen, das Gebäude zu modernisieren und zu vermieten. Erfolglos. Zuerst traten Vorfälle während der Renovierung auf: Werkzeug verschwand, Möbel und Leitern krachten plötzlich zusammen und gefährdeten die Arbeiter. Dann ging es während der Besichtigungen weiter. Potenzielle Mieter hörten Stimmen und Schritte und fühlten sich verfolgt. Nachbarn redeten von einer Schattengestalt, die manchmal in der Nacht am Fenster stand. Schließlich wurde das Haus spottbillig verscherbelt, an ein altes Schwesternpaar. Die Schwestern lebten fast zehn Jahre darin und erneuerten sogar den Namenszug über der Tür. Keiner weiß, warum die seltsamen Phänomene aufgehört haben, als die Schwestern dort wohnten, aber vielleicht taten sie das gar nicht. Es heißt, beide hätten mit dem Okkulten herumexperimentiert und bewusst Kontakt zu dem gesucht, was hier lebt. Irgendwann muss das jedoch schiefgegangen sein, denn sie sind am selben Tag unter mysteriösen Umständen verstorben.«
»Echt jetzt?«, platzt der Jeansjacken-Typ heraus.
»Ja. Das war 2016. Seitdem steht die Villa endgültig leer. Für eine Weile war auch alles ruhig … bis jetzt die Anrufe losgingen.«
Lukas stößt einen leisen Pfiff aus. Ben tritt von einem Fuß auf den anderen und lacht nervös. Sogar ich spüre ein Kribbeln in meinem Magen, aber ich weigere mich, von der Stimmung mitgerissen zu werden. Was redet Gia da eigentlich? Ein bösartiges Haus? Okkulte Schwestern? Geister, die telefonieren? Das ist bloß eine Geschichte. Gruselgeschichten sind gruselig, das ist ihr ganzer Zweck. Nur weil mein Gehirn unruhig wird, wenn man ihm an Halloween etwas von verfluchten Häusern erzählt, heißt das nicht, dass irgendetwas davon stimmt.
»Okay, Cut!«, unterbricht Chris die eingetretene Stille. »Mega, Giovanna. Du solltest das professionell machen. Wir haben für draußen genug Material. Sollen wir reingehen?«
Seine Unbeschwertheit irritiert mich, und ich scheine nicht der einzige zu sein, dem es so geht. Selbst Gia blinzelt ihn einige Sekunden verständnislos an.
»Ja klar«, sagt sie schließlich. »Lasst uns reingehen.«
Christian pausiert seine Kamera. Während die anderen die Rückseite der Villa nach einem Eingang absuchen, trete ich neben ihn.
»Hey«, sage ich.
»Hey.« Chris schultert seine Tasche.
»Lustig, dass ausgerechnet wir beide in ein Gruselhaus einsteigen, oder?«
»Hm-hm.« Er spielt geistesabwesend mit einem Karabinerhaken, der in seinen Hosenbund eingehakt ist und an dem etliche Schlüssel klimpern.
»Wir haben schon lange nicht mehr geredet. Wie geht es dir? Was macht dein großer Bruder? Studiert er schon?«
»Gut. Ja. Äh, du, Felix, ein Tipp: Versuch nächstes Mal, nicht mitten in die Szene reinzuplatzen, ja? Sonst ruinierst du den ganzen Take.«
»Oh, Entschuldigung.«
»Hey, Leute!«, ruft Lukas. »Es gibt eine Kellertür!«
Chris dreht sich auf dem Absatz um, folgt seinen Freunden und lässt mich mit einem komischen Gefühl stehen. Damals war er nie der Typ für den Mittelpunkt, auch mit seinen Fotos war er immer zurückhaltend. Jetzt, mit den Videos und dem Angeber-Schlüsselbund, kommt er mir vor wie ein visionärer Direktor.
Ich schiebe den Gedanken beiseite und beeile mich, den Anschluss nicht zu verlieren. Die Kellertür hat ein Gitterfenster. Lukas, der nicht besonders groß ist, stellt sich auf die Zehenspitzen und späht hindurch.
»Siehst du was?«, flüstert Gia.
»Nope. Alles dunkel.«
»Meinst du, wir müssen einbrechen?«
Lukas antwortet nicht und probiert stattdessen die Klinke. Sie quietscht, knackt und gibt dann nach.
»Glaube nicht«, prustet Ben.
»Ey, Luke, mach mal Platz! Lass mich leuchten!«
Christian richtet die Lampe an seiner Kamera auf den dimensionslosen Raum, der hinter der aufschwingenden Tür erscheint. In der Mitte drängen sich die dunklen Schatten abgestellter Möbel und Gartengeräte und es riecht stark nach Schimmel.
»Bäh.« Ben zieht seinen Schal über den Mund. »Hier sollten wir uns nicht lange aufhalten. Hoffentlich ist der Rest vom Haus nicht genauso versifft.«
Am anderen Ende führt eine Holztreppe ins Erdgeschoss. Die Bretter biegen sich unter unseren Schritten. Fahles Straßenlicht fällt durch die Eingangstür. Wir bleiben geschlossen in der Diele stehen und Chris lässt seine Kamera wandern. Niemand spricht.
Dann hören wir ein leises Geräusch, ein rasches Tapp-Tapp-Tapp, wie von einem Tier. So schnell es anschwillt, so schnell verschwindet es wieder. Im ersten Moment bin ich sicher, mir das Geräusch eingebildet zu haben, aber Ben stöhnt, greift nach der Schulter von dem Jeansjackentyp und flüstert: »Was war das?«
»Ratte«, sagt Chris nur und filmt weiter.
»Sicher?«
»Nee.«
»Ich finde, es klang zu schwer für eine Ratte. Und es kam von über uns.« Wir blicken Richtung Decke. »Meint ihr, da ist jemand?«
»Glaub ich nicht. Los, lasst uns hier weitermachen.« Chris bricht als Erster den Kreis und leuchtet in einen angrenzenden Raum. Zwei pompöse Flügeltüren geben den Blick auf einen Salon frei. Einige Fenster zeigen zur Front, wo wir vor Stunden gestanden haben, der Rest auf den düsteren Garten. In der Mitte des Raumes türmen sich Müll und alte Kisten, manche geöffnet, manche verschlossen, alle mit einer Schicht Staub bezogen.
Gia setzt sich auf eines der abgedeckten Sofas. »Okay, wie wollen wir die Geister hervorlocken?«
»Spirit-Box?«, schlägt Ben vor, wirkt davon aber nicht mehr so überzeugt wie vorhin, als er noch keinen Fuß über die Schwelle des Hauses gesetzt hatte.
Alle schauen mich an.
»Felix, dein Einsatz«, brummt Chris.
»Oh.«
Rasch lasse ich den Rucksack von meiner Schulter gleiten und hole Emmas Spirit-Box heraus. Meine Finger zittern, als ich nach den richtigen Schaltern suche, was jedoch mehr an dem wachsamen Auge von Christians Kameralinse liegt als an unserer Umgebung.
Ohrenbetäubende Statik plärrt los und lässt alle zusammenzucken.
»Sorry!« Ich drehe am Lautstärkeregler. »Sorry, mein Fehler.«
Ein rhythmisches Klicken folgt, während das Gerät verschiedene Radiosender anspielt und sofort wieder wechselt. Manchmal stehlen sich Musikfetzen und einzelne Silben dazwischen, ansonsten kommt nur weißes Rauschen. Wir schauen uns über das Gerät hinweg an.
»Das ist irgendwie enttäuschend«, sagt Ben, er wirkt beinahe erleichtert.
»Du bist zu ungeduldig. Wir sollten eine Frage stellen«, schlägt Gia vor. Sie hebt die Stimme, um das Rauschen zu übertönen. »Ist hier jemand mit uns in diesem Haus? Wenn ja, dann gib uns ein Zeichen! Sag uns deinen Namen!«
Das Radio stottert ein paar abgebrochene Worte zusammen, die ganz offensichtlich ein wirrer Mix aus Werbung, Musik und Verkehrsansage sind.
»Wenn du hier bist, zeige dich!«
Mehr Kauderwelsch ertönt.
»Gib uns ein Zeichen!«
Der Jeansjackentyp lacht plötzlich: »Hat das Ding gerade Arschgesicht gesagt?« Die anderen lachen auch, nur Gia hebt eine Hand und macht: »Shhh!«
»Komm, Gigi, da war ein Arschgesicht, ich hab’s gehört« –
»Nein, Mann, seid still! Alle! Mach das aus!«
»Was ist los?« –
»Mach es aus!«
Ich weiß nicht, ob Gias Panik nur Theater ist, aber falls ja, dann ist sie wirklich eine geborene Schauspielerin. Ich beeile mich, die Spirit-Box auszuschalten.
Tapp-Tapp. Knack. Tapp-Tapp-Tapp.
»Was ist das?«, flüstert Ben.
Gia antwortet nicht. Sie schaut zur Decke. Das Geräusch stoppt und doch war es kein Theater und keine Einbildung. Wir haben es alle gehört.