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Nicole Heusinger

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Beschreibung

Die Liebe, ein Gefühl mit vielen Geheimnissen. Sie ist allgegenwärtig und begleitet uns ein Leben lang. Obwohl das Wort Liebe etwas Positives verkörpert, verbergen sich hinter ihr auch dunkle Gefahren. Selbst im Paradies bleiben diese nicht aus. Eine Insel, eine Brücke, zwei Dörfer und zwei Frauen unterschiedlicher Herkunft. Gleich bei ihrer ersten Begegnung entflammt ein gewaltiges Feuer zwischen Sam und Celine. Aber ihre Liebe ist verboten und sorgt in den Dörfern für Unruhe. Bösartige Intrigen und hinterlistige Machenschaften wollen ihre Liebe zerstören, doch die beiden Frauen kämpfen für ihr großes Glück. Konfrontiert mit den Themen Monogamie und Polyamorie wird das Paar nur mit gegenseitiger Toleranz, Akzeptanz und Verständnis siegen können. Ein bewegender und zugleich humorvoller Liebesroman, der zum Nachdenken anregt.

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Von der anderen Seite

Von der anderen SeiteDie AutorinWidmungVorwort1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. KapitelImpressum

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Nichts wird uns trennen

Liebesroman

Nicole Heusinger

SchreibLeidenschaft

Die Autorin

Nicole Heusinger wurde 1980 in Dortmund geboren. Bis heute lebt sie im Ruhrgebiet. Freiheit ist ein sehr wichtiger Aspekt in ihrem Leben. Auch als Autorin möchte sie sich in keine Nische drängen lassen und schreibt deshalb genreübergreifend. So veröffentlichte sie zunächst drei Kriminalromane und kurz danach ihren ersten Erotikroman »In deinem Besitz«. Diesmal jedoch schrie ihr Herz nach einem Liebesroman.

Widmung

Es ist möglich, dass es da draußen einen Menschen gibt, der dir auf einer Ebene begegnet, von der du nicht wusstest, dass sie überhaupt existiert. Eure Herzen schlagen im Takt, wenn ihr einander nah seid. Ebenso sehr schmerzen sie, wenn man euch trennt. Du spürst es, wenn dieser Mensch in dein Leben tritt. Du weißt augenblicklich, er gehört zu dir.

Ich widme dieses Buch der Person, die mich auf eine mir bis dato fremde Ebene geführt hat.

Du weißt, dass du gemeint bist.

Vorwort

Wir kommen am Tag X auf die Welt, ohne zu wissen, wie lange wir bleiben dürfen. Vielleicht steht die Dauer unserer Lebenszeit schon bei der Geburt fest. Möglicherweise bestimmen aber auch die Lebensumstände oder der Zufall, wie alt wir werden. Eine Antwort darauf bekommen wir wohl niemals. Nur eines ist gewiss: Irgendwann muss jeder von uns gehen. Obwohl wir uns dessen bewusst sind, legen wir uns häufig selbst Steine in den Weg. Dabei könnte es so viel einfacher sein, wenn da nicht diese Gefühle wären.

Eines der stärksten Gefühle ist die Liebe. Sie ist ein Zeichen der Wertschätzung und Zuneigung. Es gibt sie innerhalb der Familie, der Freundschaft und natürlich der Partnerschaft. Wir werden mit ihren unterschiedlichsten Seiten konfrontiert und manchmal beherrscht sie sogar unsere Sinne. Sie ist ein immerzu aktuelles Thema, das sich in Liedern, Filmen, Büchern und Gedichten wiederfindet. Die wahrscheinlich komplizierteste Form der Liebe ist die auf partnerschaftlicher Ebene. Für sie gibt es keine Patentlösung. Je nach Gesellschaft wird sie unterschiedlich aufgefasst. Auch innerhalb einer Gesellschaft kann sie verschieden verstanden und gelebt werden. Mit ihr verbindet man unter anderem Vertrautheit, Nähe, Geborgenheit und Sicherheit. Es gibt aber auch eine andere Seite, die schmerzhaft und unbarmherzig sein kann. Die Vielseitigkeit und Komplexität der Liebe in Verbindung mit der Individualität von uns Menschen kann zu einer höchstexplosiven Mischung führen. Die Liebe schmeckt nicht jeden Tag gleich. Entgegen dem Honig, dessen Süße garantiert ist, kann die Liebe obendrein einen sehr bitteren Beigeschmack haben. Es liegt in unserer Natur, dass wir uns mit den Jahren verändern, weil wir durch Erfahrungen reifen. Zwei sich liebende Menschen schlagen während ihrer Veränderungen nicht immer den gleichen Weg ein. Interessen gehen auseinander, Wünsche variieren und Gefühle verblassen letztlich. Ist das der Zeitpunkt, an dem man sich trennen sollte? Oder gibt es andere Lösungen, die dem Paar helfen könnten, seine Differenzen zu bereinigen?

Die Gesellschaft, in der wir leben, gibt vor, dass Zweierbeziehungen die einzig erstrebenswerte und mögliche Form des Zusammenlebens seien. Woher aber stammt dieser Glaube und entspricht er der Wahrheit? Sind wir Menschen gänzlich für Monogamie geschaffen? Wie könnte eine alternative Lebensweise aussehen? In konventionellen Beziehungen werden Vereinbarungen getroffen. Ganz oben an steht meist die Treue. Monogame Personen verstehen darunter das Eingehen einer Beziehung zu lediglich einem Partner. Tiefe Gefühle und körperliche Nähe sind ausschließlich für ihn bestimmt. Ein Verstoß dieser Regel bedeutet Untreue. Bis heute gibt es Länder, in denen Menschen für Untreue bestraft oder gar hingerichtet werden.

Wie aber lautet die richtige Definition von Treue? Bedeutet sie nicht Ehrlichkeit, Offenheit, Vertrauen und Zuverlässigkeit? So jedenfalls interpretieren Menschen die Treue, die in Polyamorie leben.

Das Wort Polyamorie setzt sich aus dem Griechischenpolýs(»viel, mehrere«) und dem Lateinischenamor(»Liebe«) zusammen. Polys lieben mehrere Personen zur gleichen Zeit, das ist jedoch nicht mit der Freien Liebe zu verwechseln, bei der es um rein körperliche Verbindungen geht. In polyamourösen Beziehungen geschieht nichts, ohne die Zustimmung eines jeden Beteiligten. Man akzeptiert und versteht den Wunsch nach weiteren Partnern und die sexuellen Gelüste gegenüber Dritten.

Die Zweifler nennen an dieser Stelle ihr stärkstes Argument: die Eifersucht. Wie erträgt man es, seine Liebe teilen zu müssen? Ist die Eifersucht nicht jedem angeboren? Nur zum Teil. Ein Baby soll dieses Gefühl bereits ab dem sechsten Lebensmonat verspüren können. Es kommt oft vor, dass Kleinkinder sich vernachlässigt fühlen, weil sich die Eltern zum Beispiel zu viel um das Geschwisterchen kümmern. Viele Psychologen sind der Meinung, dass Eifersucht oftmals aus einem mangelnden Selbstwertgefühl heraus entsteht. Außerdem können auftretende Verlustängste ein Grund sein. Bei einem Kind muss sich das Selbstwertgefühl erst entwickeln. Es muss fühlen, dass es liebenswert ist und geliebt wird.

Unsicherheiten und fehlende Selbstliebe ziehen sich mitunter bis ins Erwachsenenalter, wenn es auch gern geleugnet wird. Man argumentiert stattdessen, dass Eifersucht ein Zeichen der Liebe sei. Aber stimmt das wirklich? Ist es nicht vielmehr der Beweis für fehlendes Vertrauen in den Partner und die Partnerschaft? Ist es nicht egoistisch, einen Besitzanspruch anzumelden, der einem gar nicht zusteht? Und reden wir bei Eifersucht überhauptnurvon einem Gefühl? Ist es nicht eine Kombination aus Empfindungen, negativen Gedanken und einem anerzogenen Verhalten? Auch in polyamourösen Beziehungen gibt es Eifersüchteleien, doch anstatt sie zum Problem werden zu lassen, redet man offen über seine Ängste und findet im Kollektiv Lösungen. So soll verhindert werden, dass irreführende, grundlose Sorgen die Macht und Wichtigkeit bekommen, die Lebensqualität einzuschränken.

Die Polyamorie wird selbst heutzutage noch nicht von der Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert. Stattdessen empfindet man sie als unmoralisch und anstößig. Polys können diesen Vorwurf jedoch kaum nachvollziehen. Sie halten es wiederum für unmoralisch, dass Menschen eine monogame Beziehung fordern und dann ihren Partner betrügen. Etwa jeder fünfte Verfechter der Monogamie soll im Laufe der Partnerschaft betrügen.

Da die Liebe keine Regeln kennt, kommt es vor, dass sich monogame Menschen in polyamouröse verlieben oder auch andersherum. In solch einem Fall treffen zwei Welten aufeinander, die kaum unterschiedlicher sein könnten. Wie spannend eine solche Konfrontation sein kann und wie sie enden wird, das weiß zu Anfang niemand.

1. Kapitel

Schmerzhaft aufgeschlagen

Es war ein wunderschöner Sommertag, der keine Wünsche offenließ. Achtundzwanzig Grad in der Sonne, mit gelegentlich erfrischenden Brisen. Samira schaute durch eine Lichtung in die Ferne und lächelte zufrieden.

»Wir sollten mal den Heimweg antreten«, schlug Sandra vor und wandte sich dem Waldweg zu, der zurück ins Dorf führte. »Kommst du?«, fragte sie ungeduldig.

Samira schaute in die entgegengesetzte Richtung und schüttelte den Kopf.

»Ich wüsste zu gern, ob es diese märchenhafte Lagune noch gibt«, sprach sie so leise vor sich hin, dass Sandra nur das WortLaguneverstand, doch das reichte völlig. Sogleich meldeten sich ihre Alarmglocken.

»Sam! Wir gehen jetzt zurück!«

Trotz aller Strenge in ihrer Stimme prallten die Worte wirkungslos an der sturen, kurzhaarigen Blondine ab.

»Es kann nicht weit von hier sein. Lass uns nur kurz gucken und dann gehen wir heim.«

Sandra hatte es in ihrer Aufgabe als beste Freundin nicht immer leicht. Sieben Jahre Lebenserfahrung lagen zwischen ihnen, was sich vor allem im Bereich Vernunft häufig widerspiegelte.

»Nein! Auch nicht kurz! Du weißt, dass wir diese Brücke nicht überqueren dürfen.«

Samira winkte genervt ab.

»Und du weißt, was ich von Verboten halte«, entgegnete sie eigensinnig und setzte den ersten Fuß auf die Brücke.

Ja, sie wusste, dass sich ihre rebellische Freundin gern über Regeln hinwegsetzte, aber dieser Regelverstoß konnte schlimme Folgen nach sich ziehen.

»Komm sofort zurück! Sam! Hast du ‘ne Ahnung, wie viel Ärger auf dich wartet, wenn man dich erwischt?«

Erneut winkte sie bloß ab.

»Heute ist Sommeranfang. Die bekommen nicht mal mit, wenn wir später zurückkommen«, erklärte sie und war bereits in der Mitte der Brücke angelangt.

»Und was ist mit denen da drüben?«, rief Sandra lauter, damit Samira sie überhaupt noch hören konnte.

»Das sind auch nur Menschen!«, schrie Sam zurück, nachdem sie die andere Seite erreicht hatte.

Sie wartete einen Augenblick. Als sie erkannte, dass sich Sandra nicht überreden ließ, setzte sie ihren Weg allein fort. Sam war eine dreißigjährige, lebensfrohe Rebellin, die ab und an ein wenig Nervenkitzel brauchte. Auf dieser Seite der Brücke war sie nicht zum ersten Mal. Ihr letzter Besuch lag etwa sechzehn Jahre zurück. Als vierzehnjähriger Teenager schlich sie sich eines Nachmittags davon und erkundete den Teil des Landes, für den seit fünfzig Jahren das Betreten als verboten galt. Damals begegnete sie niemandem, aber sie fand nach nur wenigen Gehminuten eine von Palmen umgebene, traumhaft schöne Lagune mit kristallklarem Wasser. Samira verliebte sich so sehr in diesen Ort, dass sie lange Zeit Nacht für Nacht davon träumte.

Heute wollte sie diesen Ort wiedersehen. Sie folgte ihrem Instinkt und einem schmalen Pfad, der mitten durch den Wald führte. Je weiter sie ging, desto dichter wurde das Geäst. Immer weiter kämpfte sie sich durch das Dickicht und verlor fast schon die Hoffnung, die Stelle wiederzufinden, als sie sehr penetrant von Sonnenstrahlen geblendet wurde. Sie riss die Äste vor sich ab und krabbelte noch ein kleines Stück, bis sie von oben auf das Paradies hinabsehen konnte. Es hatte sich nichts verändert. Blumen, Sträucher, Palmen und Bäume blühten in ihrer schönsten Pracht und spiegelten sich in dem Wasser der Lagune wider. Samira strahlte übers ganze Gesicht und fühlte nichts als Glückseligkeit. Nirgendwo auf der Welt konnte es einen schöneren Platz geben als diesen. Wie aber sollte sie hinunterkommen? Weit und breit war kein Weg zu sehen.

Für einen Sprung ins Wasser war es ihr zu hoch. Während sie das Ufer der Lagune mit ihren Augen absuchte, hörte sie ein Geräusch. Es klang, als würde jemand im Wasser planschen. Dieillegale Besucherin erschrak und legte sich flach auf den Boden, um nicht entdeckt zu werden. Ganz langsam hob sie den Kopf und schaute, wer in ihrer Lagune war.

Das Planschen war nun nicht mehr zu hören und Sam erkannte, warum. Eine junge Frau tauchte rhythmisch von der einen Seite der Lagune zur anderen. Die wohlgeformten, weiblichen Rundungen der Fremden machten es ihr unmöglich ihren Blick abzuwenden. Zwei Schwimmzüge später erreichte die graziöse Meerjungfrau das gegenüberliegende Ufer. Sie legte den Kopf in den Nacken und schüttelte ihr halblanges, braunes Haar von links nach rechts. Samira sah dies wie in Zeitlupe vor sich. Nun fühlte sie sich endgültig im Paradies angekommen. Die einzige Frage, die sie sich im Moment stellte, war: Wer ist diese Frau? Und schon schwamm die Unbekannte dieselbe Strecke unter Wasser zurück. Am anderen Ufer angekommen, wiederholte sie gleich nach dem Auftauchen das »Meerjungfrauen-Ritual« und blieb noch einen Augenblick im Wasser.

Die heimliche Beobachterin bekam den Mund nicht mehr zu. Diese Person dort unten war wunderhübsch. Nie zuvor verspürte sie bei dem Anblick einer anderen Frau einen solch starken Herzschlag unter ihrer Brust wie in diesem Moment. Trotz aller Aufregung achtete Sam darauf, nicht entdeckt zu werden, und duckte sich etwas, als das zauberhafte Wesen aus dem Wasser stieg. Sie trug einen weißen Bikini, der ihren braun gebrannten Körper, ihre prallen Brüste und ihren wohlgeformten Po sehr schön zur Geltung brachte. Wassertropfen perlten von ihrem Körper, als die junge Frau plötzlich abrutschte, mit dem Hinterkopf hart auf einem großen Felsen aufschlug und regungslos ins Wasser fiel. Samira verließ umgehend ihre Deckung, sprang auf und schaute erschrocken nach unten.

»Komm schon! Beweg dich!«, rief sie, doch die verunfallte Frau trieb einfach im Wasser.

Ohne lange nachzudenken, näherte sich Sam dem Rand und sprang circa acht Meter in die Tiefe. Wie sie zuvor vermutet hatte, war ein Sprung aus dieser Höhe bei der geringen Wassertiefe sehr gefährlich, und so kam sie schmerzhaft mit ihrem rechten Fuß auf dem steinigen Grund der Lagune auf. Aufgrund ihres hohen Adrenalinspiegels und der Angst um die unbekannte Frau war der Schmerz jedoch nicht lange präsent. Sam stieß sich vom Boden ab und tauchte zu der Verletzten. Mit einem gekonnten Griff hielt sie sie über Wasser und brachte sie ans Ufer. Samiras Hände zitterten.

»Komm schon, komm zu dir, bitte!«, schrie sie.

Es war kein Lebenszeichen erkennbar. Sie beugte sich über das Gesicht der Regungslosen und versuchte sie zu beatmen.So weiche Lippen, dachte Sam kurz.

Nichts passierte. Verzweifelt holte sie aus und schlug einmal kräftig auf den Brustkorb der Bewusstlosen.

Sofort spuckte diese einen Schwall Wasser aus und drehte sich röchelnd auf die Seite. Die Retterin sank erleichtert auf die Knie. Ihr ganzer Körper zitterte und ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Beide Frauen brauchten ein paar Minuten, um sich zu erholen, dann aber drehte sich die gerade noch Bewusstlose ruckartig um und rutschte erschrocken zurück.

»Wer bist du?«, fragte sie ängstlich.

Samira zog ein Tuch aus ihrer durchnässten Kleidung und hielt es der Frau hin.

»Du hast eine Platzwunde am Kopf«, erklärte sie.

Zögerlich nahm die Verletzte das Tuch an sich und hielt es an die blutende Wunde. Sie schlotterte am ganzen Körper und sah sich nach ihrem Handtuch um, das in greifbarer Nähe von Sam lag. Ohne darum bitten zu müssen, reichte sie es ihr.

»Ich heiße Sam. Und wie ist dein Name?«

Ihr Gegenüber war äußerst misstrauisch und antwortete nur zögerlich. »Äh, Celine.«

»Freut mich, Celine«, entgegnete Samira lächelnd und hielt ihr die Hand hin, doch diese freundliche Geste wurde nicht erwidert.

»Du bist von der anderen Seite«, sagte die noch etwas benommene Schönheit und rutschte erneut ein Stück von Sam weg. »Vor euch wurden wir gewarnt.«

Die burschikose Blonde begann amüsiert zu lachen und lehnte sich nach hinten an einen Felsen.

»Ja, wir von der anderen Seite sind unberechenbar. Wir retten den Menschen hier das Leben, um ihnen anschließend etwas anzutun.«

Diese Art des Humors erreichte offensichtlich das Spaßzentrum von Celine, die sich nun auch ein Schmunzeln nicht mehr verkneifen konnte. Es schien, als sei das Eis gebrochen.

»Tut dein Kopf sehr weh?«, erkundigte sich die Lebensretterin besorgt, was mit einem Kopfschütteln verneint wurde. Bestimmt würden sich die Schmerzen später noch melden. Celine schien nachdenklich.

»Wo bist du eigentlich so plötzlich hergekommen? Bist du vom Himmel gefallen?«

»Ja, könnte man so sagen. Aber ganz so hoch war es dann glücklicherweise doch nicht«, spaßte Samira.

Sie blickte den steilen Hang hinauf. Aus dieser Perspektive wirkte es deutlich höher.

»Du bist von dort oben gesprungen? Du bist ja irre!«

Ja, manchmal war die Frau von der anderen Seite etwas irre, doch auch das machte sie einzigartig.

Celine beschäftigte noch etwas anderes.

»Was genau hast du eigentlich da oben gemacht?«

Ihr war sehr wohl bewusst, dass Sam sie beobachtet haben musste, weil sie sonst niemals hätte zur rechten Zeit am rechten Ort sein können.

Die Ertappte errötete ein wenig und erkannte, dass sie aus dieser Nummer nicht so leicht herauskam. Also versuchte

sie es auf ihre charmante, humorvolle Art.

»Na ja, ich bin ganz zufällig in der Nähe auf allen vieren durch den dichten, stacheligen Dschungel gekrochen, als ich plötzlich das Paradies in seiner ganzen Schönheit entdeckte.«

Ihre Zuhörerin begann bereits zu lachen, als sie sich vorstellte, wie Sam kriechend mit Stacheln im Hintern durch den Busch kroch.

»Das Paradies in seiner ganzen Schönheit? Ich glaube, mir wird schlecht«, frotzelte sie zurück.

Die etwa gleichaltrigen Frauen schienen auf derselben Wellenlänge zu sein und kamen aus dem Lachen gar nicht mehr heraus.

Allmählich neigte sich der Tag dem Ende zu. Die Sonne versank langsam hinter den Gipfeln der Berge.

»Fühlst du dich schon wieder in der Lage zu laufen? Ich müsste nämlich so langsam den Heimweg antreten. Es wird schon dunkel«, erklärte Samira, obwohl sie viel lieber geblieben wäre.

Celine stütze sich am Boden ab und stand vorsichtig auf.

»Tataaa!«, präsentierte sie sich mit ausgestreckten Armen, um zu verdeutlichen, wie gut es ihr ging.

Und nun war auch genügend Vertrauen vorhanden, um Sam die Hand zu reichen, die diese Hilfe gern annahm und enthusiastisch aufsprang. Kaum hatte sie ihren rechten Fuß belastet, schrie sie schmerzhaft auf und wäre ins Wasser gefallen, wenn Celine sie nicht im letzten Augenblick zurückgezogen hätte.

»Was ist los? Hast du dich etwa bei dem Sprung verletzt?«

Besorgt sah sie sich den angeschwollenen Knöchel an.

»Ich bin ein wenig umgeknickt, aber das ist nicht wild«, spielte Sam die Starke und versuchte, einen Schritt zu gehen, doch der Schmerz war unerträglich. »Verdammt! Meinst du, du könntest mich bis zur Brücke begleiten und mich stützen? Wenn ich Glück habe, ist Sandra noch da. Und sollte sie nicht da sein, krieche ich eben wieder auf allen vieren. So bin ich ja schließlich auch hergekommen.«

Selbst in dieser Lage war sie nicht um einen Spruch verlegen. Celine gefiel dieser Humor. Vielleicht weil er ihrem so ähnlich war. Natürlich half sie, doch der Weg bis zur Brücke war beschwerlich. Jeder Schritt versetzte Sam einen beißenden Schmerz im Knöchel, sodass sie häufig pausieren mussten. Die Dunkelheit war zwischenzeitlich fast komplett eingebrochen und sie hätten längst zu Hause sein müssen. Dann endlich, nach gefühlten Stunden, erreichten sie die Brücke.

»Sandra!«, schrie Sam mit letzter Kraft.

Keine Antwort und niemand war zu sehen. Erschöpft lehnte sie sich an das Brückengeländer und ließ ihren Kopf hängen. Verzweifelt und fast schon hoffnungslos rief sie noch einmal nach ihrer Freundin.

»Ich glaube, sie ist nach Hause gegangen«, mutmaßte Celine und war ratlos, was sie jetzt tun sollten. Sie konnte nicht einfach jemanden von der anderen Seite mit in ihr Dorf nehmen und es war zu gefährlich, sie in ihr eigenes Dorf zu begleiten. Dann aber hörten die Frauen ein Geräusch.

»Sandra?«

»Pscht!«, zischte es von der anderen Seite. »Schrei nicht so laut! Ich bin ja hier. Komm endlich rüber!«, forderte Sandra ihre Freundin wütend auf.

»Ich kann nicht!«, stöhnte Samira und sank auf ihren Po.

Es war bereits so dunkel, dass man das andere Ende der Brücke nicht sehen konnte, aber Sandra erkannte an Samiras Stimmlage sofort, dass es ihr nicht gut ging. Entgegen den Regeln lief sie, so schnell sie nur konnte, herüber.

»Was ist passiert?«, horchte sie aufgeregt und besorgt nach.

»Sie hat sich ihren Knöchel schwer verletzt«, antwortete Celine.

Sandra hatte sie bis dato gar nicht wahrgenommen. 

»Verdammt! Wo kommst du plötzlich her?«, schimpfte die Brünette erschrocken und schaute ihr Gegenüber skeptisch an.

»Sie ist in Ordnung«, meldete sich Sam zu Wort. 

»Sie ist in Ordnung? Bist du verrückt? Du wolltest doch nur zur Lagune. Stattdessen gehst du auf Beutefang.«

Diese Ausdrucksweise schlug der Lagunenfrau übel auf, die hier schließlich die Beute sein sollte. Obwohl sie sonst ein recht impulsiver Mensch war, hielt sie sich in diesem Augenblick zurück und entschloss sich zu gehen.

»Komm gut heim!«, richtete sie ihre Worte an die blasse Frau mit dem zwischenzeitlich blau und grün unterlaufenen Fuß und ging.

»Warte!«, rief diese. »Bist du häufiger mal in der Lagune?«

Sandra traute ihren Ohren nicht, ersparte sich aber jedes weitere Wort. Stattdessen half sie Sam auf die Beine und legte deren Arm um ihren Nacken, um sie zu stützen.

»Meist dienstags und freitags«, antwortete Celine lächelnd und war kurz darauf im Dunkeln verschwunden.

Sandra und Sam kamen erst sehr spät in der Nacht in ihrem Dorf an, was nicht unbemerkt blieb. Freunde und Familie machten sich bereits große Sorgen und hatten schon Suchtrupps zusammengestellt. Sandra berichtete, dass Samira in den Bergen gestürzt sei und sie viele Stunden für den Rückweg gebraucht haben. Die Angehörigen kümmerten sich sofort um die verletzte Frau und hinterfragten die Geschichte glücklicherweise nicht weiter.

Sam hatte lange Zeit mit ihrer Verletzung und der damit verbundenen Ruheanordnung zu kämpfen. Ans Bett gefesselt zu sein, war schon schlimm, Celine aber nicht sehen zu können, fühlte sich noch schlimmer an. Sie ging ihr nicht mehr aus dem Kopf und nahm jeden ihrer Gedanken ein. Dieses braune, lockige Haar, die braunglänzenden Augen, ihre niedlichen Sommersprossen um die Nase herum und diese zarten Lippen. Sie wirkte wie eine leidenschaftliche, im Leben stehende Frau, die ganz sicher ein großes Herz besaß. Jeden Tag fragte sich Sam, was diese Schönheit auf der anderen Seite wohl gerade machte.

Celine hatte sich von ihrem Sturz deutlich schneller erholt als ihre Retterin von dessen Sprung. Ihre Familie sorgte sich am besagten Abend ebenfalls sehr, doch auch sie ließ sich eine plausible Geschichte einfallen, die niemand anzweifelte.Lediglich ein Mensch erfuhr, was wirklich geschehen war. Tiana war seit eh und je an Celines Seite und genoss ihr uneingeschränktes Vertrauen. Sie war der bunteste Vogel im Dorf und polarisierte stark. Celine liebte sie genau dafür und bewunderte ihren Mut. Als sie Tiana in allen Einzelheiten mitteilte, was in der Lagune vorgefallen war, hüpfte diese aufgeregt durchs Zimmer und wollte mehr und mehr Details erfahren. Endlich mal tat ihre Freundin etwas Verbotenes. Tiana war so stolz auf sie.

»Und? Sag! Wie sind die von da drüben so? Ach, ich wäre so gern dabei gewesen«, überschlugen sich ihre Worte.

Celine hatte zwar den Verlauf des Abends sachlich geschildert, doch dass es da ein paar harmonische Momente gegeben hatte, verschwieg sie bisher.

»Sie war nett«, berichtete sie in einem Tonfall, der Tiana gleich aufhorchen ließ. 

»So. Nett also?«, hakte sie auf ihre ganz spezielle Weise nach, die wiederum Celine wissen ließ, dass Tiana etwas ahnte.

»Ehrlich gesagt, bin ich mir nicht sicher, ob all die Geschichten stimmen, die man über die andere Seite erzählt«, äußerte Celine ihren Zweifel.

»Hatte sie drei Brüste?«, fragte ihre Freundin gespielt ernst. »Das sagt man auch über sie.«

Celine lachte. Tatsächlich hörte sie während ihrer Schulzeit Ähnliches. 

»Nein«, antwortete sie noch immer lachend. »Ich habe nur zwei gesehen. Eine dritte wäre mir bei dem nassen Shirt sicherlich aufgefallen.«

Die Frauen lagen auf dem Bett und kicherten wie kleine Mädchen vor sich hin. Mit einem Mal aber richtete sich Celine ruckartig auf.

»Ich habe mich gar nicht bedankt«, sagte sie erschrocken über ihr eigenes Verhalten.

»Wofür?« Tiana konnte den Gedanken ihrer Freundin gerade nicht folgen.

»Ach, nur dafür, dass sie mir das Leben gerettet hat«, platzte es sarkastisch aus Celine heraus.

»Wie hättest du dich denn gern bedankt?«, hakte Tiana frech grinsend nach.

»Du bist so doof!«, entgegnete Celine und warf ihr ein Kissen ins Gesicht.

Die farbenfrohe, ausgeflippte Fünfundzwanzigjährige konnte Fluch und Segen zugleich sein. Man schätzte oder verdammte ihre offene und ehrliche Art. 

Am Abend, als Celine für sich allein war, machte sie sich Gedanken darüber, wie sie sich heute gern bei Sam bedankt hätte. Immer wenn sie an sie dachte, kribbelte es auffällig stark in ihrem Bauch. Ein Gefühl, das sie lange nicht mehr hatte. Zwischen den beiden existierte eine solch starke Anziehungskraft, dass auch eine Brücke nichts daran ändern konnte.

Bei jedem Besuch der Lagune schaute Celine nun hoffnungsvoll die Felswand hinauf. Jeden Dienstag und Freitag war sie dort, doch Sam tauchte nicht auf. In der Hoffnung, sie an einem anderen Tag anzutreffen, verbrachte sie ihre Freizeit fast ausschließlich in der Lagune. Es vergingen Wochen und schließlich sogar ganze zwei Monate, ohne dass die kesse, süße Blondine zurückkehrte. Celine suchte nach Erklärungen.Ob sie eine neue Beute gefunden und mich schon wieder vergessen hat, fragte sie sich und zog sich mit ihrer Sehnsucht allein zurück.

Mittlerweile war es Mitte August und während draußen die Kinder im Wasser planschten, lag Sam krank im Bett. Endlich war nach vielen Wochen ihre Fußverletzung genesen, erwischte sie nun direkt die Grippewelle. Von morgens bis abends röchelte sie, bekam Fieber und hatte mit Schüttelfrost in der Nacht zu kämpfen. Zeitweise war sie am Ende ihrer Kräfte, vor allem ihrer seelischen Kräfte. Ständig von helfenden Menschen umgeben zu sein, machte sie allmählich wahnsinnig. Sie wollte sich ihr Essen allein kochen und nicht alle paar Minuten gefragt werden, wie es ihr ging. Die Wände des eigentlich sehr geräumigen Hauses schienen immer näher zusammenzurücken. Eine Woche später hatte sie das Schlimmste überstanden und konnte endlich mal wieder vor die Tür. Kurz vor Sonnenuntergang setzte sie sich auf den obersten Treppenabsatz und lehnte sich entspannt mit dem Rücken an das Geländer. Ein leuchtendroter Teppich legte sich über die Felder und Wälder des Dorfes, als wolle die Sonne die Erde für die kalte Nacht zudecken. Und auch Sam wurde mit einem Mal zugedeckt, was sie vor Schreck zusammenzucken ließ.

»Ach, du«, sagte sie erleichtert, was allerdings ebenso als gelangweilt missinterpretiert werden konnte.

»Ich kann auch wieder gehen«, harschte Sandra sie an.

»Nein, so war das doch nicht gemeint. Setz‘ dich her zu mir und komm mit mir unter die Decke.«

Samira bekam noch einen strafenden Blick zugeworfen, dann aber kuschelte sich ihre Freundin ganz eng an sie. Gemeinsam schauten sie aufs Feld hinaus und schwiegen eine Weile. Die genesene Abenteurerin stieß einen dezenten Seufzer aus, den ihre Seelenverwandte sogleich zur Kenntnis nahm.

»Du denkst an sie, oder? Und überleg erst, mit wem du sprichst, bevor du antwortest«, ermahnte Sandra, was augenblicklich fruchtete.

Sam nickte und schaute traurig zu Boden.

»Schlag sie dir aus dem Kopf! Sie würde mit dir nicht glücklich werden und du auch nicht mit ihr.«

So war Sandra. Gnadenlos ehrlich und immer direkt. Manchmal tat es weh und oft wurde die Kritik nicht gleich angenommen, dennoch brachte ihre beste Freundin sie stets zum Nachdenken und zur Selbstreflexion. In dieser Situation aber war Sam von Selbstreflexion noch weit entfernt. Es ging um eine Herzensangelegenheit, die man nicht einfach mit Nachdenken erledigen konnte.

»Warum sollten wir nicht miteinander glücklich werden?«, fragte sie in dem Bewusstsein, dass ihr Sandra sicher hunderte von Gründen nennen konnte. Aber sie nannte keinen einzigen, sondern zog stattdessen bloß die Augenbrauen hoch.

»Ich weiß, dass du sie suchen wirst, und ich weiß, dass es jede Menge Ärger geben wird, aber ich werde für dich da sein.«

Samira zog ihre Freundin an sich und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Viele Menschen empfanden Sandra zu Anfang als distanziert, arrogant und unnahbar, was daran lag, dass sie tatsächlich zunächst eine Distanz schaffte. Wer allerdings in ihr Herz gelangte, konnte sich stets auf sie verlassen.

Freitagnachmittag fand im Dorf ein sportlicher Wettkampf statt, an dem Sam aufgrund ihrer gerade erst verheilten Verletzung nicht teilnehmen konnte. Das verschaffte ihr die Möglichkeit, sich heimlich davonzuschleichen. Keiner bekam etwas mit und bald schon war sie an der Brücke. Nachdem sie sich versichert hatte, dass niemand dort war, überquerte sie die Grenze. Diesmal nahm sie den Weg, auf dem Celine sie von der Lagune zur Brücke begleitet hatte. Keinesfalls wollte sie noch einmal die Klippen erklimmen. Die letzten Meter zur Lagune ging sie parallel zum Pfad durch den Wald, schließlich bestand stets die Gefahr erwischt zu werden. Die Angst davor kam jedoch nicht ansatzweise an den Wunsch heran, Celine wiedersehen zu wollen. Und letztlich war das Glück auf Sams Seite. Sie war dort! Celines verheißungsvoller Körper glänzte im Schein der Sonne. Sie lag entspannt am Ufer und bräunte ihre seidenweiche Haut. Seit ihrer letzten Begegnung waren mehr als achtzig Tage vergangen. Sam versuchte sich an die Schönheit heranzuschleichen, doch ein morscher Ast verriet sie. Das Knacken war so laut, dass Celine umgehend die Augen öffnete und ihren Kopf hob. In dem Augenblick, als sie ihre süße Retterin entdeckte, zeichnete sich ein bezauberndes Lächeln in ihrem Gesicht ab.

»Du bist tatsächlich zurückgekommen«, freute sie sich. »Hat nur ein bisschen lange gedauert, findest du nicht?«, fügte sie scherzend hinzu.

Die leger gekleidete Blonde von der anderen Seite war froh, diesen bekannten Humor zu hören. Einen Moment standen sie wie angewurzelt voreinander, dann aber fiel Celine Sam um den Hals. Es war, als hätten zwei Magnete zueinandergefunden, die mit menschlicher Kraft nicht mehr voneinander getrennt werden konnten. Minutenlang hielten sie sich im Arm und vergaßen alles um sich herum. Eine Explosion von Glücksgefühlen ließ keine negativen Gedanken zu. Als sich die beiden voneinander lösen konnten, setzten sie sich auf einen Felsvorsprung und ließen die Beine ins Wasser baumeln.

»Geht es deinem Fuß wieder gut?«, erkundigte sich Celine.

Samira erzählte, dass sie wochenlang eingeschränkt war und dann noch mit einem Grippevirus zu tun hatte.

»Ich habe oft an dich gedacht«, flüsterte die Bikinischönheit, als wären ihr diese Worte ein bisschen peinlich.

In Wirklichkeit aber hatte sie Angst vor der Reaktion, die wie befürchtet prompt folgte.

»Ich hab‘ hier und da auch an dich gedacht«, erwiderte die kesse Blondine mit einem Zwinkern.

Es lag etwas in der Luft, etwas, das beide gleichermaßen fühlten.

Sam suchte den Augenkontakt zu Celine und fand ihn. Zwei saphirblaue Augen blickten in zwei kastanienfarbene und alle vier wussten genau, was sie wollten. Langsam näherten sich ihre Lippen. Sam versuchte sich ihre Aufregung nicht anmerken zu lassen, doch das, was da gerade in ihr geschah, war überirdisch. Selbst wenn sie gewollte hätte, wäre es ihr unmöglich gewesen, sich der Anziehungskraft dieser Frau zu entziehen. Dann berührten sich ihre Lippen zum zweiten Mal. Diesmal aber waren beide bei Bewusstsein. Es war nur ein kurzer Moment, doch er reichte Sam aus, um herauszufinden, wie Schönheit schmeckte. Sie war vorzüglich!

»Wir dürfen das nicht tun«, meldete sich Celines Gewissen. »Niemand würde das akzeptieren.«

»Meint dein Herz ebenfalls, dass wir das nicht dürfen?«

»Das spielt doch keine Rolle.«

Sam nahm ihre Hand und streichelte mit dem Daumen ihren Handrücken.

»Wenn das Herz keine Rolle spielt, was spielt dann eine Rolle?«

Celine wusste darauf keine Antwort, aber es gab vieles, was sie beschäftigte.

»Stimmt es, was man über euch erzählt?«

Sam grinste.

»Was erzählt man denn über uns?«

Celine fiel es schwer, die richtigen Worte zu finden.

»Na ja, dass ihr alle …, also ihr da drüben …, dass jeder mit jedem …?«

Sie brachte den Satz einfach nicht zu Ende und hoffte, dass Sam verstand, worauf sie hinauswollte.

Und sie verstand es. Die schüchterne, verklemmte Fragestellung der sonst so sicher wirkenden Lagunenfrau erheiterte sie.

»Warum grinst du so doof?«

Celine war peinlich berührt.

»Wenn du wissen möchtest, ob wir Polys wirklich mehrere Menschen zur selben Zeit lieben können, dann lautet die Antwort: Ja. Wenn deine Frage aber darauf abzielt, ob wir alle wie die Tiere übereinander herfallen und es wild untereinander treiben, dann lautet die Antwort: Nein.«

Celine schwieg. Der zweite Teil der Antwort gefiel ihr, der erste jedoch löste ein Gefühl der Eifersucht in ihr aus, zu der sie eigentlich kein recht hatte. Aber es war eben ein Gefühl, auf das sie keinen Einfluss hatte.

»Und wie viele Menschen liebst du so?«

Ihre Stimmlage war deutlich unterkühlt. Es war Vorsicht geboten.

»Ich befinde mich gerade in keiner Beziehung«, erklärte Sam kurz und knapp.

Das war nicht das, worauf Celine hinauswollte, deshalb formulierte sie ihre Frage noch mal um.

»Aber du hattest sicherlich schon Beziehungen? Wie viele Menschen hast du da zur gleichen Zeit geliebt?«

Dieses Gespräch ging in eine Richtung, die Konflikte versprach, aber Sam antwortete ehrlich.

»Ich war zwei Jahre lang mit einem Paar liiert«, erklärte sie.

Die monogam lebende Frau schüttelte verständnislos den Kopf.

»Ich kann einfach nicht nachvollziehen, wie man zwei Personen gleichzeitig lieben kann.«

Das war eine Aussage, die Sam nicht verstand.

»Aber das tust du doch auch. Bestimmt hast du gute Freunde, die du liebst, und deine Familie …«

»Das kannst du nicht miteinander vergleichen!«, unterbrach Celine sie ohne jede weitere Begründung.

»Wieso nicht?«, fragte Sam. »Für jeden dieser Menschen empfindet man eine individuelle Liebe und genau das macht es erst so besonders. Die Liebe zu deiner Mutter ist eine andere als die zu deinem Vater, aber dennoch ist es Liebe.«

Celine erkannte die gute Argumentation an, vertrat aber weiterhin ihren Standpunkt.

»Wenn ich einen Partner habe, dann möchte ich allein ihm gehören und andersherum muss es genauso sein«, brachte sie nun vor, was Samira einen kalten Schauer den Rücken hinunterlaufen ließ.

»Du willst wirklich jemandem gehören? Um Himmels willen! Warum das? Wir haben das Glück, als freie Menschen auf die Welt gekommen zu sein – und das möchtest du aufgeben?«

Ihre Empörung war deutlich herauszuhören und die Ratlosigkeit stand ihr ins Gesicht geschrieben.

»Dem anderen gehören, das sagt man halt so«, beschwichtigte Celine. »Ich meine damit, dass man sein Herz und Bett nur noch mit einem Menschen teilen möchte.«

Sam schaute so fragend drein, als würde man gerade in einer Fremdsprache mit ihr reden.

»Aber warum sollte man das wollen? Warum sollte man Liebe halten, statt sie freizulassen und sie zu leben?«

Für Celine waren diese Fragen einfach nicht nachvollziehbar.

»Weil ich ausflippen würde, wenn jemand anderes meine Frau berühren würde«, schrie sie mit einem Mal.

Sam sah sie mit großen Augen an und erkannte, dass ihre Lagunenfrau eifersüchtig war.

»So impulsiv, wie du bist, könnte man meinen, dass in dir eine Südländerin steckt«, sagte sie grinsend und hoffte, etwas Lockerheit in die Unterhaltung zu bringen, bevor sie endete.

Und tatsächlich ließ sich Celine auf diese Ablenkung ein.

»Damit liegst du nicht falsch«, antwortete sie und endlich zeichnete sich auch in ihrem Gesicht wieder ein freundliches Lächeln ab. »Ich bin im Alter von zwei Jahren mit meinen Eltern hergekommen, aber geboren wurde ich auf Sizilien.«

Eine Sizilianerin also. Das Klischee passte. In Sams Augen machte sie das nur noch interessanter. Sie mochte rassige Frauen, weil das vermutlich die Einzigen waren, die ihr das Wasser reichen konnten.

»Hast du Geschwister?«, erkundigte sie sich weiter.

Celine nickte zustimmend.

»Ich habe einen neunzehnjährigen Bruder. Und was ist mit dir? Hast du Geschwister?«

Samira bestätigte dies ebenfalls mit einem Nicken.

»Ich habe zwei ältere Brüder und eine jüngere Schwester«, gab sie von sich preis.

»Und dein Name ist wirklich Sam? Haben deinen Eltern zwei Jungs nicht gereicht?«, amüsierte sich Celine.

Sam fiel ein Stein vom Herzen, dass diese Harmonie wieder zugegen war.

»Ich heiße eigentlich Samira, aber meine Brüder haben mich schon als Kind Sam genannt. Wahrscheinlich, weil es kürzer war und man bei mir häufig schnell reagieren musste.«

Die Italienerin fragte sich, was sie damit meinte.

»Na ja, ich war als Kind ein kleiner Feger. Hat mich meine Familie einen Moment aus den Augen gelassen, bin ich auf den nächsten Baum geklettert oder habe geguckt, wie eine Sense funktioniert.«

Die Frauen lachten.

»Mir gefallen deine niedlichen Sommersprossen«, säuselte Sam verliebt.

Celine bekam einen heißen Kopf und lief rot an.

»Hör auf damit, mir so zu schmeicheln, Miss Charming«, forderte sie die süße Charmeurin auf, doch diese dachte gar nicht daran.

Berauscht von ihrem Gegenüber war Zurückhaltung etwas, was ihr gerade nicht in den Sinn kam.

»Ich mag dich wirklich sehr und ich möchte gern mehr über dich erfahren. Meinst du, das ist möglich?«

Sam wartete angespannt auf eine Antwort.

»Ich bin mir nicht sicher, wo das hinführen soll.«

Genau so etwas hatte sie befürchtet.

»Im schlimmsten Fall werden wir beide getrennt voneinander unseren Weg weitergehen. Im besten Fall aber werden wir gemeinsam in einen Rausch tiefster Gefühle eintauchen«, antwortete die Optimistin.

So formuliert, bekam Celine eine ganz neue Betrachtungsweise der Problematik und ihrer möglichen Folgen.

»Lernst du solche Aussagen vorab schon zu Hause?«, flachste sie und stieß Sam gegen die Schulter.

Sie beneidete Sams perfektionierte Schlagfertigkeit.

»Das wird uns schon in der Schule beigebracht«, entgegnete die Polyfrau trocken.

»Ist ja interessant. Und was habt ihr noch so für Schulfächer?«, ließ sich Celine auf den Spaß ein.

»Erste Hilfe«, schoss es sogleich aus Sam heraus.

Wieder war die Italienerin von der Geistes-gegenwärtigkeit ihrer Lebensretterin beeindruckt.

Vertieft in ihr Gespräch, bekamen die beiden jungen Frauen gar nicht mit, wie schnell die Zeit verging.

Erst als Sam die rötlichen Sonnenstrahlen in den Bäumen sah, bemerkte sie, wie spät es war.

»Es passt mir zwar selbst nicht, aber ich werde mich so langsam auf den Rückweg machen müssen«, erklärte sie bedrückt.

»Und werden wieder Monate vergehen, bis du zurückkehrst?«, fragte Celine.

Sam streckte den Arm aus und streichelte sanft über ihre Wange.

»Auf gar keinen Fall«, antwortete sie überzeugt und unterstrich die Aussage mit einem atemberaubenden, zärtlichen Kuss.

Viel zu früh für einen Samstagmorgen stand Samira im Bad und frisierte ihr Haar. Obwohl sie eigentlich eine Langschläferin war, fiel es ihr heute nicht schwer, aus dem Bett zu kommen, denn sie hatte ein wichtiges Date. Damit sie diesmal mehr Zeit füreinander hatten, verabredeten sich die Turteltäubchen schon für zehn Uhr morgens. Bereits Tage vorher kündigte Sam in ihrem näheren Umfeld an, dass es mal wieder Zeit für sie war, sich in den Bergen aufzuhalten. So sollte niemand Verdacht schöpfen. Alle paar Monate tat sie das, um das Alleinsein zu genießen und einfach nur schweigend der Natur zuhören zu können. Es war also die perfekte Ausrede, wenn Sams Schwester nicht plötzlich ins Bad gekommen wäre.

»Kannst du nicht anklopfen?«, pfiff sie die kleine Emily genervt an.

Emily war erst acht, aber sie war nicht auf den Kopf gefallen und schaute ihre große Schwester mit skeptischem Blick an.

»Was guckst du so? Geh aufs Klo und dann verschwinde zurück ins Bett«, blökte Sam sie an.

»Für wen machst du dich denn so chic?«, wollte das neugierige Mädchen wissen.

Sam fühlte sich ertappt, was sie nicht unbedingt freundlicher gegenüber ihrer Schwester werden ließ.

»Ich mache mich überhaupt nicht chic! Ich mache mir einfach nur die Haare. Und jetzt sieh zu, dass du ins Bett kommst.«

Emily klappte den Klodeckel hoch und setzte sich auf die Toilette, während Frau Eitelkeit die letzte Strähne richtig anordnete.

»Samira hat ein Date! Samira hat ein Date!«, trällerte die Unruhestifterin.

»Und du hast gleich ein Problem, wenn du weiter so rumbrüllst.«

»Ich sag es Mama und Papa, wenn du nicht lieb zu mir bist«, setzte sich Emily zur Wehr.

Sam belächelte die Drohung, wandte sich erneut dem Spiegel zu und träufelte ein wenig Parfum auf ihre Handgelenke. Hinter ihr erklang die Klospülung.

»Haben wir beide jetzt ein Geheimnis?«, flüsterte die süße Maus und drängelte sich an das Waschbecken.

Samira ging in die Hocke und streichelte ihrer Prinzessin durchs Haar.

»Ja, das ist nun unser Geheimnis. Du darfst niemandem davon erzählen, versprochen?«

Emily nickte aufgeregt, gab ihrer Schwester einen Kuss und schlich aus dem Badezimmer.

Ein letzter prüfender Blick in den Spiegel, dann schnappte sich Sam ihren Rucksack und ein belegtes Brot für unterwegs und schloss leise die Haustür hinter sich. Schon jetzt klopfte ihr Herz gewaltig vor Aufregung, ihre Füße wurden mit jedem Schritt schneller. Sie eilte zur Lagune und versteckte sich hinter einem großen Busch, weil sie etwas zu früh dran war. Mittlerweile spürte Sam ihren Herzschlag bis in die Ohren und ihre Schläfen pulsierten. Wie konnte eine einzelne Frau nur so viel Einfluss auf ihr Empfinden nehmen? Mit den Minuten, die vergingen, stieg auch Sams Anspannung. Immer wieder schaute sie links und rechts an dem Busch vorbei, doch weit und breit war niemand in Sicht.

Nach einer halben Stunde begann Sam sich Sorgen zu machen. Was wäre, wenn sie es sich anders überlegt hatte? Oder wenn ihr etwas passiert war? Was hätte Sam tun können? Wo hätte sie suchen sollen? Sie durfte nicht einmal dort sein. Das Gefühl der Hilflosigkeit missfiel Samira gewaltig. Sie war eine Frau der Tat, keine Frau des Zurücklehnens und Wartens. Glücklicherweise brauchte sie das auch nicht länger, denn endlich kam Celine schnellen Schrittes den Weg hinaufgeeilt. Sam lief ihr freudig entgegen.

»Es tut mir so leid, mein …«, begann sich Celine zu entschuldigen, als sie von einem langen, intensiven und zärtlichen Kuss unterbrochen wurde. »Wow! So sehr hat sich noch nie jemand über mein Zuspätkommen gefreut«, scherzte die Sizilianerin, gleich nachdem sie wieder zu Atem gekommen war.

Samira war einfach nur froh, dass mit ihr alles in Ordnung und sie doch noch aufgetaucht war.

Am heutigen Tag blieben die beiden Frauen nicht an der Lagune. Die Italienerin hatte etwas anderes geplant. Obwohl sich Sam ununterbrochen hätte fürchten müssen, erwischt zu werden, vergaß sie an Celines Seite einfach, wo sie sich befand.

»Wo gehen wir hin?«, fragte sie neugierig.

»Lass dich überraschen«, antwortete die brünette Schönheit und ging voran.

Sie bog auf einen schmalen Pfad ab, der offensichtlich durch die Berge führte.

»Hier sieht’s eigentlich genauso aus wie bei uns«, bemerkte Sam und hielt sich die Äste aus dem Gesicht.

»Meinst du die Berge?«

Samira nickte. »Die Berge, die schmalen Pfade. Unser Dorf liegt in einem Tal, umgeben von diesen Bergen. Ich schätze mal, dass wir uns hier auf der anderen Seite befinden.«

Natürlich konnte Celine ihr darauf keine Antwort geben, weil sie niemals auf der anderen Bergseite gewesen war, aber es klang plausibel.

»Ihr wohnt also in einem Tal?«, hakte die Sizilianerin nach.

Sam war kurz abgelenkt und lieferte sich einen Kampf mit einer Wurzel, die aus dem Boden ragte und ihren Schuh einfach nicht loslassen wollte. Dann aber gab sie ihr den entscheidenden Stoß und das Gewächs ergab sich ihrer Gegnerin.

»Ja, genau. In einem Tal«, antwortete Samira ein wenig außer Atem. »Wir bewirtschaften viele Felder und handeln mit den Gütern und Erzeugnissen. Ein bisschen retro, aber man besinnt sich auf die wichtigen Dinge im Leben«, erklärte sie weiter.

Nach einer kleinen Steigung gabelte sich der Pfad.

»Hier geht’s lang!«, zeigte Celine an und wies auf den rechten Weg.

Sam hatte es schon befürchtet. Dieser Weg führte augenscheinlich noch tiefer ins Dickicht und war ganz sicher voller Ungeziefer. Sie hasste es abgrundtief. Dennoch folgte sie dem sizilianischen Engel, der schnellen Schrittes vorausging.

»Was sind für dich die wichtigen Dinge im Leben?«, erkundigte sich Celine Minuten später und bezog sich damit auf Sams letzte Aussage.

»Die wichtigen Dinge des Lebens sind, das Leben als endlich anzuerkennen und die kostbare Zeit mit den Menschen zu verbringen, die dein Leben bereichern«, antwortete sie ein wenig außer Puste.

»Wie definierst du ›bereichern‹ in diesem Zusammenhang?«, horchte Celine genauer nach.

Sam fasste sich an ihre Leiste und bat um eine kurze Pause. Sie beugte sich nach vorn und stützte sich mit den Armen auf ihren Knien ab. Man konnte sie wirklich nicht als unsportlich bezeichnen, doch Celine war einfach noch um einiges fitter.

»Ich kann in dem Tempo nicht mit dir plaudern, das gibt meine Lunge nicht her«, entschuldigte sich Sam.

Nach wenigen Minuten ging es wieder und sie stellte sich aufrecht.

»Lass mich deine letzte Frage bitte beantworten, bevor wir weiterlaufen«, bat Sam. »Du möchtest wissen, wie mich Menschen bereichern können? Weißt du, für mich ist das Leben wie eine Schifffahrt. Du startest in einem Hafen, ohne das Ziel zu kennen. Manchmal musst du Umwege fahren oder erleidest sogar Schiffbruch. Auf dem Schiff lernen wir unsere Eltern kennen und reden uns ein, dass sie ein Leben lang mit uns auf diesem Schiff bleiben, doch das tun sie nicht. An irgendeinem Hafen steigen sie aus und du winkst ihnen das letzte Mal zu.«

Celine war gerührt von diesen Worten und lauschte ihnen voller Hingabe.

»Es werden weitere Reisende auf das Schiff kommen, wie dein Bruder, dein Onkel, deine Freunde und vielleicht sogar deine große Liebe.«

Verzaubert von der tiefen, aber zugleich sanften Stimme der Erzählerin, versank die Zuhörerin in einen Zustand der Entspannung.

»Viele von diesen Menschen werden mit der Zeit wieder das Schiff verlassen und einige werden eine tiefe Leere bei dir hinterlassen. Manche aber bleiben und werden dein Herz mit Liebe erfüllen.«

Sam schien am Ende ihrer Erklärung angekommen zu sein, doch wenn es nach Celine ginge, hätte sie stundenlang weiterreden können. Die Italienerin musterte Samira. Sie mochte ihr kurzes, gesträhntes Haar und fand Gefallen an ihrem lässigen Kleidungsstil.

»Das hast du wirklich schön gesagt«, schwärmte sie und himmelte Sam an.

»Danke«, erwiderte diese und zeigte an, dass sie wieder fit genug war, um weiterzulaufen.

Zum Glück waren sie schon bald am Ziel, das Sam nach wie vor unbekannt war. Celine räumte ein paar Äste zur Seite.

»Wir müssen hier durch diesen Höhleneingang«, erklärte sie und zeigte in eine dunkle Bergöffnung.

»Nicht dein Ernst?«

»Hat meine Lebensretterin etwa Angst vor der Dunkelheit?«, nahm sie Sam auf den Arm. »Keine Sorge! Es sind nur etwa acht Meter, dann ist es wieder hell«, versprach sie motivierend.

Nicht allein die Dunkelheit machte der kessen Blondine Angst, aber die Finsternis in Kombination mit der Enge und der Tatsache, dass es sich um eine Höhle handelte. Sam mied enge Räume für gewöhnlich, aber hinter dieser Finsternis musste sich etwas ganz Tolles befinden, sonst wären sie sicher nicht den weiten Weg gegangen. Sie riss sich also zusammen und tastete sich langsam vor. Damit sie sich etwas sicherer fühlte, reichte Celine ihr die Hand.

»Du sagtest, ihr wohnt in einem Tal. Ich möchte dir nun gern zeigen, wo wir wohnen«, erklärte die Sizilianerin und bog nach ein paar Metern links ab.

Sonnenstrahlen schienen durch die Spalten der Felswand und vertrieben die Finsternis. Sam hielt sich weiterhin an Celine fest. Mit jedem Schritt wurde es heller, was bedeutete, dass der Höhlenausgang ganz nah sein musste. Was aber befand sich dahinter? Wie sah das Dorf ihrer Italienerin aus? Der Ausgang war mit Stoff zugehangen, der sich im Wind bewegte.

»Schließe bitte deine Augen«, sagte Celine.

Augen schließen?Die Antwort war zum Greifen nah und nun sollte sie ihre Augen schließen? Widerwillig tat sie es. Ohne etwas sehen zu können, bemerkte die gespannte junge Frau, dass es noch heller wurde.

»Lass sie zu und tritt drei Schritte vor.«

Sam befolgte auch diese Anweisung.

»Bist du bereit?«, erkundigte sich Celine.

Bereiter ging es gar nicht. Sie wartete sehnsüchtig darauf, endlich Celines Dorf zu sehen.

»Ok, dann öffne sie jetzt.«

Das musste sie nur einmal sagen. Sam öffnete ihre Lider und brauchte einen Moment, um sich an die Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Zwei, drei Mal rieb sie sich die Augen, dann aber bekam sie so langsam klare Sicht und konnte nicht glauben, was sie sah.

»Wie schön ist das denn bitte?«, schwärmte sie und wollte noch einen Schritt vorgehen, woran sie aber gehindert wurde.

»Sie könnten dich sehen«, warnte Celine.

Sam verstand nicht gleich, wer gemeint war, bis sie nochmals heruntersah und ein paar Menschen entdeckte.

»Was machen die da? Warum trägt der Typ dort so einen eigenartigen Anzug?«

Celine grinste. »Die Männer feiern einen Junggesellenabschied«, klärte sie auf.

»Junggesellenabschied? Was ist ein Junggesellenabschied?«, hakte die Polyfrau nach.

Die Italienerin erkannte, dass die Frage ernst gemeint war und ihre Freundin von der anderen Seite auf eine Erklärung wartete.

»Du kennst wirklich keinen Junggesellenabschied, oder?«

Sam schüttelte unwissend den Kopf.

»Bevor zwei Menschen heiraten, feiern sie den Abschied von ihrem Junggesellenleben. Meist fließt dabei viel Alkohol. In der Regel wird bloß gefeiert. Manche übertreiben es aber und wollen es vor der Eheschließung ein letztes Mal wissen«, erklärte Celine.

In Samiras Gesicht war förmlich ein Fragezeichen abgemalt.

»Was wollen sie wissen?«, horchte sie naiv nach.

»Na, sie wollen noch mal mit einer anderen Person ins Bett gehen, bevor sie Treue schwören.«

Sam wandte sich erneut dem Höhlenausgang zu und sah irritiert den herumalbernden Männern zu.

»Und monogame Menschen stehen auf Männer in rot-lila-gestreiften Anzügen mit ‘nem Zylinder auf dem Kopf?«, fragte Samira mit entsetztem Gesichtsausdruck.

Bei jeder anderen Person hätte sich Celine auf den Arm genommen gefühlt, doch Sam meinte es ernst.

»Nein, wir begehren solche Anzüge nicht. Das ist eine Art Ritual. Der zukünftige Bräutigam muss Aufgaben erfüllen und meist trägt er dabei ein Kostüm.«

Für Sam klang all das sehr abstrus. Sie versuchte, den Sinn dahinter zu verstehen, doch es gelang ihr nicht.

»Warum verabschiedet ihr euch überhaupt von dem Leben, das ihr bisher geführt habt?«, wollte sie wissen.

Die Italienerin zögerte kurz.

»Ein Eheleben ist nun mal etwas anderes als ein Singleleben«, versuchte sie zu verdeutlichen.

»Das mag sein«, entgegnete Samira. »Aber Abschiednehmen bedeutet Traurigkeit. Jemand trauert um etwas, was ihm genommen wird. Wieso willigt ihr in ein Bündnis ein, das euch traurig macht? Warum unterschreibt ihr so einen Vertrag?«

Zum ersten Mal fehlten Celine die Worte. Während sie über eine Antwort nachdachte, bestaunte Sam den weißen Sand und das türkisfarbene Meer.

»Ihr habt tatsächlich einen eigenen Strand«, äußerte sie neidvoll.

»Ja, zum Glück haben wir den. Sonst wäre ich wohl arbeitslos«, erwiderte die brünette Schönheit.

Samira war neugierig, was das nun wieder zu bedeuten hatte.

»Ich bin Rettungsschwimmerin und bringe den Kindern das Surfen bei«, erzählte die Lagunenfrau lächelnd.

»Ich habe also einer Rettungsschwimmerin das Leben gerettet?«, neckte Sam ihr Gegenüber und stieß ihr dabei leicht gegen die Schulter.

»Ja, das hast du. Und die Rettungsschwimmerin hat sich dafür bis heute nicht bei dir bedankt. Darf ich das jetzt vielleicht nachholen?«

Ohne die Antwort abzuwarten, legte Celine ihre Hände um Sams Nacken, zog sie sanft zu sich und küsste ihre weichen Lippen.

Erstmalig berührten sich dabei auch ihre Zungen. Sam fühlte sich sprichwörtlich wie auf Wolke sieben. Ihre Knie wurden weich und ihr Kopf ganz warm. Welch ein Feuer steckte bloß in dieser faszinierenden Italienerin? Nur zögerlich trennten sich die Lippen der beiden Frauen.

»Entschuldigung angenommen!«, sagte Samira, gerade wieder zu Atem gekommen.

Zwischen ihnen herrschte ein wundervolles Wechselspiel der Emotionen. Befanden sie sich eben noch in einer romantischen Situation, übernahm kurz darauf der Humor die Oberhand und gleich danach wieder die Leidenschaft. Was auch immer vorherrschte, es lag ein gewaltiges Knistern in der Luft.

Sam warf abermals einen Blick hinunter ins Paradies und bewunderte die Menschen, die sich dort aufhalten konnten.

»Schon zwei Gründe, die dafürsprechen, die Seite zu wechseln«, flüsterte sie verträumt vor sich hin.

»Zwei?«, wiederholte Celine.

»Äh, was?«

Erst jetzt realisierte Sam, dass sie diesen Gedanken laut ausgesprochen hatte. »Ach nichts!«, versuchte sie aus der Nummer herauszukommen, doch ohne Erfolg.

»Zwei?«, fragte die Südländerin noch mal, hoffnungsvoll lächelnd.

Sam wusste, dass sie die Antwort darauf kannte, sie aber gern hören wollte, nur den Gefallen tat sie ihr nicht.

»Na, das Meer und der Strand«, klärte sie zwinkernd auf.

Der Ausblick war grandios. Das türkisfarbene Meer, die Kokosnuss-Palmen und der weiße, feine Sandstrand. Die Polyfrau fühlte sich wie in einer anderen Welt.

»Ich frage mich wirklich, wer dieser Aufteilung damals zugestimmt hat«, brummte sie.

Celine zuckte mit den Schultern.

»Ich weiß im Grunde nicht viel von dem, was hier früher geschehen ist. Als meine Eltern damals mit mir hier anreisten, wurden sie gefragt, wie sie leben möchten. Sie erzählten mir, dass sie die Frage zunächst gar nicht verstanden, bis man ihnen erklärte, dass auf dieser Seite hier die gesellschaftlich anerkannte Lebensform der Liebe gelebt wird. Von der anderen Seite wollten meine Eltern gar nicht erst mehr hören.«

Samira fühlte sich für einen Augenblick, als gehöre sie einer anderen Spezies an.

»Und wie sieht es mit dir aus? Möchtest du mehr von der anderen Seite erfahren?«, horchte sie nach.

Celine nickte und setzte sich auf den von Palmenblättern bedeckten Boden.

»Ja. Mich würde in erster Linie die Geschichte dahinter interessieren. Was ist vor fünfzig Jahren passiert, dass sich das Dorf spaltete? Weißt du da Genaueres?«

Nun setzte sich auch Sam. Die Geschichte schien ein bisschen länger zu sein.

»Meine Großeltern haben mir alles erzählt, als ich sechzehn wurde. Vor fünfzig Jahren, als sie Ende zwanzig, Anfang dreißig waren, begann diese Generation, die herkömmliche Beziehungsform aufgrund einiger Vorkommnisse zu hinterfragen.«

Der sizilianische Engel schaute fragend drein. »Welche Vorkommnisse?«

»Es herrschte eine förmliche Trennungswelle, weil sich Paare immer wieder betrogen oder belogen, und somit getrennte Wege gingen. Einige beteuerten, dass sie ihren Partner liebten, aber eben auch Gefühle für einen anderen Menschen hatten. Aufgrund solcher Aussagen wurde das herkömmliche Beziehungsmodell schließlich hinterfragt.«