Von der Angst zur Stärke - Bodo Janssen - E-Book

Von der Angst zur Stärke E-Book

Bodo Janssen

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Beschreibung

Wie können wir mit unseren Ängsten besser umgehen? Als Entführungsopfer kennt Bodo Janssen Ängste nur zu gut und zeigt in diesem biografischen Ratgeber, wie wir unserer Angst die Stirn bieten. Millionen von Menschen leiden unter konkreten oder diffusen Ängsten. Die Corona-Krise hat dazu geführt, dass Angststörungen in Deutschland noch einmal massiv zugenommen haben. Viele durchleben ihre Angst nicht nur seelisch, sondern sind auch mit den körperlichen Folgen anhaltender Angstzustände und Panikattacken konfrontiert. Einige sogar täglich. Dabei wird oft Stress vorgeschoben – dieser ist aber oftmals nur Symptom und nicht Ursache für Ängste.  Angst hat zwar auch ihre guten Seiten: Wir brauchen sie als Warnsignal, das uns vor Gefahren bewahrt. Aber die beklemmende und lähmende Angst, die uns als eine Art permanentes Kopfkino die schlimmsten Szenarien vor Augen malt, gilt es, in den Griff zu bekommen, wenn wir gesund und befreit leben wollen. Unternehmer Bodo Janssen hat Situationen erlebt, denen nur wenige Menschen in ihrem Leben ausgesetzt sind: eine Entführung mit Todesdrohungen und Scheinhinrichtungen. Schlaflose Nächte und Alpträume waren die Folge. Als Unternehmer kennt er auch wirtschaftliche Krisen und musste sich immer wieder existenzielle Fragen stellen. Und auch auf seinen Extrem-Bergsteigertouren hat er die Grenzen der Belastbarkeit kennengelernt. Bodo Janssen spricht über seine eigenen Erfahrungen im Umgang mit der Angst. Wie er im Laufe der Jahre gelernt hat, besser mit Ängsten umzugehen, sie nicht nur auszuhalten, sondern sich ihnen zu stellen – und die Angst in Energie zur Veränderung zu verwandeln. Der Bestseller-Autor macht Mut, dass es auch uns gelingen kann, ein Stück weit endlich frei von Ängsten zu werden. Dieses Buch ist ein Anker der Zuversicht in Zeiten der Krise. Und eine Einladung, das Leben als das zu begreifen, was es ist: ein Geschenk auf Zeit.

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Bodo Janssen

Von der Angst zur Stärke

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Ein Anker der Zuversicht in Zeiten der Krise.

 

Millionen von Menschen leiden unter Ängsten. Viele durchleben ihre Angst nicht nur seelisch, sondern auch körperlich. Einige sogar täglich. Bodo Janssen hat etwas erlebt, dem nur wenige Menschen in ihrem Leben ausgesetzt sind: eine Entführung mit Todesdrohungen und Scheinhinrichtungen.

 

»Ich habe meine ganz eigenen Erfahrungen mit der Angst gemacht – und ich habe Wege gefunden, wie ich mit diesem negativen Gefühl umgehen und neue Stärke entwickeln kann. Von diesen Wegen will ich dir erzählen. Vielleicht kannst du ja das eine oder andere für deinen eigenen Umgang mit der Angst daraus mitnehmen.«

 

Bodo Janssen

Inhaltsübersicht

Es ist der Widerstand [...]

1 // Zeitenwende

2 // Vierter Stock

3 // »Klick«

4 // Kleine und große Fluchten

5 // Schutz suchen

6 // Der Schrei

7 // Rettung

8 // Angst haben wir alle

9 // Das große Durcheinander

10 // Schneller, höher, weiter – bis wir nicht mehr können

11 // Spring!

12 // Hoffnung

13 // Wahrnehmen, was ist

14 // Die Kraft guter Gedanken

15 // Leidenschaften

16 // Sich den inneren Dämonen stellen

17 // Wind und Wellen

18 // Vertrauen

19 // Jeden Augenblick als Möglichkeit begreifen

20 // Hört denn die Krise niemals auf?

21 // Gut für mich selbst sorgen

// Epilog

Gutes Leben

Zum Schluss: Ein Abendritual

Es ist der Widerstand gegen die Wirklichkeit,

der uns an den Ort führt, wo die Angst zu Hause ist.

Bodo

1 // Zeitenwende

Feuerwehrmänner hasten über eine Wiese zu einem brennenden Hochhaus. Dichter schwarzer Rauch dringt aus leeren Fensterhöhlen, ein einzelner Schuh, zerbrochenes Geschirr und Kinderspielzeug liegen auf der Straße. Verstörte Bewohner stehen mit rußgeschwärzten Gesichtern vor den Trümmern ihrer Existenz.

Es ist Krieg in der Ukraine. Und all die schrecklichen Bilder graben sich in unsere Seele ein. Am 24. Februar 2022 hat Russland damit begonnen, in die Ukraine einzumarschieren, Flugplätze, Treibstoffdepots, Militäreinrichtungen, Städte und ihre Bewohner zu bombardieren. In den ersten Tagen des Krieges bewegt sich eine bis zu 60 Kilometer lange Kolonne aus Panzern und Truppentransportern auf die Hauptstadt Kiew zu. Viele rechnen damit, dass die russische Armee mit ihrer militärischen Überlegenheit alles überrennen und die ukrainische Regierung stürzen wird.

Aber es kommt anders. Dem ukrainischen Militär gelingt es, dem Angriff standzuhalten und ihren Gegner in den Vororten der Hauptstadt zu stoppen. Doch die Kämpfe gehen mit unglaublicher Härte weiter. Auch eine Geburtsklinik und zahlreiche andere Krankenhäuser im Land werden von russischen Raketen, Bomben und Granaten getroffen, Städte und Dörfer verwüstet, Tausende von Soldaten und Zivilisten getötet.

Über 7,8 Millionen Ukrainer haben laut dem UNHCR ihr Land verlassen und sind vorläufig als Flüchtlinge in Europa registriert.1 Schätzungen der Vereinten Nationen gehen davon aus, dass mehr als zwei Drittel der Kinder in der Ukraine ihr Zuhause verloren haben. Und wir müssen bei alldem weitgehend ohnmächtig zuschauen.

Die Vereinten Nationen verurteilen den Krieg und fordern, die Kampfhandlungen sofort einzustellen – Russland ignoriert die Forderung. Die Sanktionen, die viele Länder verhängen, scheinen Wirkung zu entfalten. Aber all das reicht nicht, um der von Wladimir Putin ausgehenden Aggression Einhalt zu gebieten. In die Enge getrieben, droht dieser mit dem kompletten Stopp russischer Gaslieferungen – und einem Atomkrieg. Wörtlich mit »Konsequenzen nie da gewesenen Ausmaßes«.

Der Wissenschaftler Pavel Podwig, der sich am UN-Institut für Abrüstungsforschung in Genf mit den russischen Nuklearstreitkräften befasst, erklärt in einem Interview mit DIE ZEIT,2 dass er diese Gefahr für durchaus real hält. Ein Schreckensszenario, das jede Menge Ängste auslöst. Viele Menschen befürchten, dass Russlands Angriff auf die Ukraine Auswirkungen auch auf ihr Leben haben wird. Und ja, das wird so sein.

Wie bereits während der Pandemie gab es auch zu Beginn des Ukraine-Krieges in den Supermärkten kein Mehl und kein Sonnenblumenöl mehr, weil immer mehr Menschen von jetzt auf gleich damit begannen, Vorräte zu hamstern und die Regale leer zu kaufen. Leere Regale sind auch ein Ausdruck von Angst. Uns allen wurde noch einmal neu deutlich, wie stark unsere wirtschaftlichen Abhängigkeiten eigentlich sind.

Knapp eine Woche nach Kriegsbeginn berichtet DIE ZEIT3 über eine Forsa-Umfrage, die im Auftrag von RTL und ntv durchgeführt wurde. 69 Prozent der Befragten befürchten, dass NATO-Länder in den Konflikt hineingezogen werden könnten. Und der deutsche Mediziner Frank Ulrich Montgomery, der Vorsitzender des Weltärztebundes ist, mahnt, dass man die Angst der Menschen vor einem Atomkrieg unbedingt ernst nehmen soll: »Gerade in der älteren Generation kann es jetzt passieren, dass Menschen traumatisch auf die Kriegsnachrichten reagieren, dass sie verstärkte Ängste erleben, sich zurückziehen …« Betroffenen rät er, das Gespräch mit Freunden und Angehörigen zu suchen – und sich, falls dies nicht hilft, ärztliche Hilfe zu holen.

Menschen, die den Zweiten Weltkrieg als Kind miterlebt haben, berichten, dass angesichts der Bilder und Berichte aus der Ukraine die alten Erinnerungen hochkommen. Dass sie auf einmal wieder den beißenden Brandgeruch in der Nase haben, den sie damals bei den Bombenangriffen in ihrer Heimatstadt ertragen mussten. Dass sie die Hilferufe der Menschen im Ohr haben, die in ihren Kellern elendig verbrannten. Oder den Lärm der Luftschutzsirenen. Alles ist wieder da – auch die Angst.

*

Gewalt ist immer Ausdruck von Angst. Wer sich in die Enge gedrängt fühlt und sich irgendwann nicht mehr anders zu helfen weiß, schlägt zu, um sich den Weg freizukämpfen. Und wer befürchtet, dass ihm sein Besitz weggenommen wird, greift im Zweifelsfall auch zum Mittel der Gewalt, um zu verteidigen, was er hat. Aus dem Drang, sich von der Angst zu befreien, entstehen Kriege und Gewalt zwischen Volksstämmen, Nationen oder Religionen. Manch einer geht auch zum Angriff über, weil er spürt, dass ihm die Felle wegschwimmen. Den russischen Präsidenten hat vielleicht auch die Angst vor einem Bedeutungsverlust dazu getrieben, einen Angriffskrieg zu beginnen. Wer weiß?

Ein passendes Äquivalent finden wir auch in der Tierwelt: Hunde, die bellen und um sich beißen, sind oft die größten Angsthasen! Und wenn wir auf gewalttätige Menschen mit gewalttätigen Gedanken und Emotionen wie Zorn treffen, ist das der Beginn einer weiteren Eskalation.

 

Was wäre, wenn Wladimir Putin nicht nur damit droht, sondern tatsächlich irgendwann auf den roten Knopf drückt und Atomraketen abfeuern lässt? Die Folgen wären verheerend. Wenn es zu einem Dritten Weltkrieg käme, der mit Atomwaffen ausgetragen würde, könnten Millionen von Menschen innerhalb kürzester Zeit sterben. Forscher haben Szenarien entwickelt, welche Auswirkungen ein nuklearer Krieg auch auf das weltweite Klima hätte – selbst wenn ein solcher Krieg »nur« regional begrenzt ausgetragen würde. Durch die Atomexplosionen und dadurch ausgelöste Brände würde gigantische Mengen an Rauch und Rußpartikeln entstehen, die die Sonneneinstrahlung auf der Erde verringern. Die Folgen wären eine deutliche Abkühlung der Erdoberfläche, eine massive Verringerung der Niederschläge, Missernten und Hungersnöte. Das will sich keiner vorstellen.

Seit Beginn des Krieges wird auf allen politischen Ebenen diskutiert, ob wir als Bundesrepublik Deutschland der Ukraine schwere Waffen liefern – Kampfpanzer, Kampfflugzeuge oder Mehrfachraketenwerfer. Eine Diskussion, die viele Menschen umtreibt. Die einen befürchten, dass wir damit in einen Krieg hineingezogen werden, andere lehnen jegliche Waffenlieferungen kategorisch ab. Bundeskanzler Olaf Scholz betont immer wieder, dass er es für zu riskant hält, im Alleingang schwere Waffen zu liefern. Wenn alle anderen europäischen Partner mitmachen würden, dann würden sie die Lage nochmals neu bewerten. Der ukrainische Präsident Selenskyj sagt: »Wenn wir dem russischen Angriff nicht mehr standhalten können, weil wir nicht über genügend Waffen und Munition verfügen, dann seid ihr Deutschen die nächsten.« Und der russische Präsident und sein Außenminister werden nicht müde zu drohen, dass Waffenlieferungen und jegliche andere Form von Unterstützung der Ukraine schwerwiegende Konsequenzen haben werden.

Eine komplizierte, schier unlösbare Situation, in der es so oder so vermutlich nicht ausbleiben wird, dass es zu weiteren Konflikten kommt. All das Drohen und Fordern ist aus meiner Sicht letztlich auch ein Spiel mit der Angst. Ob Olaf Scholz aus Klugheit derart taktiert oder aus der Angst heraus, dass er am Ende als derjenige gilt, der mit der Lieferung schwerer Waffen einen Dritten Weltkrieg in Europa ausgelöst hat? Vermutlich beides.

Wie kommt man aus so einem Dilemma raus? Die Methode der Abschreckung durch Angst hat viele Jahre funktioniert. Abzuwarten und nichts zu tun, heißt ja nicht, dass die Bedrohung kleiner wird. Also wir müssen uns irgendwie verhalten. Zuerst liefert Deutschland Helme, dann Munition und einige Panzerhaubitzen. Ende Juli 2022 wird gemeldet, dass die ersten 3 deutschen Gepard-Panzer sowie mehrere Zehntausend Schuss Munition in Kiew eingetroffen sind.4 Es ist die zweite Lieferung schwerer Waffen an das kriegsgebeutelte Land. Die Lieferung von 27 weiteren Panzern und Rüstungsgütern wird erwartet. Und viele Menschen in Deutschland halten die Luft an, ob das gut geht und es am Ende nicht doch darauf hinausläuft, dass wir in den Krieg hineingezogen werden.

*

Auch die Pandemie mit ihren Auswirkungen hat unser bis dahin vertrautes Leben durcheinandergewirbelt. Krankheit und Tod waren plötzlich in bislang ungekanntem Maße überall präsent. Zunächst wusste niemand die neuartige Krankheit wirklich einzuschätzen. Impfstoffe fehlten, Atemschutzmasken waren Mangelware. Die Bilder der Lastwagen, mit denen in der italienischen Stadt Bergamo die Toten abtransportiert wurden, haben sich tief in das kollektive Gedächtnis eingegraben. Und wir vergessen auch nicht die Aufnahmen der Sterbenden in den Fluren überlasteter Krankenhäuser. Es sind beängstigende Bilder. »So will ich auf keinen Fall enden!« – das haben bestimmt viele gedacht, als sie die Fotos sahen.

Das endlose Auf und Ab der Infektionsraten in Deutschland hat an den Nerven gezehrt, ebenso wie das Hin und Her der Bundesregierung in Sachen Pandemiebekämpfung. Und kaum hatten wir das Gefühl »Jetzt wird das hoffentlich alles bald ein Ende haben …«, begann der Krieg in der Ukraine. Uns wurde nochmals deutlich, dass vieles von dem, was wir jahrzehntelang als »sicher« und selbstverständliche Gewissheit betrachtet hatten, brüchig geworden ist.

Jeden Tag erreichen uns seitdem nahezu stündlich weitere Nachrichten über gewalttätige Auseinandersetzungen. Wir sehen all die schrecklichen Bilder und hören, dass es nicht absehbar ist, dass dieser oder jener Konflikt ein Ende haben wird. Und viele von uns haben – Angst! Plötzlich haben die Unsicherheit und das Grauen Einzug in unser Leben gehalten. Wir sind in einer Art Dauerkrise gelandet. Und die verschiedenen Ausdrucksformen der Krise sind derart miteinander verflochten, dass es unvorstellbar erscheint, wieder zur früheren Normalität zurückzufinden. Vielmehr ist der Krisenmodus, das Unvorstellbare zu einer neuen Normalität geworden.

*

Viele haben – natürlich durchaus nicht unbegründet – Angst davor, dass der Krieg in der Ukraine dazu führt, dass ihre eigene Situation sich zunehmend verschlechtert. »Wenn das so weitergeht, dann werden wir im Winter bei 15 Grad in unseren eiskalten Wohnungen hocken, wir werden uns in Decken hüllen und trotzdem frieren.« Aber die Befürchtung bringt uns keinen Zentimeter weiter. Und die Krise birgt auch eine Chance: neue Wege zu finden, wie wir alternative Energiequellen nutzen können. Es ist ohnehin klar, dass die fossilen Energieressourcen endlich sind und wir nicht dauerhaft so leben können wie in den letzten fünf Jahrzehnten. Wir müssen ganz andere Modelle entwickeln.

Wenige Monate nach Beginn des Konfliktes wurde aus der Drohung Wirklichkeit. Russland dreht den Gashahn weitgehend zu. Und wir haben zu spüren bekommen, dass es schwer ist, auf das russische Gas zu verzichten, weil die Industrie hierzulande jede Menge Energie verbraucht, damit die Wirtschaft ihren Schwung behält.

Der Krieg hat auch sonst einige Auswirkungen auf die Versorgungslage – und das weltweit. In Afrika hungern die Menschen bereits jetzt, weil die Weizenlieferungen aus der Ukraine ausfallen. Wie soll das werden, wenn der Krieg weiterhin andauert? Die einstige »Kornkammer Europas« – die Ukraine – ist bereits jetzt zu größeren Teilen in Mitleidenschaft gezogen, und ganze Landstriche sind verwüstet. Es wird Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern, das wieder aufzubauen, was jetzt in wenigen Wochen durch die russischen Truppen und den Bombenhagel vernichtet wurde.

 

Die gesamte Welt ist in Aufruhr. Der Klimawandel ist scheinbar kaum noch aufzuhalten, Unwetter und Naturkatastrophen wie die schwere Sturzflut im Sommer 2021, die australischen Buschbrände im Winter 2019/2020 oder Hungersnöte bedrohen Millionen von Menschen. Kriege und Gewalt machen uns Angst. Am liebsten würden wir an der alten, vertrauten Welt, in der wir uns so nett eingerichtet hatten, festhalten, so lange es irgendwie geht. Aber unser Leben ist und bleibt instabil und verletzlich. Das war uns irgendwie für lange Zeit aus dem Blick geraten, weil wir uns in Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges daran gewöhnt haben, dass es immer ausreichend zu essen und zu trinken gab, wir ein gut funktionierendes Gesundheitswesen haben (manchmal mit kleinen Abstrichen) und ein Sozialsystem, das viele Härten abfedert. Vor allem aber haben wir ein Leben in Frieden und Sicherheit geführt.

Natürlich gab es nicht nur Wohlstand, sondern zeitgleich auch immer Armut in Deutschland. Aber im weltweiten Vergleich hatten wir dennoch keinen Grund zum Jammern. Und wenn, war es immer ein Jammern auf hohem Niveau.

Der Psychologe Stephan Grünewald spricht vom »Auenland«, das wir in den letzten 75 Jahren in Deutschland erlebt haben. Deutschland, das Wirtschaftswunderland, in dem der Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg in unerwartetem Maße und kürzester Zeit gelang. Ein Land, in dem es den allermeisten Bewohnerinnen und Bewohnern – besonders im Vergleich mit anderen Ländern der Erde – bis heute richtig gut geht. Wohlstand, Freiheit und Sicherheit sind Begriffe, die viele mit unserem Land verbinden. Auch ich.

In seinem Bestsellerbuch »Wie tickt Deutschland?: Psychologie einer aufgewühlten Gesellschaft«5 beschreibt Grünewald, wie sich in den letzten Jahren zunehmend ein Gefühl des Wandels eingestellt hat: das Bewusstsein, dass es mit dem Auenland nicht mehr lange so weitergehen kann, weil wir längst die Grenzen des Machbaren erreicht haben.

Wir merken, dass Wachstum endlich ist – und permanente Grenzüberschreitungen dazu führen, dass wir auf Dauer die Natur und uns selbst total überlasten. Der Club of Rome – eine Runde kluger Köpfe – hatte schon 1972 auf die Grenzen des Wachstums hingewiesen. 50 Jahre später stecken wir mitten in einem Strudel von Entwicklungen, die sich kaum noch aufhalten lassen. Bedrohung und Unsicherheit führen logischerweise dazu, dass sich in der Breite der Bevölkerung zunehmend Ängste und Sorgen einstellen.

Das Gefühl, dass wir langsam Abschied nehmen müssen von unserem lieb gewonnenen Status von Bequemlichkeit und Sicherheit, lässt sich jedenfalls nicht mehr von der Hand weisen. Das einst weitgehend sorglose Auenland verwandelt sich gefühlt mit zunehmendem Tempo in ein »Grauenland«. Eine Talsohle, in der diejenigen, die aus dem vermeintlich immergrünen Paradies absteigen, zukünftig ihr Dasein fristen müssen.

Das Fazit von Stephan Grünewald ist, dass wir mit Blick auf all diese Entwicklungen zusehen müssen, dass wir aus dem Abwarten und der Lethargie (»Ich kann ja eh nichts tun, es ereignet sich so oder so …«) zu einem »Trauen« kommen. Dass wir uns trauen zu handeln und immer wieder neu das Leben wagen! So zeichnet er zum Schluss in seinen Ausführungen auch das Bild des »Trauenlandes«, in dem mehr und mehr Menschen sich dafür einsetzen, dass wir Zukunftsperspektiven gewinnen und optimistisch nach vorne blicken können. Ein schönes Bild, an dem ich festhalten möchte!

 

Auf der Beerdigung von Claudias Großmutter sagte der Pastor über sie: »Sie war eine starke Frau, die zu einer Generation gehörte, die die Fähigkeit besaß, das Leben zu nehmen, wie es kam.« Dieser Satz hat mich sehr tief beeindruckt, er bringt eins zu eins das zum Ausdruck, worauf es gegenwärtig ankommt.

*

Bundeskanzler Olaf Scholz sprach in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag zu Beginn des Krieges in der Ukraine mit Blick auf die Sicherheitspolitik von einer Zeitenwende. Mit diesem Wort traf er den Nerv vieler. Es ist tatsächlich eine Zeitenwende, weil mehr und mehr Menschen klar wird, dass die Krise die neue Normalität ist. Und wir werden sie nicht vermeiden können, sondern müssen lernen, klug mit der jeweiligen Situation umzugehen.

Nichts wird mehr so sein wie vorher: Das wird uns zunehmend klar. Und dieser Gedanke macht vielen von uns Angst! Mehr noch: Manch eine(r) fühlt sich angesichts der Herausforderungen, vor denen wir stehen, total hilflos. In der Tat gibt es derzeit gefühlt mehr Probleme als Lösungen. Aber das sollte uns nicht dazu verleiten, die Hoffnung auf eine lebendige, friedvolle und freie Welt aufzugeben.

 

»Wir können gegen all das nichts machen«, denken viele. Tatsächlich können wir über sehr vieles, was um uns herum geschieht, nicht verfügen. Das Gefühl der Dauerkrise – ein Ereignis reiht sich an das andere – lähmt uns, und wir haben den Eindruck, dem ganzen Konglomerat an Herausforderungen und Belastungen ohnmächtig gegenüberzustehen. Das, worüber wir aber verfügen können, ist unsere Einstellung zu den Dingen. Wie wir mit den Auswirkungen jeder einzelnen Krise auf unser Leben umgehen. Das, was wir mit den uns zur Verfügung stehenden Möglichkeiten verändern können, sollten wir tun. Und alles andere müssen wir akzeptieren. Ein jüdisches Sprichwort sagt: »Fürchte dich nicht vor etwas, was du sowieso nicht ändern kannst.«

Wenn es immer mehr Menschen gelingt, sich auf die während einer Krise verbleibenden Möglichkeiten zu fokussieren und persönlich daran zu wachsen, ist dies der Anfang einer neuen Wirklichkeit.

Das Denken in Möglichkeiten, sich zu fragen: Welche Optionen habe ich? Und was mache ich daraus? – das ist ein Weg in die Freiheit. Ich habe mich dafür entschieden, nur noch in Möglichkeiten zu denken: Egal, was mir das Leben beschert, was um mich herum geschieht, was auch immer es ist – ich mache mir bewusst, welche Möglichkeiten ich habe, und gehe dann damit um. Ich wähle einen Weg, treffe eine Entscheidung und agiere entsprechend. Manchmal bedeutet dies, direkt zu handeln. In vielen Fällen entscheide ich mich auch bewusst, abzuwarten und gelassen zu bleiben.

 

Kollektiv gefühlte Bedrohungen wie Flutkatastrophen oder Kriege führen zum Beispiel dazu, dass wir eher dazu geneigt sind, uns wieder mit anderen zusammenzuschließen, weil wir gemeinsam einfach stärker sind. Nicht nur um ein Land zu verteidigen – sondern auch um zusammen eine Vision eines friedlichen Miteinanders zu entwickeln. Die weltweite Solidarität mit den aus der Ukraine geflüchteten Menschen ist ein gutes Beispiel dafür, wie wir angesichts von Elend und Not zusammenstehen und füreinander sorgen.

Doch solange Angst herrscht, werden sich Gewalt und Hass nicht ausrotten lassen. Es ist die Angst, die uns das Leben gegenseitig oft zur Hölle machen lässt. Das Gefühl, in Lebensgefahr zu schweben und von einem vermeintlich feindlich gesinnten, aber in Wirklichkeit vielleicht auch selbst ängstlichen Menschen mit einer Waffe bedroht zu werden, kenne ich nur zu gut. Ich habe meine ganz eigenen Erfahrungen mit Gewalt und Todesangst gemacht – und ich habe Wege gefunden, wie ich mit der Angst und dem Ohnmachtsgefühl umgehen und neue Stärke entwickeln kann. Von diesen Wegen will ich dir in den nächsten Kapiteln erzählen. Vielleicht kannst du ja das eine oder andere für deinen eigenen Umgang mit der Angst daraus mitnehmen.

2 // Vierter Stock

Wir wollen es heute wieder einmal richtig krachen lassen und an diesem lauen Sommerabend zusammen durch die Klubs ziehen. Ich bin frisch geduscht, habe mir meine weiße Kunstlederhose angezogen und ein buntes Hemd übergeworfen. Barfuß schlendere ich auf der Suche nach meiner Sonnenbrille durch die Wohnung. Gleich wird Volker vorbeikommen und mich abholen.

Um halb zehn klingelt es an der Tür. Volker ist da.

Kennengelernt haben wir uns in einer Bar am Hamburger Gänsemarkt, in der ich mit meiner damaligen Freundin und einigen Kumpels einen lustigen Abend verbrachte. Volker stand plötzlich neben uns, irgendwie ein ziemlich cooler Typ, Anfang 30. Die paar Jahre Altersunterschied fallen nicht ins Gewicht, dachte ich. Aber mit 24 schaut man dann doch zu jemand wie Volker auf. Wir kamen ins Gespräch, verstanden uns auf Anhieb: Schnell war klar, dass er Leute kennt, die Drogen beschaffen können – und ich war gerade abends immer auf der Suche nach einem Tütchen Koks.

In den folgenden Wochen zogen wir öfter zusammen um die Häuser. Aber eines Tages war Volker wie vom Erdboden verschluckt. Später erfuhr ich von Bekannten, dass er in Santa Fu sitzt – der Justizvollzugsanstalt in Hamburg-Fuhlsbüttel. Mich überraschte und schockte das nicht. Wer mit Drogen dealt, muss damit rechnen, verurteilt zu werden.

Meine Eltern sind seit den 1980er-Jahren erfolgreiche Unternehmer in Emden, sie leiten ein Unternehmen, das Hotels und Ferienwohnanlagen errichtet und bewirtschaftet. Ich lasse es mir gut gehen und mache das, wonach mir der Sinn steht.

Vor einiger Zeit habe ich bei einem Schönheitswettbewerb gewonnen, und jetzt fliege ich zu Fotoshootings nach Barcelona, Mailand, Athen oder Kapstadt. Auch in Paris war ich kürzlich für ein paar Tage, eine Wahnsinnsstadt mit tollen Klubs wie das Les Bains, wie ich finde.

In einem Szenelokal habe ich eine Weile als Barkeeper gearbeitet. Mit meinem schwarzen BMW-Cabrio sause ich durch die Gegend und genieße den Glanz des Daseins. Das Leben ist, so denke ich manchmal, ein einziges großes Fest. Ich ergreife die Möglichkeiten, die sich mir bieten.

Meine Eltern finden den Umgang, den ich in letzter Zeit pflege, nicht so toll. Ich bin auch sonst immer ein wenig das selbst ernannte schwarze Schaf der Familie. Mit meinen 24 Jahren habe ich immer noch keine Ausbildung abgeschlossen. Das Feiern steht im Vordergrund.

*

Irgendwann tauchte Volker wieder auf, fast ein Jahr war seit unserer letzten Begegnung vergangen. Wieder verbrachten wir eine coole Zeit miteinander, Volker verstand es, die schicksten Locations aufzutun, und beschaffte mir auch immer wieder den Stoff, den ich brauchte, um so richtig in Stimmung zu kommen.

Eines Abends stellte er mir bei einem Treffen in einem Klub seinen Bekannten Kresimir vor, einen Bosnier in den Mittzwanzigern mit langen Haaren und Zopf. Kresimir suchte gerade eine Wohnung, da konnte ich helfen. Vor einigen Tagen war ich aus meiner Hamburger Studentenbude ausgezogen und wohnte jetzt mit einem Kumpel in einer schicken Gartenvilla im Stadtteil Rotherbaum auf 130 Quadratmetern. Noch lief aber der Mietvertrag für die alte Wohnung – Kresimir konnte ja erst einmal dort als Untermieter von mir einziehen.

Das machte er dann auch bald darauf. Einen Mietvertrag brauchte es aus meiner Sicht nicht, ich sah das ziemlich locker, ärgerte mich dann aber doch, als Kresimir die Miete von Anfang an nur schleppend überwies und bald ziemlich in Verzug war.

*

Heute Abend hat Volker gute Nachrichten mitgebracht. »Kresimir hat das Geld, das er dir schuldet, jetzt zusammen und will es dir persönlich überreichen. Lass uns nachher bei ihm vorbeigehen, dann bekommst du deine Kohle. Kresimir ist gerade bei einem Kumpel in den Grindelhochhäusern. Und danach ziehen wir durch die Klubs.«

Zu Fuß sind es bis zu den Grindelhochhäusern nur ein paar Minuten. Warum nicht, denke ich – dann ist das mit der Kohle endlich erledigt und aus der Welt.

Das Grindelbergareal im Bezirk Eimsbüttel westlich der Alster war bei Bombenangriffen der Alliierten im Jahr 1943 völlig zerstört und nach Kriegsende neu bebaut worden. Inzwischen stehen die zwölf Hochhäuser mit bis zu 14 Stockwerken unter Denkmalschutz. Volker und ich gehen durch die Hallerstraße und erreichen wenig später den Eingang des Hochhauses, in dem wir mit Kresimir verabredet sind. Durchs Treppenhaus geht es in den vierten Stock, Volker geht voraus und schließt die Wohnungstür linker Hand auf. Ich betrete nach ihm den dunklen Flur und denke noch: Warum macht Volker denn kein Licht?

Dann geht alles rasend schnell. Von der Seite kommt eine große Gestalt auf mich zu und schubst mich brutal in ein Zimmer. Ehe ich mich’s versehe, liege ich auf dem Sofa, und der Typ fesselt mir Hände und Füße mit Panzerklebeband. Volker ergeht es genauso, wenige Meter von mir entfernt sehe ich ihn am Boden liegen. Ich kann mich nicht mehr rühren. Inzwischen ist das Licht eingeschaltet worden. Drei Männer stehen vor uns, schwarz gekleidet. Man hat uns eine Falle gestellt!

»Wenn du Scheiße baust, wirst nicht nur du sterben, sondern jeder aus deiner Familie«, sagt einer der Typen zu mir. Er und ein zweiter, der neben ihm steht, tragen dunkle Masken. Der dritte im Bunde ist ein bekanntes Gesicht – Kresimir. Er spielt grinsend mit einer Pistole, die er immer wieder von einer Hand in die andere wechselt. Zwischendurch hält er sie mir an die Schläfe, während er behauptet, ich hätte mich in seine Geschäfte eingemischt und müsse deswegen bestraft werden.

Ich bin zuerst eher wütend als geschockt. Was redet er da?! Er schuldet mir zwei Monatsmieten, ansonsten haben wir nichts miteinander zu tun. Das muss alles ein Irrtum sein! Für einen winzigen Moment habe ich die Hoffnung, dass sich alles klären lässt. Aber der Moment ist nur von kurzer Dauer. Kresimir verschwindet, und Volker und ich bleiben mit den beiden maskierten Typen zurück. Es ist der 6. Juni 1998.

3 // »Klick«

Die Nacht verbringe ich gefesselt auf einem Bett. Ich habe kaum geschlafen, muss inzwischen dringend auf die Toilette und habe schrecklichen Durst. Vor allem aber bin ich in einem Dauer-Alarmzustand – noch nie habe ich mich in so einer Situation befunden. Ich schwanke zwischen Ungläubigkeit, dass das hier gerade wirklich passiert, der Hoffnung, dass sich alles doch noch bald aufklärt, und einem aufsteigenden Gefühl der Panik, das sich immer weniger zurückdrängen lässt. Die Typen meinen es offensichtlich ernst, was auch immer sie eigentlich mit mir vorhaben. Wer jemanden gegen seinen Willen festhält, fesselt und bedroht, ist vielleicht auch bereit, bis zum Äußersten zu gehen. Und wenn dieser Gedanke in meinem Kopf überhandnimmt, packt mich die nackte Angst vor dem Sterben. Doch jetzt gerade ist der Druck auf meine Blase so groß, dass dies sogar die Todespanik überlagert. Ich sage dem Aufpasser, dass ich dringend zur Toilette muss. Grummelnd schneidet er das Tape an meinen Beinen durch und bringt mich mit vorgehaltener Waffe zur Toilette.

»Keine Dummheiten«, raunt er mir zu. »Ich habe im Jugoslawien-Krieg gekämpft und weiß, wie man mit einer Knarre umgeht.«

Jetzt schaut auch sein Kumpel um die Ecke. Mir ist klar: Ich habe keine Chance gegen die beiden Typen, die zu allem entschlossen scheinen. Und die Wohnungstür ist vermutlich ohnehin abgeschlossen.

Ich frage die beiden, was das eigentlich alles soll, was sie mit mir vorhaben. Doch ich bekomme keine Antwort.

*

Was soll das alles? Welche Rolle spielt Kresimir in alledem? Was wird als Nächstes passieren? Worauf warten die beiden Typen, die mich bewachen? … Irgendwann klingelt das Telefon und unterbricht meine rasenden Gedankenketten. Der größere der beiden Männer spricht in einer Sprache, die ich nicht verstehe, mit dem Anrufer und kommt dann auf mich zu. Ich liege wieder mit gefesselten Beinen auf dem Bett. Und dann sagt er: »Jetzt ist es für dich hier vorbei.«

Ich brauche einen Moment, bis die Worte in mein Bewusstsein dringen. Dann erwischt es mich kalt: Was heißt das, vorbei? Will er mich umbringen?

Der Typ wirft mir einen Jutebeutel hin. »Den ziehst du über den Kopf.« Für einen Moment denke ich: Vielleicht wollen sie mich nur irgendwo hinbringen. Aber sie haben einen anderen Plan. Die beiden fesseln mir die Hände hinter dem Rücken, ziehen mich vom Bett auf den Boden und befehlen mir, mich hinzuknien und das Kinn auf die Brust zu legen. Mir bleibt keine andere Wahl, als zu gehorchen. Dann höre ich, wie eine Pistole durchgeladen wird.

»Gleich hast du es hinter dir«, sagt der Jugoslawien-Kämpfer mit fester Stimme.

Mir pocht das Blut in den Schläfen, ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Es macht »klick«. Und nichts passiert. Die Pistole ist offensichtlich nicht geladen.

Um kurz vor zwölf klingelt an diesem Tag bei der Hamburger Polizei das Telefon. Werner Hermann Janssen meldet die Entführung seines Sohnes Bodo. Ein Mann, der sich »Schakal« nennt, fordert von ihm und seiner Familie zehn Millionen Mark Lösegeld. So stand es in dem Brief, den er bekommen hat. Auch Bodos Freundin hat, so berichtet es der Unternehmer, im Briefkasten von Bodos Wohnung einen Erpresserbrief gefunden.

Die Polizei reagiert sofort und zieht alle Register. Unter der Leitung von Kriminaloberrat Reinhard Bromm nimmt bereits zwei Stunden später eine 200