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Mitte März 2020: Corona-Pandemie. Lockdown. Die 89 Upstalsboom-Hotels müssen schließen. Umsatzeinbruch von 100 Prozent auf Null binnen Sekunden. Die Existenz von Bodo Janssens Unternehmen und seiner Mitarbeiter steht auf dem Spiel.
Janssen erlebt, wie sich sein Unternehmensstil und sein Wertesystem jetzt bewähren: Die Mitarbeiter ergreifen von selbst die Initiative und entscheiden, was in welcher Priorisierung umzusetzen ist. Und neue Elemente kommen hinzu: Entscheidungen aus der Bewegung heraus treffen. Veränderungen achtsam beobachten, bis die Fakten geklärt sind. Entscheidungen revidieren, wenn sich bessere Lösungswege auftun. Eine transparente Informationskultur schaffen… Bodo Janssens Bilanz: Wir sind in der Krise beweglicher und selbstbewusster geworden und gestärkt daraus hervorgegangen.
Ein sehr persönliches Buch, dessen Einsichten weit über die Corona-Situation hinaus auf Krisen jeder Art anzuwenden sind, alltägliche ebenso wie existenzbedrohende. Der Weg eines spirituell orientierten Managers, der konsequent den Weg einer nachhaltigen und humanen, dem gemeinschaftlichen Nutzen verpflichteten Wirtschaft verfolgt!
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Zum Buch:
Mitte März 2020: Corona-Pandemie. Lockdown. Die 89 Upstalsboom-Hotels müssen schließen. Umsatzeinbruch von 100 Prozent auf Null binnen Sekunden. Die Existenz von Bodo Janssens Unternehmen und seiner Mitarbeiter steht auf dem Spiel.
Janssen erlebt, wie sich sein Unternehmensstil und sein Wertesystem jetzt bewähren: Die Mitarbeiter ergreifen von selbst die Initiative und entscheiden, was in welcher Priorisierung umzusetzen ist. Und neue Elemente kommen hinzu: Entscheidungen aus der Bewegung heraus treffen. Veränderungen achtsam beobachten, bis die Fakten geklärt sind. Entscheidungen revidieren, wenn sich bessere Lösungswege auftun. Eine transparente Informationskultur schaffen… Bodo Janssens Bilanz: Wir sind in der Krise agiler und selbstbewusster geworden und gestärkt daraus hervorgegangen.
Ein sehr persönliches Buch, dessen Einsichten weit über die Corona-Situation hinaus auf Krisen jeder Art anzuwenden sind, alltägliche ebenso wie existenzbedrohende. Der Weg eines spirituell orientierten Managers, der konsequent den Weg einer nachhaltigen und humanen, dem gemeinschaftlichen Nutzen verpflichteten Wirtschaft verfolgt!
Zum Autor:
Bodo Janssen, geboren 1974, studierte BWL und Sinologie und stieg im Anschluss ins elterliche Hotelunternehmen ein. Als sein Vater bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, übernahm er die Führung der Hotelkette. Nachdem er bei einer Mitarbeiterbefragung vernichtende Ergebnisse erhalten hatte, beschloss er, für eineinhalb Jahre ins Kloster zu gehen. Nach dieser Zeit der inneren Einkehr leitete Bodo Janssen in seinem Unternehmen einen Paradigmenwechsel ein mit dem Ziel, eine authentische Unternehmenskultur zu entwickeln, in der jeder Mitarbeiter im Unternehmen das leben kann, was ihm als Mensch wichtig ist. Im Ariston Verlag sind bereits seine Bestseller »Die stille Revolution« und »Stark in stürmischen Zeiten« (zs. mit Anselm Grün) erschienen.
Bodo Janssen
Eine Frage der Haltung
Wie wir Krisen besser bewältigen und gestärkt aus ihnen hervorgehen
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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.
© 2021 Ariston Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Alle Rechte vorbehalten
Verfasst in guter Zusammenarbeit mit Stefan Linde
Redaktion: Regina Carstensen
Vermittelt durch: Agentur Stefan Linde
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,
unter Verwendung eines Fotos von © Dominik Odenkirchen
Graphic Recordings: Barbara Schneider, Visual Facilitators, www.visualfacilitators.com
Fotografien: hier, hier, hier Steven Haberland und hier Timo Müller Fotografie Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN: 978-3-641-27416-0V001
Dieses Buch widme ich Theo und Gerhardine Lengert, zwei Menschen einer Generation, in der schwere Krisen zum Alltag gehörten und die dennoch nicht vergessen haben, worum es im Leben wirklich geht. Zwei Menschen, denen ich erst spät oder gar nicht begegnen durfte, die aber dennoch zu einem wichtigen Fundament in meinem Leben geworden sind.
Inhalt
Teil I: Sinn der Vergangenheit
1 Quellen innerer Kraft
Bye-bye Berlin
Ikigai
Krisen nutzen
Innere Einkehr
Hammerschläge des Schicksals
Die letzte Freiheit
2 Patronin der Seuchen
Volle Kraft voraus
Kontrolle ade
Ein zerplatzter Traum und zwei Meisen
Was wir alleine nicht schaffen
3 Morgenstille I
Ein Ritual
Waschen wie ein Kaiser
Teil II: Frieden für heute
4 Glaskugel
Einreden des Abts
Eiszeit im Frühlingserwachen
Blindflug
Der Kreis wächst
Feuertaufe
Die Kanzlerin
5 Morgenstille II
Wer beherrscht hier wen?
Steter Tropfen
Zum Grund meiner Seele
6 Weiter geht’s
Ab in die Bunker und zusammenrücken
Kleiner, törichter Junge
Klarheit statt Schonung
Gegenseitige Fürsorge
Bomben & Banken
Zwischen Hoffnung und Zweifel
7 Ora et labora
Die Streichholzschachtel
Pausen bestimmen den Tag
8 You never walk alone
Karma-Schelle
Antworten finden
Sinn gegen Angst
Schätzen, was ist
Mut zur Demut
Und immer wieder Dankbarkeit
Mit Humor und Selbsterkenntnis
9 Jenseits von Planbarkeit
Pflücke die Frucht
Entscheiden, handeln und impfen
Ein Bild sagt mehr als tausend Worte
Dein Wille geschehe
TEIL III: Vision für die Zukunft
10 Was, wenn wir alles verlieren?
In guten wie in schlechten Zeiten
11 MORGENSTILLE III
Der Nachrichtensprecher
In der Mitte entspringt ein Fluss
Im Dialog mit den Dämonen
»Um zu«
Soziale Entschleunigung
Mein schwarzes Büchlein
12 Lieben, was ist
Einfach leben
Quelle unserer Wünsche
Prophet im eigenen Land
Spreu und Weizen
Fit ohne Geräte
Gemeinschaft, die trägt
Was ich mir wünsche
Zum Nachdenken, Handeln und Antworten finden
Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht. Hoffnung ist die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.
Vaclav Havel
Bildprotokoll des Corona-Online-Impulses vom 13. April 2020
Teil ISinn der Vergangenheit
1 Quellen innerer Kraft
Bye-bye Berlin
Ich saß an meinem Schreibtisch im Homeoffice, als ich auf meinem Bildschirm nach und nach die Gesichter mir sehr vertrauter Menschen erblickte. Ich hatte mich digital mit dem Team aus dem Bereich Kultur und Entwicklung verabredet, gemeinsam wollten wir besprechen, wie wir uns unter dem Einfluss der Corona-Pandemie gut aufstellen wollten. Die für uns im März 2020 alle noch unvorhersehbare Entwicklung würfelte auch unser Unternehmen ganz schön durcheinander, und so ging es im Spätsommer, nachdem sich die ersten Wogen geglättet hatten, für uns darum, zu besprechen, was es im Moment brauchte und wer sich wofür einsetzen konnte.
Ein Treffen mit diesen Fragestellungen war für uns nichts Unübliches. Auch in den Jahren zuvor hatten wir es uns zur Gewohnheit gemacht, uns mindestens einmal im Jahr über ganz grundlegende Fragen auszutauschen, und so trafen wir uns nun digital auf unseren Rechnern. Aber das war nicht der einzige Unterschied zu den Zusammenkünften der letzten Jahre, die unter normalen Umständen, der Stille und Abgeschiedenheit halber, in einem Kloster stattfanden. Ein weiterer war, dass unser Kulturteam pandemiebedingt um drei Berliner Kollegen gewachsen war. Sie gehörten zu einer Gruppe von gut vierzig Upstalsboomern, deren Berliner Hotel infolge fehlender Buchungen während der Corona-Pandemie in eine wirtschaftlich aussichtslose Situation geraten war und im September 2020 geschlossen werden musste. Für uns alle war das ein harter Schlag, am meisten für die Betroffenen, aber wir konnten wenig dagegen tun.
Schon kurz nach Beginn des Lockdowns hatten wir das Gespräch mit den Eigentümern des Hotels gesucht, doch selbst die bis in den Juli andauernden Gespräche führten zu keinem Ergebnis, das einer Überbrückung der Auswirkungen dieser Pandemie dienlich wäre. Um weitere Verluste zu vermeiden, wurde seitens der Eigentümer dann vorsorglich ein Insolvenzantrag gestellt. Insbesondere mit Blick auf unser hoch engagiertes und vor allem langjähriges Hotelteam machte uns die Entscheidung der Investoren sehr betroffen. Machtlos mussten wir mit anschauen, wie eine Pandemie und die fehlende Bereitschaft von Investoren unsere jahrelange Arbeit zunichtemachten.
Das Upstalsboom-Team hatte den Auswirkungen der Corona-Krise für den Berliner Markt nichts entgegenzusetzen. Während unsere Hotels in den Urlaubsregionen seit dem Sommer wieder steigende Belegungszahlen verzeichneten, war die Nachfrage am Berliner Markt am Boden. Erschwerend kam hinzu, dass im Jahr 2019 viele Havarien den Betrieb des Berliner Hauses ohnehin sehr belasteten. Nicht selten bekam ich Anrufe aus der Hauptstadt, in denen die Mitarbeiter mir mitteilten, dass sie schon wieder bis zu den Knöcheln – im wahrsten Sinn des Wortes – in der Scheiße standen, weil sich das nächste Abflussrohr verabschiedet hatte.
Jeder dieser Anrufe tat weh, und das, obwohl ich mir nur ansatzweise vorstellen konnte, was dieses Ausgeliefert-Sein für die Mitarbeiter und Gäste vor Ort bedeuten musste. Aber auch ich war machtlos. Denn das Berliner Hotel war eines der letzten in unserem seit 1976 im Tourismus tätigen Unternehmen, in dem wir noch von den Entscheidungen irgendwelcher und in diesem Fall völlig überforderter Investoren und ihrer Beiräte abhängig waren. Alle anderen Hotels waren mittlerweile im Eigentum des Unternehmens oder standen als Pachtbetriebe in unserem uneingeschränkten Einfluss. Und überall dort, wo wir unabhängig vom Einfluss der Investoren agieren konnten oder aber deren uneingeschränkte Unterstützung hatten, konnten wir anders mit den Folgen der Pandemie umgehen. Die Unabhängigkeit von Investoren war auch der Grund, weshalb wir uns als Familie im Jahr 2006 dafür entschieden hatten, die Hotels nach und nach ins Unternehmen zu überführen und uns damit aus den Fängen rein kapital- und renditegetriebenen Handelns zu befreien.
Was mich während des gesamten Insolvenzprozesses immer wieder überrascht hatte, war die Art und Weise, wie die Berliner Mitarbeiter mit dieser für sie extrem schwierigen Situation umgegangen sind. Von Beginn an, als die Gespräche mit den Investoren losgingen, waren die Mitarbeiter immer im Bilde, um was es gerade ging. Sobald es Neuigkeiten gab oder wir das Gefühl hatten, die Mitarbeiter nach ihrer Einschätzung zu fragen, waren alle an Bord, um sich gegenseitig auszutauschen.
Irgendwann im Sommer war dann klar, dass es nicht weitergehen wird, aber wie denn das Ende aussieht, darüber ließen uns die Investoren bis vier Wochen vor Schließung des Hotels durch den Insolvenzverwalter grübeln. Da hielten sich die Eigentümer bedeckt. Umso mehr überraschte mich, dass im Gegensatz zu den Investoren jeder Mitarbeiter Haltung bewahrte und bis zuletzt vollen Einsatz brachte, um einer Ära – trotz widriger Umstände – ein einigermaßen würdevolles Ende zu bereiten. Bis zum Schluss stand im Team jeder seinen Mann oder seine Frau, während die beiden Hauptinvestoren sich nicht mehr trauten, weder den Mitarbeitern noch mir unter die Augen zu treten, und sich von ihrem frechen Anwalt vertreten ließen. An dem Tag, an dem die Mitarbeiter ihre Kündigungen erhielten, gab es aufgrund der Insolvenz für jeden Einzelnen sehr viel zu unterschreiben. Und was mich dabei zutiefst berührte und mir an diesem Tag die Tränen in die Augen trieb, war, dass sich niemand davor drückte, an dieser schmerzhaften Betriebsversammlung teilzunehmen. Jeder unterschrieb sämtliche Dokumente, ohne sie vorher detailliert durchzulesen. Alle waren voller Vertrauen.
Zwei Wochen später trafen wir uns noch einmal zu einem Abschiedsabendessen in Berlin, allein, um zurückzuschauen auf all das, was wir in den ganzen Jahren gemeinsam erlebt hatten. Dabei kamen Geschichten und Anekdoten auf den Tisch, über die wir herzlich lachen mussten. Allerdings war es trotz großer Heiterkeit auch ein sehr komisches Gefühl, als sich die Mitarbeiter nach und nach in der Gewissheit verabschiedeten, sich in dieser Gemeinschaft nicht mehr wiederzusehen. Es war, als würde eine Familie, die sich über fünfundzwanzig Jahre lieben und schätzen gelernt hat, einfach auseinandergerissen werden. Und doch erlebte ich bei vielen, dass sie unabhängig von der Trauer nach vorn schauten.
Da war zum Beispiel Kristin, die mir sagte, dass diese Situation für sie vielleicht sogar zum Besten sei. Sie liebte die Gemeinschaft mit dem Team, war Upstalsboomerin durch und durch, war mit Kollegen aus den anderen Hotels in Ruanda gewesen, um eine Schule zu eröffnen, besuchte unser Curriculum und stellte sich den vielen von uns angebotenen Herausforderungen, sich als Mensch weiterzuentwickeln. Der Begriff »Curriculum« kommt aus dem Lateinischen und bedeutet »Lehrplan« oder auch »Lernprogramm«. Beim Upstalsboom-Curriculum geht es uns darum, Menschen an den Erlebnissen, Erkenntnissen und Erfahrungen des Upstalsboom-Weges teilhaben zu lassen. In insgesamt sechs Modulen nehmen wir sie mit auf eine persönliche und unternehmerische Entwicklungsreise, eine Reise im Spannungsfeld der Regel des heiligen Benedikt bis hin zu den neuesten Erkenntnissen der Gehirnforschung und positiven Psychologie. Im Kontext von Fühlen, Denken und Handeln erleben die Teilnehmer hautnah, welche Meilensteine unseren bisherigen Unternehmensweg ausgemacht haben.
Als ich Kristin darauf ansprach, wie es für sie weiterginge, sagte sie: »Weißt du, Bodo, ich habe einen tollen neuen Job gefunden und kann jetzt den Schritt gehen, der eigentlich schon lange überfällig war. Mit Blick auf unsere Upstalsboom-Familie habe ich vielleicht vergessen, dass es wichtig ist, auch einmal weiterzugehen. Und nun zwingt mich diese Insolvenz, etwas zu tun, was meinem weiteren Weg guttut, ich von mir selbst aus aber nicht gemacht hätte. Alles ist fein!«
Oder Katharina, die mich schon vor Bekanntwerden der Insolvenz während eines unserer selbst durchgeführten Klosterkurse ansprach, weil sie über die jahrelange Nutzung unserer Schulungsangebote und auch durch die Reise nach Ruanda für sich entdeckt hatte, was sie wirklich erfüllt. Für sie schloss sich die Tür des Hotels, aber dafür öffnete sich die Tür unseres Unternehmensbereichs Kultur und Entwicklung – und nun tauchte ihr vertrautes Gesicht auf meinem Bildschirm auf. Gleiches galt für Jaqueline, unsere ehemalige Hausdame, oder für Jeannette, die als Direktorin dem Insolvenzverwalter bis zuletzt zur Seite gestanden und erst im November 2020 als Letzte den Schlüssel umgedreht hatte. Auch sie hatte sich parallel zum Tagesgeschäft einer Direktorin intensiv mit sich selbst und ihrer Entwicklung als Mensch beschäftigt, hatte Curricula und Klosterseminare besucht, die Ausbildung zur zertifizierten Systemaufstellerin abgeschlossen und war sich ebenfalls sehr klar darüber, dass sich eine Tür schließt und dafür eine andere öffnet.
Bei diesen drei Frauen, aber auch bei vielen anderen erlebte ich eine unglaubliche Gelassenheit im Umgang und im Abschluss dieser unvorstellbaren Situation. Da ging es um Existenzängste und Kontrollverlust, und selbst im Angesicht der außerordentlichen Einschränkungen erlebte ich eine beeindruckende Fähigkeit, das Tragische zu ertragen. Und absolute Professionalität. Was hatte dazu geführt, dass diese Menschen so aufrecht, stark, ja gerade anmutig aus dieser für sie existenziellen Krise hervorgingen? Mich beeindruckten sie zutiefst, und so freute ich mich, dass sie nun Teil eines Teams wurden, das sich die Entwicklung der Menschen in unserem Unternehmen und ihrer Kultur auf seine Fahnen geschrieben hat.
Ikigai
In den turnusmäßigen Treffen des Kulturteams geht es auch immer wieder um die Kalibrierung des persönlichen Kompasses. Und gerade dann, wenn neue Kollegen ins Team aufschließen oder sich neue Aufgabenfelder und Situationen ergeben, werden die Karten für alle nochmals komplett neu gemischt! In diesen Phasen geht es darum, die Persönlichkeit des Einzelnen mit dem Profil der aktuell anstehenden Aufgaben abzugleichen. Jeder schaut, wie er mit seinem »Ikigai« einen Beitrag für die Weiterentwicklung unserer Gemeinschaft und ihrer Anliegen leisten kann. Ikigai ist ein japanisches Konzept, das beschreibt, worum es auch bei uns im Unternehmen umfassend geht: Menschen stärken! Ikigai bedeutet »Lebenssinn«, frei übersetzt: »das, wofür es sich zu leben lohnt«, oder auch: »das Gefühl, etwas zu haben, für das es sich lohnt, morgens aufzustehen«. Der Begriff wurde auf der japanischen Insel Okinawa geprägt.
Auf Okinawa und vor allem in dem kleinen Ort Ogimi erreichen die Menschen ein sehr hohes Alter und bleiben dabei extrem lange gesund, agil und aktiv. Dort ist das Prinzip des Ikigai mit einem großen Gemeinschaftsgefühl verknüpft. Die Menschen gehören einer über viele Jahrzehnte gewachsenen Gruppe an, auf die sie sich stets verlassen können und deren Mitglieder sich gegenseitig unterstützen. Das führt zu einem immensen Gefühl der Zugehörigkeit, das extrem sinnstiftend ist. Das eigene Tun steht häufig in einem Zusammenhang mit anderen. Der Fokus liegt also nicht nur darauf, etwas aus reinem Selbstzweck zu machen, sondern einen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten.
Wir nutzen die mit diesem japanischen Weg einhergehenden Fragen sehr gerne, um uns einmal mehr bewusst zu werden, worum es dem Einzelnen geht. Vier der Fragen lauten: Was ist das, was du wirklich liebst? Was ist das, was du richtig gut kannst? Was davon ist das, was die Welt gerade braucht? Wofür wäre sie dazu bereit, dir etwas zu zahlen? Die Schnittmenge aus den Antworten auf diese Fragen bilden dann dein Ikigai.
Und das war auch unser Thema zu unserem Auftakttreffen in unserer neuen Konstellation. Auch ich war gefragt, was denn das ist, was ich wirklich liebe, was ich gut kann und was die Welt braucht. Im Großen und Ganzen bin ich mir darüber schon im Klaren, denn seit zehn Jahren befinde ich mich auf dem Weg, mich immer ein bisschen besser kennenzulernen. Aber dieses Mal, und ich glaube, das war der Gesamtsituation geschuldet, wurde mit bewusst, dass mich mein Leben immer wieder dazu aufgefordert hat, Krisen zu bewältigen. Und zwar so sehr, dass sich in mir der Gedanke entwickelte, dass das Überwinden von Krisen zu einer Lebensaufgabe geworden ist. Die Antwort auf die Frage, was ich liebe, ist sehr eindeutig: Den Anblick eines glücklichen Menschen. Wenn zum Beispiel in dem Gesicht eines Erwachsenen die Augen eines Kindes leuchten. Mein Ikigai ist es, Menschen auf dem Weg zu ihrem Ikigai zu begleiten.
Was mich allerdings zu meinem Sinn des Lebens geführt hat, waren eine Handvoll Krisen, ohne die ich ganz sicher nicht das gefunden hätte, worauf ich jetzt mein Lebenshaus bauen darf. Und genauso war es bei den Menschen, die ich bisher innerhalb oder außerhalb des Unternehmens begleiten durfte. Es waren jedes Mal die Krisen, aus denen etwas Stärkendes hervorging. Vielleicht nicht im Moment der Krise an sich, aber häufig habe ich erlebt, dass – im Rückblick – auf die besonders schweren Momente im Leben ihnen nicht nur etwas Positives, sondern vielmehr auch Sinnvolles abzugewinnen war.
Krisen nutzen
Warum wachsen manche Menschen an Krisen – während andere an ihnen zerbrechen? Im Berliner Haus durfte ich glücklicherweise viele Menschen erleben, die aus dieser für sie sehr prekären Situation etwas Gutes machen konnten. Aber es gab auch Mitarbeiter, bei denen das nicht so war. Was hatten die einen, was den anderen fehlte? Bei mir waren es Unfälle, meine Entführung 1998 oder die vernichtenden Ergebnisse einer Mitarbeiterbefragung, die ich nur drei Jahre nach dem Flugzeugabsturz meines Vaters und der damit einhergehenden Übernahme des elterlichen Unternehmens als Krise erlebt habe. Jedes Ereignis für sich war genauso tragisch wie unangenehm. Aber nachträglich bin ich für die zum Teil sehr schmerzhaften Erfahrungen, für jede einzelne von ihnen, dankbar. Nicht für das Ereignis an sich, sondern vielmehr für die Gelegenheiten, die sich durch sie ergeben haben. Und welche Gelegenheit jede Krise eint, ist, dass sie mich wieder auf noch vor mir liegende Herausforderungen vorbereitet. Denn eines ist sicher, Krisen bestimmen unseren Lebensweg, und es liegt ausschließlich an uns, in welche Richtung wir uns durch sie führen lassen.
Für mich persönlich sind Krisen zu treuen Freunden geworden, zu Freunden, die mir klar ins Gesicht sagen, wo ich etwas in Ordnung zu bringen habe. Krisen können zu einem wichtigen Impuls werden, zu einer Einladung, aus der Schwerkraft des Alltags mit seinen gewichtigen, häufig nicht guten Gewohnheiten und vermeintlichen Verpflichtungen auszubrechen, sich von Altem und Nutzlosem zu trennen, sich aufzumachen, neue Spuren zu ziehen und neue Räume zu erkunden. Letztlich geht es darum, zu klären, wie wir Krisen sinnvoll nutzen können. Jede Krise beschert uns Fragen, mit deren Beantwortung wir immer mehr Verantwortung für unser Leben übernehmen können. Niemand anderes als wir selbst haben es in der Hand, uns selbstbestimmt, innerlich frei und damit gelassen auch durch die schwierigsten Abschnitte unseres Lebens zu manövrieren. Wir selbst haben es in der Hand, ob wir unser Wohlbefinden von den Dingen, Ereignissen und Menschen abhängig machen wollen, die wir ohnehin nicht beeinflussen können. Das ist für viele schwer vorstellbar, aber möglich, wenn ich nur auf die Mitarbeiter unseres ehemaligen Hotels in Berlin schaue.
Der Weg durch die Krise führt unweigerlich zu einer Begegnung mit mir selbst. Und dabei wirken die mit der Krise einhergehenden Umstände häufig wie ein Brennglas auf all die Dinge, die nicht in Ordnung sind, die ich noch ungeklärt in mir herumtrage oder mit anderen noch nicht geklärt habe. Eine Freundin erzählte mir, dass je länger die pandemiebedingten Einschränkungen nun schon andauerten, desto schlechter seien sie zu ertragen. Das enge Miteinander in der Familie sei nicht mehr auszuhalten, und alle gingen sich nur noch auf die Nerven und pöbelten sich mehr oder weniger gegenseitig an. In der Vergangenheit waren sie es als Familie gewohnt, dass sich jeder eher um seinen Kram kümmerte, jeder ging seinem Job nach, und die dann noch verbleibende Zeit wurde im Außen, mit Hobbys, beim Essen oder irgendwelchen gesellschaftlichen Anlässen verbracht. Doch mit den Einschränkungen der Corona-Pandemie wurden diese Optionen eliminiert und damit auch die Möglichkeit, sich von den Gründen dieses Lebens nebeneinanderher abzulenken.
Auch mit Blick auf das Berliner Hotel wird schnell klar, dass dort schon vor der Krise Dinge nicht in Ordnung waren. Über Jahre hatten wir gemeinsam mit den Mitarbeitern versucht, die Investoren davon zu überzeugen, nach über zwanzig Jahren nun endlich in das Hotel zu investieren. Vergebens. Sie schienen mit der Situation völlig überfordert und waren nicht in der Lage, auch nur eine zielführende Entscheidung zu treffen. Und die sich aus dem Investitionsstau ergebenden Havarien waren nur Ausdruck eines substanziellen Verfalls, der selbst von den sich dagegenstemmenden Mitarbeitern nicht mehr aufgehalten werden konnte und mit der Pandemie zum kompletten Untergang des Hotels geführt hatte.
Ist das System erst einmal geschwächt, braucht es nicht mehr viel, um jemanden oder etwas zu Fall zu bringen. Das gilt für Dinge genauso wie für Menschen. Für den Körper genauso wie für den Geist und die Seele.
Für das Berliner Hotel ging die Corona-Krise nicht gut aus, aber einige Mitarbeiter erkannten in diesem Ende auch einen Anfang. Einen Anfang für etwas, was manch einem von ihnen im Nachhinein noch sinnvoller erschien als das, was sie bisher gemacht hatten. Und das ist die Hoffnung, die ich in diesem Buch mit Dir teilen möchte: dass zwar nicht alles, was uns widerfährt, einen Sinn hat, aber wir allem, was uns widerfährt, einen Sinn geben können. Wie wir aus Krisen stärker hervorgehen können, als wir in sie hineingeraten sind. Und dass das geschieht, ist allein unsere Entscheidung.
Als ein Unternehmen mit über sechzig Hotels und Ferienwohnungen hat die Pandemie nicht nur das Berliner Hotel getroffen. Aber abgesehen von dieser Ausnahme haben wir die Krise bisher nicht nur gut verwunden, sondern fühlen uns trotz aller Unvorhersehbarkeit gestärkt für das, was noch auf uns zukommt. Und auch mir persönlich hat diese Krise unendlich viele Möglichkeiten geschenkt, bisher noch ungeklärte Dinge in Ordnung zu bringen.
Innere Einkehr
Wenn ich Krisen bewältigen, sie sinnvoll nutzen will, dann komme ich nicht um eine innere Einkehr herum. Wer sich in die Stille begibt und sich darin übt, sie auszuhalten, schafft gute Voraussetzungen dafür, gestärkt aus Krisen hervorzugehen. Nach meiner Entführung als vierundzwanzigjähriger Student, mit ihren acht Scheinhinrichtungen, war ich zunächst jahrelang auf der Flucht. Auf der Flucht vor der Begegnung mit meinen Wunden und Schmerzen, die mir diese leidvolle Zeit, diese maskierten Menschen zugefügt hatten. Und erst der Weg ins Kloster und mit ihm der Weg in die Stille halfen mir dabei, aus diesen Wunden Perlen zu machen. Vielleicht so, wie Hildegard von Bingen, im Mittelalter Äbtissin des Klosters Rupertsberg, es gemeint hat, als sie schrieb: »Die Kunst der Menschwerdung besteht darin, die Wunden des Lebens in Perlen zu verwandeln.« Ein anspruchsvoller Weg, ein Weg jenseits jeder Bequemlichkeit, aber ein Weg, der sich gelohnt hat. Und dafür steht eine Krise auch: für das Ende der Bequemlichkeit. Denn eine Krise fragt nicht nach Lust oder Unlust.
In der Stille finden wir unsere Antworten auf die Fragen des Ikigai, begegnen wir früher oder später unserer Sehnsucht, unseren Träumen, von denen sich manch einer von uns irgendwo auf dem Weg zwischen unserer Geburt und dem Jetzt verabschiedet hat. Aber der vermeintlich einfache Weg durch die Stille entpuppt sich für nicht wenige als echte Herausforderung. Wie häufig höre ich Sätze wie: »Ich kann nicht alleine sein«, »Ich kann nicht in die Stille gehen, da geht ein Vulkan in mir hoch« oder »Ich halte die Stille nicht aus, da verpasse ich zu viel«. Oder schlicht: »Ich habe keine Zeit.« Für mich ist die Stille, früher wie heute, ein wichtiger Meilenstein zu mehr Gelassenheit und innerer Freiheit. Aber es gab auch Zeiten, in denen das nicht so war, und wenn ich mich an diese Phasen erinnere, dann erinnere ich mich vor allem an Rastlosigkeit, Unruhe, Anstrengung, Angst, Gereiztheit, Krankheit, Erschöpfung und Stress. Spätestens wenn ich mich selbst nicht mehr ausstehen konnte oder aber meine Frau mir deutliche Hinweise gab, war es wieder notwendig, regelmäßig in die Stille zu gehen.
Und das war schon als Kind so. Ganz im Gegensatz zu meinen ersten Outdoor-Abenteuern habe ich es genauso geliebt, Zeit mit mir selbst, bestenfalls in Stille zu verbringen. Offensichtlich war das damals schon für mich sehr wichtig, denn in dem Moment, wo ich keine Zeit für mich fand, wurde ich unausstehlich.
Spannend finde ich, dass ich als Kind das Alleinsein und die Stille nicht nur gut ertragen konnte, sondern sie geradezu geliebt habe. Als Erwachsener aber musste ich erst wieder lernen, die Stille zu ertragen. Ich entsinne mich noch sehr gut an meinen ersten Besuch im Kloster. Als ich im Zendo des alten Gebäudes zum ersten Mal meditierte, konnte ich die Lautstärke der Stille nicht ertragen. Von außen betrachtet war es im Meditationsraum mucksmäuschenstill, doch diese äußere Stille entzündete in mir ein Feuerwerk unzähliger, schon tausendmal gedachter Gedanken, die sich an die Vergangenheit krallten oder an der Zukunft festbissen. Gedanken, im Wesentlichen identisch mit denen des Vortags und den Tagen davor, lösten in dem Augenblick, in dem sie auf meinen Körper trafen, zum Teil heftige Emotionen aus. In der Stille spürte ich, dass ich in der Hektik meines Alltags, in der Spirale unserer Leistungsgesellschaft zum Gefangenen meiner Gedanken geworden war, und das, obwohl Freiheit mein größter Wert war. Ich konnte einfach nicht loslassen.
Als Kind war das ganz anders, da liebte ich es, mich stundenlang in mein Kinderzimmer zurückzuziehen. Für mich war dieser Rückzug »heilig«. Ich habe mir dann eine eigene Welt aufgebaut, wie nur mir sie gefiel, habe meiner Fantasie freien Lauf gelassen und aus Lego, Playmobil oder Bauklötzen etwas aufgebaut, was mir innere Freude, Ruhe oder Zufriedenheit geschenkt hat. In diesen Momenten war ich ganz gegenwärtig, war ich ganz bei mir. Und ich glaube, dass es weniger das Ergebnis war, das mir diese innere Zufriedenheit geschenkt hat, sondern vielmehr das Erlebnis. Denn sobald die Welt einmal geschaffen war, wurde sie auch schon wieder demontiert, und etwas Neues entstand. Genauso war es mit den Burgen aus Sand, die ich jeden Sommer am Strand von Borkum baute, die aber mit jeder Flut dem Erdboden gleichgemacht wurden. Als Kind störte mich das überhaupt nicht, im Gegenteil, ich war fasziniert davon, wie klein und schwach dieses von mir gebaute Kunstwerk gegenüber den Naturgewalten war. Und jeder Untergang spornte mich noch mehr dazu an, nun aber etwas zu bauen, was den Fluten standhielt.
Hammerschläge des Schicksals
Als ich Pater Anselm Grün im Rahmen meiner klösterlichen Krisenbewältigung im Jahr 2010 fragte, wie ich mir denn meiner Haltung bewusst werde, wo und wie ich das fände, wonach ich mich sehnte, ich meiner Sehnsucht, meinen Träumen, meinen Werten, meinen Eigenschaften, Fähigkeiten und meiner Hoffnung begegnen könnte, nannte er die Quellen innerer Kraft, zu denen auch unsere Kindheit gehört. Als Kind hatte ich jede Menge Zeit für Abenteuer. Und die erlebte ich nicht selten mit meinem damals besten Freund Thomas. Wir waren Ritter. Aus alten Bettlaken schnitten wir uns weiße Umhänge und bemalten sie mit einem roten Kreuz. Beim Kürschner erwarben wir von unserem Taschengeld Fellreste, aus denen wir uns Köcher für unsere Pfeile nähten. Unsere Bögen spannten wir mit einem Band aus alten Weidezaunstangen, und die dazugehörigen Pfeile bastelten wir aus dünnen Holzstangen, die normalerweise zum Stützen von jungen Tomatenpflanzen gedacht waren. Schild und Schwert sägten wir uns aus herumliegendem Holz zusammen, und so zogen wir los in für uns unbekannte Abenteuer.
Und so unterschiedlich die Abenteuer auch waren, hatten sie alle das gleiche Muster: Wir zogen in die Ferne, wurden gefangen oder festgehalten und mussten uns unter Pauken und Trompeten aus dieser misslichen Lage befreien. Bei uns ging es ohne Ausnahme darum, sich durch alle Krisen hindurch in die Freiheit zu kämpfen, Probleme zu lösen oder anderen zu helfen. Wir wollten Ritter und Retter in einem sein. Und das war nicht nur bei den Ritterspielen so, sondern auch im Kindergarten, wenn ich mich regelmäßig unter dem Maschendrahtzaun hindurch in die Freiheit buddelte.
Bei all diesen Herausforderungen, denen wir uns als Kind gestellt hatten, waren wir eins mit dem Moment, mit der Natur, mit uns. Es gab nichts um uns herum. Und in dieser Schwerelosigkeit des Seins fühlten wir uns als Kinder so, wie manch ein Erwachsener das heute wohl als Himmelreich bezeichnen würde. Im Evangelium (Matthäus 18,3) steht dazu ein passender Satz: »Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.« Und ich glaube, hinter diesem Satz steht das Kindsein als Synonym für das Sein an sich. Wie schön wäre es, wenn in den Gesichtern der Erwachsenen wieder die Augen eines Kindes leuchteten? Wie schön wäre es, sich gerade in Zeiten wie diesen wieder so zu fühlen wie ein Kind: unbeschwert, innerlich frei und zufrieden.
Anselm offenbarte mir aber noch einen weiteren Zugang zu meinen inneren Kraftquellen. Es ist der Blick auf die Krisen meines Lebens. In unseren Krisen sind wir uns am nächsten. In jeder Krise werden wir mehr oder weniger schonungslos auf unser Selbst, auf unsere ganz eigene Wahrheit zurückgeworfen. Dieser weitere, sehr anspruchsvolle Weg erfährt eine passende Beschreibung mit dem Gleichnis vom Schatz im Acker: Ich muss mir im übertragenen Sinn die Hände schmutzig machen und mich durch meinen Ärger, meine Wut, meine Angst, meine Zweifel, meine Eifersucht und Trauer hindurchbuddeln, um an den Schatz zu kommen, den ich in mir trage. Und so erfuhr ich bei den Mönchen, dass es die Stille, meine Kindheit und meine bisherigen Krisen sind, über die ich mir den Weg auf den Grund meiner Seele erschließe. Und auf diesem Grund meiner Seele findet sich der Ort, von dem Pater Anselm sagt, dass ich dort unverletzlich sei. Egal, was um mich herum für Krisen entstehen. Alle drei Wege können aber genauso schwer wie intensiv sein. Denn nicht für wenige führen die Krisen ihres Lebens dazu, nicht mehr in die Stille gehen zu können, oder die Zeit ihrer Kindheit kam einer Krise gleich.
So wie bei Özden, den ich als Jungunternehmer in unserem Curriculum dabei unterstützen durfte, in den Krisen seines bisherigen Lebens Chancen für die Zukunft zu entdecken. In der Türkei geboren, verließ sein Vater die Familie sehr bald. Die Beziehung zu seiner Mutter war durch Gewalt geprägt. Er erwiderte diese Gewalt mit Rückzug und Flucht in eine Welt fantasievoller Geschichten. Er wurde Sozialwaise, und es folgte eine Zeit in einem Heim, in der er die immer wiederkehrende Erfahrung machte, ohnmächtig zu sein, abhängig und der Willkür anderer Menschen ausgeliefert, ob sie nun Gutes oder Schlechtes im Schild führten. Dann der Einstieg ins Rotlichtmilieu, geprägt von Obdachlosigkeit, Drogen, erneuter Gewalt. Es folgte ein Selbstmordversuch, von dem er selbst sagte, zu feige zum Springen gewesen zu sein. Einige Zeit verbrachte er im Gefängnis, anschließend lernte er eine Frau kennen, mit der er einen heute zwölfjährigen Sohn hat.
Özden machte sich selbstständig, hatte aber ständig Angst, seine Autorität zu verlieren, was dazu führte, dass seine Mitarbeiter Angst vor seiner unberechenbaren Aggressivität hatten. Er beschrieb sich selbst als herrisch, aufbrausend, gewalttätig. Er war zu einem Menschen geworden, der in brenzligen Situationen erst einmal zuschlug, bevor er nachfragte, wer dort stand oder worum es ging. Mit dem Blick auf das, was Özden in seinem bisherigen Leben erlebt hatte, fiel es schwer, darin einen Sinn zu erkennen. Und zugleich lagen in diesen schlimmen Erlebnissen große Schätze, und so bestand für Özden und mich die Aufgabe nun darin, herauszufinden, wofür das alles gut gewesen sein könnte.
Also schauten wir nach, welche Eigenschaften, Fähigkeiten und Talente er gebraucht hatte, um diese hasserfüllte Zeit zu überleben. Im Gespräch erfuhr ich, dass er sich in dieser schwierigen Phase für seine Geschwister eingesetzt und ihm das ungemein gutgetan hatte. Zudem war er offensichtlich sehr kreativ. Denn um der grausigen Wirklichkeit entfliehen zu können, flüchtete er in selbst gestaltete Fantasiewelten. Im Gefängnis lernte er, sehr diplomatisch zu sein, zu vermitteln, sich zwischen den Insassen und den Wärtern so zu bewegen, dass er immer mehr zum Ansprechpartner für beide Seiten wurde, ganz besonders dann, wenn es irgendwo Probleme gab. Nicht selten löste er Konflikte mit Humor und überwand dadurch die Kluft zwischen Ideal und Realität. Wo er auch war, setzte er sich dafür ein, dass es den Menschen in seinem Umfeld gut geht. Er konnte Situationen durch- und aushalten, war geduldig. Abends, alleine in der Zelle, musste er mit sich und seinen Gedanken klarkommen, musste lernen, sich selbst zu ertragen.
Im Lauf unserer Zusammenarbeit wurde mir deutlich, dass er sich zwar dieser Eigenschaften und Fähigkeiten bewusst geworden war, sich aber mit Händen und Füßen dagegen wehrte, sie anzunehmen, sich zu ihnen zu bekennen und damit auch sich selbst anzunehmen. Alle diese Eigenschaften hatte er in einer Zeit entwickelt, die für ihn so negativ besetzt war, die er einfach nur noch loswerden wollte. Alles, was in dieser Zeit geschah, was ihn prägte, war in seinen Augen schlecht und musste aus seinem jetzigen Leben verschwinden.
Doch was bleibt denn noch, wenn ich die Krisen meines Lebens verdränge? Sind denn nicht auch Krisen Teil meines Lebens? Ist die Krise nicht Teil meiner Persönlichkeit? Ist es nicht vollkommen egal, unter welchen Umständen ich meine Eigenschaften und Fähigkeiten entwickeln musste? Sind wir nicht dazu verpflichtet, uns selbst und unseren Mitmenschen gegenüber das Beste aus diesen schwierigen Zeiten herauszuholen? In manch einer Krise verlieren wir viel und zahlen einen sehr hohen Preis. Sollten wir uns nicht etwas dafür zurückholen?
Ich bat Özden, mich wissen zu lassen, was für ihn im Moment wirklich wesentlich ist, was ihm viel bedeutet und wofür er sich einsetzen will. Seine Antwort kam schnell und lautete: meine Familie. Schon in den vorherigen Jahren war für ihn die Familie durch die Begegnung mit seiner Frau und die Geburt seines Sohnes immer bedeutsamer geworden, auch wenn sein Handeln dies nicht unbedingt erkennen ließ. Einerseits gab es diese Sehnsucht nach Familie und Gemeinschaft, andererseits hatte er keine Ahnung davon, wie er dieser Sehnsucht Rechnung tragen konnte. Dann bat ich ihn, sich wieder an die schwierigen Zeiten zu erinnern und daran, was ihm damals geholfen hatte, diese zu überstehen. Und schließlich fragte ich ihn, welche der damals entwickelten oder erforderlichen Eigenschaften ihn heute dabei unterstützen könnten, die Sehnsucht nach seiner Familie mit Leben zu erfüllen.
Ich spürte, wie es in ihm arbeitete, und mit ein bisschen Unterstützung sprudelten Begriffe wie »kreativ«, »humorvoll«, »diplomatisch«, »spontan« oder »beschützend« ermutigend aus ihm heraus. Das Ergebnis machte ihn sprachlos. Für ihn war das, was er gelebt hatte, grausam und völlig bedeutungslos, ja geradezu abschreckend. Und nun erkannte er, dass er seine in einer sehr schlechten Zeit entwickelten Eigenschaften auch für etwas Sinnvolles einsetzen konnte. Er sah, dass sie wertvoll sind, egal unter welchen Umständen sie entstanden, und wurde sich gewahr, dass es genau die in seinen Krisen teuer erkauften Fähigkeiten sind, die ihm nun dabei helfen konnten, »seinen« Wert Familie besonders gut zu leben. Er bemerkte, dass sein ganzes, bisher ziemlich beschissenes Leben ihm dazu gedient hatte, ihn vielleicht sogar darauf vorbereitet hatte, ab jetzt genau das leben zu können, was ihm als Mensch wirklich wichtig ist. Ihm wurde bewusst, dass sich die Dinge nicht geändert hatten, wohl aber seine Einstellung, seine Haltung zu den Dingen.
Und mir wurde im Umgang mit Özden ein weiteres Mal bewusst, dass nicht jede Krise einen Sinn hat, aber wir jeder Krise einen Sinn geben können.
Die letzte Freiheit
Als Mensch habe ich immer die Freiheit, mich zu den Dingen so oder so einzustellen. Bei allem, was mir geschieht, geht es ganz besonders um die Frage meiner Einstellung, meiner Haltung. Denn nicht das Problem oder die Krise an sich machen die größten Schwierigkeiten, sondern eher unsere Sicht auf das Problem und unser Umgang damit. Ich kann sagen: »Mein Leben bestand nur aus Krisen, und ich habe nie die Chance bekommen, etwas daraus zu machen.« Oder aber ich kann wie Özden und viele Berliner Kollegen die Sichtweise wechseln und sagen: »Ja, ich habe viel Mist in meinem Leben erlebt. Aber ohne diese extremen Erfahrungen wäre ich jetzt nicht so gut vorbereitet auf das, was das Leben von mir in Zukunft will.«
Die andere, eher negative Sichtweise belastend mit sich herumzuschleppen, laufend mit seinem Schicksal zu hadern, anderen die Schuld oder Verantwortung für die krisenbedingten Befindlichkeiten und Umstände zu geben, ist eine wohl eher destabilisierende Denkweise, die mich auf dem direkten Weg in die Opferrolle zwängt. Und diese schürt innere Zweifel, Unsicherheit und das Gefühl, von anderen Menschen oder Dingen abhängig zu ein. Unklarheit, Zweifel, Spekulationen und Unterstellungen erzeugen Stress und rauben Energie, Energie, die uns beim Finden von sinnvollen Lösungen fehlt. Und Stress macht auf Dauer auch krank. Was daraus entsteht, ist Wut statt Mut für das Finden von Lösungen. Auch der Glaube kann eine wichtige Rolle spielen, denn der Glaube schenkt mir dort Sicherheit, wo mein Wissen endet. Ich glaube daran, dass es so und nicht anders ist oder war. Glaube schafft inneren Frieden.