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Führung ist Dienstleistung und kein Privileg
Ein erfolgreicher Mensch ist nicht unbedingt glücklich, aber ein glücklicher Mensch ist erfolgreich. Eine Lebensweisheit, die Bodo Janssen auf die harte Tour gelernt hat: Als Student wurde er entführt – eine Grenzerfahrung, die den Unternehmersohn auf seine schiere Existenz zurückgeworfen hat. Als er später ins elterliche Unternehmen einstieg, ergab eine Mitarbeiterbefragung niederschmetternde Ergebnisse: ein anderer Chef sollte her. Bodo Janssen begann umzudenken, radikal. Und er entwickelte völlig neue Formen der Unternehmensführung – Grundsätze, die genug Sprengstoff in sich tragen, um unser Verhältnis zueinander in der gesamten Gesellschaft zu verändern. Einer seiner Glaubenssätze: »Wenn jemand als Führungskraft etwas verändern möchte, ist er gut damit beraten, zunächst und ausschließlich bei sich selbst anzufangen.«
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Seitenzahl: 375
Über das Buch
Der Weg zum empathischen Unternehmer, der in seiner Firma, der Hotelkette Upstalsboom, Werte wie Nachhaltigkeit und Menschlichkeit lebt, war kein leichter: Bodo Janssen wurde als junger Mann entführt, eine traumatisierende Erfahrung, die sein bisheriges, oberflächiges Leben komplett in Frage gestellt hat. Als er später in den elterlichen Betrieb einstieg und der Vater kurze Zeit später bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, lag plötzlich die Verantwortung für das gesamte Unternehmen in seinen Händen. Am Anfang lief es gut – Janssen hatte erfolgreich ein Managementsystem installiert, saß selbstzufrieden in seinem Büro und hielt sich für einen tollen Manager. Eine darauffolgend ausgeführte Mitarbeiterbefragung jedoch war niederschmetternd: Ein neuer Chef sollte her!
Bodo Janssen begann radikal umzudenken. Geholfen hat ihm in erster Linie die Beschäftigung mit sich selbst, die Besinnung auf das Wesentliche. Eineinhalb Jahre ging er neben dem operativen Geschäft regelmäßig ins Kloster, um von namhaften Persönlichkeiten wie dem Benediktiner Pater Anselm Grün und dem Psychologen Friedrich Assländer zu lernen. Parallel hierzu beschäftigte er sich mit den Inhalten der positiven Psychologie und Gehirnforschung von Gerald Hüther, um sein persönliches Leitbild für das Unternehmen zu entwickeln: die Vision vom glücklichen Menschen. Denn nur Menschen, die ihre Arbeit sinnvoll finden, bringen sich auch ein. Führung heißt für Bodo Janssen sinnorientierte Führung, die Impulse gibt, Werte lebt, die Mitarbeiter wertschätzt, ihnen etwas zutraut und ihnen vertraut.
Über den Autor
Bodo Janssen studierte BWL und Sinologie und stieg im Anschluss ins elterliche Hotel-Unternehmen ein. Nachdem sein Vater bei einem Flugabsturz ums Leben gekommen war, übernahm er die Führung der Hotelkette. Als er bei einer Mitarbeiterbefragung vernichtende Ergebnisse erhalten hatte, beschloss er, für eineinhalb Jahre ins Kloster zu gehen. Nach dieser Zeit der inneren Einkehr leitete er in seinem Unternehmen einen Paradigmenwechsel ein mit dem Ziel, eine authentische Unternehmenskultur zu entwickeln, in der jeder Mitarbeiter im Unternehmen das leben kann, was ihm als Mensch wichtig ist.
BODO JANSSEN
DIE STILLE
REVOLUTION
FÜHREN MIT SINN UND MENSCHLICHKEIT
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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.
© 2016 Ariston Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle Rechte vorbehalten
Beratung: Stefan Linde
Redaktion: Evelyn Boos-Körner
Umschlaggestaltung: Hauptmann und Kompanie, Zürich
unterVerwendung eines Motivs von Monique Wüstenhagen
Satz: Leingärtner, Nabburg
e-ISBN 978-3-641-17162-9V001
Pflicht ohne Liebe macht verdrießlich
Verantwortung ohne Liebe macht rücksichtslos
Gerechtigkeit ohne Liebe macht hart
Wahrheit ohne Liebe macht kritiksüchtig
Erziehung ohne Liebe macht widerspruchsvoll
Klugheit ohne Liebe macht gerissen
Freundlichkeit ohne Liebe macht heuchlerisch
Ordnung ohne Liebe macht kleinlich
Sachkenntnis ohne Liebe macht rechthaberisch
Macht ohne Liebe macht gewalttätig
Ehre ohne Liebe macht hochmütig
Besitz ohne Liebe macht geizig
Glaube ohne Liebe macht fanatisch
VERMUTLICH AUS DEM TAOISMUS
Für meine Frau Claudia und meine Kinder
Julius, Milla und Enna
Inhalt
TEIL I
Hochmut kommt vor dem Fall
1 | Ein Schlag ins Gesicht
2 | Wider den Gehorsam
3 | Hildegards Disziplin – und die Weisheit hinter den Mauern
TEIL II
Wer sich selbst gefunden hat, der kann nichts mehr auf dieser Welt verlieren
4 | Ein Leben an der Oberfläche – und die Entführung
5 | »Ist das der Tod?«
6 | Die laute Stille
7 | Widerstand gegen Shareholder – und für ein Jugendherbergsmodell
8 | Schiffbruch ohne Leuchtturm?
9 | Eine Vision von glücklichen Menschen
10 | Mitarbeiter auf dem Weg ins Kloster
11 | Ein Unternehmer als Coach
12 | Leben statt reden
TEIL III
Was wir sind und was wir sein können
13 | Upstalsboom, so einzigartig wie sein Name
14 | Der Norden tut Gutes
15 | Moin, moin, Ruanda
16 | Tour des Lebens – auf den Kilimandscharo
17 | Die Seehotel-Story
18 | Neue Gesinnung statt neuer Managementmethoden
Das Abenteuer geht weiter
Literarische Begleiter
Film-Links
TEIL I
Hochmut kommt vor dem Fall1
1 Die Bibel, Spr. 16,18
1| Ein Schlag ins Gesicht
Es klopfte an meiner Tür, es war ein Montagmorgen im Januar 2010. »Ich bin da«, sagte Herr Gaukler, ein Mann um die fünfzig mit leicht ergrauten Schläfen, modernem Stoppelhaarschnitt, dennoch kein Jungspund, nichts von allem, was seinen Nachnamen rechtfertigen würde. Stattdessen wirkte er angenehm gesettled, mit ausgeprägt sensiblen Gesichtszügen, seine Statur war eher von kräftiger Natur. Einen solchen Menschen konnte bestimmt nichts so leicht umhauen.
»Bitte, setzen Sie sich«, sagte ich, nachdem wir uns vorgestellt hatten. Ich bugsierte ihn zu einer Sitzecke.
»Dann erzählen Sie doch mal genau, was in den letzten Jahren so alles gelaufen ist«, forderte Bernd Gaukler mich auf, nachdem er tief ins weiche Leder gesunken war.
Ich berichtete über all das Grandiose, über die gute Entwicklung seit meinem Einstieg in das elterliche Unternehmen, schwärmte ihm von kybernetischem Management und Sensibilitätsmodellen vor, von all diesen Dingen, die mit dem Umgang von Komplexität zu tun und uns zu einem einzigartigen Unternehmen gemacht hatten. Zwischendurch blickte ich Herrn Gaukler an. Ich selbst war, wie so häufig, mal wieder hochgradig begeistert von dem, was ich da von mir gab, aber mein Gegenüber schien nicht im Geringsten beeindruckt zu sein. Er guckte mich nur ernst an, dabei war ich es gewohnt, dass meine Zuhörer bei meinen Ausführungen mit glänzenden Augen Zustimmung signalisierten und mir verbal auf die Schultern klopften: »Toll, Herr Janssen!« Oder: »Schön, Herr Janssen!« Doch nichts dergleichen, Herr Gaukler schaute mich einfach nur emotionslos an und verfolgte weiter meinen Monolog, den ich, ohne mich von seiner Zurückhaltung beeindrucken zu lassen, fortsetzte.
»Wieso bin ich dann da?«, fragte mein Gegenüber schließlich, als ich nach einer halben Stunde sämtliche heroischen Taten meinerseits zum Besten gegeben hatte. »Was soll ich hier, wenn alles so toll ist? Oder ist die Bilanz am Ende doch nicht so positiv? Sie hatten mir am Telefon etwas anderes erzählt.«
»Na ja, es gibt da das eine oder andere, das ich ja bereits angesprochen hatte.« Zähneknirschend musste ich das zu- und ihm damit recht geben. »Und vielleicht ist es möglich, dass Sie sich dieser kleinen Schwierigkeiten annehmen können.«
Obwohl im Unternehmen alles perfekt zu sein schien, hatte sich eine Unruhe in der Firma und auch bei mir eingestellt, die größer und größer wurde. Mitarbeiter kündigten, Mitarbeiter wurden gekündigt, in den Hotels wurde von einer hohen Fluktuation gesprochen, die Zahlen derjenigen, die sich krankmeldeten, waren steil nach oben gestiegen. Parallel bewarben sich immer weniger Leute bei uns und ich hörte aus unserem Umfeld vermehrt, dass wir als Arbeitgeber nicht sonderlich angesehen waren. »Bevor du bei Upstalsboom angekommen bist, musst du schon wieder gehen« – so oder ähnlich lautete die Aussage, mit der die Gangart in unserem Unternehmen charakterisiert wurde. Nicht angenehm. Offenbar hatten wir keinen guten Ruf. Bei damals gut vierhundert Mitarbeitern (heute sind es rund sechshundertfünfzig) war das etwas, was ich nicht einfach ignorieren konnte.
Ich hatte die schlechten Nachrichten ernst genommen. So wie jedes traditionell ausgerichtete Unternehmen sie ernst genommen hätte. Eine Task Force nach der anderen war eingerichtet worden, um auftretende Vakanzen zu füllen. Aber von einer dauerhaften Lösung konnte bei diesem Notfallmanagement keine Rede sein, denn die ständigen Improvisationen zogen eine Dynamik nach sich, die für Hektik sorgte. Es war doch eine absurde Situation, überlegte ich. Da erwirtschaftete ich für unseren mittelständischen Betrieb mit unzufriedenen Mitarbeitern steigende Umsatzzahlen im zweistelligen Millionenbereich; sogar Mitbewerber, größer als wir, waren auf uns aufmerksam geworden. Dennoch konnte ich mir nicht vorstellen, dass diese ungewöhnliche Konstellation auf Dauer tragbar war. Vielleicht brauchte ich mehr Mitarbeiter, die sich speziell um die Belange der Belegschaft kümmerten. Bislang hatte ich dafür eine Halbtagskraft, aber sie konnte die Hundertschar höchstens verwalten. Obwohl ich vorrangig in Zahlen und Systemen dachte, waren Zweifel bei mir aufgetreten. Gut, ja, wir könnten Unterstützung gebrauchen.
»Willst du dich nicht mal mit jemandem austauschen, der sich im Bereich Mitarbeiter gut auskennt?« Einer meiner Führungskräfte, Sergio, den ich von diesem Spagat, den wir da betrieben, sorgenvoll berichtet hatte, gab mir diese Empfehlung.
»Dazu wäre ich sofort bereit, aber ich wüsste nicht, wer dafür infrage käme.«
»Versuch es mit Bernd Gaukler, der ist seit 2002 Personalchef im Hamburger Nobelhotel Atlantic und eine Eminenz in diesem Bereich. Zudem engagiert er sich in der Handelskammer und kümmert sich intensiv und mit hervorragenden Ergebnissen um den Nachwuchs. Wenn einer helfen kann, dann er.«
Ich nahm den Hinweis auf. Am Telefon hatte Bernd Gaukler ruhig und gelassen gewirkt, er hörte aufmerksam zu, als ich ihm von der um sich greifenden Unruhe, der Fluktuation der Mitarbeiter und der rasant gestiegenen Krankheitsquote im Unternehmen erzählte. Er wisse ja selbst am besten, dass die Hotellerie von einem Fachkräftemangel geplagt sei. Anscheinend hätte Upstalsboom überhaupt keine Anziehungskraft mehr für potenzielle Mitarbeiter, und das, obwohl wir inzwischen eine ganz ordentliche Größenordnung erlangt hätten. Die Risse im Personalfundament wären jedoch immer schwerer zu kitten. Am Ende des Gesprächs einigten wir uns darauf, dass er, Bernd Gaukler, nach Emden kommen wolle. Und aus diesem Grund war er jetzt da und saß bei mir im Büro.
Nachdem ich ihm dann »das eine oder andere« ausführlich erläutert hatte, erwiderte er seelenruhig: »Gern werde ich mir ein Bild von den Problemen hier im Unternehmen machen. Als erste Maßnahme kann ich Ihnen Folgendes vorschlagen – ich reise durch alle Hotels und spreche mit den Menschen.«
»Das soll kein Hindernis sein.«
»Aber ich brauche dafür Zeit, viel Zeit. Ich brauche ein halbes Jahr, um mit allen Mitarbeitern sprechen zu können.«
Im ersten Moment war ich empört. So empört, dass ich mich von meinem Platz erhob. Nein, das konnte nicht sein. Wieso will der denn jetzt ein halbes Jahr lang nur mit den Mitarbeitern sprechen, auch noch mit allen, und sonst nichts tun? »Sprechen« fiel für mich damals eindeutig in die Kategorie »nichts tun«. Auch Herr Gaukler wollte sich gerade von seinem tiefen Sitz lösen, als ich mich mit einem Seufzer wieder niederließ. Tat ich das freiwillig? Ein für uns finanzielles Schwergewicht wie Bernd Gaukler ein halbes Jahr fulltime zu bezahlen, das strapazierte eindeutig unsere Verhältnisse. Und dann wollte er in den sechs Monaten nichts anderes tun, als mit den Menschen zu plaudern. Gab es da nicht professionellere Wege? War ich da einem Scharlatan aufgesessen?
Offensichtlich nicht, denn mein erster Impuls, meine Überreaktion, hatte keinen Bestand. Ich selbst hatte das Wort »Innovation« auf meine ostfriesischen Freiheitsfahnen geschrieben. Wie sollte ich sonst die Unruhe, die Hektik unter den Mitarbeitern in den Griff bekommen, wenn nicht durch ein innovatives Vorgehen? Außerdem: Bernd Gaukler war mir vom ersten Moment an sympathisch. Ein großer Pluspunkt. Und er hatte Vorschusslorbeeren von einem meiner besten Mitarbeiter erhalten, da musste an seinem Vorgehen doch etwas dran sein.
»Gut«, sagte ich, nachdem ich mich von dieser Überraschung erholt hatte, »wenn Sie glauben, dass das das Richtige ist, so stimme ich dem zu. Gehen Sie in die Hotels und sprechen Sie mit den Mitarbeitern. Danach schauen wir, wie es weitergeht.«
Das machte er dann auch. Und so hatte ich einen neuen Mitarbeiter, denn Bernd Gaukler kündigte nach sieben Jahren im Hotel Atlantic Kempinski und fing bei Upstalsboom an. Kurz nach unserem Gespräch verschwand er und unternahm eine Tour durch die Hotels. Viel hörte ich nicht von ihm, ich ließ ihn aber auch in Ruhe, froh darüber, dass es jemanden gab, der sich um die Mitarbeiterprobleme kümmerte. Dadurch brauchte ich mich nicht weiter mit ihnen zu beschäftigen, sondern konnte mich auf meine Zahlen, Daten und Fakten konzentrieren, auf das, was ich nicht nur am liebsten tat, sondern auch als meine Hauptaufgabe betrachtete. Noch war ich der zahlenfixierte und zielmanagementbesessene Betriebswirt, der erst zu der Erkenntnis gelangen musste, dass es die Menschen sind, die den Erfolg eines Unternehmens ausmachen.
Genau ein halbes Jahr später, nach vielen Gesprächen mit über zweihundert Mitarbeitern, stand Bernd Gaukler erneut vor meiner Bürotür. Er klopfte dezent, aber bestimmt. Da wusste einer, dass es besser war, ihn eintreten statt draußen warten zu lassen. Dieses Mal zog er meinen riesigen Schreibtisch mit den Stühlen der Sitzecke vor und setzte sich mir aufrecht gegenüber. Sein Gesichtsausdruck war ernst.
»Herr Janssen, ich habe ein Problem«, begann er.
Mit einem Lächeln erwiderte ich: »Probleme haben wir in der Regel nicht, maximal Herausforderungen, und unter normalen Umständen Aufgaben, die es zu bewältigen gilt.«
»Nein, Herr Janssen, ich habe wirklich ein Problem.«
»Na, dann legen Sie mal los. Was ist denn Ihr Problem?«
»Ich arbeite mittlerweile für zwei Unternehmen.«
Zwei Unternehmen? Ich war völlig von den Socken. »Wieso zwei Unternehmen? Haben wir amerikanische Verhältnisse, geht nun auch bei uns in Deutschland der Trend zu Zweit- und Drittjobs? Verdienen Sie hier nicht genug, dass Sie einen Zweitjob annehmen mussten? Reicht Ihnen das Gehalt nicht, das wir Ihnen bieten?« In Gedanken fügte ich noch hinzu: Das hatten wir nicht vereinbart. Noch eine zweite Beschäftigung! Mit wem hatte ich es da zu tun?
»Herr Janssen, da haben Sie mich wohl missverstanden. Ich brauche keinen Zweitjob. Es ist nicht so, wie Sie gerade denken. Mit meinem Gehalt bin ich zufrieden.«
»Wie ist es denn dann?«, hakte ich nach, noch immer völlig perplex. Ungläubig sah ich ihn an.
Bernd Gaukler zögerte einen Moment, dann antwortete er: »Ich arbeite einmal für ein Unternehmen, wie Sie es mir vor einem halben Jahr beschrieben haben, und dann arbeite ich für ein Unternehmen, wie Ihre Mitarbeiter es mir beschrieben haben. Und das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Sie sprachen von einer hervorragenden Führung und einer tollen Entwicklung, Ihre Mitarbeiter redeten allerdings von einem Unternehmen, in dem sie sich schlecht geführt fühlen und in dem eine miserable Stimmung herrscht.«
Nicht wirklich beeindruckt, kam mir Ralph Waldo Emerson in den Sinn, von dem amerikanischen Philosophen und Freigeist stammt der Ausspruch: »Für zwei unterschiedliche Geister kann ein und dieselbe Welt den Himmel oder die Hölle bedeuten.« Ich hatte diesen Aphorismus in einem anderen Zusammenhang vernommen, als es um das Finden einer gemeinsamen Grundlage gegangen war. Ich wollte jetzt aber nicht glauben, dass Emersons Erkenntnis auf Upstalsboom zutraf. Nein, das konnte nicht stimmen. Wir befanden uns doch in einer Art Hochstimmung, waren auf einem guten Weg. Und nun kam dieser Typ und erzählte mir etwas von schlechter, nein miserabler Stimmung. Offensichtlich war Gaukler zu einem falschen Zeitpunkt unterwegs gewesen, hatte mit den falschen Leuten gesprochen und die falschen Fragen gestellt. Seine Ansicht, die er mir da präsentierte, konnte ich partout nicht teilen. Dieses Geschwafel hatte auch nicht ansatzweise eine belastbare Qualität. Es schmeckte mir nicht. Es war nicht valide, er hatte mir keine Daten präsentiert, keine Fakten und schon gar keine Zahlen.
Erneut stieg Empörung in mir auf: Was bildet der sich eigentlich ein? Ein halbes Jahr durch die Gegend zu gurken und mit Menschen zu quatschen, um mir dann zu sagen, wie Upstalsboom tickt? Nein, nicht mit mir. An dem, was er mir da präsentierte, war nichts relevant. Doch mein Verhalten war einzig und allein eine Abwehrreaktion, denn mein neuer Mitarbeiter hatte mir, ohne dass ich mir dessen bewusst war, einen Spiegel vorgehalten, mit einem Bild von mir, das ganz anders war als das, das ich von mir hatte. Doch gegenüber meinem Berichterstatter zeigte ich mich aufgeschlossen, beherrscht und verständnisvoll, insgeheim kochte es in mir, ich spürte meinen Puls förmlich rasen.
Bernd Gaukler war aber noch nicht fertig. »Und was mir auch noch aufgefallen ist: Ich habe die Mitarbeiterkultur als angstgeprägt erlebt.«
»Angst bei den Mitarbeitern?« Angst hatte ich bislang nur bei uns in der Geschäftszentrale kennengelernt, als die Angst vor den Shareholdern so vieles gelähmt hatte und wir uns daher so unfrei gefühlt hatten. Aber diese Angst war wohl kaum zu allen Mitarbeitern durchgedrungen, sondern hatte vor allem die Personen der Geschäftsleitung betroffen. »Wovor haben die Mitarbeiter Angst?«, fragte ich reserviert nach.
Der ehemalige Personalchef des Hotel Atlantic räusperte sich. »Da gibt es die Angst, den Job zu verlieren, weil man irgendwo anecken könnte. Dann Angst vor Ihnen und den anderen Führungskräften.«
»Wovon sprechen Sie? Das ist mir zu pauschal, das können nur subjektive und vor allem einzelne Eindrücke sein.« Bernd Gaukler zuckte mit keiner Wimper. »Können wir das Ganze vielleicht valide gestalten?« Ich musste mich sehr zusammennehmen. »Können wir Ihre Behauptung auf eine Zahlen-, Daten-, Fakten-Basis stellen, mit denen wir Ihre Aussagen fundiert belegen? Ich kann doch ohne belastbares Material keine Entscheidungen treffen, geschweige denn Maßnahmen einleiten, die eine Veränderung herbeiführen.«
Gaukler legte bedächtig seinen Kopf zur Seite. »Das lässt sich ganz einfach bewerkstelligen, wir machen eine Mitarbeiterbefragung, digital und anonym. Da haben die Mitarbeiter die Möglichkeit, sich zu äußern, dann haben Sie die Ergebnisse schwarz auf weiß und können sehen, was es mit der Stimmung im Unternehmen auf sich hat.«
Darauf gab es nur eine Antwort, wenn ich nicht völlig die Augen vor dem verschließen wollte, was mir gerade gesagt worden war. »Ist mir recht«, erwiderte ich vorsichtig.
»Der Fisch stinkt vom Kopf her«, das ist eine norddeutsche Redensart, die auch Altkanzler Gerhard Schröder gern benutzte. Er sagte das immer dann, wenn Führungskräfte in der Politik, in Parteien, Verbänden oder in der Industrie Fehler gemacht oder umstrittene Entscheidungen getroffen hatten. Im Kopf sitzt nämlich das leicht verderbliche Gehirn. Mit anderen Worten: Die Führungskräfte einer Organisation oder eines Unternehmens sind verantwortlich, wenn es Probleme gibt, nicht der einzelne Mitarbeiter. Die Mitarbeiter können noch so fleißig sein, die Existenz eines Unternehmens werden sie, wenn es hart auf hart kommt, nicht retten können. Das hatte ich auch in den begrenzten Semestern meines BWL-Studiums gelernt: Ein Unternehmen wird auf allen Ebenen einzig und allein von den Führungskräften geprägt. Aber was sollten diese Gedanken? Bei Upstalsboom gab es keine Probleme, schon gar nicht, was meine Person betraf. Ich hatte doch dafür gesorgt, dass sich das Unternehmen mit meinen zukunftsweisenden und zum Teil aus St. Gallen stammenden komplexitätskompatiblen Managementmethoden seit 2005 gut entwickelt hatte.
Aber Gauklers pauschale Aussage hinterließ bei mir ein schlechtes Gefühl. Traf sie vielleicht einen meiner blinden Flecken? Schon 2006 hatte ich eine Mitarbeiterbefragung gemacht, damals war die Initiative von mir ausgegangen. Das Ergebnis war nicht gut ausgefallen, um es mal harmlos auszudrücken. Im Grunde waren die Ergebnisse so schlecht gewesen, dass eine Veröffentlichung und Konsequenzen in der Praxis zur Verbesserung der Situation für mich nicht infrage kamen. Also ignorierte ich die Mitarbeiterbefragung und meine Nachbearbeitung bestand darin, die gesammelten Werke in der untersten Schublade meines Schreibtischs verschwinden zu lassen.
Aber wieso hatte ich das Gefühl, dass Bernd Gaukler in seinem Kopf eine Idee hatte? Wieso nahm ich ihn überhaupt ernst? Hätte ich ihn nicht mit der Frage »Was wollen die Leute jetzt schon wieder?« abspeisen sollen? Genau. Und hätte ich die schlechte Stimmung bei den Mitarbeitern nicht auch als Gejammer abtun können? Machte ich jedoch nicht. Gab es da womöglich eine Ahnung, dass seit meiner ersten Umfrage kaum eine großartige Verbesserung eingetreten war? So sehr ich versuchte, das Gespräch mit Gaukler zu verdrängen, es klappte nicht. In diesen Spiegel, den er mir vor Augen gehalten hatte und den ich am liebsten zertrümmern wollte, musste ich dieses Mal schauen. Kränkung hin, Kränkung her. Schon einmal hatte ich weggeguckt, und das war im Nachhinein betrachtet krachend in die Hose gegangen. Noch Jahre später haben sich die Mitarbeiter nach den Ergebnissen der ersten Mitarbeiterbefragung erkundigt. Und weil die Ergebnisse in der untersten Schublade meines Schreibtisches lagen, waren diese Fragen sehr unangenehm.
Nach drei Monaten klopfte es abermals an meiner Bürotür, genauso selbstbewusst wie zuvor. Bis auf die Vorbereitungen für die Befragung hatte ich wenig von ihrer Durchführung mitbekommen. Hie und da sah ich Plakate, auf denen die Mitarbeiter dazu eingeladen wurden, an der Befragung teilzunehmen. Ansonsten lief alles sehr geräuschlos ab. Vor dem jetzigen Besuch von Bernd Gaukler hatte ich noch vernommen, dass die Beteiligung mit knapp über fünfzig Prozent der befragten Mitarbeiter normal sei, insbesondere unter Berücksichtigung meines Fauxpas im Umgang mit den Ergebnissen der ersten Mitarbeiterbefragung. Die Hälfte der Mitarbeiter erinnerte sich wohl noch und war der Meinung, dass eine Beteiligung sinnlos sei, da sich anschließend ohnehin nichts ändern würde. Nichtsdestotrotz war ich angesichts der bevorstehenden Kunde der neuen Ergebnisse frohen Mutes. Mein Selbstwertgefühl war so hoch, nichts konnte es erschüttern. Noch nicht.
»Herr Janssen, ich bringe Ihnen die Ergebnisse.« Bernd Gaukler holte nach seinem Eintreten zwei dicke Pamphlete aus seiner Tasche, die ich mit Spannung betrachtete.
»Und?«
»In Schulnoten ausgedrückt, was denken Sie, wie es ausgegangen ist?« Gaukler musterte mich.
»Ich denke«, sagte ich, ohne zu zögern, »dass wir mit einer Zwei bewertet wurden. Unsere Mitarbeiter können dort arbeiten, wo andere Menschen Urlaub machen, wir bezahlen pünktlich die Löhne, und wir sind auf einem Erfolgskurs, dem keiner unserer Mitarbeiter verborgen bleiben dürfte. Auch spreche ich hier und dort mit ihnen, ja, eine Zwei wird es wohl sein.« Gut, dachte ich noch im Stillen, die Arbeitszeiten entsprechen nicht gerade denen eines Büros, die Löhne sind im Vergleich zu anderen Branchen nicht die besten. Es ist wohl auch nicht jedermanns Sache, das ganze Jahr über auf einer Insel zu arbeiten oder im Winter an den dünn besiedelten Küsten der Nord- und Ostsee, denn an ihnen lagen und liegen die meisten unserer Upstalsboom-Hotels. Aber Hotellerie war nun mal Hotellerie, und Menschen begegnen Menschen, allein das macht unsere Branche schon so einzigartig. Abgesehen davon ist jeder unserer Mitarbeiter freiwillig bei uns, und das sicher auch, weil der Hotelalltag im Gegensatz zu Arbeitstagen in Behörden extrem abwechslungsreich und lebendig ist.
Herr Gaukler reagierte nicht auf meine Bemerkung, er hielt mir nur das oberste Blatt des ersten Pamphlets, auf dem die Ergebnisse der geschlossenen Fragen standen, hin.
»Lesen Sie.«
Und ich las: »Die durchschnittliche Zufriedenheit der Mitarbeiter liegt zwischen Vier und Fünf.« Oha, das war überhaupt nicht das, was ich erwartet hatte. Ernüchterung machte sich augenblicklich breit. Aber nicht lange. Denn schnell hatte ich die passenden Ausflüchte parat, um die Ergebnisse wieder zu konterkarieren. Bernd Gaukler hat offensichtlich einen schlechten Zeitpunkt für die Durchführung der Befragung gewählt, im September, am Ende der Sommersaison, da sind alle müde. Und diejenigen, die Upstalsboom klasse finden, werden sowieso nicht geantwortet haben. Nein, die Ergebnisse konnten nicht stimmen, und überdies interessierte mich auch die Vorgehensweise bei der Auswertung. Traue keiner Statistik, die du nicht selbst erarbeitet hast, das war mein Motto. In meinem Unternehmen gärte gar nichts. Wer das behauptete, der musste sich täuschen. Der wollte sich wichtigmachen.
»Das sieht nicht so gut aus«, sagte ich recht einfallslos.
Bernd Gaukler überreichte mir das zweite Pamphlet, auf dem die Ergebnisse der offenen Fragen zusammengefasst waren, auf die die Mitarbeiter zu bestimmten Fragen ihre Antworten frei formulieren konnten, Fragen wie: »Was brauchen Sie, um besser arbeiten zu können? Was möchten Sie ändern? Was müsste sich ändern, damit es besser läuft?«
Zögernd nahm ich die Blätter an mich, nicht weniger zögernd studierte ich die einzelnen Bemerkungen. Manche Antworten waren sehr emotional und der Führung unseres Unternehmens gegenüber recht feindselig formuliert. Dazu gehörten Sätze wie: »Wir werden nicht geführt.« – »Es wird über unsere Köpfe hinweg entschieden.« – »Mein direkter Vorgesetzter ist eine menschliche Null.« – »Es fließen viele Tränen vor Wut, Enttäuschung und aufgrund von unsozialem Verhalten.« – »Wir haben keine Informationen.« – »Wir wissen nicht, wie es um das Unternehmen steht.« – »Wo geht die Reise hin?« – »Unsere Vorgesetzten lassen sich den Zucker in den Arsch blasen, und wir machen uns tagein, tagaus krumm.« – »Die erhalten die Anerkennung, wir den Tritt in den Hintern.« – »Es herrscht absoluter Personalmangel.« Offenbar hatte sich viel Frust angestaut.
In meinem Bauch machte sich ein ungutes Gefühl breit, und als wären die einzelnen Kritikpunkte noch nicht schon schlimm genug, musste ich auf einem der letzten Blätter auf die Frage »Was brauchen Sie, um besser arbeiten zu können?« eine Antwort lesen, die mir mit einer Gewalt den Boden unter meinen Füßen wegzog, dass ich nur dankbar dafür sein konnte, gerade auf meinem Bürostuhl zu sitzen. Die Antwort lautete: »Wir brauchen einen anderen Chef als Bodo Janssen.«
Dieser Satz traf mich wie ein Schlag ins Kontor. Und zwar richtig. Ich war getroffen, benommen und in meinen Grundfesten erschüttert. Ein zweiter Schock. Ein richtiger Schock. Eine absolute Kränkung meines narzisstischen Ichs. Ein großer, ein tiefer Schmerz durchzog meinen ganzen Körper. Innerhalb von neun Monaten hatte ich eine Talfahrt erlitten, von himmelhochjauchzend bis hin zur vollkommenen Ernüchterung, eine Talfahrt vom selbst ernannten, alles könnenden und vor allem alles wissenden Topmanager bis hin zu einem gefühlten Flopmanager. Was ich eben vernommen hatte, das klang nach Vernichtung, es war unmöglich, sich jetzt noch hinter einer rosaroten Brille zu verschanzen. Aber wieso? War ich nicht ein umgänglicher Chef? War mein Blick aufs Ganze so vernebelt? Oder sehen und verstehen die Mitarbeiter einfach nicht, dachte ich, dass ich es gut mit ihnen meine, dass ich mit Leib und Seele an der Zukunftssicherung unseres Unternehmens arbeite und damit auch an der Sicherheit der Arbeitsplätze an sich? Sind sie einfach nur undankbar? Ich hatte das Gefühl, dass ich mich mit Haut und Haaren für unser Unternehmen einsetzte. Bis zu diesem Zeitpunkt war ich mir sicher, dass unsere Mitarbeiter zu schätzen wussten, was sie an Upstalsboom hatten. Hatte ich mich denn so geirrt? Hatten die Mitarbeiter mich vielleicht missverstanden?
Da hockte ich auf meinem »Thron« in der obersten Etage, an meinem riesigen Schreibtisch, im größten und schönsten Büro des Hauses, und fühlte mich wie ein Häufchen Elend. Ich wusste nicht mehr, wo mir der Kopf stand, und mein Herz schlug bis in den Hals. Eine furchtbare Leere breitete sich in mir aus, und die ersten Fragen gingen mir durch den Kopf: Was mache ich denn jetzt? Wie gehe ich mit diesen Ergebnissen um? Das Unternehmen konnte ich nicht zurückgeben, wegrennen ging nicht. Mein Vater war tot, er war bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Ich hatte die Verantwortung für Upstalsboom übernommen. Doch was sollte ich tun? Die Daten verschwinden lassen? Wie schon einmal? Das würde nur nach hinten losgehen und die Situation verschlimmern, wie es sich ja schon nach der ersten Mitarbeiterbefragung gezeigt hatte. Nur: So drastisch hatte es 2006 kein Mitarbeiter formuliert. Da hatte man mich wenigstens noch nicht als Chef loswerden wollen. Vielleicht hatten sie mich damals auch gar nicht als einen solchen angesehen, sondern nur meinen Vater, der zu dieser Zeit noch gelebt hatte. Jetzt jedenfalls stand ich mit dem Rücken zur Wand und fühlte mich extrem hilflos. Ganz grundsätzliche Selbstzweifel machten sich in mir breit.
»Was soll ich tun?« Laut wiederholte ich, was ich leise für mich gedacht hatte.
Bernd Gaukler, der mir die Hiobsbotschaft überbracht hatte, hatte bislang schweigend dagesessen, einzig geguckt, mit zurückhaltender Miene, wie es seine Art war, an die ich mich inzwischen gewöhnt hatte. Schließlich sagte er in ruhigem Ton: »Sie sollten die Ergebnisse vor versammelter Mannschaft verkünden. Und Sie sollten sich der Stimmung im Unternehmen persönlich annehmen. Vergessen Sie nicht: Ist die Stimmung bei den Mitarbeitern schlecht, wird auch bei den Gästen keine Urlaubsfreude aufkommen. Denn dann lässt die Belegschaft den Stress an denen aus, und die einzelnen Mitarbeiter reagieren nur noch mit einem mechanischen Lächeln auf das, was die Hotelgäste wollen.«
»Mmmh«, antwortete ich und erinnerte mich an das Zitat eines erfolgreichen Hoteliers, das ich auf einem Kongress gehört hatte. »Die Stimmung in einem Unternehmen ist wichtiger als jedes Wissen oder Kapital.« Klaus Kobjoll hieß der gute Mann, der das gesagt hatte.
»Sie sollten sich der Sache annehmen.« Mein Gegenüber erinnerte mich daran, dass er noch da war und etwas von mir forderte. Zu Recht forderte.
Daran kam ich wohl nicht vorbei.
Doch noch stand ich unter den Nachwehen der niederschmetternden Beurteilungen. Versöhnliche Töne stellten sich erst später ein, jetzt war ich erst einmal trotzig. »Wenn ich das tue, dann aber unzensiert. Dann werden sämtliche Ergebnisse veröffentlicht, auch die Bewertungen, die über die anderen Führungskräfte und Abteilungsleiter abgegeben wurden. Ungeschönt. Mit jedem einzelnen Rechtschreibfehler.« Wenn es diese miese Stimmung unter den Mitarbeitern gab, dann mussten wir das Übel an den Wurzeln packen, dann musste Transparenz auf allen Ebenen geschaffen werden. Der Schock, den ich erlitten hatte, konnte nur durch eine Schocktherapie geheilt werden. Einen Kurswechsel. Davon war ich überzeugt.
2| Wider den Gehorsam
»Aber nicht nur Tassen und Töpfe fehlen, auch Mitarbeiter«, rief jemand aufgebracht aus der versammelten Runde.
Andere mischten sich ebenfalls lauthals ein: »Mehr Transparenz und Gerechtigkeit bei der Bezahlung wären auch nicht schlecht.«
»Und was ist mit unseren ganzen Überstunden?«
»Wieso dürfen eigentlich nur Führungskräfte zu Schulungen? Das ist doch ungerecht!«
Der Beamer war aufgebaut, der Direktor saß in der ersten Reihe, umgeben von seinen Abteilungsleitern. Es sah aus, als würden sie eine Phalanx bilden. Doch sie hatten sich der versammelten Mannschaft zu stellen, und die hatte sich hinter dem Hoteldirektor und dem mittleren Management platziert. Bernd Gaukler und ich legten zur Verwunderung vieler die Ergebnisse der Befragung offen und ungeschönt dar. Die Ergebnisse unserer Befragung schickten wir den Hoteldirektoren mit der Aufforderung zur Bearbeitung im Vorfeld zu. Deren Aufgabe bestand darin, die Ergebnisse mit den jeweiligen Abteilungsleitern zu bewerten und daraus Maßnahmen abzuleiten, die zur Verbesserung der Situation führten. Ergebnisse und Maßnahmen sollten dann vor versammelter Mannschaft präsentiert werden. Und genau dabei waren wir. Gemeinsam zogen Bernd und ich, inzwischen duzten wir uns, von einem Haus zum anderen.
Interessant war, dass viele von den Führungskräften versuchten, sich zu rechtfertigen und die Schuld nicht bei sich sahen. Auch nicht bei anderen, stattdessen mussten die »Umstände« dafür herhalten. Dieses Verhalten stieß den Mitarbeitern an der Basis wiederum übel auf, sodass sich während der Präsentationen teilweise tumultartige Szenen abspielten. Einige Besprechungen mussten sogar unterbrochen werden, da die Auseinandersetzungen zu hart und zum Teil auch unsachlich wurden. In der Folge kündigten dann sogar einige Führungskräfte, weil sie sich nicht in der Lage sahen, sich der offenen Kritik auszusetzen. Aussagen wie »Ich lass mich doch nicht an den Pranger stellen« waren für einige der Auftakt zu ihrer Flucht vor weiteren Konfrontationen und – wie sich später herausstellte – einer Flucht vor sich selbst.
Beruhigung trat meist erst dann wieder ein, wenn dem Schrecken die ersten Maßnahmen folgten, die wir oder die Hoteldirektoren zur Verbesserung vorschlugen.
»Liegen die Probleme jetzt auch offen auf dem Tisch«, sagte ich, »so heißt das noch lange nicht, dass sie gelöst sind. Sie wollen Veränderungen, ich bin bereit für Veränderungen, aber die sind nur möglich, wenn wir uns an die eigene Nase fassen und gemeinsam lernen und vor allem handeln.«
Zustimmendes Nicken – wenigstens bei einem Teil der Zuhörer. Viele hatten nach wie vor einen Gesichtsausdruck, der mir vermittelte, dass sie das Gesagte erst glauben, wenn tatsächlich Handlungen folgen. Ich atmete tief durch, trotz aller Dramatik und Aufregung machte sich in mir ganz langsam ein befreiendes Gefühl breit. Das, was die Mitarbeiter verärgerte, war nach langer Zeit des Brodelns wie im Inneren eines Vulkans nun in aller Deutlichkeit und mit voller Wucht an die Oberfläche ausgespuckt worden. Es gab keinen Weg mehr zurück. Die Karten lagen auf dem Tisch, und ich hatte den Eindruck gewonnen, dass das gut so war.
»Und was schlagen Sie vor?«, wurde ich nun gefragt.
»Es gibt sehr viel zu tun«, erklärte ich etwas diffus. »Aber das geht nur in einzelnen Schritten.« – »Stappje bi Stappje, Schritt für Schritt«, hätte mein Vater jetzt gesagt. »Und ganz zum Schluss wird dabei herauskommen, dass alle Mitarbeiter wieder gern zur Arbeit gehen, denn letztlich verbringen wir einen Großteil unserer Lebenszeit mit ihr. Und wir können alles dafür tun, dass das eine tolle Zeit wird.«