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Ob wir es wollen oder nicht, wir werden alt. Es passiert, ohne dass wir etwas dazu beitragen. Wir können aber auch unser Altwerden begleiten, bewusst die Prozesse, die ablaufen, mitverfolgen und gegebenenfalls auch unterstützen. Dadurch können wir unser Altwerden mitgestalten. Darin besteht dann die Kunst des Altwerdens, die Wunibald Müller in diesem Buch skizziert. Sie zeigt sich unter anderem darin, dass wir das Altwerden annehmen, die Wende, die damit verbunden ist, bewusst vollziehen. Wir angesichts der Konfrontation mit unserer Endlichkeit und unserem Tod die Kostbarkeit unseres Lebens würdigen und bewusster leben. Wir dafür sorgen, dass wir nicht vereinsamen, sondern über ein tragfähiges Netz von guten Beziehungen verfügen. Wir uns mit Leid, Krankheit und den letzten Dingen wie dem Sterben und Tod auseinandersetzen. Wir uns viel Zeit nehmen zum Innehalten, Bedauern und Danken. Wir das tun, was uns möglich ist, um auch in der letzten Etappe unseres Lebens Lust am Leben zu haben und gerne zu leben.
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Seitenzahl: 169
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2023
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Verlag Herder
Umschlagmotiv: © Smileus / GettyImages
Satz: Barbara Herrmann, Freiburg
E-Book-Konvertierung: Newgen Publishing Europe
ISBN Print 978-3-451-39714-1
ISBN E-Book (E-Pub) 978-3-451-83714-2
Vorwort
TEIL IAufstieg, Wende, Abstieg – Leben zulassen und loslassen
Altwerden ist nichts für Feiglinge
Akzeptieren, was unausweichlich ist: Wir werden alt
Loslassen, was sich überlebt hat
Wir gehen zielsicher dem Ende entgegen
Es ist an der Zeit, unser Leben vom Ende her zu sehen
Bereit zum Abschied und Neubeginn
Die Traurigkeit und Melancholie zulassen
Die frohe Botschaft: Von nun an geht’s bergauf
Die Kunst des Loslassens
Die Wende entschieden vollziehen
Den normalen Prozess des Altwerdens geschehen lassen
Eine neue Lebensqualität erwartet uns
Altwerden, Selbstverwirklichung und Individuation
Das Alter ist kein klägliches Anhängsel
Die letzte Lebensphase begrüßen und umarmen
TEIL IIAngesichts unserer Endlichkeit im Alter authentischer, gelassener und achtsamer leben
In die Sonne schauen – dem Tod ins Gesicht blicken
Die Todesangst ist unterschwellig ständig präsent
Verstärktes Bewusstsein, dass unsere Zeit begrenzt ist
Unser Lied singen
Tun, was wir immer schon tun wollten
Wir müssen keine Bäume mehr ausreißen
»Wow, wir leben«
Uns nicht so wichtig nehmen
Gelassener leben
Mit Würde und gerne alt werden
Wenn wir gebrechlich und krank werden
Gesund ist, wer mit seinen Einschränkungen glücklich leben kann
TEIL IIILeben in Fülle – Unser Leben im Alter ausschöpfen und auskosten
Vielleicht steht uns die schönste Zeit unseres Lebens noch bevor
Jeden Tag mit neuen Augen sehen
»Alles ist immer jetzt«
Den Augenblick auskosten
Was nicht jetzt geschieht, geschieht vielleicht niemals
Wieder staunen können
Solange wir staunen können, leben wir noch
Unser Leben dankbar feiern
Die verwandelnde Kraft des Dankens
TEIL IVVom Ich zum Du – Erfahrung von Einsamkeit, Liebe und Geborgenheit im Alter
Die Konfrontation mit unserer existentiellen Isolation
Vermehrte Erfahrung von Isolation und Fremdheit im Alter
Akzeptieren, dass wir letztlich allein sind
Einsamkeit aushalten und daraus lernen
Uns als unabhängige, selbstständige Person erfahren
Uns mit unserer Einsamkeit befreunden
Mit Empathie und Liebe den Graben zwischen uns überbrücken
Sehnsucht nach Resonanz
Die Welt um uns zum Singen bringen
Die Bedeutung inniger, warmer Beziehungen im Alter
Verlangen nach der Erfahrung von Intimität
Ein Beziehungsnetz aufbauen
Die Kunst des Liebens
Für andere da sein
Hingabe als Selbstverwirklichung
TEIL VVon außen nach innen leben – Die Bedeutung der inneren Persönlichkeit im Alter
Mit uns selbst Bekanntschaft machen
Beides ist wichtig: der innere und der äußere Mensch
Einzug ins Innere und Verwandlung
Bewusste Unterstützung unseres Weges nach innen
Kontakt zum Schatzhaus der Menschheit
Uns auf Goldsuche aufmachen
Offenheit für das Geheimnisvolle
Sehnsucht nach Transzendenz
Das Sichtbare und das Unsichtbare
Begegnung mit C. G. Jung
TEIL VIVon den vorletzten Dingen
Herzhaft bedenken
Unser Lebenswerk vollenden
Die heilende Kraft des Bedauerns und Bereuens
Bedauern, was wir falsch gemacht haben
Bedauern, was wir nicht getan haben
Die Chancen nutzen, etwas nachholen zu können
Entspannt mit unserem Bedauern umgehen
TEIL VIIVon den letzten Dingen
Lebendig bleibt, wer mit dem Leben sterben will
Wir haben es in der Hand, wie wir mit unserem Tod umgehen
Der Tod als Deadline
Den Tod nicht tabuisieren, verdrängen, abwerten
Uns mit dem Tod befreunden
Was von uns wirkt über unseren Tod hinaus?
Wie geht es nach dem Tod weiter?
Zum Schluss
Alle Symphonien des Lebens bleiben unvollendet
Literatur
Simone de Beauvoir (1987, 5) beginnt ihr Buch Das Alter mit einer Erfahrung von Buddha zu der Zeit, als er noch als Prinz Siddharta, festgehalten in einem herrlichen Palast, manchmal entwischte und mit einem Wagen die Umgebung auskundschaftete. »Bei seinem ersten Ausflug begegnete ihm ein gebrechlicher Mann, zahnlos, voller Falten, weißhaarig, gebeugt, auf einen Stock gestützt, zittrig und brabbelnd. Er staunte, und der Kutscher erklärte ihm, was ein Greis ist. ›Was für ein Unglück‹, rief der Prinz aus, ›dass die schwachen und unwissenden Menschen, berauscht vom Stolz der Jugend, das Alter nicht sehen. Lass uns schnell nach Hause fahren. Wozu all die Spiele und Freuden, da ich doch die Wohnstatt des künftigen Alters bin.«
Ich will mit meinem Buch dazu ermutigen, das Alter zu sehen. Ihm offen ins Gesicht zu schauen. Ich tue das, weil ich davon überzeugt bin, dass wir dadurch die Angst vor dem Alter, Vorbehalte, die wir gegenüber dem Alter haben, verringern, vielleicht sogar verlieren können. Wir werden, wenn wir dem Alter ins Gesicht blicken, mit den unschönen und unangenehmen Begleiterscheinungen des Alters konfrontiert, die Siddharta in Staunen und Schrecken versetzten. Das aber sind wir uns schuldig, wollen wir verantwortungsvoll und realistisch mit unserem Leben, zu dem das Alter gehört, seiner Entwicklung und Entfaltung umgehen.
Doch das ist nur die eine Seite, die eine Rolle spielt, wenn es darum geht, uns unserem Alter zu stellen und die Auseinandersetzung damit nicht zu verdrängen. Halten wir dem Blick auf unser Alter stand, lernen wir auch die angenehmen und schönen Seiten des Alters kennen. Wir können das Alter dann auch wertschätzen und noch besser die Möglichkeiten entdecken, die wir haben, unser Alter positiv und unser Leben bereichernd erleben und gestalten zu können. Wir können vielleicht sogar gerne alt werden.
Wir haben dann kein Problem damit, dass das künftige Alter und Altsein schon in uns wohnt. Wir lehnen es nicht ab, uns in dem Greis, der Greisin zu erkennen, die wir einmal sein werden. Wir vergessen nicht, dass wir einmal jung gewesen sind und jetzt alt sind. Vielmehr liegt uns daran, als alter Mensch die letzte Etappe unseres Lebens so zu leben, dass vollendet wird, was wir bis dahin erlebt und wie wir gelebt haben, damit wird, was werden soll.
Dann aber ist die letzte Phase in unserem Leben nicht weniger wichtig und wertvoll als die vorausgegangenen Phasen. Sie ist nicht nur ein klägliches Anhängsel. Sie kann genauso befriedigend, erfüllend und sinnvoll sein wie die vorausgegangenen. Sie hat ihre ganz eigene Bedeutung im Gesamt unseres Lebens, auf die wir nicht verzichten können, wollen wir ein erfülltes Leben leben.
Dem Alter ins Gesicht blicken, heißt auch, unsere Endlichkeit und unseren Tod im Blickfeld zu haben. Das muss uns nicht betrüben und herunterziehen. Es kann uns dazu motivieren und antreiben, bewusster, entschiedener, ehrlicher zu leben. Wir tun das unter anderem, indem wir versuchen und uns einüben, mehr als bisher im Augenblick zu leben, innerlich wach durchs Leben zu gehen. Indem wir loslassen, was sich überlebt hat und Neues ausprobieren. Indem wir uns wagen, endlich das zu leben und so zu leben, wie es unserer Überzeugung entspricht. Indem wir im Alter endlich unser Lied singen.
Es bleibt also spannend bis zum Schluss, wenn wir ein klares, eindeutiges »Ja« zu unserem Alter sagen und nicht aufgeben, wir unsere ganze Energie, Kreativität, Kunstfertigkeit und Lust am Leben einsetzen, dass unser Alter zum krönenden Abschluss unseres Lebenswerks wird. Voll-endet wird, was werden soll. Dank unserer Kunstfertigkeit und der Unterstützung durch viele andere Personen, die in unserem Leben für uns wichtig waren und sind. Aber auch dank der Kräfte und Mächte, die auf unser Leben einwirkten und einwirken, damit voll-endet wird, was voll, ganz werden soll.
Wenn ich von alten Menschen spreche, dann meine ich Personen ab dem 65. Lebensjahr. Dabei bin ich mir bewusst, dass Altern sehr individuell abläuft und von vielen Komponenten abhängig ist. So kann ein 80-Jähriger körperlich und geistig fitter sein als ein 65-Jähriger. Was ich über die Kunst des Alterns schreibe, versucht das zu berücksichtigen. So kann die einzelne, der einzelne für sich entscheiden, was für ihre, seine Situation am ehesten zutrifft.
Carl Clemens vom Verlag Herder danke ich für die unkomplizierte Zusammenarbeit. Ich widme das Buch P. Daniel Klüsche OSB, inzwischen 90 Jahre alt, der für mich ein Vorbild dafür ist, wie man gerne und mit Würde alt werden kann.
Wunibald Müller
Auf die Frage: »Wird denn nichts im Alter leichter?«, antwortet die 82-jährige Angelica Domröse (in: Pollmer/Schneider 2023, 16), die als junge Frau in dem Film Die Legende von Paul und Paula die Rolle der Paula spielte: »Alter ist immer scheiße.« Wenn Alter tatsächlich immer nur scheiße ist, dann gibt es keinen Grund, das Alter zu begrüßen, können wir ihm nichts Positives abgewinnen. Angelica Domröse empfindet es offensichtlich so und manche, vielleicht auch viele, werden ihr beipflichten, je nachdem wie sie selbst ihr Altwerden oder Altsein erleben.
Altsein kann tatsächlich schrecklich und alles andere als erstrebenswert sein. Doch ist es immer so? Wir werden alt. In einer gewissen Weise verwelken wir. Sich das vorzustellen und am eigenen Leib zu erleben, ist nicht schön. Wir versuchen mit Hilfe von vielfältigen Mitteln diesen Prozess hinauszuzögern oder zu übertünchen. Das alles ändert aber nichts an dem Zerfall unseres Körpers, der letztlich nicht zu stoppen ist. Da gibt es nichts zu beschönigen. Winfried Glatzeder, der in dem besagten Film Paul spielt, inzwischen 78 Jahre alt, meint denn auch, »zu akzeptieren, dass der Körper sich nach und nach verabschiedet, ist sehr schwer, weil es so brutal ist« (ebd.).
Ja, das ist brutal und der Schauspieler Joachim Fuchsberger hat recht, wenn er seine eigenen Erfahrungen vom Altwerden überschreibt mit der Erkenntnis, dass Altwerden nichts für Feiglinge ist. Ob Altwerden immer schlimm ist, hängt sicher auch von den Umständen ab, unter denen wir alt werden. Es hängt aber auch von uns ab, wie wir mit unserem Altwerden umgehen, welche innere Haltung wir dazu einnehmen. Was wir dazu beitragen, dass wir das Altwerden nicht oder nicht nur negativ erleben. Inwiefern wir ihm auch positive Seiten abgewinnen können, bis dahin, dass wir gerne alt werden.
Die Kunst des Altwerdens beginnt damit, zu akzeptieren, dass wir alt werden. Das bedeutet, dass wir, was dabei mit uns geschieht, zunächst einmal einfach nur zur Kenntnis nehmen, ohne es zu bewerten. Wir es nicht von vorneherein für furchtbar halten, es aber auch nicht mit rosaroter Brille betrachten. In einem nächsten Schritt bedauern wir vielleicht, was sich in unserem Leben verändert, auf was wir verzichten müssen. Dazu gehört auch, dass wir feststellen, nicht mehr über die Vitalität zu verfügen, die wir früher so sehr an uns schätzten. Die Muskelkraft lässt nach, das Kreuz tut weh. Unser ohnehin schon spärlicher Haarwuchs nimmt weiter ab. Die Altersflecken vermehren sich. Das stimmt uns wehmütig und macht uns vielleicht auch traurig.
Die Wehmut und Trauer sollten wir zulassen, weil das auch traurig ist, uns wehtut. Wenn wir die Trauer zulassen, hilft uns das, uns mit der Zeit von dem zu verabschieden, was nicht mehr ist und auch nicht mehr zurückkehren wird. Die Schriftstellerin Amelie Fried (in: Mainpost 2023, 14) bekennt, dass sie an dem hänge, was gewesen sei, und bisweilen wehmütig sei, wenn sie zurückblicke. Doch mit Dingen zu hadern, die vorbei sind, sei sinnlos. Damit müsse man sich versöhnen, um die Lebensfreude nicht zu verlieren.
Zur Kunst des Altwerdens gehört, uns von der Vorstellung oder auch Illusion zu verabschieden, bis zum Ende unseres Lebens einen Anspruch zu haben auf Gesundheit, Vitalität, Schönheit oder ewige Jugend. Wenn uns das nicht gelingt, leiden wir nur darunter, etwas nicht länger zu haben, was wir einfach nicht mehr haben und nicht mehr haben werden. Wir bleiben hängen, sitzen fest, blasen Trübsal und verstehen die Welt nicht mehr. Es geht nichts mehr weiter in unserem Leben. Unsere notwendige Weiterentwicklung wird blockiert.
Damit das nicht passiert, müssen wir uns einen Ruck geben und loslassen, was wir ohnehin nicht mehr haben und nicht mehr sind. Wir müssen loslassen, was sich überlebt hat, auch damit das, was jetzt leben möchte oder erst jetzt leben kann, zum Zuge kommen kann (vgl. Riedel 2015, 150). Das ist die Voraussetzung dafür, dass wir auch im Alter Zufriedenheit und Glück erfahren. Solange wir an dem festhalten, was nicht mehr ist, werden wir vergeblich danach suchen, weil das, was uns bisher Erfüllung, Zufriedenheit, Glück bescherte, uns im Alter nicht länger die erwünschte Erfüllung schenken wird.
Dahin zu kommen, ist nicht leicht. Wir haben uns an unseren Zustand gewöhnt, es uns eingerichtet. Wir sind zufrieden damit, wie es in unserem Leben im Moment aussieht. Jetzt soll sich das ändern. Sollen wir uns verabschieden von dem, woran wir uns gewöhnt haben. Doch, wenn wir ehrlich sind und genauer hinschauen, merken wir, dass sich in der letzten Zeit etwas verändert hat, es vielleicht doch nicht mehr so gut läuft wie früher. Wir schneller müde werden, es uns öfters nach Hause zieht, um unsere Ruhe zu haben, statt auf eine Fete zu gehen oder an einem Event teilzunehmen. Wir ahnen, dass sich etwas in unserem Leben verändern müsste, wir etwas verändern müssten. Doch es geht uns so wie jenem Passagier, von den Mathias Jung (2004, 107) in folgender kleinen Episode auf humorvolle Weise berichtet:
»Ein Mann sitzt im Bummelzug. Bei jeder Station steckt er den Kopf zum Fenster hinaus, liest den Ortsnamen und stöhnt. Nach einigen Stationen fragt ihn sein Gegenüber besorgt: ›Tut Ihnen etwas weh? Was ist los?‹ Da antwortet der Mann: ›Eigentlich müsste ich aussteigen. Ich fahre dauernd in die falsche Richtung. Aber hier drin ist es so schön warm.‹«
Wollen wir bis zum Schluss ein erfüllendes Leben führen, wollen wir nicht einrosten, sondern an unserem Wachstumsprozess mitwirken, müssen wir den Mut haben, immer wieder die Komfortzone zu verlassen. Vertrautes hinter uns lassen. Wir müssen am Ball bleiben, flexibel sein. Das gilt auch für die letzte Lebensphase, wollen wir, dass sie eine erfüllte Zeit für uns ist, an deren Gestaltung wir uns aktiv beteiligen. Statt es uns einzurichten und so zu leben, wie wenn wir bereits mit dem Leben abgeschlossen haben und passiv das Ende erwarten. Erst wenn wir immer wieder loslassen, uns aufraffen, die Komfortzone verlassen, schaffen wir Platz und setzen wir die Energie frei, die wir benötigen, um Neues planen, ausprobieren und wagen zu können.
Die Kunst des Altwerdens, das wird an dieser Stelle deutlich, verlangt uns einiges ab. Zunächst mag man denken, Kunst ist etwas Spielerisches, hat mit Muße zu tun und dürfte uns eher leicht von der Hand gehen. Doch Kunst kennt auch einen bestimmten Anspruch, ist darauf aus, etwas Besonderes zu schaffen, das sich vom Alltäglichen unterscheidet. Das geht auch mit einem großen Engagement einher, kann anstrengend und aufreibend sein. Die Aufgabe der Kunst, so eine Künstlerin, bestehe darin, die Realität schöner zu machen. Zumindest, so würde ich ergänzen, die Realität mitzugestalten.
Beim Übergang in die letzte Lebensphase besteht die Kunst des Altwerdens darin, uns einen Schubser zu geben, damit wir den Übergang gut hinbekommen. Sie muss uns das schmackhaft machen. Wie ich das gerade auch versuche, indem ich darauf hinweise, dass wir etwas dafür bekommen, wenn wir diesen Schritt wagen: wir uns von dem, was nicht mehr ist, verabschieden und uns auf das einlassen, was uns jetzt bevorsteht.
Also, geben wir uns einen Ruck. Springen wir im übertragenen Sinn auf den fahrenden Zug. Denn wir gehen ohnehin zielsicher, ohne dass sich dies stoppen ließe, dem Ende entgehen. Das trifft auf das ganze Leben zu, bei dem wir von Anfang an unaufhaltsam auf das Ende zugehen. Aber solange wir jung sind oder uns in den mittleren Lebensjahren befinden, spielt das in der Regel keine große Rolle. Jetzt aber, wenn der Abend des Lebens beginnt, rückt das Ende immer näher und wir können dieser Tatsache nicht länger aus dem Weg gehen oder sie verdrängen.
Wir sollten das auch nicht tun. Vielmehr sollten wir ein klares »Ja« zu dieser letzten Lebensphase sagen und uns auf die äußeren und inneren Prozesse einlassen, die auf uns zukommen. Wir sollten bereit sein, uns ihr zu stellen, sie ganz bewusst in den Blick zu nehmen. Die Möglichkeiten, die uns dieser letzte Lebensabschnitt bietet, für uns zu entdecken und zu nutzen, und die Schwierigkeiten, mit denen wir zu rechnen haben, gut zu meistern.
Wir tragen bei einer solchen Einstellung dazu bei, ganz normal älter zu werden. Wir akzeptieren, dass wir älter werden, wir diesen Prozess nicht aufhalten können. Dass uns, selbst wenn wir es versuchen wollten, uns dagegen aufzulehnen, die Wirklichkeit einholen wird. Die aber besteht darin, dass wir mit jedem neuen Tag, Monat, Jahr dem Ende näherkommen. Auch uns am Ende unausweichlich ereilen wird, was jeden Menschen ereilt: der Tod.
Eigentlich ist das selbstverständlich und vom Kopf her wissen wir das. Doch es ist verständlich, dass es uns zunächst schwerfällt, das zu akzeptieren. Wenn wir merken, wie ein Tag nach dem anderen, ein Jahr nach dem anderen vergeht, kann es uns zwischendurch fast unheimlich zumute werden bei dem Gedanken, dass wir uns immer mehr, unaufhaltsam dem Ende nähern.
Vor 20, 30 Jahren konnten wir grundsätzlich davon ausgehen, dass wir noch viele Jahrzehnte vor uns haben, sollten wir gesund bleiben und auch sonst kein Unglück unser Leben vorzeitig beenden. Vor uns lag eine anscheinend endlos dauernde Zukunft mit ungeahnten Möglichkeiten. Ich erinnere mich an ein Lied, das eine Musikkapelle im Disneyland in Los Angeles abspielte, in dem es hieß: »There is a great big beautiful tomorrow.« Ich war damals 21 und fand mich wieder in der Aufbruchstimmung, die in diesem Lied zum Ausdruck kommt und die für diese Lebensphase, in der das ganze Leben noch bevorsteht, typisch ist. Von dieser Stimmung geht eine Dynamik aus, die uns anspornt, das Leben zu wagen, vieles auszuprobieren, sich nahezu ungebremst auf das Abenteuer Leben einzulassen. Dabei auch etwas zu riskieren, auf die Nase zu fallen, Fehler zu machen, Lehrgeld zu zahlen.
Selbst mit 30, 40 oder 50 Jahren geht der Blick nach vorne, ausgerichtet auf das, was uns bevorsteht. Auch im Alter schauen wir nach vorne. Doch mit jedem neuen Jahr, das vergeht, stößt die Zukunftsperspektive immer mehr an die Grenze, die durch unser Ende vorgegeben ist. Mit 70 oder mehr Jahren ist die Zeit, die uns noch bleibt, überschaubar und wir können nichts daran ändern. Wir werden niemals mehr 40 oder 60.
Uns wird jäh bewusst, »dass das Leben mit jedem Tag aufgebraucht wird und ein ständig kleinerer Teil von ihm zurückbleibt« (Marc Aurel 2019, 25). Wir jeden Tag unserem Ende näherkommen. Das müssen wir uns bewusst machen, wollen wir uns nichts vormachen. Ob wir es wollen oder nicht, mit dem Beginn der letzten Lebensphase findet ein Perspektivenwechsel statt, dem wir uns nicht entziehen sollten. Es ist an der Zeit, unser Leben vom Ende her zu sehen.
Ein Vergleich, mit dem der Tiefenpsychologe C. G. Jung den Ablauf unseres Lebens veranschaulicht, verdeutlicht das und kann uns helfen, zu verstehen, was da mit unserem Leben passiert. Am Morgen geht die Sonne auf und erblickt die weite, bunte Welt in immer weiterer Erstreckung, je höher sie sich am Firmament erhebt. Bis sie um zwölf Uhr den Höhepunkt erreicht und damit zugleich ihr Untergang beginnt. Übertragen wir das auf unser Leben, heißt das für uns, wie das für den Lauf der Sonne gilt, müssen wir den Aufstieg, die Wende und den Untergang mitmachen.
Der Aufstieg steht für die ersten 30 bis 40 Jahren, die Wende für den Übergang von der ersten zur zweiten Lebenshälfte, bekannt auch als Krise in der Mitte unseres Lebens. Der Abstieg beginnt dann ganz langsam mit 40 Jahren, verstärkt sich mit 50 und 60 Jahren und erfährt ab 70 Jahren noch einmal eine deutlich gefühlte Beschleunigung im Bewusstsein, jetzt geht es wirklich dem Ende entgegen.
Ob uns und wie uns der Aufstieg, die Wende und der Abstieg gelingen, hängt auch von uns ab. Wir können krampfhaft versuchen, uns dagegenzustemmen, uns mit dem zufriedengeben, was wir erreicht haben. Wir können uns aber auch von der Dynamik, die in uns angelegt ist, mitnehmen lassen, auch wenn es uns schwerfällt und wehtut. Dann sind wir bereit, uns auf den Aufstieg, die Wende und den Abstieg einzulassen. Dieser Aufstieg und Abstieg vollzieht sich in verschiedenen Lebensstufen, für die gilt, was Hermann Hesse (2012) in seinem Gedicht über die Stufen schreibt:
»Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.«