Von der Notwendigkeit, den Weltraum zu ordnen - Pippa Goldschmidt - E-Book

Von der Notwendigkeit, den Weltraum zu ordnen E-Book

Pippa Goldschmidt

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Beschreibung

»Pippa Goldschmidts Geschichten sind klug und mitfühlend, witzig und bittersüß, erfindungsreich und tief empfunden – eine echte Entdeckung!« THE INDEPENDENT Eine Studentin beginnt eine Affäre mit ihrem verheirateten Professor, und schon bald muss sie die Grundlagen der Astrophysik am eigenen Leib erfahren. Bertolt Brecht schreibt sein Stück Leben des Galilei im amerikanischen Exil neu und gerät vor das Komitee für unamerikanische Umtriebe. Auf einer einsamen Polarstation am Südpol trifft ein an Liebeskummer leidender Forscher auf seinen Rivalen. Albert Einstein versucht, mit dem Verlust seines ersten Kindes zurechtzukommen. Ein sprachgesteuerter Lift nimmt eine Anweisung etwas zu genau … Goldschmidts geistreiche und berührende Erzählungen bieten faszinierende Einsichten in die menschliche Natur. Sie erzählen von der Rolle der Frauen in der Forschung, von Wendepunkten im Leben berühmter Wissenschaftler und Künstler, vom jüdischen Überleben nach dem Zweiten Weltkrieg, von Liebe und Sex und der immer aktuellen Suche nach Erkenntnis. Jede Geschichte, von der surrealen Miniatur bis zur epischen historischen Erzählung, ist ein Meisterwerk für sich. »Die Texte unterhalten auf großartigem Niveau, es ist, als nasche man beim Lesen vom Baum der Erkenntnis.« HAUKE HARDER, BUCHHANDLUNG ALMUT SCHMIDT

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Seitenzahl: 275

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Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2018

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, [email protected]

www.culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten

Translated from the English language: »The Need for Better

Regulation of Outer Space. A Collection of Short Stories«

First published in Great Britain by Freight Books

Copyright © by Pippa Goldschmidt, 2015

Quellenvermerk Brecht-Zitate:

Textauszug aus: Bertolt Brecht, Leben des Galilei,

in: ders., Werke. Große kommentierte Berliner und

Frankfurter Ausgabe, Band 5: Stücke 5.

© Bertolt-Brecht-Erben / Suhrkamp Verlag 1988

Übersetzung: Zoë Beck

Redaktion: Jan Karsten

Umschlaggestaltung: Carolin Rauen

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: März 2018

ISBN 978-3-95988-098-5

Über das Buch

Eine Studentin beginnt eine Affäre mit ihrem verheirateten Professor, und schon bald muss sie die Grundlagen der Astrophysik am eigenen Leib erfahren. Bertolt Brecht schreibt sein Stück Leben des Galilei im amerikanischen Exil neu und gerät vor dem Komitee für unamerikanische Umtriebe. Auf einer einsamen Polarstation am Südpol trifft ein an Liebeskummer leidender Forscher auf seinen Rivalen. Albert Einstein versucht, mit dem Verlust seines ersten Kindes zurechtzukommen. Ein sprachgesteuerter Lift nimmt eine Anweisung etwas zu genau …

Goldschmidts geistreiche und berührende Erzählungen bieten faszinierende Einsichten in die menschliche Natur. Sie erzählt von der Rolle der Frauen in der Forschung, von Wendepunkten im Leben berühmter Wissenschaftler und Künstler, vom jüdischen Überleben nach dem Zweiten Weltkrieg, von Liebe und Sex und der immer aktuellen Suche nach Erkenntnis. Jede Geschichte, von der surrealen Miniatur bis zur epischen historischen Erzählung, ist ein Meisterwerk für sich.

»Pippa Goldschmidts Geschichten sind klug und mitfühlend, witzig und bittersüß, erfindungsreich und tief empfunden – eine echte Entdeckung!« The Independent

»Die Texte unterhalten auf großartigem Niveau, es ist, als nasche man beim Lesen vom Baum der Erkenntnis.« Hauke Harder, Buchhandlung Almut Schmidt

Über die Autorin

Pippa Goldschmidt wuchs in London auf und lebt heute in Edinburgh. Sie absolvierte an der University of Glasgow ein Masterstudium in Creative Writing. 2012 gewann die promovierte Astronomin den angesehenen Scottish Book Trust/Creative Scotland New Writers Award.

Ihre Erzählungen, Gedichte und Essays sind in vielen internationalen Publikationen, etwa der New York Times,

Pippa Goldschmidt

Von der Notwendigkeit, den Weltraum zu ordnen

Übersetzt von Zoë Beck

Inhaltsverzeichnis

Einführung in die Relativitätstheorie
Der erste Stern
Wie korrekt muss man sein (um im Leben etwas zu erreichen)
Das Schneewittchen-Paradox
Der sprachgesteuerte Lift
Wettstreit um Unsterblichkeit
Helden und Feiglinge
Die Suche nach Dunkler Materie
Der südlichste Punkt
Von der Notwendigkeit, den Weltraum zu ordnen
Identitätsdiebstahl
Gleichung für einen Apfel
Die nächste Hilfe ist eine Million Lichtjahre entfernt
Freier Fall
Keine Zahlen
Sicherheitsüberprüfungen
Geschichte des Lebens
Anmerkungen
Danksagung

Einführung in die Relativitätstheorie

14-wöchiger Kurs. Gute Grundkenntnisse in Mathematik ­erforderlich.

Woche 1

Du sitzt in der ersten Reihe des Hörsaals und hörst dem Dozenten zu. »Alice fährt mit der Bahn. Sie richtet die Taschenlampe auf Bob, der am Bahnsteig steht.«

Den Dozenten kennst du noch nicht, er muss neu sein. Du rutschst auf deinem Sitz herum, und natürlich sieht er dich an. Er macht eine winzige Pause, stottert für alle anderen kaum merklich, während du siehst, wie er die Geometrie deiner Bluse analysiert.

Du fragst dich, ob Alice regelmäßig mit dem Zug fährt und dabei mit ihrer Taschenlampe auf Männer leuchtet. Du stellst sie dir in einem Plastikregenmantel und hochhackigen Stiefeln vor. Du fragst dich, was Bob von der ganzen Sache hat, vielleicht steht er auf Alice.

»Alice sieht, wie sich das Licht der Taschenlampe gleichmäßig in alle Richtungen ausbreitet und Spitze und Ende des Zugs gleichzeitig trifft.« Die anderen Studenten schreiben das in ihre Hefte. Du kritzelst ein Herz auf den Umschlag deines Heftes und denkst darüber nach, noch einen Knopf deiner Bluse zu öffnen.

»Aber Bob sieht, wie das Licht zuerst das Ende des Zugs erreicht und dann die Zugspitze. Weiß jemand, wer recht hat? Alice oder Bob?« Stille. Du siehst zu den anderen ­Studenten rüber, bevor du die Hand hebst, und er nickt dir zu.

»Sie haben beide recht. Aus Bobs Perspektive kommt das Ende des Zugs auf das Licht zu, und die Spitze bewegt sich davon weg. Deshalb sieht er, wie das Licht zuerst das Zug­ende erreicht, bevor es die Zugspitze trifft. Aber Alice fährt mit dem Zug, und für sie bewegen sich Spitze und Ende nicht. Aus ihrer Sicht erreicht das Licht gleichzeitig Spitze und Ende.« Du hältst inne. »Sie haben beide recht«, wiederholst du.

Er nickt wieder, bevor er fortfährt. »Die Lichtgeschwindigkeit ist eine Konstante, und diese führt zu unterschied­lichen Versionen der Realität. Jede davon ist gleichermaßen zulässig.« Das gefällt dir. Kurz und knapp. Du malst weiter Herzchen, während er doziert.

Woche 2

Bob tut dir ein bisschen leid. Nie geht er irgendwohin, er steht immer nur am Bahnsteig und wartet darauf, dass Alice mit ihm kommuniziert. Sie hat den ganzen Spaß. Dir ist aufgefallen, dass die anderen Studenten alles aufschreiben, was der Dozent sagt, aber sie können keine seiner Fragen beantworten. Du musst nichts aufschreiben. Du hast den ganzen Kram schon durch. Dir gefällt, wie er dich jetzt ansieht, wenn er eine Frage stellt, als würde er etwas von dir erwarten.

Sein Ehering blitzt im künstlichen Licht des Hörsaals. Du streichst über die Knöpfe deiner Bluse.

Woche 3

Alice befindet sich in einem Aufzug, der auf die Erde zustürzt. Der Dozent sagt, dass sie nichts fühlt, während sie fällt, nicht einmal die Schwerkraft, aber du bist dir ziemlich sicher, dass sie Angst haben könnte. Bob wartet wahrscheinlich immer noch an irgendeinem Bahnsteig auf sie und fragt sich, wo sie ist. Der arme, treue Bob. Was für ein Idiot.

Es sind jetzt weniger Studenten geworden. Das passiert an diesem Punkt des Kurses immer. Sie kommen damit nicht klar. Die Extrapolation von alltäglichen Dingen – Uhren, Züge, Taschenlampen – zum Imaginären: Trägheits­kräf­te, gekrümmte Raumzeit, das Vakuum. Du bist daran gewöhnt. Du kommst klar.

Am Ende der Vorlesung, wenn sich die anderen Studenten rausschieben, kommt der Dozent zu dir rüber. Du verdeckst dein Heft, damit er die Herzchen nicht sieht.

»Sie schreiben nie etwas auf.« Wieder diese Schroff- heit.

»Das muss ich nicht«, und du lächelst und gehst.

Woche 4

Dir wird eine Kursarbeit aufgegeben: »Messen Sie Newtons Fehler in seiner Ableitung der Umlaufbahn des Merkurs um die Sonne und belegen Sie, wie Einstein diesen Fehler ­mithilfe der allgemeinen Relativitätstheorie korrigieren konnte.«

Das ist der übliche Lehrbuchkram. Du bist fast schon enttäuscht davon, dass der Dozent so wenig Fantasie zu haben scheint. Du hoffst, dass er in anderen Aspekten seines Lebens mehr Fantasie zeigt. Du schickst ihm eine E-Mail mit der Antwort und musst nicht lange warten, bis er zurückschreibt. Er will dich sehen, in seinem Büro. Es hat eine ­Woche länger gedauert als üblich, aber das ist egal. Es bleibt noch eine Menge Zeit.

Du warst schon mal in dem Büro, als es der letzte Dozent noch hatte. Der jetzige hat die Möbel umgestellt, aber der Teppich ist noch an seinem Platz. Du erinnerst dich an den Teppich.

»Es gibt einen praktischen Teil bei der Kursarbeit«, erklärt er dir. »Sie müssen sich ein Experiment aussuchen, das ich dann genehmige.«

Du schlägst ein schnelles, unkompliziertes Experiment vor, eins, dass du mit ihm auf dem Boden seines Büros ausführen kannst. Er stimmt zu.

Woche 5

Alice befindet sich jetzt in einem Raumschiff und reist fast mit Lichtgeschwindigkeit durch das Universum, während Bob, wie üblich, zu Hause auf sie wartet. Du vermutest, dass Bob jetzt nicht mehr so heiß aussieht, nach der ganzen Warterei auf Alice und den Gedanken, die er sich um sie macht.

»Wer kann erklären, warum Bob schneller altert als ­Alice?« Er trägt heute ein schönes Hemd, frisch und gebügelt, vermutlich von seiner Frau. Du stellst dir vor, wie du deine Hände über seine Arme gleiten lässt, über seine Schultern und an seiner Brust hinab, und dabei die Wärme seines Körpers spürst.

Heute sind nur noch drei andere Studenten im Hörsaal. Der Dozent wartet darauf, dass du antwortest, aber du bleibst still. Du siehst nicht ein, warum du die ganze Arbeit machen sollst.

Woche 6

Du schlägst dem Dozenten vor, das Experiment zu wiederholen, nur um sicherzugehen, dass die Ergebnisse dieselben sind wie zuvor. Er stimmt zu. Danach sieht sein Hemd im Hörsaal ein wenig zerknittert aus.

Die Raumzeit ist von deinem Experiment komprimiert worden. Der Dozent steht vor dem Whiteboard und stochert sich durch eine Gleichung, und er liegt gleichzeitig ausgestreckt auf dem Teppich, ein dünner Schweißfilm ist auf seinem Bauch zu sehen.

Das Experiment wird nun regelmäßig wiederholt, gelegentlich auch zweimal täglich. In seinem Büro schließt er hinter dir die Tür, biegt deinen Kopf zurück und küsst deinen Hals.

Woche 7

Der Dozent stellt Bob und Alice Carol vor. Carol ist abenteuerlustiger als die beiden. Sie fällt in schwarze Löcher, wo sie von der gekrümmten Raumzeit zu einem Faden lang gezogen und vom Rest des Universums abgeschnitten wird. Während sie eine letzte Nachricht aussendet, bevor sie hinter dem Ereignishorizont versinkt, sehen Bob und Alice eine statische Vision von ihr, die für immer über dem Abgrund balanciert.

Du kannst sie ebenfalls sehen. Sie trägt deine Lieblingsjeans: die, die der Dozent eilig heruntergerissen hat. Du trägst sie heute wieder, obwohl der Stoff einen Riss hat. Du hoffst, dass er es bemerkt und sich erinnert.

Woche 8

Der Dozent weicht vom Lehrmaterial ab und spricht über Dunkle Materie. Du stellst dir vor, wie sie durch das Universum gleitet und sich an allein stehenden Objekten befestigt. Du weißt schon, wie schnell sie auf bestimmte Kräfte reagiert, wie beispielsweise die Nähe einer Hand oder das Aufknöpfen einer Bluse.

»Dunkle Materie füllt das Universum«, sagt er dir und den anderen Studenten. »Sie interagiert nicht mit Licht, nur mit Masse.«

Mit dem Finger zeichnest du eine Spirale auf den Tisch. Du denkst an die langsamen, lieblichen Kurven von Körpern, die sich umkreisen, bevor sie nach innen fallen. Aber sein Ehering ist aus Gold, und auch wenn es weich genug ist, um deine Bissspuren abzubilden, wird es bestehen bleiben, bis die Erde und der Mond schließlich in die Sonne stürzen.

Woche 9

Seine Frau ist schwanger. Er zeigt dir das Ultraschallbild des Babys, dessen Kopf ins Profil gebogen ist, als würde es in dem sternlosen Raum, der es umgibt, bereits nach ­Antworten suchen. Jetzt weißt du nicht, was du sagen sollst. Jetzt, als er dich an sich zieht, um an deinen Hals heranzukommen, fragst du dich, was in Zukunft geschehen wird. Du bist nicht daran gewöhnt, so zu denken. Diese Kurse sind vollkommen vorhersehbar. Das ist das Beste an ihnen.

Die nächste Kursarbeit behandelt Masse und wie sie von Geschwindigkeit abhängt. Je schneller ein Objekt ist, desto schwerer wird es. Du denkst, dass Bob Alice vielleicht nicht mehr so attraktiv finden wird, wenn sie jetzt zunimmt und ihre Knöchel dick werden. Deiner Berechnung zufolge sollte er immer Carol bevorzugen, aber diese Lösung ist falsch. Es ist das erste Mal, dass dir so etwas passiert ist. Du fragst den Dozenten danach, aber er kann dir einen Fehler in deiner Logik nachweisen.

Woche 10

Diese Woche spricht er über Entropie und die wachsende Unordnung und den zunehmenden Zerfall bei fortschreitendem Zeitverlauf von der Vergangenheit zur Zukunft. Dies widerspricht der Relativitätstheorie, die nicht von Zeit abhängt. Du hattest gehofft, dass die Relativität über die Entropie siegt, aber was Entropie ist, hast du nun erfahren.

Jetzt zupft er sich nach jedem Experiment die Teppichfussel von seiner Kleidung, streicht sein Haar glatt und riecht an sich, bevor er dich aus dem Büro schickt. Er muss noch arbeiten. Andere Kurse vorbereiten. Du hast Schwie­rig­keiten, dich auf deine eigene Arbeit zu konzentrieren. Du weißt nicht, was du über das Experiment hinaus mit dir ­anfangen sollst. Du dachtest, es würde für diesen Kurs ­reichen.

Woche 11

Es kommt zu einer weiteren Abweichung. Er spricht ­davon, die Umlaufbahnen von Körpern zu berechnen. Ein Zwei-­Körper-Problem ist berechenbar. Sobald die Aus­gangs­bedingungen bekannt sind, ist die gesamte ­Zukunft der Laufbahn bekannt. Aber wenn es drei Körper gibt, wird das System instabil. Der Effekt jeder Pertur­­ba­tion dieses ­Systems, wie gering auch immer, kann nicht ­vorherbestimmt werden. Er kann nur beobachtet ­wer- ­­den.

Du gehst deine Notizen durch. Du kennst dieses Material nicht, es wurde in den Kursen davor nicht durchgenommen. Er sollte nicht darüber sprechen.

Als ihr beide auf dem Teppich in seinem Büro liegt, fragst du ihn, warum er Änderungen vornimmt. Sein Hemd und die Hose sind immer noch offen, aber seine Haut verrät nichts.

»Nichts bleibt, wie es ist«, sagt er schließlich. Er starrt geradeaus, als er das sagt, und sieht dich nicht an. »Nichts sollte so bleiben, wie es ist.«

Uhren, Züge und Taschenlampen sind immer da. Carol, Bob und Alice sind immer da. Du beugst dich über ihn, aber das Einzige, was du von ihm erreichen kannst, sind seine Fingerspitzen.

Woche 12

Entropie bedeutet, dass sich Dinge verändern, Umlauf­bahnen abfallen. Planeten trudeln in Sterne und werden ausgelöscht. Dabei senden sie Gravitationswellen aus. Leuchtfeuer der Verzweiflung, die ins Universum emittiert werden.

Er hat nicht mehr viel Zeit, weshalb das Experiment auf das Wesentliche beschränkt wird. Er kümmert sich nicht mehr um deinen Hals.

»Geschieht es gleichzeitig?«, fragst du hinterher.

»Gleichzeitig für wen?«

Gleichzeitig für uns beide, denkst du, aber es hat keinen Zweck, es zu sagen. Nicht jetzt. Du hättest es vorher schon sagen sollen, am Anfang, als er noch Zeit hatte.

»Ich muss los«, sagt er und hält dir deinen BH hin, als wolle er deine Brüste nicht mehr sehen. Du würdest am liebsten heulen. Du denkst darüber nach, ihn nicht anzunehmen, ihn als stichhaltigen Beweis hier zurücklassen. Jetzt, da es eine Vergangenheit gibt und vielleicht keine Zukunft, willst du, dass jemand anderes deinen BH über seiner Stuhllehne hängen sieht und weiß, was hier passiert ist. Du bist nicht mehr die Beobachterin dieses Experiments. Vielleicht warst du es nie.

Woche 13

Bob hat alle überrascht und sich ein Motorrad gekauft. Jetzt ist er an der Reihe, auf Lichtgeschwindigkeit zu beschleunigen. Alice darf nicht mitkommen. Während er die Autobahn entlangröhrt, wird das Licht, das er aussendet, zu einer Art Wolke, die ihn umgibt und von allem im Universum abschirmt, sogar von Carol.

Als du den Flur entlang zum Büro des Dozenten gehst, ist die Tür geschlossen. Entweder ist er nicht da, oder er ist da. Du weißt nicht, was davon schlimmer ist.

Woche 14

Der Dozent steckt seine Notizen in die Aktentasche und geht, ohne dich anzusehen. Der Kurs ist vorbei, und der einzige andere Student schläft am anderen Ende des Hörsaals. Du kannst ihm nur zu seinem Büro hinterhergehen. Er hat dir gesagt, dass du einen gewissen Abstand halten musst, wenn du ihm folgst, und dass niemand sehen darf, wenn du zu ihm reingehst. Du darfst nichts durcheinanderbringen, nur dich selbst. Das sind die Regeln des Experiments.

Woche 15

Du schreibst dich für einen anderen Kurs im kommenden Semester ein. Du hoffst, dass der nächste Dozent sich darüber freuen wird, dass du das Thema verstehst. Du hoffst, dass deine Kursarbeit zufriedenstellend ausfallen wird.

Der erste Stern

Wenn wir die Sterne auf den Fotoplatten vermessen, ist der erste Stern auf jeder Platte die Referenz für alle anderen Sterne. Für mich ist der erste Stern ein bisschen wie eine Schulsprecherin: Sie hat die glänzendsten Haare, das ordentlichste Benehmen, das sanfteste Lächeln. Sie spricht nur, wenn sie dazu aufgefordert wird, und antwortet dann mit leiser, angenehmer Stimme.

Als ich zur Schule ging, hätte ich nie Schulsprecherin sein können. Ich erfüllte die Kriterien nicht, obwohl ich in meinen Lieblingsfächern sehr gut war, besonders in Mathe, was mich hierhergebracht hat. Als Rechnerin ans Royal Observatory auf dem Blackford Hill.

Mr. Storey, Assistent des Hofastronomen, stattete der Schule einen Besuch ab, auch wenn ich zu der Zeit nicht wusste, wer er war. Als ich ihn zum ersten Mal sah, wartete er vor dem Büro der Schulleiterin. Er fiel mir auf, weil es ein sonniger Tag war und er sein Jackett auszog und die Hemdsärmel hochkrempelte, als sei er gerade von der Arbeit nach Hause gekommen und wartete darauf, dass ihm seine Frau das Essen brächte. Er merkte nicht, dass ich ihn ansah, und vielleicht glaubte er deshalb, es tun zu können. Sehr oft bemerken die Menschen nicht, wenn ich sie ansehe, was ein weiterer Grund dafür sein könnte, warum ich mich nicht als Schulsprecherin eignete.

Während des gesamten Sommertrimesters hatten wir darüber gesprochen, was aus uns werden würde, wenn wir unseren Abschluss hätten und in die Welt hinausgingen. Die meisten von uns würden wahrscheinlich Lehrerinnen werden, auch wenn mir insgeheim vor diesem Beruf graute, weil es sich anfühlen würde, als sei die Zeit stehen geblieben, wenn ich weiter als Erwachsene die Schule besuchen müsste. Besonders, weil ich kein Geld für neue Kleider hatte und deshalb meine alte Schuluniform tragen müsste.

Aber dann sah ich die hochgekrempelten Hemdsärmel von Mr. Storey und dachte über ihn nach. Vielleicht war er ein Beamter oder ein Buchhalter. Von den Hemdsärmeln auf diese Spur gelockt, lag ich nicht so weit daneben, nur dass ich es jetzt bin, die so etwas wie Buch führt, denn nachdem wir jeden Stern gemessen haben, müssen wir die Details in ein großes Buch eintragen, seine Koordinaten in die linke Spalte und seine Sternenklassifikation in die rechte.

Sterne haben viele Klassifikationen, von blau bis rot und jede Farbe dazwischen. Es ist schade, dass wir diese Farben nicht auf den Fotoplatten sehen. Aber anhand der Ausformung des Spektrums kann man sagen, ob sein Licht zum linken (blau) oder zum rechten Ende (rot) ausgesandt wird. Ich würde gern die echten Farben der Sterne mit eigenen Augen sehen, wie sie durch das Teleskop sichtbar werden. Aber wir müssen jeden Abend um fünf Uhr die Arbeit beenden, weil wir nachts nicht auf dem Hügel sein dürfen. Nur die Astronomen dürfen durch das Teleskop sehen, und wir dürfen nicht mit ihnen arbeiten. Also kann ich mir nur vorstellen, was sie sehen. Es ist nicht schwer, es sich vorzustellen, es ist, als würde man sich eine Art eigenen Himmel konstruieren. Man hat uns einiges über die Himmelspforten in der Schule beigebracht, und jetzt stelle ich mir vor, dass sie über und über mit verschiedenfarbigen Sternen besetzt sind.

Während ich Mr. Storey ansah, der sein Gesicht in die Sonne hielt, um die Wärme aufzusaugen, öffnete die Schulleiterin ihre Tür und sah hinaus, und Mr. Storey zog eilig sein Jackett an und verschwand in ihrem Büro. Ich wartete weiter und ignorierte die Klingel zur Nachmittagsstunde, und dann beschloss ich, zum Büro hinüberzugehen. Es funktionierte. Als ich dort ankam, öffnete sich wieder die Tür, und die Schulleiterin sah mich und winkte mich hinein.

Es war das erste Mal in meiner gesamten Schulzeit, dass ich in dieses Büro gerufen wurde, und ich fand es sehr schön. Die Wände waren in einem sauberen Hellblau gestrichen, als hätte man dem Sommerhimmel erlaubt, sich hier niederzulassen. Zwei Porzellantassen standen auf einem Holztisch, die Schulleiterin und Mr. Storey mussten Tee zusammen getrunken haben. Sonst gab es überall in der Schule Kreidestaub und Tintenflecke und kleine weinende Mädchen, aber hier drinnen fühlte ich mich, als wäre ich eine Million Meilen von all dem entfernt.

»Ich habe dich gesehen, wie du gewartet und geschaut hast«, war das Erste, was Mr. Storey zu mir sagte, und ich schämte mich und musste mir eingestehen, dass man mich vielleicht doch sehen konnte, wenn ich dachte, man könne es nicht. »Worauf hast du gewartet?«

»Auf Sie, Sir«, was etwas vorlaut war, und ich wusste nicht, warum ich es sagte. Aber es entsprach der Wahrheit, ich wartete darauf, dass er etwas für mich entschied. Und es funktionierte, denn er lachte.

»Das ist eins unserer besten Mädchen«, sagte die Schulleiterin. »Ihre mathematischen Fähigkeiten sind herausragend.«

Mr. Storey nickte. »Und würdest du gern einen Shilling pro Tag verdienen?«

Ich sagte Ja.

»Gut. Dann hätten wir das geklärt.«

Aber ich hatte keine Ahnung, was ich für den Shilling tun sollte, und sie sagten es mir nicht.

An dem Tag, an dem ich anfing, in der Sternwarte zu arbeiten, saß ich im Bus und ordnete mein Kleid sehr sorgfältig, damit es nicht zerknitterte. Ich spähte während der gesamten Fahrt aus dem Fenster, um die Haltestelle Blackford nicht zu verpassen. Ich ging langsam den Hügel hinauf, ich wusste nicht, was mich dort oben erwartete, es hatte mir noch immer keiner gesagt. Natürlich konnte ich die Türme der Sternwarte mit ihren grünen Metallspitzen sehen, jeder kann sie von der Innenstadt aus sehen. Als ich dort ankam, sah ich neben den Türmen und dem lang gezogenen Gebäude, das die beiden verband, etwas abseits eine große Villa stehen. Während ich am Eingang der Sternwarte stand und auf Mr. Storey wartete, kam ein Dienstmädchen mit einem Korb voll Holz aus der Villa. Es sah mich und blieb stehen, und einen Moment lang wünschte ich mir, an seiner Stelle zu sein, weil ich dann wüsste, was ich zu tun und wohin ich zu gehen hätte. Und dann ging das Gefühl vorüber. Ich bin jetzt erwachsen, sagte ich mir, und ich werde mich daran gewöhnen müssen, Dinge nicht zu wissen.

Und anfangs, als man mir die Fotoplatten zeigte, fühlte sich alles sehr seltsam an, und ich nahm jede Kleinigkeit, die zu tun man mich bat, sehr genau wahr, aber ich vermute, dass sich alles nach so vielen Schuljahren seltsam anfühlen würde. Auch verheiratet zu sein würde sich ziemlich seltsam anfühlen.

Als die anderen Mädchen ein paar Tage nach mir anfingen, kannte ich mich bereits aus. Ich wusste, dass die Fotoplatten nur an den Ecken angefasst werden durften, damit man die Fotoemulsion nicht berührte, ich wusste, wie man sie richtig auf den Tisch legte, damit Norden nach oben zeigte und Osten nach links. Ich wusste sogar, warum das so war: Die Kardinalpunkte des Himmels sind ein Spiegelbild derer auf der Erde, und alles zeigt in die falsche Richtung. Mr. Storey erklärte mir das am ersten Tag.

So etwas wie die Fotoplatten habe ich noch nie gesehen. Es sind große, quadratische Glasstücke, aber so dünn, dass sie sich unter ihrem eigenen Gewicht verbiegen können. Weil es Negative sind, ist der Himmel weiß, und die Sterne sind schwarz. Gewöhnlich sind gut eine Handvoll Sterne auf jeder Platte, aber sie sehen nicht wie richtige, feste Objekte aus, weil sie von einem Prisma im Teleskop in schwarze Streifen aufgefächert wurden. Mr. Storey sagte mir, dass jeder schwarze Streifen besondere Eigenschaften hat, er kann dicker oder dünner als seine Nachbarn sein, er kann an einem Ende bauchig sein oder sogar weiße Lücken haben. Ich stelle sie mir als Lücken in den schwarzen Zäunen der Sterne vor.

Mr. Storey beaufsichtigt uns, was eine Meisterleistung ist, weil er viele Nächte arbeitet und dann morgens ins Büro kommt, wenn wir unsere Mäntel ausziehen und uns Tee machen (wir haben einen Kessel für das Feuer). Er legt uns die Platten raus und entscheidet, was wir uns ansehen, was wichtig ist und was nicht. Er bringt uns bei, wie wir das Okular richtig über die Platte halten und so einstellen, dass die Sterne klar und deutlich werden. Anfangs stand Mr. Storey hinter mir, wenn ich versuchte, mit dem Okular zu arbeiten. Wenn ich es nicht hinbekam, griff er um mich herum und nahm meine rechte Hand, um sie über dem Einstellrad zu lockern. »Sachte«, sagte er, »ganz sachte.«

»Deshalb haben wir euch Mädchen eingestellt«, sagte er, »weil ihr das richtige Fingerspitzengefühl habt.«

Ich war einem Mann zuvor noch nie so nah gewesen, und anfangs schien es nicht richtig, so eng bei ihm zu sein, dass ich seinen Atem auf meinem Haar und meiner Wange fühlen konnte. Ihn mir die Wörter zuflüstern hörte, »sachte, ganz sachte«.

»Ein Junge könnte das nicht. Man braucht die Finger einer Dame an diesen Kontrollrädchen«, sagte er dann.

Seine Hemdsärmel sind immer hochgekrempelt, sodass ich die weiche Haut auf seinen Armen sehen kann. Ich wusste nicht, dass Männer so aussehen.

Jetzt weiß ich, wie es geht, weshalb er nicht mehr hinter mir stehen muss. Flora hat aber immer noch Probleme, und er hilft ihr weiterhin. Meiner Mutter gefiel es nicht, als ich ihr erzählte, dass uns Mr. Storey auf diese Weise instruiert, also habe ich aufgehört, ihr davon zu erzählen.

Manchmal, wenn mir der Nacken von dem ganzen Hinunterschauen auf die Platten wehtut, erlaube ich mir einen Blick nach oben, aus dem Fenster, in die Ferne. Man kann vergessen, wie grün das Gras ist, wenn man den ganzen Tag auf schwarze Striche starrt. Draußen spielen Kinder, und die Frau des Hofastronomen steht daneben und sieht hinauf in den Himmel, als versuche sie einzuschätzen, ob es heute Nacht klar sein werde und ob ihr Ehemann mit ihr und den Kindern zu Abend essen oder am Teleskop arbeiten werde.

Ich glaube nicht, dass sie ihren Ehemann sehr oft sehen kann, weil er tagsüber die Studenten unterrichtet und nachts am Teleskop arbeitet. Ich frage mich, ob sie auf eine bewölkte Nacht hofft und dann ein schlechtes Gewissen hat.

Sie ist gut zu uns. Sie gibt uns manchmal Brot und Marmelade und fragt uns nach unserer Meinung, es scheint, als würde sie ein Kochbuch über Marmelade schreiben und verschiedene Rezepte ausprobieren. Mir schmecken sie alle, weshalb ich ihr keinen echten Rat geben kann. Bei uns zu Hause gibt es nicht oft Marmelade, weshalb ich gern ein Glas von ihrer kaufen würde, aber ich fühle mich nicht wohl dabei, es vorzuschlagen. Ihr könnte der Vorschlag nicht gefallen.

Zweimal pro Woche werden ihr Lebensmittel zur Sternwarte geliefert, und mir tut das Pferd leid, das voll beladen den steilen Hügel hinaufmuss. Der Hügel steigt erst ganz allmählich an, und dann wird es schwerer und schwerer wie ein Mathematiktest.

Manchmal sehe ich dem Dienstmädchen dabei zu, wie es mit den Bettlaken kämpft, um sie auf die Leine zu hängen, und ich bin dankbar, dass ich nicht an seiner Stelle bin. Das Dienstmädchen bleibt im Haus des Hofastronomen, aber es ist abends sicherlich erschöpft und liegt schon im Bett, bevor die Sterne rauskommen.

Es gibt drei von uns Rechnerinnen: mich, Flora und Jeanie. Flora ist so alt wie ich, und Jeanie ist ein wenig älter. Sie war Lehrerin, findet diese Arbeit aber besser, ruhiger und friedlicher. Sie sagt, von den Kindern hat sie fürchterliche Kopfschmerzen bekommen. Flora findet es anstrengend, den Hü­gel hinaufzugehen, weil sie recht stämmig ist, und sie kommt jeden Morgen mit rotem Gesicht und verschwitzt an. Wenn es draußen warm ist, umgibt sie am Ende des Tages ein strenger Geruch. Aber die beiden sind nett, und wir kommen gut in unserem kleinen Raum, wo Mr. Storey uns anweist, zurecht.

Ich habe sie gefragt, was wohl sein würde, wenn wir uns alle Sterne angesehen haben, und sie haben mich ausgelacht.

»Die Sterne hören nicht auf«, sagte Jeanie. »Sie sind endlos.«

»Unsinn«, sagte Flora. »Sie müssen enden, aber es gibt immer noch so viele von ihnen, dass wir genug Arbeit bis ans Ende unseres Lebens haben werden.«

Obwohl sie sich nicht einig wurden, wie viele Sterne es gab, war ich doch sehr erleichtert bei dem Gedanken, hierbleiben zu können, weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, außer zu unterrichten. Oder schlimmer noch, eine Gouvernante zu sein. Meine Schulfreundin Agnes ist jetzt Gesellschafterin, und sie sagte, es sei recht angenehm, aber die Dame hätte dauernd etwas an ihrem Benehmen und ihrer Ausdrucksweise auszusetzen. Von ihr wird nicht viel mehr verlangt, als die Dame zu anderen Damen zu begleiten und still danebenzusitzen, während sie über weitere Damen tratschen. Für mich klang das todlangweilig, aber als ich versuchte, ihr von meiner Arbeit zu erzählen, sagte sie, sie fände es sehr komisch, den ganzen Tag auf schwarze Streifen zu starren, und dass ihr davon schwindlig werden würde.

Ich finde es nicht komisch. Die Sterne sind so weit entfernt, und ich finde es bemerkenswert, dass wir sie ansehen und in schwarze Streifen verwandeln können, und dann in Zahlen. Es ist wie Zauberei. Nur dass dies Wissenschaft ist, was das Gegenteil von Zauberei sein soll.

Ich habe Mr. Storey gefragt, ob wir uns die Planeten genauso auf unseren Fotoplatten ansehen könnten, aber er hat gesagt, das ginge nicht. Ich habe ihn deshalb gefragt, weil ich mit ihm eine richtige wissenschaftliche Unterhaltung führen wollte, so wie ich ihn mit dem Hofastronomen hatte reden hören, auch wenn ich mir nicht sicher bin, was ein Planet eigentlich ist. Aber manchmal, wenn ich im Winter den Hügel hinunter nach Hause gehe und die Sterne schon draußen sind (obwohl es sehr kalt ist und ich mein Gesicht gegen den Ostwind einwickle), kann ich Jupiter sehen – einen großen, gelben Ball.

Mr. Storey nimmt einmal in der Woche unsere Bücher weg. Ich würde gern wissen, was er mit ihnen macht. Es scheint mir merkwürdig, all diese Zahlen aufzuschreiben, damit sie ein anderer liest und versteht. Ich frage mich, ob der Hofastronom persönlich unsere Bücher liest. Er spricht nicht mit uns.

Im Bus sah ich morgens einen Mann beim Zeitunglesen, und auf der ersten Seite war ein Bild von einem großen Feuer, das in den Himmel reichte. Ich konnte die Schlagzeile nicht sehen, also fragte ich den Mann, was geschehen war. Er war sehr jung und wirkte nervös, sonst hätte ich mich nicht getraut, ihn anzusprechen.

»Die Rennbahn in Ayr wurde in Brand gesetzt.« Er sprach so leise, es war kaum mehr als ein Flüstern, also lächelte ich, um ihn zu ermutigen. »Es ist eine Schande, wirklich«, fügte er noch immer flüsternd hinzu.

»Was denn?«

»Diese Suffragetten. Die ganze Zerstörung. Man sollte sie alle wegschließen, jede einzelne von ihnen. Das können keinen echten Frauen sein.« Er sah mich beim Sprechen kein einziges Mal an, er hielt den Blick auf die Fotografie des Feuers gesenkt. Seine Hand umklammerte die Zeitung so fest, dass ich sah, wie seine Knöchel weiß wurden. Vielleicht hatte er Angst, die Fotografie könnte entkommen und etwas anderes anzünden. Und mir wurde klar, dass ich jeden Tag Feuer anschaue, Mr. Storey hat uns nämlich gesagt, dass die Sterne große Globen aus brennendem Gas seien.

Als ich diesen Morgen den Hügel hinaufgehe, sehe ich eine Rauchwolke in der Ferne, nördlich der Stadt. Und dann eine weitere, etwas näher. Und dann, ein Knall, als hätte jemand ein Feuerwerk gezündet, aber es gibt keine Funken, nur Rauch, und alles andere ist noch immer still und ruhig. Hier oben kann man sehen, wie sich Edinburgh in seiner ganzen Grauheit vor einem ausbreitet. Es ist eine schwere Stadt, hier gibt es keine Leichtigkeit in den Gebäuden.

Ich frage mich also, ob dieser Rauch von einem feuerspuckenden Drachen kommt, der durch die Straßen läuft und kleine Kinder frisst, und ich lächle in mich hinein und denke mir, dass Jeanie sich darüber amüsieren würde. Warum sollen Frauen eigentlich immer Kinder mögen oder welche wollen? Und ihre gesamte Zeit – es sei denn, sie sind reich genug, es zu vermeiden, indem sie Kindermädchen haben – damit verbringen, auf sie aufzupassen, ob nun zu Hause oder in einer Schule?

Ich bin die älteste in unserer Familie, also hab ich schon mehr als genug Zeit damit verbracht, verschmierte Mäuler abzuwischen, klebrige Finger zu waschen und volle Windeln zu wechseln. Deshalb habe ich kein so großes Interesse daran, mit jungen Männern zu turteln. Sie können mir nichts über die Sterne erzählen oder mir dabei helfen, Dinge auf eine neue Art wahrzunehmen.

Flora und Jeanie denken da anders. »Du willst doch nicht wirklich eine alte Jungfer sein«, sagen sie.

»Warum nicht?« Ich gieße das heiße Wasser in den Teekessel, während wir auf Mr. Storey warten, damit er uns sagt, an welchen Platten wir heute arbeiten sollen. »Viele von uns werden sowieso alte Jungfern sein, es gibt nicht ­genügend Männer. Und ihr habt das mit den Kindern vergessen. Wenn man verheiratet ist, wird es Kinder geben müssen.«

Die Kinder des Hofastronomen rennen gerade jetzt über den Hügel, und ich warte darauf, dass der Tee zieht. Wir mögen ihn alle stark. Ich kann sie schreien hören. Sie schreien sehr viel.

Flora und Jeanie antworten nicht darauf. Ich rühre ein paar Löffel Kondensmilch in jede Tasse Tee. Das ist eine gute Tageszeit, ich hoffe nämlich immer, dass ich eine andere Art Stern finde, eine, die ihre Lücken an einem anderen Ort hat. Fast alle Sterne haben die Lücken am selben Platz, es sind dann nur große oder kleine Lücken. Ich fragte Mr. Storey, warum die Lücken immer an derselben Stelle sind, und er konnte es nicht beantworten. Er sagte, das sei eine gute Frage, aber er wisse es nicht. Vielleicht sind Sterne wie Gesichter, und sie brauchen ihre Entsprechung von Augen, Nase und Mund in der richtigen Reihenfolge.

Normalerweise ist er sehr ruhig, aber als er heute ankommt, sieht er etwas durcheinander aus. »Habt ihr den Lärm gehört, Mädchen?«

Wir nicken.

»Das waren Bomben.«

»Bomben?« Ich habe keine Ahnung, wovon er redet. »Was meinen Sie?«

Allein das Wort liegt mir schwer auf der Zunge, wie etwas, das unter einer dunklen Wasseroberfläche entlanggleitet. Nichts, was mit Feuer und Rauch zu tun hat.

Aber er gibt mir keine richtige Antwort, er sagt nur: »Ich habe im Krieg gekämpft, und ich weiß, wie sich eine Explosion anhört. Ich hätte nie gedacht, dass ich das zu Hause hören würde.«