Von der Sichtbarkeit der Nachtplaneten - Josef Zelenka - E-Book

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Josef Zelenka

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Beschreibung

Ein Science- Fiction- Drama, beruhend auf wahren Begebenheiten. Zelenkas Blick in seinen Nachthimmel ist nicht in die Dunkelheit gerichtet. Er beleuchtet seine Räume scharf und unbarmherzig, macht Schmutz und Wahnsinn ebenso aus wie tiefe schmerzlich-schöne Menschlichkeit. In schneidender humorvoller Sprache entfaltet er in ihnen ein Dispositiv von Sein und Werden. Im Kern eine Sehnsucht nach wissenschaftlicher Erkenntnis und zeitlicher Verankerung. An den Rändern nagende Albträume, Ungeheuer und Wunder.

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Josef Zelenka

Von der Sichtbarkeit der Nachtplaneten

"There is a terror in knowing what the world is about"David Bowie

Inhaltsverzeichnis

Von der Sichtbarkeit der Nachtplaneten

Von der Sichtbarkeit der Nachtplaneten

(Vorliegendes Schriftstück wurde vom Patienten Dr. Helmut E. angefertigt. Aufgefunden wurde das Dokument im zurückgelassenen Eigentum des Patienten. Dr. E. hat die Entwöhnung vorzeitig abgebrochen und ist derzeit weder telefonisch noch postalisch zu erreichen. Anmerkung des Patientenanwaltes der Entzugsklinik Kalksburg.)

Elf Uhr elf:

Elf Uhr zwölf:

Elf Uhr fünfzehn:

Elf Uhr sechzehn:

Elf Uhr siebzehn:

Elf Uhr neunzehn:

Elf Uhr zwanzig:

Dreizehn Uhr:

Dreizehn Uhr eins:

Dreizehn Uhr zwei:

Fünfzehn Uhr dreißig:

Sechzehn Uhr zehn:

Einundzwanzig Uhr irgendwas:

Zweiundzwanzig Uhr fünf:

Zweiundzwanzig Uhr dreißig:

Zweiundzwanzig Uhr vierzig:

Zweiundzwanzig Uhr achtundvierzig:

Dreiundzwanzig Uhr eins:

Null Uhr zwei:

Plötzlich, um null Uhr acht:

Null Uhr irgendwas:

Null Uhr zehn:

Null Uhr elf:

Null Uhr zwanzig:

Ein Uhr:

Ein Uhr zehn:

Ein Uhr zwanzig:

Ein Uhr dreißig:

Ein Uhr dreiunddreißig:

Ein Uhr achtunddreißig:

Ein Uhr vierzig:

Ein Uhr einundvierzig:

Ein Uhr zweiundvierzig:

Ein Uhr dreiundvierzig:

Ein Uhr fünfzig:

Samstag. Zwischen neun und zehn Uhr vormittags:

Elf Uhr zehn:

Elf Uhr dreizehn:

Zwölf Uhr eins:

Zwölf Uhr neunundzwanzig:

Zwölf Uhr neunundzwanzig und fünfzehn Sekunden:

Zwölf Uhr fünfzig:

Zwölf Uhr sechsundfünfzig:

Dreizehn Uhr zwei:

Dreizehn Uhr drei:

Dreizehn Uhr dreißig:

Dreizehn Uhr einunddreißig:

Dreizehn Uhr dreiunddreißig:

Spontanes Aufwachen am Spar-Parkplatz in der Gartenstadt.

Ausgeschlafen und gefrühstückt.

Impressum

Von der Sichtbarkeit der Nachtplaneten

Von Josef Zelenka

Gewidmet Mag. Stephan Broda und Anel Begic

Bei David Foster Wallace kam das vor, genau. Im bleichen König. Ich glaube, im Vorwort, das nach gut achtzig Seiten an die Leserinnen und Leser herangetragen wurde. Das schreibe ich hier genauso jetzt. Denn das trifft’s am besten:

Die hier geschilderten Ereignisse sind allesamt fiktiv und beruhen nicht auf wahren Begebenheiten. Die hier geschilderten Ereignisse sind allesamt nicht fiktiv und beruhen auf wahren Begebenheiten.

Jetzt kann man sagen: Suchen Sie es sich aus. Kann man aber nicht. Es ist weitaus komplizierter. Aber auch interessanter. Haarsträubend interessant. Ich empfehle mit Nachdruck: RELATIV REAL von Donald D. Hoffman. Erschienen im DTV-Verlag. Der Verfasser.

Johnnies Pub

(Vorliegendes Schriftstück wurde vom Patienten Dr. Helmut E. angefertigt. Aufgefunden wurde das Dokument im zurückgelassenen Eigentum des Patienten. Dr. E. hat die Entwöhnung vorzeitig abgebrochen und ist derzeit weder telefonisch noch postalisch zu erreichen. Anmerkung des Patientenanwaltes der Entzugsklinik Kalksburg.)

Ich habe Johnnie geliebt. Er hat viel Mist gebaut, Johnnie hat das Unglück immer angezogen. Er hatte auch ein Händchen dafür, Dinge stets schlimmer statt besser zu machen. Im Rückblick muss ich feststellen, dass ich nie einen entropischeren Menschen als meinen lieben Onkel Johnnie kennengelernt habe. Es gibt da so eine Aufschlüsselung über grundlegende Charakterstrukturen im Menschen. Chaotisch böse, chaotisch gut, rechtschaffen gut, neutral gut, rechtschaffen neutral und so weiter. Nicht, dass ich da wirklich dran glaube. Aber wenn man Johnnies Naturell beschreiben will, hat man mit „chaotisch gut“ wirklich den Nagel auf den Kopf getroffen. Wenn es einen chaotisch guten Menschen je in Reinform gegeben hat, dann war das Johnnie gewesen. Johnnie hatte ein gutes Herz, ein Herz, in dem jeder Platz hatte. Ein goldenes Herz. Ein dämlicher Ausdruck, aber Johnnie hat tatsächlich eines gehabt. Ein Mensch, der Kinder immer als gleichwertig behandelte, nicht weil er es musste oder er sich dazu verpflichtet fühlte. Johnnie behandelte Kinder auf gleicher Augenhöhe, weil er das wohl auch mit ihnen war. Johnnie war ein großes, fröhliches Kind gewesen. Kinder haben Johnnie alle geliebt. Als ich noch ein Kind gewesen bin, ist es für mich der Höhepunkt eines Tages gewesen, wenn Onkel Johnnie zu Besuch gekommen ist. Von der Verwandtschaft her kam Johnnie von der Vaterseite. Mein Vater hat ihn nicht sonderlich gemocht. Mein Vater ist eher mehr rechtschaffen gut gewesen. Trotzdem war Johnnie ein Dauergast in unserer Wohnung, bei allen Familienfeiern dabei. Ich glaube, dass sich mein Vater um Johnnie Zeit seines Lebens Sorgen gemacht hat, und irgendwie hat er sich wohl Gedanken darüber gemacht, dass Johnnies Chaos auf mich abfärben könnte. Oder vielleicht hat er eine Überidentifikation mit Johnnie befürchtet, ich habe ja förmlich Purzelbäume geschlagen, wenn der uns besuchen kam. Ein Vater fürchtet sich vor vielem, hat Emmanuel Carrère geschrieben. Dass sein Sohn fettleibig oder psychotisch werden könnte. Oder eben ein Stück Treibholz wie Johnnie. Meine Onkel-Johnnie-Phase hat lange angehalten. Ich war ungefähr zehn, als ich einen höllischen Traum hatte. Im Traum saßen wir alle um den Tisch, die ganze

Familie. Johnnie hatte aus unerfindlichen Gründen den Vorsitz. Machte Witze, scherzte mit den Kindern, wie üblich. Er konzentrierte sich auf mich, musterte mich ungut. In seinen Augen begann eine Bosheit zu glimmen. Eine Feindseligkeit, die Johnnie fremd war. Man könnte Johnnie auch treffend charakterisieren, indem man feststellte, dass ihm der Charakterzug der Bosheit gänzlich fehlte. Im Traum aber deutete er mit dem Zeigefinger auf mich.

„Wisst ihr eigentlich, dass der Kerl mit seinen zehn Jahren noch immer ins Bett pisst?“

Dann lachte er. Mich traf Johnnies Böswilligkeit wie eine Ohrfeige aus heiterem Himmel.

„Und das Beste daran ist, dass der Junge das mit Vorsatz macht. Es geschieht ihm nicht einfach wie ein Malheur, sondern er pisst mit Vorsatz in seine Pyjamahosen. Weil das Gefühl so wohlig warm ist und ihn diese Empfindung tröstet und beruhigt.“

Die Scham, die ich im Traum empfand, war atemberaubend. Weil der Traum-Johnnie genau das aussprach, was tatsächlich Sache war bei mir. Ich hatte tatsächlich ein Problem mit dem Bettnässen, und das hat zu einigen unschönen Szenen zwischen meinen Eltern geführt. Damals bin ich flennend aus diesem Albtraum aufgewacht, und meine Johnnie-Phase war vorbei. Ich mochte ihn immer noch, aber diese intensive, kritiklose Zuneigung, die man tatsächlich mit Überidentifikation bezeichnen kann, war vorbei. Und seltsamerweise auch mein Bettnässen. Mein Vater war erleichtert. Das war mir nicht entgangen. Als Jugendlicher habe ich meinen Vater darauf angesprochen, mich hat interessiert, warum ihm meine rückhaltlose Begeisterung für Johnnie nicht gefiel. Er hat lange gebraucht mit seiner Antwort.

„Na ja, ich liebe Johnnie auch, er lebt einfach so unglaublich gern. Er lebt so gern, dass er nichts anderes macht, verstehst du? Und das ist manchmal gefährlich. Nicht nur für ihn, sondern vor allem für diejenigen, die ihn lieben.“

Johnnie hatte eine beschissene Kindheit gehabt, soweit ich wusste.

In den frühen Neunzigern. Im Erziehungsheim Linz-Wegscheid. Berufenere als ich benamsen dieses Erziehungsheim als „die Hölle“. Der weichherzige Johnnie unter den harten Jungs ist nur schwer vorstellbar. Johnnie ist wegen wiederholtem Diebstahl an diesen Ort verfrachtet worden oder wegen einem anderen Scheiß, der eben nicht mehr harmlos genug gewesen ist, um keine Konsequenzen nach sich zu ziehen. Johnnie hat dort gelogen, um es allen recht zu machen. Um beliebt zu sein. Aber er hat auch gelogen, um Leute glücklich zu machen. In den Neunzigern wurde dort noch kollektiv gestraft. Johnnie hatte zum wiederholten Mal seine Schuhe nicht geputzt und auch nicht aufgeräumt, Dreck hinterlassen, das Maul aufgerissen, obwohl nichts dahinter war, nur um den Kids dort zu gefallen. Dumme Angebereien über Raufhandel, der nie stattgefunden hat. Abenteuer am Wochenende, die nie passiert sind. Leicht zu durchschauende Aufschneidereien. Wahrscheinlich litt Johnnie an einer Intelligenzminderung. In der Retrospektive erscheint mir das als die vernünftigste Diagnose. Ich bin Arzt von Beruf. Solche Diagnosen, die sich auf die Persönlichkeit eines Menschen erstrecken, sind nicht leicht zu erstellen. Das sehe ich bei den psychiatrisch arbeitenden Kolleginnen und Kollegen jeden Tag. Anhaltspunkte? Das: ja. Wahrhaftige, exakte Sachverhalte? Das: nein. Aber ich glaube, dass Johnnie eine Intelligenzminderung hatte. Von Kindesbeinen an. Wahrscheinlich hat er sich nicht erst später, als fast volljähriger Jugendlicher, durch seinen extremen Drogenkonsum im Hirn irgendeinen Schaden zugezogen.

In Wegscheid damals:

Die Zimmerbelegschaft darf nun schon das zweite Wochenende in Folge nicht nach Hause. Schuld daran ist Johnnie. Die Eltern interessieren in diesem Zimmer niemanden, ihre Mädchen daheim, das ist es, was die Jungs in ihre Heimatorte zieht. Die Freunde. Die Abenteuer. Aber die können sie dieses Wochenende nicht erleben, wegen Johnnie, wie immer. Johnnie hat wieder nicht sauber gemacht, hat seine Schuhe nicht geputzt, hat gelogen, und weiß Gott noch alles.

Im Zimmer. Es ist Freitag, weit nach Zapfenstreich, aber schlafen tut niemand hier. Tödliche Spannung ist in der Schwärze der verordneten Nachtruhe zu spüren. Hier ist es wie unter einer Hochspannungsleitung, und es riecht nach reinem, unverdünntem Hass und Adrenalin. Nach Tränen und Zorn. Die Rädelsführer haben einen Plan, Johnnie, dem verlogenen, faulen Arschloch, muss es heimgezahlt werden. Vielleicht lernt er draus. Johnnie schnarcht bereits, schläft den Schlaf des friedlichen Menschen, gut und tief. Das provoziert die Jungs noch mehr. Der Junge checkt das nicht einmal, was für ein Arschloch er ist, denken die Kids. Sein Grunzen, sein tiefer Schlaf, der kein Wässerchen trüben kann. Seine beginnende Wampe, die sich unter dem Leintuch hebt und senkt.

Brian, der Zimmerchef, schlägt mit der flachen Hand auf diese Wampe. Ein krachender, schmatzender Schlag.

„Auf mit dir, du Schwein, du“, plärrt Brian.

Der heftige Schlag reißt Johnnie aus dem Schlaf. Er blökt, er ist entsetzt, weiß nicht, wie ihm geschieht. Reißt seine Augen auf, stammelt. Die Jungs packen ihn, reißen ihn aus dem Bett. Als sie ihm die Boxershorts runterreißen, kreischt er. Mit dem Schädel mit vollem Schwung gegen einen Spind. Brian macht eine Dose Schuhcreme auf, taucht eine Reißbürste tief in die pechschwarze Farbe. Die drei Jungs halten den strampelnden, kreischenden Johnnie, reißen ihm die Arschbacken auseinander, und Brian reibt Johnnies Arschloch mit der brennenden Schuhfarbe ein. Dann kriegt er noch eine krachende Ohrfeige. Die Farbe haftet wie Teer.

„Das ist das letzte Wochenende, dass wir hier schlafen müssen wegen dir faulem Schwein. Lass dir das eine Lehre sein.“

Aber völlig unmöglich für Johnnie, sich das eine Lehre sein zu lassen. Er ist nicht vorsätzlich schlampig oder dämlich gewesen. Er hat sich schlicht nicht ausgesucht, dass er so war, wie er war. Das ist wie mit der Geburt. Da fragt niemand. Man wird geboren und fertig. Man kann sich seine genetische Prädisposition nicht aussuchen. Man kann das Schicksal nennen oder einfach genetisches Pech. Oder ein ungutes Elternhaus. Alle diese pränatalen Faktoren liegen außerhalb unserer Einflusssphäre.

Aber Johnnie hatte trotz seiner tragischen Unfähigkeit zu fast allen Dingen ein seltenes Talent. Er war unglaublich liebenswürdig. Seltsames Wort. Würdig, dass man geliebt wird. Aber das trifft es ganz gut, wenn man zum Ausdruck bringen möchte, dass es einfach ist, jemanden lieb zu gewinnen.

Johnnies drolliges Lachen, bei dem ihm die Augen aus dem Schädel quollen. Sein völliger Mangel an Sarkasmus oder Ironie. Alles, was Johnnie sagte, meinte er so. Selbst wenn er gelogen hat. Johnnie hatte keine dunkle Seite. Johnnie war ein Mensch ohne Schatten. Als Arzt interessiert mich, was Carl Gustav Jung zu einem solchen Menschen gesagt hätte. Ich glaube, dass es nicht gesund ist, wenn man keinen Schatten hat.

Die Schikanen im Jugendheim waren unerträglich. Johnnie war kein Masochist, er hat sich damals schnellstmöglich eine Lehrstelle gesucht. Sein Talent der Liebenswürdigkeit kam ihm da entgegen. Johnnie fand einen Lehrplatz als Kellner im damals größten Hotel der Stadt, beim Braunsberger.

Jeden Tag um spätestens sechs Uhr morgens in der Arbeit, Frühstücksbuffet üppig, überbordend, lebt von der Optik, so ein Buffet. Billiger einkaufen kann man eigentlich nicht mehr, aber frühmorgens hat jeder Hunger, und darum ist das schöne, gepflegte Anrichten besonders wichtig. Johnnie hat in seinen ersten Monaten beim Braunsberger nichts anderes gemacht als die Fünf-Kilo-Wurstblöcke in hauchdünne Scheiben zu schneiden, je dünner, desto besser. Man schmeckt dann auch die Grobkörnigkeit des verarbeiteten Schlachtabfalls nicht so raus. Und dünn aufgeschnitten schaut es einfach besser aus. Wurstblattrosen, filigrane Blüten aus Krakauer Aufschnitt. Am chromierten Tablett. Die Altchefin, Frau Braunsberger, klein, damals schon gut zweihundert Jahre alt, mit Augen wie glühende Späne. Ihre normale Sprechstimme kannte nur zwei Varianten. Kreischen oder Schreien. Da hat etwas gebrannt in ihr, ein Brand, der sie verzehrt hat. Was das war, konnte Johnnie nicht benennen, aber da war eine Qual, die sich in unmenschlichen Zorn verwandelt hat. Ein Hass auf alles. Ihr Sohn, der junge Braunsberger, damals in den Neunzigern ein junger Mann noch, geil wie ein Bock. Bei den Ladies, da hat er nichts anbrennen lassen und manchmal auch Notsituationen ausgenutzt.

Johnnie hat mir viel über seine Lehrzeit im Hotel Braunsberger erzählt.

Gab zwei Tage damals, die ihm besonders gut in Erinnerung geblieben sind.

An dem einen Tag, den ich als Erstes schildern werde, war er aus dem Betrieb fortgelaufen, weil er es keine Minute länger mehr in dieser Großküche ertragen hat, er fühlte sich ausgeliefert und schutzlos:

Die Altchefin an diesem speziellen Tag, Augen unbeschreiblich, Augen, als ob sie gerne jemanden töten würde und nur durch die Angst vor der Haftstrafe davon abgehalten wird. Damals war der Balkankrieg grad am Abklingen oder wieder am Aufflammen, je nachdem, wie man es sieht.

Kaffeeduft im großen Frühstückssaal. Die Chefin hat noch einmal alles kontrolliert, bevor der Saal geöffnet wurde für die Frühstücksgäste. Die Altchefin, ihr Sohn. Wieder einmal eine super Schicht erwischt, dachte Johnnie. Besser geht’s nicht, als mit den beiden Großarschlöchern zusammenzuarbeiten. Wenigstens ist die nette Küchenhilfe da, die Jopa. Jopa, vom Balkan rauf vor einigen Monaten, ihren Bruder, den haben die Tschetniks aus dem Bus raus und im Wald dann in ein Loch, das war nicht weit weg von der österreichischen Grenze gewesen. Sie dann, rauf, rauf, rauf, über die Grenze, nach Norden, als Flüchtling. Glück gehabt, wenn man das so nennen kann.

Jetzt. Fünfundzwanzig Jahre nach ihrer Arbeit beim Braunsberger-Hotel, Jopa erinnert sich:

Jopa hackelt schon mehr über zwei Jahrzehnte bei der großen Fettindustrie, kurz vor der Pension, die Augen dunkel. Sie hat ein bisschen zugelegt, Familie gegründet, ein Haus in einem Vorort, der Grund kostete damals nichts, jetzt ist er ein Vermögen wert. Sie schaut über die grauen Hundertachtzig- Tonnen-Silotanks drüber, in den stumpfen Winterhimmel. Ihr Bruder damals. Der wäre jetzt auch schon in der Pension, das Trauma bleibt. Sie raucht, sinniert. Heute auf der Seite eins der Oberösterreichischen Nachrichten. Der Lehrbub von damals, in dem Scheißhotel. Der war vom Charakter ihrem Bruder ähnlich gewesen. Ein Lächeln für jeden. Der Johnnie. Der hat damals in den Neunzigern hier um die Ecke gewohnt, gleich neben der Fettindustrie. Der hat ein Lokal aufgemacht in der Zwischenzeit, und jetzt ist er verschwunden. Wirt abgängig, stand in der Zeitung. Abgängig wie mein Bruder, denkt Jopa. Die Welt ist nicht für gute Leute gemacht.

Jopa dämpft ihre Zigarette aus, geht wieder an die Arbeit.

Damals, in den Neunzigern beim Braunsberger. Der spezielle Tag:

Schwer hackeln, Eierspeise machen und die Wurstblöcke aus dem Lagerraum raus und abräumen und abwaschen und neu bestücken, aufschneiden, anrichten, alles Akkord. Die Jopa durfte den Leuten nicht servieren, wegen dem Akzent. Damals war das so. Eine Scheißfirma, aber was will man tun? Die alte Chefin, eine Laune wie radioaktiv. In ihrer Gegenwart wird einem schlecht, das sagen alle. Und ihr Sohn, eh grad verheiratet, der erste Enkel unterwegs, noch im Bauch, und ihr Sohn, der Jopa an den Arsch fassen wollte, die erstarrte immer, sagte aber nichts, lächelt bloß blass. Und die Altchefin hat das Lächeln genau gesehen, Gedanken an ein frisch gewetztes Schlachtmesser, dass sie der Küchenhilfe in den Bauch sticht, kamen hoch, wirklich. Den Gedanken hat die alte Frau Braunsberger gehabt, und das hat sie nicht einmal erschreckt, was sie aber dann doch geschreckt hat, war dieses Nichterschrecken. Schuld natürlich am Arschanfassen die Jopa. Durchgedreht ist die Alte dann. Dann der saudepperte Lehrbub. Zu spät gekommen, das ist schon ein Wahnsinn, der Trottel schon wieder zu spät, dachte die Frau Braunsberger. Zehn vor halb sieben und nichts ist gemacht. Die Alte hat mit ihren arthritischen Händen die Wurstbomben aus dem Kühlraum auf die Schneidemaschine gewuchtet. Auf einen Millimeter das Schneidblatt eingestellt. Scht-scht-scht macht das fein geschliffene Schneidblatt, wenn es durch die Wurst fährt. So ein Wurstblock fühlt sich an wie ein menschlicher Schenkel. Der Trottel kann was erleben. Der ist ein Idiot. Nicht aus bloßem Ärger hat die Braunsberger so gedacht. Sie empfand Johnnie tatsächlich als zurückgeblieben.

Sie dachte: Der ist wirklich ein Idiot, der hat was. So schaut er auch aus, wie ein Idiot. So lacht der auch. Die alte Chefin hatte es nicht gerne, wenn in der Arbeit gelacht wurde.

Johnnie hatte sich an diesem Tag abgehetzt, um rechtzeitig den Bus zu erwischen. Um fünf Uhr fünfundvierzig fuhr, von der Wohnung seiner Eltern ausgehend, der Bus in die Innenstadt, das war ohnehin schon knapp genug, um rechtzeitig in die Arbeit zu kommen. Aber früher konnte er einfach nicht aufstehen, er schaffte es einfach nicht. Heute hatte er länger gebraucht, um aus den Federn zu kommen, die Haustürschlüssel verlegt, sein Motorola-Telefon hatte er auch nicht gefunden, ohne das Telefon konnte er aber nicht in die Arbeit fahren, denn er flirtete mit Lisa aus der Nachbarschaft per SMS. Der Bus war ihm vor der Nase davongefahren. Das war katastrophal. Er fürchtete sich vor dem Zusammenschiss, der ihn erwartete. Er rief sich ein Taxi, das er sich eigentlich nicht leisten konnte, bei den paar Hundert Schilling, die er als Lehrlingsentschädigung erhielt. Es war schweinekalt, und das Taxi brauchte ewig. Im November ist es um diese Zeit noch stockfinster. Die Lichter der Fettindustrie, der größte Arbeitgeber in dieser Gegend, leuchteten still und blau. Das blaue, intensive Licht störte Johnnie an diesem hektischen Morgen, es machte ihn unruhig, es fühlte sich kalt an und falsch. Das machte ihn traurig, denn für gewöhnlich mochte er dieses spezielle Licht in der Dunkelheit. Ravelicht. Er empfand das Licht bloß jetzt als unangenehm, weil er so nervös war. Etwas nicht zu mögen, was man eigentlich mag, bloß weil man einen furchtbaren Tag in der Arbeit erwartet, dass überhaupt Menschen, mit denen man bloß verkehrt, weil man muss, dass diese Menschen sogar darauf Einfluss haben, wie man die Wirkung von Industrielichtern empfindet, nun, das kann einen jungen Menschen schockieren. Aber ich tauche da durch, dachte Johnnie. Weil mir nichts anderes übrig bleibt. Was einen nicht umbringt, das macht einen härter. Einen blöderen Spruch kann es fast nicht mehr geben, dachte er. Einen falscheren Spruch kann es gar nicht geben.

Was einen nicht umbringt und trotzdem so ungut ist, dass man bei der Empfindung an den Ausdruck umbringen denken muss, so eine Empfindung macht einen nicht härter, sondern stumpfer, dümmer.

Man wird mehr und mehr zum Stein. Von dem kommt ja der Ausdruck versteinern. Eh klar. Der hat einen Stein in der Brust. Stonecold. Diese Sachen. Was einen nicht umbringt, nimmt einem etwas weg. Und dennoch. Weitermachen bleibt nicht aus, und das ist ein Wahnsinn.

Endlich. Das beschissene Taxi. Mit den Anfahrtskosten sind wir auf über fünfzig Schilling. Dann vom Standplatz die letzten Meter zu Fuß in die Arbeit hetzen. Gott sei Dank hat er sich zu Hause seine Arbeitskleidung angezogen. Die schwarze Hose, das Polyesterhemd, in dem man nach einer halben Stunde Hin- und Hergerenne zu stinken beginnt. Interessant, dass Arbeitskleidungen häufig so ausgesprochen hässlich sind. Gilets in den unmöglichsten Farben.

Als Johnnie die Küche betrat, empfing ihn das Geschrei der Alten wie ein Schwarm schwarzer Fliegen, die sich aus ihrem Mund rangen. Irre, wie intensiv ein Gefühl sein kann. Als Johnnie – ein bisschen haben seine Hände gezittert – sich an die Schneidemaschine begab, um noch mehr Wurstblöcke zu zerkleinern, schlug ihm die Chefin mit der flachen Hand fest über den Hinterschädel. Körperliche Gewalt am Arbeitsplatz. Man tut das ab, man muss arbeiten, es geht wirklich nicht anders. Hier und jetzt. Arbeiten. Johnnie schneidet, wie vor seinem Eintrudeln die Frau Braunsberger geschnitten hat, scht-scht-scht. Die Jopa schaut ihn an, der geht es auch nicht gut.

Johnnie ist damals ein Junge gewesen, fünfzehn Jahre alt. Jopa war sicher über dreißig, schön wie nur was und geheimnisvoll. Er hat sich oft geschämt vor ihr, und trotzdem war er stolz darauf, wie tapfer er war. Die Zähne zusammenbeißen. Auch so ein Spruch. Der Filterkaffee, zwanzig Liter, zum Rausservieren in Kannen, an die Tische. Er sollte frischen Kaffee aufsetzen. Johnnie kochte das Wasser auf, einen Riesenkübel. Die Chefin stellte sich neben ihn, beobachtete ihn, da konnte er gar nichts mehr, nicht die einfachsten Dinge, es war so, als hätte sie ihre Finger in seinem Gehirn.

Johnnie zitterte jetzt heftiger, verschüttete das Brühwasser, goss es über den Plastikrand des Filtertrichters, das kochende Wasser traf auf seine Finger, und er goss – aus dem Schmerzreflex heraus – das Wasser noch schneller und unbeholfenerer in den Schlund des Automatentrichters. Das Brühwasser spritzte nach allen Seiten. Spritzte der Chefin in die Schuhe, auch auf die nackten Arme, und die schrie vor Schmerz und Wut. Sie riss den Wasserkocher aus Johnnies Händen, die Hitze des Gefäßes war ihr egal, es war, als hätte sie ihren Verstand verloren. Sie schleuderte den Wasserkocher auf die Fliesen der Küche, den Kocher zerriss es förmlich. Kochwasser spritzte auf Johnnie, der quiekte, und auch auf die tobende Chefin, die in ihrer Raserei nicht bemerkte, dass sie sich mittelschwere Verbrühungen auf den bestrumpften Unterschenkeln und ihren Handflächen zuzog.

Die Szene war so wahnsinnig, dass der Fünfzehnjährige einfach davonlief. In den Arbeitsklamotten einfach durch die Küche raus. Weglaufen. Durch den Notausgang raus, auf die Straße, nur um nicht mehr in einem Raum mit dieser Situation zu sein. Fort von hier, nur fort. Ziellos durch die Stadt. Dann nach Hause, ins Bett, schlecht pennen. Nicht aufwachen wollen und das Nicht-mehr-schlafen-Können verfluchen. Der Juniorchef rief später bei den Eltern an. Alles halb so schlimm. Morgen wird wieder gearbeitet. Johnnie wusste gar nicht, ob er sich freuen sollte über diese Nachricht.

Das Arbeitsleben. Das steht ihm jetzt fünfundvierzig Jahre lang bevor. Johnnie resignierte innerlich. Zurück nach Wegscheid ist keine Alternative, und dass er zu Hause wohnen durfte, war an die Bedingung geknüpft gewesen, regelmäßig arbeiten zu gehen, einen Lehrplatz zu haben, eine Ausbildung zu machen, im Beruf stehen, sich in die Dinge zu integrieren eben. Johnnie hat das probiert. Am Willen lag es bei Johnnie nicht. Das Defizit ging bei ihm tiefer, wie gesagt. Wollen, aber nicht können. Das ist eine häufige Grundangst bei Menschen. Der größte Teil der Menschen, die befürchten, zu wenig zu können, nicht gut genug zu sein, die Leistung nicht bringen zu können, im

Alltag nicht bestehen zu können, unterzugehen, die irren sich. Sie sind gut genug. Bringen das Können auf. Schaffen es, ihre zerebrale Leistung so zu fokussieren, dass sie im Alltag problemlos bestehen. Evolution macht’s möglich. Johnnie jedoch schaffte das nicht. Das wusste er, und er

machte sich innerlich nichts vor. Aber das Defizit tat ihm trotzdem weh. Darum überspielte er es mit Lässigkeit, mit dummen Sprüchen und lautem Lachen. Logischerweise neigte er zu falschen Freunden. Den ganzen Rattenschwanz von Problemkind-Problemen. Nichts ausgelassen, der gute Johnnie. Willen hatte Johnnie, am fehlenden Willen lag es bei ihm definitiv nicht. Am nächsten Tag zurück in die Arbeit, eh noch völlig fertig von dem Wahnsinn gestern. Johnnie haut sich ins Zeug.

Aber Tag für Tag gibt es Dramen, Demütigung und Anschiss. Zähne zusammenbeißen, Johnnie. Was einen nicht umbringt.

Aber an den Wochenenden. Gott sei Dank kamen die Wochenenden.

Johnnie erzählte mir gern von diesen Wochenenden. Er machte da nie ein Geheimnis draus. Diese Wochenenden haben mich zu einem selbstbestimmten Menschen gemacht, sagte er.

Diese Wochenenden führten zum zweiten Tag in seiner Lehrzeit, an den er sich deutlich erinnern kann. Aber im Gegensatz zu dem Horrortag mit dem Wasserkocher erinnert er sich gern an diesen Tag. Ein Montag, an dem er gelernt hatte, was das Wort Selbstermächtigung bedeutet. Ich möchte anmerken, dass ich als Arzt schaudere. Aber als Privatperson verstehe ich meinen Onkel zutiefst. Angstfreiheit und Selbstachtung ist das Grundrecht jeder lebenden Kreatur. Johnnie hatte sich dieses Grundrecht chemisch erworben.

Wochenenden im Hotel Braunsberger, die Neunzigerjahre. Lehrlinge aus prekären Verhältnissen, wie das heute heißt. Wer die Neunzigerjahre in Mitteleuropa erlebt hat, weiß, was das bedeutet.

Samstag und Sonntag hatten die Lehrlinge zumeist frei. Das Hotel war an diesen Tagen kaum ausgelastet, hier schliefen nur Geschäftsgäste, Außendienstleute. Kundenbesuch absolvieren und dann fort, raus aus der Stadt, schnurstracks heim. Keinerlei Wochenendgeschäft in dieser Bude. Das war ein Glück, das ist in der Hotellerie selten. Die einzig gute Sache hier in diesem Scheißhaus, dachte Johnnie. Für ihn ist das Wochenende heilig geworden, seit Matthias im Hotel Braunsberger angefangen hat. Grad neunzehn geworden, hat auch eine Lehre hingekriegt, der Matthias. Auch in Wegscheid gewesen, sie kannten sich sogar flüchtig, die beiden Jungs. Das Wochenende ist ein Segen geworden damals.

Es existiert meines Wissens nach noch ein Video auf YouTube, auf dem Johnnie zu dieser Zeit zu sehen ist, Eric Fisher präsentierte damals sein erstes Album im Nova-Club in Sattledt.

Wie gesagt, wir reden hier von den Neunzigern. Für diese Kids hieß das Techno. Mit allem, was dazugehört. Matthias aus Wegscheid, ein schmaler Kerl mit Augen hell und gut wie der Sonnenaufgang. Matthias hat ihm damals einmal geholfen, als er gepiesackt wurde. Matthias war ein guter, echter Freund jetzt. Matthias hörte nur Techno, wenn ich Radio hören muss, dann kotz ich.

Mit Matthias im Auto rauf, nach der Arbeit am Freitag, klingelingeling, und seine Freundinnen Anita und Iris. Kuckuck, das erste Dings schon im Auto, die Polizei hat auf so was nicht kontrolliert damals. Pillen und Zuckerl, das waren die Bezeichnungen. Die Mädels und das Lachen im alten Ford. So schön, dass es wehtut. Dann am Parkplatz vor der Nova, mitten im tiefsten Land. Eine Autobahnzubringerbrücke, da hört man schon den schweren Verkehr nach Deutschland. Das Singen der Reifen im Regen. Lieder auf schwarzem Asphalt. Den ganzen Tag schon Vorfreude. Eric Fischer

aus Linz stellt heute seine CD vor. Aus dem Lokal hört man RummBummBumm, es ist hier ein Zirkus und ein Irrsinn, bunte Leute. Hier ist es wild und auch ungut gefährlich manchmal. Zum Beispiel der Chemiker, der fährt in einem roten Einser Golf, das Auto ist rostig, und es ist ein Wunder, dass es überhaupt noch eine Straßenzulassung erhält. Der Chemiker hat emphatische Augen, leuchtend, durchtrieben. Im Sommer fährt er nur mit nacktem Oberkörper in der Gegend herum. Wie Iggy Pop trägt er nie ein T-Shirt. Und er trägt tatsächlich eine Mütze mit Glöckchen dran, wie die Haube eines mittelalterlichen Hofnarren. Der Kasperl ist da! So schreit er vor den Clubs. Herbei, Kinder, der Kasperl ist da, und beim Kasperl gibt’s was Gutes. LSD vom ganzen Löschblatt, mit einer abgerundeten Kindergartenschere die Portionen runtergeschnitten. Fünfzig Schilling der Trip.

Johnnie will etwas beweisen, der wagemutigste Mann hier am Parkplatz. Alle haben sich an den Kopf gegriffen. Johnnie frisst LSD um dreihundert Schilling. Der Chemiker hat ihn ernst und formell gewarnt.

Die Nacht war Party mit Schrotflinte, blutrot alles und wie in einer Hölle, aber dann, Fischer begann zu spielen, dann wurde es heilig. So schön. Und Johnnie hat tatsächlich verstanden, warum man lebt. Warum man um jeden Preis leben muss. Anita, Iris und Matthias, Matthias mit Haaren, neonweiß kann man die Farbe nennen, ganz kurz geschnitten. Ein schöner Mann. Iris und Anita, in Plateaustiefeln und mit schwarzer, blickdichter Strumpfhose unter den Pants, lachen wie der Mond. Haare pechschwarz, so eine Farbe gibt es nur im Inneren eines edlen Steins, dachte Johnnie. Ihm gefielen seine Gedanken.

Er dachte: Mir gefällt, dass mir gefällt, was ich denke. Dier Welt ist anstrengend und grauslich, keine Frage. Aber es gibt schon etwas Heiliges auch. Und hier ist das Zentrum von allem, was heilig ist. Es ist fantastisch, wenn man liebt und geliebt wird.

RummBummBumm geht der Bass.

Hier ist es so, also, so muss es sein, wenn man sagt, dass man sich frei fühlt. Dieses Gefühl, das ist der Grund, warum Menschen für Freiheit in den Tod gehen.

Freitagnacht. Samstagnacht. Leben bedeutet, dass man mit dem Kopf voran in die Sterne springt.

Johnnie hat sich später an diesem Abend im Maisfeld verirrt, das an den Club angrenzte. Völlig unmöglich, wieder rauszufinden. Leichte Panik. Panik hat einen Geschmack nach Eisen, hatte Johnnie mit Verwunderung festgestellt. Aber über ihm blitzten Venus, Mars, Saturn und Jupiter. Die waren uralt. Es bestand kein Zweifel daran, dass sich diese Gestirne – auf ihre spezielle Art – daran freuten, dass Anita und Iris am Leben waren und lachten, jung waren und frei. Kein Zweifel. Da gab es einen Mönch, Thich Nhat Than, oder wie der hieß. Das Gesicht des Alten, da gibt’s kein Vertun. Der versteht das, dachte Johnnie. Der versteht das.

Aber am Sonntag. Am Sonntag hielt der Trip noch immer an, und Johnnie bekam Angst. Nicht wegen dem Hängenbleiben, freilich, wenn man hängen bleibt, ist man sozial stigmatisiert, alle machen sich über einen lustig, auch die eigenen Freunde, aber das ist einleuchtend, nicht? Hängenbleiben war damals ein ernstes, viel diskutiertes Thema.

Leute machen sich gerne über das lustig, was ihnen Angst macht. Sieht man bei den Witzen, die erzählt werden. Gutes Beispiel sind hierfür die Aids-Witze, passt auf, hier kommt einer. Tauchte so gegen neunzehndreiundneunzig auf: Warum fahren patriotische Amerikaner nicht mehr an den

Grand Canyon? Na, jedes Mal, wenn einer in den Canyon „United States!“ reinschreit, antwortet das Echo „United States, Staids, Staids, Aids!“ zurück.

Oder der idiotische Witz, nur im oberösterreichischen Dialekt verständlich: Wüst Aids? – I hätt’s!

Solche Witze.

Wie gesagt, das Hängenbleiben machte Johnnie keine Angst. Er wusste insgeheim, dass ihm das nicht geschehen konnte. Er kannte sich selbst ziemlich gut. Seelische Untiefen, die durch das LSD vielleicht unbefahrbar werden konnten, gab es in ihm nicht. Aber Angst hatte er trotzdem. Er war nicht im Entferntesten nüchtern an diesem Sonntagnachmittag. Und keine Chance, dass er es vor Dienstbeginn werden würde.

Morgen war Montag, das bedeutete Vollauslastung im Hotel. Bereits Sonntagabend reisten die ersten Außendienstmitarbeiter an. Ihm graute vor der Arbeit. Und es war jetzt schon spät, bitte. Nach achtzehn Uhr! Und vom Ende der LSD-Wirkung keine Spur. Bald Schlafenszeit, Johnnie! Fünf fünfundvierzig aufstehen. In diesem Zustand konnte er unmöglich in die Arbeit gehen. Das war ausgeschlossen. Wenn er in diesem Zustand seiner psychotischen Chefin begegnet, dann stirbt er, dachte Johnnie. Die erste echte Panik trat auf. Vielleicht gibt es eine Lösung.

Die beliebte Brachiallösung damals: Beim Kirchenwirt noch mit den Freunden ein paar Bier trinken. Vom LSD und dem MDMA (was niemand so nannte) runtersaufen. Zwanzig Uhr bereits, das viele Bier hatte nichts bewirkt, und im Spiegel des Wirtshausklos blickte ihm ein kranker Mann entgegen. Dem konnte er bis ins Herz schauen. Keine Barrieren zwischen ihm und seinen Gedanken. Irre eigentlich. Wer bin denn bitte ich? Wer bitte ist denn der, der diese Gedanken denkt?

Früher haben die Leute gesagt: Mich dünkt. Mich denkt. Es denkt mich. Das muss man sich vorstellen. Johnnie hat das deutlich gefühlt, diese Kluft. Zwischen ihm und seinen Gedanken. Die Äonen zwischen eins und null. Klammheimliche, aber bedeutungsvolle Fetzen von Lichtern in einem virilen Meer, dessen Brandung an einer Küste aus Granit explodiert. Einer unbewohnten Küste.

Niemand da hier. Nur ein paar Krabben träumen in ihren lichtlosen Felsspalten von unvorstellbaren Dingen.

Großer Gott, Johnnie. Morgen arbeiten und du weißt nicht einmal, wer du bist.

Ein kleines Bier noch und dann ab nach Hause. Schlafen versuchen. Qualvoll. Im Kopf und in den Knochen ein schmieriges Gefühl. Johnnie ist sich selber noch immer so fremd wie vorhin beim Kirchenwirt am Klo, und sein Zimmer ist ihm auch fremd. Unbegreiflich, dass er sich jemals anders als schlecht gefühlt hat. Johnnie vegetierte im Bett, und irgendwann gegen drei Uhr morgens sank er in eine Art sumpfige Halbbewusstheit. Dann läutete eh schon der Wecker.

Erleichterung. Seine Hirnchemie hatte sich wieder auf ein halbwegs erträgliches Maß eingependelt. Aber er war noch immer das Gegenteil von nüchtern. Aber egal. Ich kenne mich wieder, dachte er. So kann man arbeiten.

Und nun schildere ich den zweiten, einschneidenden Tag aus Johnnies Lehrzeit. Den Tag von Johnnies fragwürdiger Befreiung:

Regen. Mit dem Morgenbus am Montag in die Innenstadt. Die Leute schnarchten auf ihren Sitzen, und es war wohlig warm. Ich will leben, dachte Johnnie plötzlich, ich muss leben. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Wenn ich noch länger in dem Frühstückssaal die Wurstplatten rausstelle und all das, dann werde ich verrückt. Aber was soll die Jopa dazu sagen? Ich bin undankbar, wird die denken. Haben ihn rausgezerrt, den Bruder, aus dem Bus raus, die Tschetniks, aus dem Bus haben sie ihn rausgeholt, vor der Grenze zu Österreich, und in dem scheiß Wald haben sie ihn ins Genick geschossen, und der Chefsohn greift ihr immer auf den Arsch, und sie sagt nichts. Die ist froh, dass sie diese beschissenen Platten da herrichten darf, und ich bin ein undankbarer Hurensohn, der die größte Freude im Leben darin sieht, dass er am Wochenende durchdreht. Vielleicht bin ich einfach undankbar und verwöhnt. Das sagt die Jopa immer. Ihr Österreicher seid verwöhnt. Euch geht es gut.

Das sagte sie oft, wenn Johnnie sich bei ihr über die Arbeit ausließ. Aber sie sagte nie: Euch geht es zu gut. Das sagt sie nie, dieses kleine Wort. Denn das ist eine Gemeinheit, und Jopa sagt keine gemeinen Sachen. Jopa ist der ungemeinste Mensch, den Johnnie kennt. Trotzdem ärgert ihn das. Es kann ja nicht sein, dass das ganze Leben komplett aufgeräumt ist – dass man dann keine Gedanken mehr denken braucht –, wenn nur die Kohle am Ende des Monats pünktlich überwiesen ist. Aber sie hat Familie, klar, das macht dann Sinn, also, das ist schon erfüllend, so eine Verantwortung, wenn man Familienmutter ist, das ist ultimativ ein Sinn, das ist klar, das härtet ab, weil man einen Wert empfindet, man hat da etwas geschaffen, was einen liebt, und dafür ist man da. Das ist schon verständlich, da braucht man nicht diskutieren. Ich habe keine Familie, da kann ich nicht mitreden.

Nützt aber nichts, denkt Johnnie. Vielleicht hat sie recht, die Jopa. Vielleicht auch nicht. Aber ich kann es sowieso nicht ändern, wie ich empfinde. Ich halte das wirklich nicht mehr aus. Ich kann es nicht mehr aushalten. Das Geschrei, die Beschimpfungen, der Stress und die Sinnlosigkeit. Auch das Lügen, die Werbungen, die da aufgedruckt sind auf den Wurstblöcken. Gütesiegel und all das. In Wirklichkeit kommen die Schweine, aus denen die Wurst gemacht ist, aus der Ukraine. Die Zähne werden den Viechern aus dem Maul gerissen. Von wegen verantwortungsvoller Landwirtschaft und dann werden die Viecher geschlagen und erschossen und all der Scheiß. Wenn ich diese … also, wenn ich in dieser Küche noch länger stehen muss oder vielleicht mein Leben lang, dann ist es besser, dass ich mich umbringe.

Der Gedanke an den Ausweg Selbstmord erfüllte Johnnie zu seinem Entsetzen mit Trost. Schon wieder. Wieder so eine Idee! Wie unlängst der Gedanke mit den scheiß Industrielichtern, vorne bei der Fettfabrik.

Das jetzt, das Trost-im-Selbstmord-Gefühl, war auch so ein Gedanke, der einen traurig macht. Weil man ja gern lebt. Und wie schlecht muss man sich denn fühlen, wenn einem der Gedanke an die Möglichkeit des Selbstmordes Trost spendet? Ja, Herrgott noch einmal. So kann es wirklich nicht mehr weitergehen. So darf es nicht mehr weitergehen. Wie würde Jean-Luc Picard von der Enterprise da drüber denken? Der Bus erreichte den Kaiser-Josef-Platz.

Endstation, aussteigen. Drei Minuten Fußweg noch in die Arbeit.

Typischer Montag, starker Frühstücksbetrieb. Johnnies Hauptaufgabe bestand heute darin, das Geschirr aus dem Saal abzuservieren, auf einem Wägelchen wieder zurückkarren in die Küche und bei der Abwaschstation abladen. Die sich schnell leerenden Wurstplatten wieder neu bestücken. Anrichten, wieder raus auf das Buffet. Johnnie war langsam, völlig zerfahren.

Vielleicht wirkt das LSD immer noch nach, dachte er. Der Gedanke erheiterte ihn. Er fühlte sich überhaupt ziemlich gut.

Auf Fragen gab er Antworten, die nicht in den Kontext passten. Lachte laut im Frühstückssaal, als jemand jammerte, dass das Rührei nicht schmeckte. Er dachte an das Maisfeld, in dem er am Wochenende verloren ging. An die Venus, die in der kalten Nacht glitzerte. Da muss man ja lachen. Planeten werden Milliarden von Jahren alt, und jemand ärgert sich, weil klassisches Rührei eben nicht wie ein beschissenes Ei Bénédictine schmeckte, was ohnehin völlig ausgeschlossen ist. Es gab Beschwerden über Johnnies Frechheiten, später dann, beim Check-out.

Die chromblitzende Wurstmaschine. Johnnie hatte plötzlich Angst vor dem Ding bekommen. Aber er musste sie bedienen, und das war ungut. Den dicken, schweren Wurstblock rauf und scht-scht-scht, wie immer. Schnell, Johnnie. Eine große deutsche Reisegruppe ist jetzt vor dem Saal. Die haben Hunger.

Reuters Reha-Reisen. Achtundzwanzig Pensionisten, die auf Kuraufenthalt in Ungarn gewesen sind. Herr Reuter fährt den Bus selber. Die Leute haben gut geschlafen, sie haben Appetit, das Zeitfenster zur Abfahrt: supereng. Eine Semmel mit Wurst essen und vielleicht ein Joghurt noch, Müsli oder ein Rührei, mit Speck, wenn es grad noch geht zeittechnisch. Dauert ja alles so lange hier, der junge Kellner ist völlig neben der Spur. Man muss weiter. Herr Reuter hat sich ein bisschen verkalkuliert bei der Abfahrtszeit, er füllt Kühlwasser nach. Herr Reuter trägt Bequemjeans, saubere Turnschuhe (sogar poliert, was ein Kunststück ist) und ein ordentliches Hemd mit Krawatte. Man hat Verantwortung, und mit der Kleidung signalisiert man Respekt für die Gäste. Reuter hat sich klar ausgedrückt, um acht Uhr wird abgefahren. Jetzt ist es halb acht, und die Leute haben zu lange geschlafen, jetzt ist da wirklich die Schlacht am Buffet, aber die Wurstplatten sind alle leer, und die Pensionisten möchten sich aber noch Proviant richten, bis nach Schleswig-Holstein ist es weit. Alle Platten leer, gottverdammt, selbst der vermaledeite Käse ist nicht mehr vorhanden. Johnnie kriegt das alles verschwommen mit, eine mürbe Panik. Interessant, dass man ein schreckliches Gefühl wie Panik haben kann, ohne daran zu verzweifeln. Panisch und heiter zugleich. Das ist das LSD in meinem Körper, dachte Johnnie. Das Gefühl: Resignation mit abgerundeten Spitzen. So kann man es nennen, ganz mürbe, ein Schrecken, der nicht wehtut. Verdient nicht einmal den Namen Panik, dieses Gefühl hier. Eigentlich nur das bloße Erkennen, dass es Ärger geben wird und man nichts dagegen machen kann. Gar nicht weiter schlimm, wenn man das Gefühl genau betrachtet. Es ist ganz und gar unmöglich, dass ich es in meinem körperlichen und psychischen Zustand noch schaffen kann, diese Platten rechtzeitig aufzufüllen. Ein einfacher Sachverhalt, nicht zu ändern.

Johnnie lachte laut. Und Jopa musste mitlachen. Ein irrer Arbeitstag. Hier hat sich was verändert, dachte sie. Johnnie hatte überhaupt keine Angst mehr. Komme, was will. LSD ist eine fantastische Erfindung, dachte er.

Die alte Chefin arbeitete auch mit, sie redete nicht mehr mit Johnnie, strafte ihn mit eiskalter Verachtung. Einen tödlichen Blick gönnte sie ihm, als sie ihn lachen hörte. Aber Johnnie schmerzte diese Verachtung nicht mehr. Ein angstfreier, über sich selbst staunender Jugendlicher stand damals plötzlich in der Küche und schnitt fröhlich Wurst. Wohl wissend, dass das sein letzter Arbeitstag in der Bude war.

Das Nichts nichtet, heißt es. Für Frau Braunsberger war Johnnie ein Nichts, und normalerweise drang diese Verachtung auch durch seelische Ritzen und Brüche bei ihm durch. Setzte sich fest. Er fühlte sich so, wie sie ihn sah.

Aber an diesem lang verschwundenen Neunzigerjahre-Montag nicht. Alles änderte sich. Ich kann in der Retrospektive ohne Weiteres erkennen, dass dieser Tag für meinen Onkel ein religiöses Element in sich trug. Dieser Tag sollte sein weiteres Leben prägen. Ich möchte hier Dr. Hofmanns Biographie empfehlen. Oder Hofmanns Schilderung: LSD – mein Sorgenkind.

Was war damals? Schauen wir uns Johnnies Erlösungstag noch einmal aus der Nähe an:

Johnnie ist glücklich. Die alte Frau, die ihm bisher als Monster erschien, ist ihm egal. Eigentlich tut sie ihm leid. Die Chefin rührt kiloweise Rührei, brät Speck, Schweinefett spritzt auf ihre bandagierten Arme und ihre Hand, die den Kochlöffel verkrampft hält, die Hand zittert. Die Fettspritzer ignoriert sie gekonnt. Beißt die Zähne zusammen. Wie ich, denkt Johnnie staunend, genau wie ich.

Er nimmt die Frau das erste Mal als menschliches Wesen wahr, so lebendig wie er selbst. Wahnsinn, wie die alte Frau ihre Schmerzen wegdrückt, das kann nicht gesund sein. Sie ignoriert Johnnie, der neben ihr steht und sie beobachtet. Interessant ist, dass ich ein Übel für sie bin, sie hasst mich, das fühlt man ganz klar. Aber das bedeutet nichts, sie hasst jeden. Johnnie kommt aus dem Staunen nicht mehr raus. Jopa beobachtet die Szene interessiert. Die Chefin, krampfhaft rührend, der Lehrbub, der neben der Frau steht und sie staunend anglotzt.

Surreal. Jopa fühlt, dass sich etwas verändert hat im Raum. Die Macht, die Frau Braunsberger über Johnnie hatte, ist verschwunden. Die Chimäre von Macht, denkt sie auf Serbokroatisch. Die hatte nie wirklich Macht über ihn. Niemand hat Macht über jemanden, das gibt’s gar nicht, das sind Momentaufnahmen. Die Tschetniks hatten automatische Waffen, die haben sich die Macht bloß auf Kredit erworben, aber über den Zins möchte ich nicht nachdenken. Aber mein Bruder wird durch diese metaphysischen Überlegungen auch nicht mehr lebendig. Und dennoch. Die Macht haben sie sich teuer geliehen. Das Interessanteste an Macht ist, dass sie ein Gut ist. Sie kann verpachtet werden. Verliehen.

Jopa arbeitet weiter. Johnnie fühlt, dass an diesem Morgen eine Entscheidung getroffen werden wird, und er ist froh darüber. Die Spannung im Raum wird unerträglich. Er steht da, glotzt und kann sich nicht abwenden von der alten Frau, er kann nicht anders, er muss sie betrachten, verstehen. Die Frau ist ein dunkles Weltwunder. Plötzlich schnalzt die Chefin den Kochlöffel in eine Ecke, dass es nur so kracht und das Eigelb sich in Tausenden feinen Spritzern in der ganzen Küche verteilt. Johnnie zuckt nicht einmal zusammen. Er ist zutiefst fasziniert. Die Frau starrt Johnnie an. Tollwütig, das ist der Ausdruck, der Johnnie in den Sinn kommt. Die Frau ist tollwütig. Tollwut ist eine schreckliche Krankheit.

„Ich habe noch nie eine dümmere Sau als dich gesehen“, schreit Frau Braunsberger. Aber da ist eben nicht nur Wut, da ist auch etwas anderes, ganz deutlich. Sie hat die Kontrolle über mich verloren, denkt Johnnie. Über dieses Haus, über ihr Leben, über alles, hier geht es schon lang in eine ganz falsche Richtung. Gleich wird sie kurz stutzen, nur für den Bruchteil einer Sekunde, dann wird sie mich auf fast schon psychotische Art beleidigen. Johnnie hat völlige Klarsicht in diesem Moment.

„Wirklich, für einen wie dich wäre es besser, wenn er sich umbringt. Tu der scheiß Welt da einen

Gefallen und bring dich rechtzeitig um.“

Johnnie lacht bloß. Erstaunt über die Wunder, die dieser Tag bereithält.

„Scher dich raus, du Narr, du bist fristlos gekündigt, schleich dich, sonst lass ich dich einliefern.“

Was ist mit Johnnie passiert damals? Besser leben mit Chemie, das ist passiert. Die erstaunliche Entdeckung, dass er über seine Gehirnchemie bestimmen konnte und somit uneingeschränkt der Herr im eigenen Haus war.

Wenn er nüchtern gewesen wäre, dann hätte ihn ihr Hass bis ins Mark verbrannt. Aber er war eben nicht nüchtern. Er ist geschützt gewesen, durch chemische Substanzen, durch mehrere ihrer undurchsichtigen, aber starken Wechselwirkungen. Der Gedanke leuchtete Johnnie völlig ein. Eine tatsächliche Offenbarung hatte hier stattgefunden, anders kann man das nicht nennen. Er konnte fühlen, wie er wollte. Er musste sich nie mehr schlecht fühlen, wenn er es nicht wollte. Freilich, es wird schon Momente geben, in denen keine Substanzen greifbar sind. Aber das ist nicht wichtig.

Wichtig war, dass er wusste, dass es solche Substanzen überhaupt gab und dass er sich nicht scheute, sie zu benutzen. Es war überhaupt ein Wunder, dass nicht alle Menschen diese Drogen benutzten.

Drogen – ein sehr negativ besetztes Wort. Johnnie dachte eher an Medikamente. An Medizin. Man darf nicht vergessen, dass Johnnie damals grad sechzehn Jahre alt geworden war und uneingeschränkter Herrscher über die Chemie in seinem Kopf. Das ist ein Lottogewinn. Ein Sechzehnjähriger, der sein eigener Messias geworden ist. Das prägt ein Leben. Unsere psychiatrischen Tageskliniken und Dauerbetreuungsplätze sind voll mit diesen Menschen.

So ging es dann halt über Jahre. Sein ganzes Leben lang. Die Schäden hat Johnnie nicht einmal bemerkt. Darüber habe ich lange nachgedacht. Ich habe darüber nachgedacht, wie es sein kann, dass ein Mensch nicht bemerkt, wie er ist und wie er lebt und wie es ihm geht und wie es um ihn bestellt ist. Bei Patienten, deren Präfrontallappen beschädigt sind, merkt man das deutlich. Sie erkennen häufig ihre mentale Schädigung nicht, fühlen sich oft gesund, geradezu ausgezeichnet. Aber sie können selten angemessene Entscheidungen treffen. Sie wissen nicht – es dünkt ihnen nicht –, dass sie krank sind. Aber ich frage mich täglich, ob überhaupt jemand erkennen kann, wie es ihm geht oder wie es um seine Psyche bestellt ist. Wie kann ein Mensch bemerken, dass er aus dem Takt ist, wenn der Takt nur aus ihm selbst herauskommt? Freilich, die Reflexionsfähigkeit. Da müssen dann Teile des Geistes oder des Gehirns (wenn es da einen Unterschied gibt, was man unmöglich wissen kann) einander einen Spiegel vorhalten, einen Brennpunkt schaffen, einen Fokus, etwas, in dem das eigene Wesen einer Analyse unterzogen wird. Dieses geistige Messvermögen hat Johnnie nie gehabt. Ich weiß nicht, ob er es verloren hat oder ob er diese Fähigkeit einfach nie gehabt hat. Wenn er es gehabt hat, wie schrecklich muss es sein, etwas derart Essenzielles zu verlieren, und was kann zu solch einem Verlust führen? Eine Hirnverletzung physikalischer oder chemischer Natur vielleicht? Ein Schlaganfall oder eine Hirnblutung oder etwas ganz anderes? Kann man sich selbst, einen wesentlichen Teil seiner selbst überhaupt verlieren? Ich fürchte, ja. Etwas Perverseres kann ich mir kaum vorstellen. Aber wenn man etwas derartig Notwendiges verlieren kann, was kann getan werden, um diese lebensnotwendige Selbstreflexion wiederherzustellen?

Es gibt einwandfrei durchgeführte klinische Studien, die darauf hinweisen, dass selbst gefährlichen Soziopathen wieder Empathiefähigkeit vermittelt werden kann. Somit kann gefolgert werden, dass das auch für die Selbstreflexion gilt. Ein Mangel ist eben immer eine Krankheit, wenn man es genau

nimmt. Ich bin Notfallmediziner und kein Psychiater, ich kann dazu fachlich nicht viel sagen. Jedoch glaube ich ohnehin, dass zum Zustand des menschlichen Geistes kaum jemand etwas wirklich Schlüssiges zu sagen hat. Ich weiß nur, dass es Johnnie letztlich umgebracht hat, dass er sich selbst nicht reflektieren konnte. Sein totales Unvermögen zu erkennen, wie er war und was er tat und wie es auf ihn wirkte, was er tat und welche Folgen sein Verhalten zeitigte. Aber vielleicht waren Johnnies neurologische Bahnen eh vorhanden und intakt, was weiß denn ich? Vielleicht sollte man über seinen Mangel an Ich-Bewusstsein, über seine Ich-Schwäche psychologisch nachdenken.

Vielleicht hat er sich einfach für einen derartigen Abschaum gehalten, der nur Selbstwert kreieren kann, wenn er alles, was schlecht ist, wenn er alles, was sich schlecht anfühlt, für bare Münze nimmt. Sozusagen im Bewusstsein verankert: Nur die schlechten Gefühle sind wahr, und die guten Gedanken, die mit guten Gefühlen Hand in Hand gehen, sind falsch. So was gibt’s.

Aber, wie gesagt. Ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen, was mit Johnnie los war. Ich weiß bloß, dass ich ihn sehr gerne gehabt habe. Auch als erwachsener Mann noch. Als junger Assistenzarzt war ich gerne bei ihm zu Gast, ich fühlte mich wohl in seiner Nähe, verbrachte meine freien Freitagabende mit Vorliebe in seinem heruntergekommenen Loch von Pub.

Vor seiner Zeit als Pub-Betreiber hat Johnnie nie was anders gemacht, als zu jobben. Seit ihn die alte Braunsbergerin rausgeschmissen hat, hatte er nie wieder eine seriöse oder vernünftige Anstellung. Nur Leasingjobs, nie was Fixes. Nie eine Stelle, die den Namen verdient. Beim Hogast, eine Leasingbude für Cateringjobs, beim Gösserwirt als Aushilfskraft, auf endloser Saison in den Schigebieten, als Tellertaxi, als Schankkraft. Geld verdienen, von der Hand in den Mund, nicht, dass Johnnie viel Geld gebraucht hätte. Aber das bisschen, was er brauchte, für seine Wochenenden, Straßenspeed kostet nicht viel und hält lange vor, für seine Computerspiele, für seine Handyrechnung, das bisschen Geld musste verdient werden. Und er verdiente es sich schwer. Immer wieder arbeitslos, ein paar Monate da, ein halbes Jahr dort, ab und zu schwarz angestellt, häufig um den Lohn geprellt. Man schlägt sich halt durch. Bei den Eltern wohnen im Kinderzimmer, mit fünfunddreißig. Oft Angst, das auch, zweifellos. Da gab es schon Augenblicke. Aber niemals: sich selbst betrachten, von oben, von außen. Immer nur: Das wird schon. Dafür immer wieder Wochenende. Da ist die Essenz drinnen gewesen für meinen Onkel. Im Wochenende. Im Club. In der Musik. Da ist Freundschaft, das ist Raumschiff Enterprise for real. Verstehst? Da ist das, was es bedeutet, wenn man sagt: Leben. Um was anderes geht’s nicht. So umriss Johnnie sein Weltgefühl. Was er stets zu erwähnen vergaß: die Freuden der Chemie. Ich verstehe nun meinen Vater und seine Befürchtungen.

Frage: Wann beginnt man eigentlich zu sterben? Ich höre im Krankenhaus oft diese Frage. Ich gebe dann fachlich korrekte Antworten. Aber die Wahrheit ist, dass man zu sterben beginnt, wenn man seine glücklichen und guten Gedanken verliert. Jeder Mensch kann leider seine guten Gedanken verlieren. Johnnie verlor sie wöchentlich. Ab Mittwochnachmittag hat Johnnie stets seine glücklichen und guten Gedanken verloren. Ab Mittwoch verliert man jede Lust auf den Alltagsscheiß, sagte er.

Aber den halben Mittwoch und den Donnerstag, den drückt man durch. Und dann ist eh wieder Wochenende. Anderthalb Tage in jeder Woche sterben. In diesem Rhythmus stirbt man nur langsam. So hat Johnnie das gesehen. Das führt zu einer weiteren Frage:

Warum ist Johnnie eigentlich nicht zu einem Vollzeitdrogenabhängigen geworden?

Antwort: Wegen der Musik und dem Licht und den Menschen, die Chemie hat nicht ihre völlige Zauberkraft ohne diese Ingredienzien. In den Club. Der Freitagabend. Wie in dem alten Lied: I want to see people and I want to see light. Anders hält man das gar nicht aus, sagte Johnnie. Der österreichische Schriftsteller Joachim Lottmann pflichtet ihm da eloquent bei. Lesenswerte Essays von dem Mann zum Thema Wochenende: Das Wochenende hält die westliche Arbeitswelt zusammen wie Weihnachten das Christentum.

Später sind Iris, Matthias und Anita bei einem verheerenden Autounfall ums Leben gekommen. Auf dem Weg zurück nach Hause, ein Wochenende oben in Sattledt. Johnnie bloß deshalb nicht im Auto mit dabei gewesen, weil er mit neununddreißig Komma neun Fieber daheim im Bett lag. Die Erde sei ihnen leicht. Johnnie hat seine Meinung aber nicht geändert, über seine Lebensart. Ging nicht anders, und ich verstehe das. Montags in die Tretmühle, beim Raika-Empfang das Go-Catering in Linz, die Herren Direktoren, eine Stimmung verschwitzt und besoffen, ein Veranstaltungsverantwortlicher tituliert die Leasingkellner bloß als Arschlöcher, der Chef kommt, jetzt alle zusammen helfen, zackzack. Dienstags dann beim Privatempfang Professor Doktor Wiedeking, die Stimmung menschlich und gut, Wiedeking gab dickes Trinkgeld, das die Kellner nie sahen, weil es der Veranstaltungsleiter einsteckte, und wer will es beweisen? Beim Leasinghackeln kennt niemand je irgendwen. Gesichter kommen und gehen, täglich. Die Bezahlung der Leasingfirma wird einen Monat lang verschleppt, man wird vertröstet, Arbeiterkammer wird selten angerufen, eigentlich nie, weil man es sich nicht vertun will mit den Chefitäten. Mittwochs dann irgendwo, Galadiner der Sozialdemokraten, Würstchen im Schlafrock, dazu Punsch und Gulasch um Mitternacht. Irgendwann steigt man aus. Alles wird ähnlich. So ging das bei Johnnie jahrelang, eigentlich jahrzehntelang, er hat’s nicht einmal bemerkt, dass er kein Jugendlicher mehr war. Und diese leiernde Unstetigkeit wäre wohl bis zu Johnnies Pensionierung so weitergegangen, hätte er nicht Glück gehabt. Vielleicht ist Glück eine statistische Sache. Ab einer gewissen Anzahl von schlechten Arbeitsstellen und miesen Arbeitsbedingungen ist es durchaus wahrscheinlich, dass man irgendwann einfach rein zufallstechnisch eine ordentliche Stelle erwischt. Vor allem in einem Land wie Österreich, das immer noch eine solide Anzahl von ordentlichen und gut geführten Betrieben aufweist, in denen auf die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen geachtet wird. Die Leasingfirma vermittelte Johnnie diesmal an ein Hotel. Frisch renoviert, neuer Besitzer, irgendein undurchsichtiges deutsches Firmengeflecht. Ein günstiges Hotel, Standard. Für schlichte Übernachtungen. Handelsreisende, nette Gäste, hat es geheißen. Johnnie wurde stutzig, als er die Adresse von der Leasingfirma per SMS erhielt. Kaiser-Josef-Platz. Das war doch das alte Braunsberger! Johnnie konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Hat es der junge Chef also doch verkauft. Sieht dem Kerl ähnlich. Die Alte wird sich im Grab umdrehen. Er erkannte das Hotel nicht wieder. Von der Vergangenheit keine Spur mehr.

Johnnie war für die Abenddienste eingesetzt. Passte ihm gut. Viel Servieren für Pauschalreisende, wieder deutsche Rentner, Kurfahrten. Bloß die chinesischen Reisegruppen waren neu. Chinesen hatten sich in seiner Lehrzeit äußerst selten Fernreisen geleistet. Angenehme Gäste. Verzichteten aufs Abendessen. Blieben unter sich. Wichtig: hot water. Die deutschen Kurfahrer. Die waren wie immer, da ändert sich nie was bei denen, da kann sich die Welt drehen, wie sie will. Die alten Deutschen blieben gleich. In den Neunzigern: der gleiche Ablauf wie heute. Bekamen Hauptspeise, ein Fleischgericht, Suppe und Nachspeise, kalkuliert auf fünf Euro pro Person mit einem alkoholfreien Getränk nach Wahl. Da kam schon ein Servieraufwand zusammen, mein lieber Schwan. Aber Johnnie, wenn man ihm erklärte, was zu tun war, der marschierte. Da gab es nix. Da war er stark. Er ermüdete nicht, blieb immer gleich lustig, gleich flott, gleich schnell. Monate vergingen, obwohl Johnnie bloß

für eine Woche gebucht war. Die Stimmung war leicht im Haus. Fröhlich fast. Der verrückte Rezeptionsmann behauptete stets, dass das Haus auf einem Friedhof errichtet worden war, in dem die Toten gut ruhen. Johnnie konnte dem zustimmen. Er ging mit einem Lächeln zur Arbeit, und das Gefühl kannte er nicht. Ein schönes Gefühl. Er fand hier Freunde in der Nachtschicht. Die Nachtangestellten gingen sich nicht auf den Arsch. Zigaretten rauchen auf den Balkonen mit denjenigen, mit denen man konnte. Runter in die Altstadt schauen, dem geschäftigen Verkehr zusehen. In den klaren Nachthimmel schauen, Sternbild Orion, da, der Stern Beteigeuze. Der hat nicht mehr lang. Man sieht das. Er hat eine leicht rötliche Färbung. Der wird bald explodieren, sagte der verrückte Rezeptionsmann – Bennie – immer. Eine Supernova vielleicht, das wär das Richtige für die Beteigeuze. Dann lachte er, schaute weiter in den weiten Himmel. Und diejenigen, die sich nicht mochten, verrichteten einfach ihre Arbeit ohne großes Drama. Johnnie fand in Bennie einen echten Freund, stiller Kerl mit freundlichen Augen, studierte noch, ein paar Semester Rechtswissenschaften hatte er bereits runtergerissen, schlug sich gut an der Uni. Noch jung, aber kein unbeschriebenes Blatt, das sah Johnnie ihm an, ein Hund riecht den anderen. Arger Freetechnofreund, immer draußen beim Bauernhof, kurz nach der Landesgrenze, schon in Niederösterreich. War nicht mehr Johnnies Szene, kein Wunder, die Neunziger-Szene war tot. Mit Matthias und Anita und Iris im Auto gestorben.

Aber ein Hund riecht eben den anderen. Bennie mochte Johnnies Lachen, seine irren Geschichten. Bennie hat schnell gemerkt, dass Johnnie eine Seele war. Sein gutes Herz. Wie gesagt, Bennie war häufig oben da, bei dem speziellen Bauernhof, illegale Technoveranstaltungen, nein, eigentlich nicht illegal, weil auf privatem Gelände. RummBummBumm, wie früher, Johnnie. Da spielten sich Szenen ab, Nahtoderfahrung mit Ketamin, schau, da oben hängt einer im Eck, direkt unter der Zimmerdecke, das bin ich. Ich kann mich von oben sehen.

Aber auch schöne Erlebnisse dort, mit den zwei Mädchen zum Beispiel, die Bennie und er um sechs Uhr früh kennenlernten. Kamen zu den beiden Jungs angehirscht, weil sie ihr Gespräch mitangehört hatten. Beide Mädels schwere Science-Fiction-Fans. Anna und Fritzi, ein Gespräch aus dem Herz raus, ein Gespräch, das man fühlen konnte. Drehte sich um nichts Besonderes, drehte sich um Star Trek.

Bennie redete mit Johnnie hauptsächlich über Techno und über Star Trek. Darüber konnte man mit Johnnie gut reden, das ging mit Johnnie gut, fand Bennie. Johnnie im Originalton:

„Kennst eh das Gefühl, sicher, wenn man weiß, wie schön es ist, dass man lebt, und das bedeutet

Techno für mich, und Star Trek, das ist, also … das könnte es wirklich geben, wer weiß, in der Zukunft.

Und Picard, der macht alles richtig, so müsste man sein.“

Das sagte Johnnie immer, und Bennie wusste das, er lächelte dann und meinte meist:

„Ja, Kunst imitiert das Leben und umgekehrt. Star Trek ist wie das Leben, es ist halt verklausuliert, verstehst? Kunst eben. Ohne Leben gibt es keine Kunst, also, damit möchte ich sagen, dass ich keine Kunst kenne, die ohne Leben auskommt.“

Und die Fritzi hat das genauso gesehen, im Prinzip. Damals war es Sommer. Der Abend war wunderschön gewesen, und die vier Leute, vom Tanzen völlig fertig, lagen jetzt auf wackeligen Liegestühlen im Innenhof des runtergekommenen Vierkanters. Drei junge Menschen und ein in die Jahre gekommener alter Raver mit Bauchansatz und mit dem ansteckendsten Lachen, das man je gehört hatte. So ging das bis um sieben, acht Uhr früh. Und dann hat niemand mehr auf die Uhr

geschaut. Die Fritzi, die hatte was auf dem Kasten. Und die Anna erst. Da blieb selbst dem Bennie das Maul offen stehen.

Anna studiert Literatur, wie sich im Laufe des Vormittags herausgestellt hat, und Star Trek gefällt ihr auch so gut wie Johnnie. Und Bennie, der liebt Science-Fiction-Geschichten sowieso, der hat da auch viel gelesen, auch Theorie. Das Schwierige. Niegeschichte, zum Beispiel. Ein Tausend-Seiten-Wälzer vom deutschen Science-Fiction-Schriftsteller Dietmar Dath. Anna fand das Buch ganz toll, da hatte sie gleich einen Stein im Brett bei Bennie. Und er bei ihr.

„Der Mann hat Ahnung, der Dath, der hat vernünftig erklärt, warum es Dinge, die es nicht gibt,

tatsächlich geben kann und auch wirklich gibt daher. All so ein Scheiß.“

„Keins macht eins. Das ist nicht weit hergeholt“, sagte Bennie.

Es war nach acht Uhr morgens, und jeder dieser fantasiebegabten Menschen hatte hochwirksame Chemikalien im Blut.

Anmerkung von mir: Ich finde es traurig, dass solche intensiven Gespräche in der westlichen Literatur häufig nur mit dieser traurigen Anmerkung niedergeschrieben werden, vor allem, wenn es sich um literarische Wiedergaben handelt, die sich sehr nahe an wahren Begebenheiten orientieren.

„Nein, das ist überhaupt nicht weit hergeholt“, hat Anna da dann gesagt und ernst geschaut. Johnnie

hat ganz aufmerksam zugehört, wie er es nur selten gemacht hat. Er hat Anna zugestimmt.

„Da kenn ich mich aus, auch was es nicht gibt, gibt es. Wenn man es genau nimmt. Das muss einem

klar sein, verstehst, was ich meine?“

„Ein Potenzial, ein Pleroma wie beim Carl Gustav Jung“, nickte Anna, „von dem redest du, oder?“

„Ja, genau“, bekräftigte Johnnie todernst, der zwar noch nie von diesen Ideen gehört hatte, aber instinktiv begriff, worum es sich dabei handelte.

„Nur bei einem hat sich Dath aber geirrt“, hat Anna gesagt und in den freundlichen Morgenhimmel

gestarrt.

„Star Wars ist sehr wohl gute, echte Science-Fiction, nicht bloß Unterhaltungsdingsbumms, das war damals ganz was Neues. Homfunktion und der ganze mathematische Firlefanz, mit dem der Dath da daherkommt, das alles funktioniert auch bei Star Wars, da gibt’s nix.“

„Mathematik gibt’s auch nicht echt, verstehst, als Substanz vielleicht schon, aber dann wird’s ganz verrückt, lustig aber, dass das überhaupt nichts zur Sache tut“, sagte Bennie.

„Ob sie da ist, die Mathematik, als Ding oder eine Idee oder ein Werkzeug oder als Wesen, es macht keinen Unterschied, so meinst du, gell, ob sie einen tatsächlichen Platz einnimmt, irgendwo tief in den Falten der Realität, ob sie eine Substanz ist, aus der das Universum gemacht ist, wie der Professor Tegmark geschrieben hat, oder auch nicht“, überlegte Fritzi und fummelte ein Balisto aus ihrem Rucksack.

„Wenn sie keinen Raum einnimmt oder auch kein Raum aus ihr gemacht ist – fabric of space –, wenn sie also keinen Ort einnimmt, sozusagen raumzeitlos ist, keine Ausdehnung hat, oder wie man das nennen will, das macht keinen Unterschied“, sagte Anna.

„Genau so ist es, ganz, wie ich gesagt habe.“ Johnnie grinste in sich hinein.

Bennie grinste auch, freute sich über Johnnies Höhenflug.

„Aber dass wir weiterreden, warum Star Wars echte Science-Fiction ist. Das waren die Geräusche bei dem Film, der Film war sehr sinnlich. Haptik, Geräusche, Licht. Das Heulen der TIE-Fighter. Die Geräusche haben zum Zuschauer gesagt: Schau, ich bin echt.“

Anna ließ nicht locker, und Bennie hörte interessiert zu. Dinge, die es nicht gibt, kann es dennoch geben. Da rannte man bei Bennie offene Türen ein. Star Wars echte Science-Fiction. Na, der Tag konnte heiter werden.

„Also, mein Bruder, nicht, jedes Jahr bei der großen Comic-Messe in Wels, die Jungs und die Mädels vom Lichtschwert-Kampfclub-Verein oder wie der Scheiß heißt, also mein Bruder, der ist Ingenieur, HTL-Maschinenbau, dann noch ein Studium der Mechatronik, und weiß Gott, der kennt sich aus. Wie eigentlich ein Laserschwert funktioniert. Das fragt er jedes Jahr. Er freut sich jedes Jahr wieder auf eine vernünftige Antwort, aber bisher hat er noch niemanden am Messestand dort erwischt, der ihm das Laserschwert technisch erklären kann, versteht ihr? Einmal hat er jedoch eine gute Antwort erhalten. ,Sie stellen die Frage ganz falsch, lieber Besucher‘, hat ein junger Mann zu meinem Bruder gesagt. ,Schon Ihre Bezeichnung ist falsch. Es heißt nicht Laserschwert, es heißt Lichtschwert. Die Klinge besteht aus einem physikalisch sehr exotischen Kollaps von verschränkten Photonen.

Exzentrisches Licht, verstehen Sie? Leider habe ich meine technischen Aufzeichnungen nicht bei mir, aber bitte fragen Sie mich nächstes Jahr hier am Stand. Danke Ihnen.‘ Dann hat der Vereinsheini gelächelt und sich leicht verneigt. Mein Bruder hat sich gefreut, er ist seinem Rätsel eine Spur näher gekommen, versteht ihr das, das ist nämlich der springende Punkt.“