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Gibt es sie wirklich, die wahre und echte Liebe? Sind wir überhaupt dafür gemacht, unser Leben mit nur einem einzigen Menschen zu verbringen? Oder laufen wir einem Mythos hinterher, einer Idee, die von Menschen geschaffen wurde, damit die Gesellschaft nicht im Chaos versinkt? Ingelore Ebberfeld sagt: Ja, genau das ist der Fall. Was wir Liebe nennen, ist nur eine gesellschaftliche Konvention. Wir sind nicht darauf programmiert, bis ans Lebensende mit nur einer Person zusammen zu sein oder gar glücklich zu werden. Zur eigentlichen Natur des Menschen gehört nicht die Dauermonogamie, wie Expertin Ebberfeld behauptet. Für ihre provokante These führt sie zahlreiches und vor allem stichhaltiges Beweismaterial aus Biologie, Geschichte und Ethnologie ins Feld. Was bleibt, ist die Frage: Können oder wollen wir mit der Entzauberung leben? Ähnlich wie bei Dawkins' Gotteswahn werden viele nicht widerspruchslos von der romantischen Liebe Abschied nehmen wollen.
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Seitenzahl: 297
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1.Auflage 2009
© 2009 by mvg Verlag, ein Imprint der FinanzBuch Verlag GmbH
Nymphenburger Straße 86
D-80636 München
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Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Umschlagabbildung: © FinePic, München
Satz: Manfred Zech, Landsberg
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN 978-3-86882-017-1
Für Oliver, der eher an die Liebe als an Gott glaubt.
Was beseelt mehr, an die Liebe zu glauben oder sie in den Wind zu schreiben?
Es gibt keine schmeichelhaftere Umschreibung für Sex als Liebe. Wer sich verliebt, will Sex. Um Sex zu bekommen, sagen Verliebte: »Ich liebe dich!« Sagt man es nicht und bekommt trotzdem Sex, was es durchaus gibt, ist es eine alte Liebe oder keine Liebe. Letzteres ist vielleicht käufliche Liebe. Verliebtheit gibt es selbstverständlich auch ohne Sex. Kinder können sich verlieben,1auch alte Männer, die den sexuellen Akt nicht mehr ausführen können. Erstere bereiten sich auf richtigen Sex vor, zweitere haben ihre sexuelle Vergangenheit und ihre Gefühle im Kopf abgespeichert. Sie schöpfen aus dem, was war, und kennen ihre Grenzen. Aber wäre ihnen ein Wunsch vergönnt, wie würde der aussehen?
Ehepaare, die 50 Jahre und mehr verheiratet sind, sind rar, doch es gibt sie. Womit hat dieses halbe Jahrhundert Zweisamkeit begonnen? Mit Sex und Liebesbeteuerungen. Womit endete es – mit Liebe? Nein, mit Gewöhnung, mit lieb gewordenen Alltagsritualen. Wo einst die sexuelle Glut Oberhand hatte, waltet jetzt Vertrautheit. Aber was nach dem Sex kommt, wird ebenfalls Liebe genannt. Wer heiratet, der liebt. Wo lange Bindungen bestehen, herrscht Liebe. Lebenslange Trauer um einen Partner oder Geliebten zeugt von einem liebenden Herzen. Ebenso, wenn die Unerreichbare ein Leben lang begehrt wird. Wer sich aus Liebe tötet, ja, der liebt wahrhaftig.
Diese Liebesvorstellungen lassen sich nicht ausrotten, jeden Tag wird von ihnen berichtet. Ein 97-Jähriger heiratet seine Jugendliebe nach fast 80 Jahren. In jungen Jahren wurde Mohammed Eid die Heirat untersagt und seine Liebste musste den Sohn ihres Onkels heiraten. In Saudi Arabien nichts Ungewöhnliches. Doch jetzt ist niemand mehr da, der die Ehe hätte verhindern können. Er war nach zwei Ehen erneut Witwer geworden und sie (90) war nach sechs Ehen ebenfalls solo. Gott sei Dank gab es ihrerseits keine männlichen Angehörigen mehr. Die nämlich hätten ein unbedingtes Mitspracherecht gehabt.2
Die Jugendliebe der zwei endete in einem Happy End. Eine schöne Liebesgeschichte, fürwahr. Was aber wäre aus der Jugendliebe geworden, hätten sie schon damals geheiratet? Von der Geliebten ließen sich viele ihrer Ehemänner scheiden, wahrscheinlich weil sie kinderlos blieb. Was hätte Mohammed Eid getan, der jetzt 42 Kinder und Enkelkinder zur Hochzeitsfeier einladen konnte? Die traurige Wahrheit lautet: Wäre ihr Glück schon damals, im Jugendalter, mit Eheringen besiegelt worden, die große Liebe der beiden hätte höchstwahrscheinlich im Alltag ihr jähes Ende gefunden.
Ein anderes Land, ein anderes Paar, eine andere Liebe. Es feierte im Jahre 2005 seinen 80. Hochzeitstag. Keine Frage, das muss Liebe sein. Der bis dahin völlig unbekannte Engländer Percy Arrowsmith offenbart das Geheimnis seines lebenslangen Glücks der Öffentlichkeit. Ein Journalist notiert fleißig den Liebescode für den Depeschendienst. Er besteht aus nur zwei Worten und erstickt jeden Konflikt mit Ehefrau Florence schon im Keim. Er lautet: »Yes, Darling!«3
Was Percy Arrowsmith so selbstironisch auf den Punkt bringt und seinen Gleichmut offenbart, trug in der Tat zum langen Eheleben bei. Es sind eben nicht die schmachtenden Liebesblicke und es ist eben nicht die flammende Liebe, die Menschen für lange Zeit aneinander binden. Auf silbernen, goldenen oder gar diamantenen Hochzeitsfeiern wird gerne von Liebe gesprochen, weil pragmatisches, wie: »Yes, Darling!«, keinen Zauber in sich birgt.
Wahrhaft große Lieben
Die Liebesgeschichten von Mohammed Eid und Percy Arrowsmith sind Ausnahmen und doch alltäglich. Es sind banale Lieben, ganz gleich, ob sie unser Herz erwärmen. Sie haben nicht den Saft und die Kraft, die Zeit zu überdauern. Anders jene, die zum Mythos wurden und durch die Geschichtsbücher geistern. Über Jahrhunderte hinweg wurden sie bewahrt. Monumentale Bauten legen Zeugnis für sie ab. Touristen lauschen andächtig, wenn von den großen, einmaligen, wirklichen Lieben erzählt wird. Da sind etwa Ramses II. (Regierungszeit von 1279 bis 1212/13 vor unserer Zeitrechnung) und seine geliebte Nefertari. Oder der Großmogul Shah Jahan (Regierungszeit von 1627 bis 1658), der seiner über alles angebeteten Gattin eines der schönsten Grabmäler der Welt errichten ließ, den Taj Mahal.
Lassen wir die Fakten sprechen. Wir befinden uns in Abu Simbel, Ägypten, 200 Kilometer von Assuan entfernt. Dort hat Ramses II. (geboren um 1303 vor unserer Zeitrechnung) seine große Zuneigung zu Nefertari für alle Zeiten in Stein gehauen.
Die einheimischen Touristenführer erklären den wissbegierigen Zuhörern die Besonderheiten von Abu Simbel. Sie betonen die Einmaligkeit der großen Liebe, die der ägyptische König Ramses II. für Nefertari hegte und mit dem Zeigefinger deuten sie auf die monumentalen Gestalten hinter sich. Der Hinweis auf die kleineren steinernen Figuren neben den vier sitzenden Ramses-Skulpturen geht im Staunen und der Glut der afrikanischen Sonne unter. Unter anderem sind es seine Kinder, auch jene, die er nicht mit Nefertari zeugte.
Wie sah es nun mit den beiden aus? Nefertari musste ihren Gatten stets mit mehren großen königlichen Gemahlinnen, Nebengemahlinnen und Nebenfrauen teilen. Sie hatte nie eine Wahl. Im Krabbelalter von 2 Jahren wird sie mit dem 15-jährigen Ramses verheiratet. Von Anfang an mit im Ehebund war Isisnofret, später kamen noch weitere Ehefrauen hinzu, unter anderem sogar seine Tochter Bintanat. Als er sie zur Frau nimmt, ist Nefertari 31 Jahre und hatte ihm bereits mehrere Kinder geschenkt.
Mit 35 Jahren stirbt Nefertari. Ramses hat es auf 90 Jahre gebracht. Er überlebt sie damit um mehrere Jahrzehnte. Es sind Jahrzehnte, in denen er weitere Frauen heiratet und weitere Kinder zeugt.
Ramses hat Nefertari vergöttert. Gewiss. Er hat sie geliebt. Vielleicht auch das. Sie war seine große Liebe. Auch das mag stimmen. Wo Männer mehrere Ehefrauen oder einen Harem hatten, gab es auch immer Hauptfrauen, Lieblingsfrauen und Favoritinnen. Ebenso richtig ist: Diese Liebe hatte eine andere Qualität und eine andere Dimension als die Liebe, von denen wir im 21. Jahrhundert träumen.
Es geht hier also um die Verklärung einer Liebe, die mit dem, was wir heute unter Liebe verstehen, ganz und gar nichts zu tun hat. Welche westliche Frau würde sich heutzutage mit dem Status Hauptfrau oder Lieblingsfrau zufriedengeben? Wie klingt ein zärtlich hingehauchtes: »Ich liebe dich!«, wenn der Gatte morgen oder übermorgen in das zweite oder dritte Ehebett steigt? Das ist nicht besonders romantisch, was meinen Sie? Auf der Strecke bleiben natürlich auch die für uns so selbstverständlichen Vorstellungen, die zur Liebe einfach dazugehören: absolute Treue und einmalige Gefühle.
Wie sieht es mit der großen Liebe des Großmogul Shah Jahan (geboren 1592) aus? Immerhin ereignete sie sich circa 3000 Jahre später und kommt vielleicht unseren Liebesvorstellungen näher. Um es kurz zu machen: nicht viel besser. Er hatte ebenfalls mehrere Frauen, um genau zu sein, einen ganzen Harem. Mit 15 Jahren wird er mit der 14-jährigen Mumtaz Mahal verlobt, ein paar Jahre später verheiratet. Sie stirbt im 38. Lebensjahr. Sogleich gibt der Großmogul den Taj Mahal in Auftrag und ordnet zwei Jahre Staatstrauer an. Nie soll er ihren Verlust verwunden haben.
Mumtaz Mahal war nicht nur seine Hauptfrau, sondern Beraterin und Vertraute. Auf vielen seiner Reisen begleitete sie ihn. Die vielen Schwangerschaften waren dabei offenbar kein Hinderungsgrund. Immerhin war sie in ihrer 19-jährigen Ehe die meiste Zeit schwanger, mindestens zehneinhalb Jahre. Das 14. Kind, das sie ihr Leben kostete, gebar sie auf einem Kriegszug. Wieder einmal war sie an der Seite ihres Mannes.
Zu Lebzeiten rühmten Dichter ihre Schönheit, auch ihre Grazie. Bei derart vielen Schwangerschaften kaum zu glauben. Nun gut. Sie sei so schön gewesen, da habe selbst der Mond sich schamvoll versteckt, heißt es. Der Großmogul war zweifellos von ihrem Liebreiz hingerissen, wie es auch Ramses II. von seiner anmutigen Nefertari war.
Der Dreh- und Angelpunkt der Vergötterung und Liebe zu den beiden Frauen war offenbar ihre Schönheit. Einmal abgesehen von anderen wertvollen Eigenschaften, die diese Favoritinnen zweifellos besessen haben, sei die Frage erlaubt: Hätten sie eine Chance gehabt, auf dem Liebesolymp verewigt worden zu sein, wenn sie nicht so bildschön gewesen wären? Wohl kaum.
Weibliche Schönheit ist der Stoff, aus dem das Zaubergespinst der überlieferten Liebe besteht. In Mythen, Sagen, Gedichten, Romanen, Liedern und Filmen, überall da, wo der Liebe zwischen Mann und Frau gehuldigt wird, ist von schönen Frauen die Rede. Von Helena über Madame Bovary bis hin zu Pretty Woman, sie alle waren bildhübsch. Das sollte uns zu denken geben.
Machen wir einen Sprung, hüpfen wir ins 20. Jahrhundert und nehmen einen ganz anderen Mythos aufs Korn. Er nahm in den 1930ern seinen Anfang in Gestalt eines Blauen Engels: Marlene Dietrich (1901–1992). Quasi vor Hollywoods Türen verliebt sich die Deutsche unsterblich in Jean Gabin. Ein Techtelmechtel beginnt, daraus folgt eine heiße Liebesaffäre, Versprechungen, Hoffnungen. Schließlich zieht sich Gabin zurück und beendet das Liebesverhältnis durch Heirat mit einer anderen. Was für den Franzosen ein Neuanfang ist, wird der Diva zum Verhängnis. Sie kann ihn nicht vergessen, doch er bleibt bei seiner Frau. Unzählige Männer liegen der Leinwandschönen zu Füßen. Das interessiert sie nicht, sie will nur ihn.
Vor ihm hatte sie Männer, auch nach ihm. Er aber ist und bleibt die Liebe ihres Lebens. Warum? Weil Marlene Dietrich ausgerechnet ihn nicht haben konnte, nicht zu ihren Konditionen. So einfach ist das. Hätte sie ihn bekommen, was dann? Sehr wahrscheinlich hätte Jean Gabin sie eines Tages durch sein Schnarchen am Einschlafen gehindert, und nicht nur das. Der Alltag macht aus jeder Liebe etwas Alltägliches. Und was noch hinzukommt und Oskar Wilde so treffend auf den Punkt gebracht hat: »Wenn man liebt, täuscht man zunächst sich selbst, schließlich täuscht man andere.« Ohne Täuschung ist Liebe und Verliebtheit nicht möglich.
Forschungsobjekt: Liebe
Jede Liebe kann man kleinreden. Das ist richtig. Aber ich möchte noch viel mehr, nämlich: Die Liebe vom Himmel auf die Erde holen. Sie wissenschaftlich hinterfragen. Denn die Liebe, von der wir alle träumen, ist ein Phantombild. Was sie angeblich auszeichnet, existiertsonicht. Wir haben vielmehr ein Bild von der Liebe im Kopf, wie sie zu sein hat. Es wurde uns von klein auf eingetrichtert und hat mit sexuellen Moralvorstellungen und Werten zu tun, auf die unsere Gesellschaft aufgebaut ist. Sieht man der Liebe hingegen in ihr wahres Gesicht, ist es vielleicht leichter, sich mit weniger zu begnügen, nämlich mit dem, was machbar ist. Eines bleibt so oder so zurück: ihr Zauber. Harte Fakten können nicht alles erklären.
Liebe als Forschungsgegenstand, das löst Unbehagen aus. Weil Gefühle im Spiel sind, ohne sie geht es nicht. Doch was im Leben läuft ohne Gefühle ab? Nichts. Trotzdem, mit der Liebe verhält es sich wie mit der heiligen Kuh. Schlachten darf man sie nicht.
Auf dem wissenschaftlichen Terrain zum Thema Liebe sieht es jedenfalls recht dürftig aus. Ich spreche nicht von Liebesratgebern, davon gibt es unzählige, sondern von der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Liebe. Mit dem Hass oder der Aggression verhält es sich dagegen umgekehrt. Wer zu diesem Thema Fachbibliotheken aufsucht, wird sogleich fündig. Es gibt eine Fülle von verschiedensten Theorien über Ursprung und Wesen der Aggression oder des Hasses.
Nun gut, fangen wir an. Die Liebe zwischen Mann und Frau hat irgendwo ihren Ursprung. Den müssen wir aufsuchen. Wir müssen dieselben Fragen stellen wie in der Aggressivitätsforschung. Ist Liebe ein universelles Phänomen, gibt es kulturelle Unterschiede, ist sie angeboren und so weiter? Die meisten von uns sind von der Liebe fest überzeugt. Sie fühlen sie ganz einfach. Damit erübrigt sich jede weitere Diskussion. Basta. Universell soll sie sein. In den Zeugenstand wird kurzerhand die omnipräsente Liebeslyrik gerufen. In der Tat, sie existiert auf allen Kontinenten, wie auch Liebeslieder in den äußersten Winkeln dieser Welt zu finden sind.
Dennoch. 1989 stellte der amerikanische Anthropologe Donald Brown eine Liste über menschliche Universalien auf.4Sie umfasst 329 Merkmale, 50 weitere wurden seit 1991 hinzugefügt. In dieser Aufstellung finden sich etwa Merkmale wie:Familie, Eheschließung, Gegenseitigkeit, Inzest zwischen Mutter und Sohn undenkbar oder tabuisiert, Ödipuskomplex, sexuelle Anziehung, aber auch Merkmale wie:Neid, Vorsicht vor Schlangen, Glaube an Übernatürliches/Religion, Grußsitten, Anschauungen über Glück und Unglück.
Die Merkmale Liebe, romantische Liebe oder Verliebtheit suchen wir in Donald Browns Liste vergeblich. Lediglich das MerkmalMagie zur Gewinnung von Liebe (Liebeszauber)deutet auf so etwas wie Liebe. Was heißt das? Gar nichts und doch viel. Es ist genau wie mit dem Gemüse, dem Obst und dem Salat. Für uns ist das Grünzeug lebensnotwendig, für bestimmte Völker, wie beispielsweise die Copper-Eskimos und viele andere nordischen Volksstämme, war es das keineswegs. Sie hatten ihre Ersatzstoffe, etwa frische Robbenleber.
Es deutet sich also an: Ohne Liebe lässt sich’s ebenso gut und bekömmlich leben wie ohne spezifische Lebensmittel. Andererseits ist für eine ganze Reihe von Völkern die Liebe ein maßgeblicher Bestandteil des Fühlens und Denkens. Die Frage ist: Woher speist sie sich? Auf welchen Teil unserer archaischen Veranlagungen geht sie zurück und wozu war dieser Teil einst lebensnotwendig? Denn das muss er gewesen sein, sonst hätte er nicht überlebt und sich weiter entfaltet.
Der Anfang und die Liebe
Jede Zelle, jedes Reptil, Fische, Schnecken, Vögel, alle Säugetiere bis hin zu den Primaten sehen sich ab dem Moment ihrer Geburt einem Problem gegenüber. Es heißt Überleben. Wie wird das Überleben gesichert? Durch Ernährung, Schutz und Fortpflanzung.
Wir alle hatten Vorfahren, die sich dieser Überlebensdreifaltigkeit erfolgreich gestellt haben. Noch eines hatten sie von Anfang an: Eine emotionale Ausstattung, die ihr entsprechendes Verhalten unterstützte.
Ein konkretes Beispiel aus dem Tierreich. Wenn sich indische Mungos auf Futtersuche befinden und in eine brenzlige Lage geraten, setzen bestimmte Körpersignale und die damit verbundenen Reaktionen ein. Ehrlich gesagt, haben indische Mungos wenig Feinde, sie sind schnell, wehrhaft und selbst eine Kobra ist für sie eine Kleinigkeit. Aber wenn ein Feind sie bedroht, heißt die Devise: auf der Hut sein, Flucht abwägen, Angriff vorbereiten. Allemal wird die Drohhaltung eingenommen, also das Fell gesträubt, der Hinterkörper hochgestellt und der Kopf gesenkt. Dieses Verhalten ist ihnen angeboren, also genetisch.
Geht es um Fortpflanzung, springt das Lustzentrum an. Dazu sind bestimmte Signale oder Botschaften notwendig, die der Körper empfängt oder aussendet. Also Eisprung, Körperdüfte, Balzstimmung und so weiter und so fort. Entsteht aus der Kopulation Nachwuchs, wird nach bestimmten Vorgaben die Brut aufgezogen. Bei den indischen Mungos trägt das Muttertier die gesamte Last der Aufzucht. Sie benötigt etwas, was allen Säugetieren gemein ist, einen Brutpflegeinstinkt. Er beinhaltet eine Bindungsfähigkeit gegenüber ihrem Nachwuchs. Hier angelangt, befinden wir uns schon auf dem Vorplatz der Liebe. Denn zur Liebe gehört Bindungsfähigkeit.
Und natürlich hatte die Balz bei den Mungos auch schon etwas mit der Liebe zu tun. Die Balz ist der Flirt. Eine indische Mungodame nimmt nicht jeden x-Beliebigen. Sie wählt den besten unter den Anwärtern. Das tragen ihre Gene von Anbeginn ihrer Art in sich. Unsere kleine Mungodame ist auf dieser Welt, weil sich auch ihre Mutter und deren Mutter so und nicht anders verhielten.
Es wird zwar immer wieder angezweifelt, aber Tiere haben in der Tat viel mit uns Menschen gemein. Wir haben sehr differenzierte Vorstellung von einem attraktiven Partner, wir »fliegen« nicht auf jeden, und wenn wir uns verlieben, ist es eine ganz besondere Person. Gewiss, all das ist richtig, aber da gibt es etwa die Beagle-Beobachtungen von Frank Beach. Der amerikanische Psychologe, der sich unter anderem mit dem sexuellen Verhalten von Tieren befasste, gab Rüden die Wahl unter mehreren Weibchen. Schnurstracks wählte der Beagle-Mann eine bestimmte Hundedame aus. Die Auswahlkriterien konnten nicht entschlüsselt werden. Nur eines, als das Experiment nach sieben Jahren wiederholt wurde, wählte der Beagle exakt jene, die ihm auch beim ersten Mal schon gefallen hatte.5Die gleichen Beobachtungen wurden unter experimentellen Bedingungen bei Primaten gemacht. Auch sie präferieren bestimmte Partner. In freier Wildbahn konnte bei Schimpansen sogar etwas beobachtet werden, was an Flitterwochen erinnert.6
Menschen sind eben doch ein wenig wie Tiere. Was mich übrigens keineswegs schreckt. Mich schreckt vielmehr, wenn ständig davon gesprochen wird, wie grundlegend anders wir doch wären. Wie ist das möglich, wenn wir doch alle irgendwann einmal denselben Ursprung hatten?
Menschliche Gefühle
Es geht um die Liebe, um etwas sehr menschliches. Gleichwohl werde ich denHomo sapiensimmer wieder mit Tieren vergleichen und Parallelen herstellen. Tiere seien wie Menschen mit wenig Verstand und viel Gefühl, meinte einmal ein Freund. Der Primatenforscher Frans de Waal spricht gar vom Tier-Mensch. Falsch ist das nicht. Eine seiner Lieblingstierarten, die Schimpansen, führen Krieg, erbeuten Tiere und essen deren Fleisch. Sie benutzen Werkzeug, um sich Nahrung zu verschaffen, die sie manchmal auch mit Wasser reinigen. Schimpansen verteidigen oder drohen mit Waffen, mit Stöcken und Steinen etwa. Sie betreiben ausgiebige Körperpflege, sie lausen sich nicht nur, sondern wischen sich mit Blättern den Schmutz ab und sie stochern mit Stöckchen in den Zähnen herum. Sie helfen sich gegenseitig, manch einer zog dem anderen auch schon einen verfaulten Zahn. Sie lassen sterbende Hordenmitglieder nicht allein. Sie machen Geschenke, versöhnen sich nach einem Streit, küssen sich auf den Mund, auf die Hand und schütteln sich die Hände. Sie streicheln sich zur Beruhigung. Ja, sie schmollen, flirten, »lächeln«, sind verlegen, verdrießlich und auch schon mal schlecht drauf. Unter ihnen gibt es welche, die sind: tapfer, schüchtern, beherzt, draufgängerisch, sanft, egoistisch, geduldig, eifersüchtig, hinterhältig. Gar mancher ist ein ausgebuffter Taktiker und Stratege, andere sind echte Vermittler und Friedensstifter. Schimpansen sind bestechlich und können Ungerechtigkeit nicht ausstehen. Sie treiben Späße, spielen Streiche, verteidigen ihr Eigentum, teilen oder verschenken.7Kurzum, sie haben viel mit uns gemein.
Wir gehören zu den Primaten, genauer zu den Menschenaffen und sind vor allem Vettern der Schimpansen. 2005 wurde der Schimpanse genetisch komplett entschlüsselt. 98,7 Prozent seiner Erbsubstanz gleicht der unsrigen. Allerdings sind Affen nicht unsere Vorfahren, wir haben aber sehr wohl einen gemeinsamen Vorfahren. Ihn zeichneten eine bestimmte körperliche Konstitution und soziale Gewohnheiten aus. Beides haben wir im Laufe der Evolution verändert, der Mensch ebenso wie jede andere Affenart.8Wir sollten uns daher weder über Gemeinsamkeiten noch über Differenzen mit unseren tierischen Verwandten wundern.
Was das Verwandtschaftsverhältnis zu den übrigen Tieren anbelangt, so schätzt man beim Menschen 21000 aktive Gene. Ein Wurm hat 20000. Nur 1000 Gene mehr, das ist merkwürdig, sollte man meinen. Nicht, wenn wir Genetikern zuhören. Sie sagen, wir unterscheiden uns nicht durch die zusätzlichen 1000Gene, sondern wir nutzen sie anders.
Alle Lebewesen stammen zwar von ein und demselben Ursuppen-Genpool ab, doch durch die unterschiedliche Nutzung der Gene sind wir das, was wir sind. Dass manche Tiere, die so gar nichts mit Primaten gemein haben, Menschliches an sich haben (oder eben umgekehrt), liegt dann offenbar an einer ähnlichen Nutzung bestimmter Gene. Nur deshalb können einige uns nichtverwandte Tiere Eigenschaften ausbilden, die uns an uns Menschen erinnern. So gibt es etwa bei den Graudrosslingen schweigsame und geschwätzige Gesellen. Andere wiederum brummeln den ganzen Tag.9Es handelt sich übrigens um eine Vogelart, die in der Wüste oder Halbwüste beheimatet ist. Ich werde auf sie häufiger zu sprechen kommen.
Menschen haben ein unglaubliches Gehirn, sie können sprechen und fliegen mithilfe von Raketen zum Mond. Das unterscheidet sie erheblich von allen anderen Wesen. Auf allen Kontinenten ist derHomo sapiensbeheimatet. Das ist keinem anderen Wesen auf dieser Welt gelungen. Van Beethoven, Leonardo da Vinci, Madame Curie – sie alle gehören zur Spezies Mensch. Und sie alle haben sich in bestimmte Menschen verliebt und diese Menschen geliebt. Dass sie es überhaupt konnten, haben sie nicht zuletzt ihren Genen zu verdanken. Auch besaßen sie jene Anlagen, die angeblich die Liebe ausmacht: Treue, Leidenschaft, Liebeskummer, Eifersucht, den Hang zur Monogamie.
Ich nehme diese »Indizien der Liebe« einmal aufs Korn, um zu zeigen, dass es allenfalls eine begrenzte Liebe gibt, um genau zu sein eine Verliebtheit. Sie ist wiederum auf ein paar Monate oder Jahre beschränkt. Das ist eine traurige Wahrheit. Aber unangenehme Wahrheiten werden durch Ignoranz nicht angenehmer. Stellen wir uns deshalb der Liebe, die uns angeblich überfällt und unbegrenzt anhält. Einer Liebe, die Voraussetzung für den Trauschein ist. Wobei Ehestand und Familie staatlich gefördert werden. Sie tragen zur Stabilisierung, Ordnung und zum Fortbestand unserer Gesellschaft bei. Romantische Vorstellungen von der Liebe täuschen also über vieles hinweg, was mit zweckmäßiger Zweisamkeit zu tun hat.
Wer sich auf die Suche nach dem Ursprung der Liebe begibt, muss weit zurückblicken. Sehr weit. Denn das, was wir als Liebe bezeichnen, nahm seinen Anfang, als wir auf diesem Planeten auftauchten und sogar noch davor. Der Blick weit zurück allein genügt aber nicht, es braucht auch eine gehörige Portion Fantasie, ohne die geht es nicht.
Fangen wir an. Am Anfang war eine Ursuppe. Das ist beispielsweise eine Fantasievorstellung, aber dennoch ein brauchbares Denkmodell, da sie sich wissenschaftlich und logisch herleiten lässt. Aus der Ursuppe hat sich alles entwickelt. Es brodelte ziemlich lange, bis sich vor gut 1,6 Milliarden Jahren die ersten komplexen Zellen formierten. Wie und wodurch dieser Schöpfungsprozess in Gang kam? Keine Ahnung, aber die Umstände müssen günstig gewesen sein und irgendwie müssen diese Zellen Lust an Veränderung gehabt und sich irgendwann zu noch komplexeren Zellen zusammengetan haben. Aus Liebe? Kann sein, denn sie fanden sich wohl irgendwie gut und irgendetwas zog sie gegenseitig an.
Der nächste große evolutionäre Sprung erfolgte vor etwa 540Millionen Jahren. Es traten die ersten komplexen Tierkörper auf. Sie bestanden aus etwa einer Milliarde Zellen. Das größte Tier auf dem Planeten war der Trilobit, ein hartschaliger Arthropode oder Gliederfüßer. Zunächst nur einige Millimeter, wurde er rasch, also in Tausenden von Jahren, größer und erreichte mit der Zeit die Größe einer Maus. 290 Millionen Jahre lang bevölkerten die Trilobiten die Erde und bestimmten maßgeblich das Leben in den Ozeanen. Dann starb diese Klasse der Lebewesen aus, warum, weiß kein Mensch. 15 000 verschiedene Exemplare dieser Art wurden bislang als Fossilien entdeckt, einer von ihnen misst ganze 70 Zentimeter.10
Wie haben sich die Trilobiten vermehrt, folgten sie einem bestimmten Liebesrhythmus, gab es ein Liebesspiel zwischen den Geschlechtern? Selbst Trilobitenexperten können nur Vermutungen anstellen. Da sie eine krebsähnliche Art sind, wäre eine Abgabe von Eiern und Sperma ins freie Wasser ebenso möglich wie Begattungsorgane und damit Körperkontakt zwischen Männchen und Weibchen. Selbst aktive Brutpflege könnte möglich gewesen sein. Wie dem auch sei, es bleiben große Fragezeichen. Nur eines ist gewiss: Herr und Frau Trilobit hatten ein Stelldichein, gleichgültig ob mit oder ohne Berührung. Etwas zog sie zueinander hin, sie hatten den Drang sich zu vermehren. Außerdem trafen sie geschickte Vorkehrungen, damit die Nachkommen überlebten.
Um es klar zu sagen: Das ist der Stoff, aus dem wir sind, dort liegen unsere genetischen Wurzeln. Erst die Ursuppe, dann Zellformationen, der Trilobit, und dann ging es weiter und weiter und weiter … Und eines ist sicher: Je weiter wir zurückgehen, desto sicherer landen wir auf der Stufe der allerkleinsten, millimetergroßen Trilobiten und irgendwelcher Nachbargeschöpfe. Diese Wesen haben sich in irgendeiner Form gepaart, also auf ganz primitiver Weise »Liebe gemacht«. Dadurch wurden ihre Gene weitergegeben und weitergegeben und weitergegeben … Und am Ende waren auch wir da, die wir auf ein System der »Liebesanziehung« zurückgreifen, das in der Ursuppe seinen Anfang nahm.
Woher wir kommen
Die allermeisten Forscher sehen das natürlich anders und setzen die Menschwerdung und alles, was damit zusammenhängt, erst an, wo die Hominiden ins Spiel kommen, die Vorfahren der Menschenaffen und Menschen. Beleg für ihre Existenz sind Hunderte fossiler Funde, Zähne und Knochen. Man fand sie in Ostafrika und Eurasien. Ihr Alter wird zwischen 23 und 14 Millionen Jahre geschätzt. Wie die Knochen aussehen, ihre Art, ihre Merkmale, all das lässt auf menschenaffen- und menschenähnliche Geschöpfe schließen.11Von ihnen stammen wir mehr oder weniger ab. Aus einem Zweig, den die Wissenschaft als Menschenaffen bezeichnet. Dazu gehören Gibbon, Orang-Utan, Gorilla, Schimpanse und Mensch. Unser engster Verwandter, der Schimpanse, hat mit seinem Kumpel, dem Gorilla, weit weniger gemein als mit uns. Das ist kaum vorstellbar, aber Genetiker schwören, es stimme.
Was man ebenso beschwören kann: Menschenaffen nehmen Körperkontakt auf, um die nächste Generation hervorzubringen. Ein ausgeklügeltes Paarungsverhalten zwingt sie, auf das andere Geschlecht zuzugehen und sich mit ihm geschlechtlich einzulassen. Es ist durch ihre Gene vorgegeben. Bestimmte Gerüche, ein bestimmtes Aussehen und Verhalten signalisieren: »Ich bin für die Liebe wie geschaffen, komm auf mich zu, sprich mich an!«
Die Wiege des Menschen ist, da sind sich nicht nur alle Evolutionswissenschaftler einig: Afrika. Hier sollen 20 oder mehr Hominidenarten in den vergangenen 5 Millionen Jahren entstanden sein. Und mehrere Menschenarten sollen dort gleichzeitig gelebt haben. Erst seit ungefähr 25000 bis 20000 Jahren ist alles ein wenig anders. Seither gibt es nur noch eine Menschenart: denHomo sapiens. Uns.
Zu den ältesten und uns am ähnlichsten Lebewesen gehört Lucy (Australopithecus afarensis). Man fand sie natürlich in Afrika, dort, wo sich heute das äthiopische Afar-Tiefland befindet. Lucy erscheint uns schon wegen ihres Namens ein wenig menschlich. Er geht auf den Beatles-Song »Lucy in the sky with diamonds« zurück. Forscher fanden etwa 40 Prozent ihres Skeletts. Ihre Knochen verraten einiges: Lucy lebte vor mehr als 3,8 bis 3,5 Millionen Jahren, sie war circa 90 Zentimeter groß, hatte eine affenartige Haltung und ging auf zwei Beinen, hat sich dabei aber möglicherweise auf ihren Knöcheln abgestützt, sicher sind sich die Wissenschaftler da nicht. Auch nicht, ob ihre langen Fingerknochen eindeutig auf ein Hangeln in den Bäumen hindeuten. Ihr Gehirn, nun ja, es war nur etwa 400 bis 500 Kubikzentimeter groß. Zum Vergleich: Ein Schimpansenhirn oder das eines Gorillas hat die gleiche Größe, das unsrige hat durchschnittlich rund 1350 Kubikzentimeter.12
Lucy war also nicht besonders schlau, denn Schlauheit hat auch etwas mit der Größe des Gehirns zu tun, behaupten Hirnforscher. Aber wie man weiß, können manche Tiere mit kleinen Hirnen ziemlich schlau sein, schlauer, als man bislang angenommen hat. Betty etwa, eine Krähe, die in einem Universitätslabor in Oxford lebt. Sie kann »um die Ecke denken«. Um an ihre geliebte Butter zu kommen, löst sie logische Aufgaben oder benutzt auch schon einmal einen dünnen Metallstab. Den »Draht« hatte Betty zum Erstaunen der Labormänner zufällig auf dem Fußboden erspäht, aufgepickt und exakt zurechtgebogen.
Ein ebensolcher Schlaumeier war Alex, ein Graupapagei. Er plapperte seinem Frauchen an der Harvard University ungefähr hundert Worte nach, erfasste deren Sinn, konnte bis 6 zählen, Farben unterscheiden und richtig auf die Frage antworten: Wie viele blaue Schlüssel sind das? Wobei nicht nur drei blaue Schlüssel vor seinem Schnabel hin und her gewedelt wurden, sondern außerdem zwei rote. Die beiden superschlauen Vögel haben sehr viel kleinere Gehirne als der Mensch, das steht fest. Ebenso fest steht: Ihre Hirnleistungen sind ganz erstaunlich.
Erste Anzeichen der Liebe
Was war mit Lucys Schimpansengehirn? Nun ja, vielleicht waren sie und ihre Truppe auf dem Niveau von Betty oder Alex, ausgeschlossen ist das keinesfalls. Hingegen wissen wir: Sie hat von sich niemals Skulpturen hergestellt oder gekocht. Ihren Säugling aber hat Lucy wie eine Schimpansenmutter behütet. Und um sicher überleben zu können, war sie ein Hordenwesen.
Die letzten »Fakten« sind sehr wahrscheinliche Annahmen, ganz genau weiß man es natürlich nicht. Nur eines: Lucy ging sorgsam mit ihren Nachkommen um, hat sie mit Milch genährt, bis zu einem gewissen Zeitpunkt großgezogen und ihnen einige lebensnotwendige Dinge vermittelt. Das war ein guter Start für Lucys Kinder, um zu überleben. Anders kann es nicht gewesen sein. So sind alle Säugetiere veranlagt, und Lucy war ein Säugetier. Beim Menschen, ebenfalls ein Säugetier, ist es genauso, nur ist hier von Mutterliebe die Rede. Hier deutet sich schon an: Ein und dasselbe ist nicht unbedingt dasselbe. Was bei uns mit Liebe, nämlich mit Mutterliebe umschrieben wird, heißt in der Tierwelt Instinktverhalten oder Brutpflege.
Nach Lucy tauchte Twiggy auf. Zwischen den beiden befindet sich natürlich eine riesige evolutionäre Spanne, in der ordentlich etwas los war. Das alles lassen wir beiseite. Twiggy zählt zu einer Art, die als »geschickter Mensch« (Homo habilis) bezeichnet wird. Ihre Überreste wurden zusammen mit denen von Georg und Cindy am Ostufer eines Sees in der Olduvai-Schlucht gefunden, also Ostafrika, da wo sich heutzutage der Serengeti-Nationalpark befindet. Twiggy und ihre Verwandten sollen vor rund 1,9 Millionen Jahren gestorben sein. Sie waren schon erheblich größer und ihre Gehirne hatten ebenfalls an Volumen zugenommen. Das entscheidende: Sie beherrschten bereits den aufrechten Gang. Twiggy sammelte Früchte und andere essbare Dinge. Sie trug nach Ansicht von Forschern ihr Kind am Leib umher und bildete mit dem Vater des Kindes eine Einheit, also eine Familie. Der Vater beschützte Frau und Kind und sorgte für Fleisch.13Diese Dreierkonstellation, um es unmissverständlich zu sagen, ist eine Vermutung. Es gäbe mögliche andere Erklärungen, Gruppenehe, Gruppenerziehung, wer weiß.
Was uns interessiert: Haben sich die beiden ineinander verliebt, bevor sie kopulierten? Als sie dann zusammenblieben, haben sie sich da zugebrummt: »Ich liebe dich!«? Niemand kann das wissen. Aber sie und ihre Vorfahren hatten bereits den Keim von dem in sich, was allemal die Basis einer Verbindung zwischen Mann und Frau darstellt: Partnersuche, dann Sex und Kinder, also das, was wir bei den Tieren Fortpflanzung nennen. Mehr noch. Wenn Twiggy und Co. eine Verbindung eingegangen sind, dann haben sie eine emotionale und materielle Taktik entwickelt, die ihnen ermöglichte, sich und ihre Kinder durchzubringen. Nur dadurch hatten ihre Gene eine Zukunft. Eine relative Zukunft, wie wir heute wissen.
Unsere direkten Ahnen
Etwa zu Twiggys Zeit, vor 2,5 bis 1,8 Millionen Jahren, lebten nicht weit von ihr entfernt noch andere Geschöpfe. Wegen der Fundstelle ihrer Knochen am Turkanasee (Rudolfsee) taufte man sieHomo rudolfensis. Mit ihren 155 Zentimetern Körpergröße waren sie schon ziemlich eindrucksvoll und gewieft dazu, was ihre 600 bis 700 Kubikzentimetergehirne andeuten. Viele Wissenschaftler glauben, sie hätten sich als erste Menschenart vor 1,8 Millionen Jahren aufgemacht, auch auf anderen Kontinenten ihr Glück zu versuchen.14Gebracht hat es ihnen offenbar nicht viel, ihre Wege versickern im Nichts. Auf alle Fälle gehören sie zu frühen Vertretern der Gattung Mensch (Homo). Aus einem ihrer Zweige haben wir uns entwickelt. Die Entwicklungsschritte waren: Erst derHomo erectusund derHomo ergasterbeziehungsweiseHomo heidelbergensis, aus ihm – wahrscheinlich– der Neandertaler (Homo neanderthalensis) sowie derHomo sapiens.Letzterer, das sind ja wir.
Um eine Vorstellung von unserer »direkten Linie« zu bekommen: DerHomo sapienswurde in Afrika geboren, vor ungefähr 150 000 Jahren. Er hat sich von dort aus über die Welt verbreitet. Nach Südeuropa kam derHomo sapienserst spät, etwa vor 40 000 Jahren, und traf dort auf den Neandertaler. Hier wie anderswo lebten beide Arten quasi nebeneinander. Jede Gruppe hatte ein Kommunikationssystem und hat sich verbal verständigt. Vielleicht pflegten sie auch schon bestimmte Liebesfloskeln, auszuschließen ist so etwas jedenfalls nicht. ObHomo sapiensund Neandertaler miteinander »sprachen«, ist fraglich. Eine genetische Vermischung konnte bislang jedenfalls nicht nachgewiesen werden. Ebenso wenig ist bekannt, ob unsereins, der moderne Mensch, dem Neandertaler den Garaus machte.15
Sicher ist hingegen: Ab 40 000 bis 30 000 Jahre vor unserer Zeit ging es in der Menschheitsgeschichte Schlag auf Schlag. Immer ausgeklügeltere Werkzeuge und Waffen machten die modernen Menschen zu geschickten Jägern und Fischern. Die Sprache entwickelte sich rasant. Liebesgeflüster wird immer wahrscheinlicher. Allerspätestens aber zwischen 17 000 und 15 000 vor unserer Zeitrechnung. Denn da brachten Menschen wunderschöne, kunstvolle Abbildungen an Höhlenwänden an, von Auerochsen, Pferden, Wildrindern, Wildschweinen und Hirschen etwa. Ob in der Altamira-Höhle (Spanien) oder in der Höhle von Lascaux (Frankreich), wer derartiges zustande brachte, der muss auch entsprechend gesprochen und Lust auf betörende Worte gehabt haben.
Vor circa 10 000 Jahren dann ein weiterer riesiger Menschheitsschritt. In Vorderasien kommt es zur ersten Landwirtschaft, erste größere Siedlungen formieren sich. Bald darauf entstehen die ersten Hochburgen der Kultur etwa in China, in Mesopotamien, am Nil. Schriftsprache, Astrologie, Mathematik, Kunst und Kultur gehen damit einher. Handwerkliche und intellektuelle Spezialisierungen führen zu immer mehr Berufszweigen, ausgeklügelte Verwaltungssysteme und differenzierte Bevölkerungshierarchien entstehen. Plötzlich sind wir vor der Tür unserer Zeitrechnung angekommen.
Liebesbeteuerungen und Liebesbeweise können für diese Epoche anhand von Monumenten und Steintafeln belegt werden. Es ist absolut sicher: Das ehemalige Beschnüffeln und Angegrunze der ersten menschlichen Wesen liegt schon lange im Vergessenen und ist in eine wohlgefeilte Flirttechnik übergegangen. Gefühle werden mit dem Kopf gesteuert. Mehr noch, die sexuelle Beziehung der Geschlechter ist gesetzlich und religiös geordnetundgeregelt. Auf dieser Regelung basiert unsere Gesellschaft. Das bedeutet: Der Sexualität wurde ein Ort zugewiesen, die Ehe. Und es war die Kirche, die dem sexuellen Akt ausschließlich diesen Ort zuwies. Nur da und nirgendwo sonst war die Begattung rechtens. Vorehelicher Geschlechtsverkehr war Sünde, die aus diesem Akt hervorgegangenen Kinder Bastarde. Wer dem heiligen Sakrament der Ehe zuwiderhandelte, dem drohte das Fegefeuer. Mit der Zeit gelangten diese moralischen Vorstellungen von den Köpfen in die Herzen.
Gefühle im Gehirn
»Haben unsere Vorfahren im Laufe der ›Menschwerdung‹ während der vergangenen 3 bis 4 Millionen Jahre nicht einen großen Sprung gemacht, der uns bei aller anatomischen und genetischen Verwandtschaft nicht doch fundamental von den anderen Menschenaffen trennt? Tragen wird das ›Äffische‹ immer noch mit uns herum, oder haben wir dieses biologische Erbe abgeworfen?« Gerhard Roth16stellt diese Frage und bezieht eindeutig Stellung. Der Bremer Forscher hat uns tief ins Gehirn geschaut und neuronale Vorgänge untersucht. Seine Antwort lautet – ich fasse sie einmal salopp zusammen: Wir sind Tiere und tierisch ist unser Hirn. Es unterscheidet sich nur unwesentlich von dem unserer Vettern, den Schimpansen.
Was soll das heißen? Dass wir genauso beschränkt denken und handeln wie Affen? Nein, aber unser Gehirn arbeitet noch sehr archaisch. Wir haben keineswegs alles im Griff. Es gibt Abläufe, die wir ganz und gar nicht steuern können. Wir glauben nur, wir hätten dieses und jenes »frei« entschieden, in Wirklichkeit hat etwas in uns entschieden. Dieses Etwas hat sich vor einer sehr langen Zeit gebildet, als es nur um eines ging: ums blanke Überleben.
Wir verlieben uns keineswegs in einen Menschen, weil unser Gehirn fein säuberlich Fakten abgewogen hat und zum Ergebnis kommt: Sieht gut aus, hat einen ausreichenden Bildungsgrad, einen passenden Stammbaum und zeigt hochgradige soziale Kompetenz. Wir fragen auch nicht nach einem polizeilichen Führungszeugnis, nach der Krankenakte oder den letzten Kontoauszügen. Eine Person haut uns einfach nur um und irgendwann reden wir von Liebe. Eines ist jedem klar: Verliebte sind keine Bedenkenträger.
»Wir müssen davon ausgehen, dass das menschliche Gehirn und seine Leistungen sich zumindest in den letzten 30 000 Jahren nicht wesentlich verändert haben.« Stellt Roth nüchtern fest. Über ein stammesgeschichtlich sehr altes Hirnteil schreibt er etwas ebenso Erstaunliches. Es ist eine Gehirnregion, die für unsere Gefühle und Triebe zuständig ist, also für die Liebe: »Das limbische System bewertet alles, was wir tun, nach gut oder lustvoll und damit erstrebenswert oder nach schlecht, schmerzhaft oder nachteilig und damit zu vermeiden und speichert die Ergebnisse dieser Bewertung im emotionalen Erfahrungsgedächtnis ab. Bewusstsein und Einsicht können nur mit ›Zustimmung‹ des limbischen Systems in Handeln umgesetzt werden.«17
Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen, wenn von Liebe die Rede ist. Das müssen wir im Kopf behalten, wenn wir beharrlich fragen: Woher kommt die Liebe?
Der Hirnforscher Roth bestreitet einen »qualitativen evolutiven Sprung« zwischen dem Verhalten des Menschen und dem seiner nächsten Verwandten, den Schimpansen. Im weiteren Sinne zieht er die anderen Primaten und Säugetiere hier mit heran. Unser Individual- und Gruppenverhalten, mithin Partnerwahl, Sexualität, Dominanz- und Konfliktverhalten, würden in weiten Bereichen dem anderer Großaffen stark ähneln. Wir würden aber auch stark von ihnen abweichen, wie diese Anlagen eben auch bei den Affen untereinander abweichen.18