Inhaltsverzeichnis
Zum Geleit
Mit Märchen und Geschichten Werte entdecken
Erzählen unter dem Wertebaum
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Zum Geleit
Die Märchen- und Geschichtensammlung ist für »Kinder« von 4 bis 99 Jahren gedacht: Sie ist Seelennahrung für Groß und Klein. Mit ärchen und Geschichten betreten wir das Land der Träume, der Fantasie, der unbegrenzten Möglichkeiten und der Wunde. Das Verständnis für Gut und Böse wird ebenso geschärft wie das Bewusstsein für gelebte Werte. Viele Kinder und Erwachsene lieben die lebensbejahende, wohltuende, kreative und heilsame Kraft, die in Märchen steckt. Der deutsche Bundespräsident Horst Köhler sagt über den Sinn der Märchen:
»Märchen transportieren eine Lehre, die unabhängig von dem Ort und der Zeit, in der sie entstanden sind, immer wieder dieselbe ist: Es lohnt sich, anderen zu helfen und sich für das Gute einzusetzen. So sind Märchen zwar erfundene Geschichten, aber keineswegs nur Kindersache!«
Der Au »Märchen« kommt ursprünglich vom hochdeutschen Wort »M was so viel heißt wie »Kunde« »Bericht«. Ihre märchenhafte »Kund wurde mündlich rt. Die Erzählungen berichten von fabelhaften und wundersamen Begebenheiten. Sie transportieren ethische Werte und symbolische Bilder, die weit über die Tagesaktualität hinausgehen. Man kannte sie zu allen Zeiten und bei allen Völkern dieser Welt.
Wer mehr über die Hintergründe von Märchen und Geschichten und den Aufbau dieses Buches wissen möchte, findet dies im ersten Kapitel »Mit Märchen und Geschichten Werte entdecken«. Um die Lust auf gelebte, erfahrbare Werte zu wecken, habe ich für die Erwachsenen jeweils kurze Einführungstexte vor die fünf großen Kapitel Wahrheit - Rechtes Handeln - Frieden - Liebe und Gewaltlosigkeit gesetzt. Sie geben Impulse für eigene Gedanken und Gespräche mit Kindern und regen an, lustvoll in die Geschichten einzutauchen: erzählend oder zuhörend.
Unter »Wissenswertes für die Erzählerin und den Erzähler« erfährt der Erwachsene jeweils in einer kurzen Einleitung zur dann folgenden Geschichte, welche Werte im Vordergrund stehen. Anschließend finden Sie Gesprächs- und Spielanregungen, durch die die ethischen Haltungen für die Kinder lebendig und ganz konkret erfahrbar werden.
Sie finden in jedem Kapitel auch eine Geschichte von einem Schüler oder einer Schülerin. Alle Schülergeschichten wurden von 6- bis 12-Jährigen verfasst. Die Kinderbuchhandlung »Buchinsel« aus Liestal in der Schweiz hat uns Geschichten von ihrem »Leseratte«-Wettbewerb zur Verfügung gestellt. Weitere Texte kamen aus Schulen und Kindergärten aus der Schweiz und Deutschland.
Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich bei allen bedanken, die zum Gelingen dieser Sammlung beigetragen haben. Als Erstes natürlich bei den vielen Kindern, Erzieherlnnen und Lehrerlnnen, die »Schülergeschichten« und »Aus Kindermund« beigesteuert haben. Ein besonderer Dank geht an Heike Mayer, die mir als Lektorin mit Rat und Tat zur Seite stand. Das pädagogische Fachwissen von Maria Caiati und Ruth Jud hat mir bei den Gesprächs- und Spielanregungen sehr geholfen. Ein herzliches Dankeschön an meine Sekretärin Franziska Hufschmid und meinen Mann, der meine Texte mit »Lehreraugen« durchgesehen hat.
Durch die Bilder von Anita Kreituse wurde dieses Buch zu einem kleinen Juwel. Mit großer Dankbarkeit und Freude habe ich die Entstehung ihrer wunderbaren, märchenhaften Bilder verfolgt. Die Malerin Anita Kreituse stammt ursprünglich aus Riga in Lettland und lebt heute in Hamburg. Sie hat den wundersamen Zauber dieser Märchenwelt eingefangen. Ihre Bilder laden zum Träumen und Verweilen ein.
Ich wünsche Groß und Klein viel Freude beim Öffnen dieses Schatzkästchens. Möge die Weisheit der Märchen und Geschichten dazu beitragen, dass wir alle unser Zusammenleben als glücklich und wert-voll erleben.
Mit herzlichem Gruß Ihre Susanne Stöcklin-Meier
Mit Märchen und Geschichten Werte entdecken
Kinder brauchen Regeln und Werte: Sie geben ihnen Klarheit, Schutz und Sicherheit. Sie ermöglichen ein Zusammenleben in einer Gesellschaft, in der alle gut miteinander auskommen können. Kinder, die in einem sozialen Umfeld mit überschaubaren Grenzen aufwachsen, haben erwiesenermaßen weniger Angst. Sie entwickeln mehr Vertrauen in sich und ihre Umwelt. Sie werden durch die täglichen Auseinandersetzungen mit den Familien-, Kindergarten- und Schulregeln auf eine gute Weise konfliktfähig. Aus den in der Kleinkindzeit erworbenen Wertvorstellungen entsteht das Fundament ihres späteren Weltbildes, ihrer Wertewelt schlechthin. Das funktioniert jedoch nur, wenn Eltern und Erziehende sich dieser Herausforderung einer sinnvollen Wertevermittlung stellen. Wegen der heutigen Vielfalt an möglichen Wertorientierungen ist es besonders wichtig, dass Sie sich selbst darüber klar werden, welche Werte Ihnen wichtig sind. Auch dafür ist das Vorlesen und Erzählen dieser Sammlung eine gute Gelegenheit: Welche Werte der Geschichten haben für Sie hohe Priorität, welche vielleicht eine weniger hohe?
Wir sollten uns auch darüber im Klaren sein, dass Kinder Werte weniger darüber lernen, was wir sagen, sondern vor allem darüber, wie wir, die Erwachsenen, uns verhalten. Und wenn wir ehrlich sind, klafft zwischen unserem Reden und unserem Tun manchmal eine ziemliche Lücke. Wir schimpfen z.B. die Kinder, wenn sie streiten, und sind dabei oft genau so unfreundlich und laut, wie wir es den Kindern vorwerfen. Doch einen respektvollen Umgang miteinander lernen Kinder nicht, indem wir sie ermahnen, respektvoll zu sein, sondern indem wir ihnen Respekt vorleben. Das ist sicher immer wieder ein weites Übungsfeld für uns alle.
Damit Werteerziehung nicht bei gut gemeinten Appellen stehen bleibt, muss sie also konkret, praktisch und lebensnah werden. Märchen und Geschichten eignen sich gut dafür, weil die Kinder dort anhand der Märchenfiguren die Konsequenzen erleben können, wenn man sich auf eine bestimmte Weise verhält. Auf uns Erwachsene mögen viele der klassischen Märchen manchmal holzschnittartig wirken: Das herzensgute, fleißige Mädchen ist am hübschesten und darf am Schluss den Prinzen heiraten, die faule Stiefschwester ist hässlich und wird bestraft. Aus unserer Lebenserfahrung wissen wir, dass die Welt oft komplexer ist. Kinder sind jedoch gerade erst dabei, bestimmte Zusammenhänge zu erkennen. Die häufig schwarz-weiß aufgebaute Welt der Märchen hilft ihnen, sich zu orientieren.
Erzählen unter dem Wertebaum
In meinem Buch Was im Leben wirklich zählt - Mit Kindern Werte entdecken stellte ich mir die Grundwerte »Wahrheit«, »Rechtes Handeln«, »Frieden«, »Liebe« und »Gewaltlosigkeit« als großen Baum vor. Diese fünf Werte bilden die Wurzeln, den Stamm und die Äste. Die Blätter des Baumes entwickelten sich in meiner Vorstellung aus den Teilaspekten der Werte. Wahrheit ist vielleicht zu beobachten als Realitätssinn, Mut, Ehrlichkeit und Authentizität. Rechtes Handeln lernt man nur durch Unterscheidungsvermögen, indem wir in uns hineinhören und die Frage beantworten: Was ist richtig oder falsch? Frieden im Alltag erfahren wir etwa als sich versöhnen, innere Stille, Geduld, Zufriedenheit, Verständnis oder Toleranz. Liebe zeigt sich manchmal auch als Herzenswärme, Geborgenheit, Zärtlichkeit, Zuneigung, Mitgefühl oder Freundschaft. Gewaltlosigkeit erleben wir als Ehrfurcht vor dem Leben.
Damit dieser Wertebaum für Kinder lebendig und spielerisch erfahrbar wird, habe ich damals versucht, möglichst viele praktische Anregungen für den Alltag und das Zusammenleben in der Familie, im Kindergarten und in der Grundschule aufzuzeigen. Diese fünf menschlichen Werte sind ethische Grundbedürfnisse, die für Kinder und Erwachsene wichtig sind: Sie bilden eine gute Basis für das Zusammenleben, privat und im sozialen Miteinander. Leserinnen und Leser haben Was im Leben wirklich zählt - Mit Kindern Werte entdecken gut aufgenommen. Der praktische Werteratgeber erwies sich als echte Hilfe für den Kinderalltag. Er hat in kurzer Zeit zehn Auflagen erreicht, wurde über fünfzigtausend Mal im deutschsprachigen Raum verkauft und in mehrere Sprachen übersetzt.
Ich stellte mir damals beim Schreiben vor: Je öfter ich mich - symbolisch gesprochen - unter den Wertebaum setze und in seinem Schatten Schutz suche, den Wind in den Blättern beobachte, den zwitschernden Vögeln zuhöre, desto mehr Kraft spendet er mir. Ich kann hier zur Ruhe kommen, in mich hineinhören und versuchen herauszufinden, wer ich bin, woher ich komme und was ich will. Unter dem Wertebaum treffe ich mich mit der Familie, mit Freunden, Nachbarn, mit der Kindergartengruppe, Schulkameradinnen und -kameraden, zum Geschichten erzählen, zuhören, Musik machen, singen, tanzen und spielen.
Dieses Wertebaum-Bild hat mich zu der vorliegenden Sammlung angeregt. Hier hängen die Blätter nicht als Teilaspekte und Spielanregungen am Baum, sondern als Geschichten. Meine Erfahrung ist, dass gut gewählte Geschichten oft mehr zum Denken anregen als ein direkter Tipp oder Rat. Wenn der Wind in den Blättern des Wertebaumes spielt, hören wir ein Murmeln, das uns in die »Anderswelt« trägt mit den Worten:
»Es war einmal...«»In alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat...«»Als die Erde noch jung war und die Berge noch wanderten...«»Und sie lebten lange glücklich und zufrieden...«»Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.«
Die Wurzeln des Geschichtenbaums gründen in den Traditionen der verschiedenen Familien, sie kommen von vielen Völkern, Erdteilen, Sprachen, Wertvorstellungen und Religionen. Der Stamm ist der lebendige Erzählstrom vieler Eltern, Großeltern, Erziehenden, MärchenerzählerInnen und natürlich aller Märchen-, Geschichten- und Bilderbücher dieser Erde. Die Äste symbolisieren die fünf Grundwerte: Wahrheit, Rechtes Handeln, Frieden, Liebe und Gewaltlosigkeit.
In der vorliegenden Sammlung habe ich alte und neue Geschichten zusammengetragen, die diese Werte oder Aspekte klar übermitteln. Sie treten uns hier in folgenden Formen zum Erzählen entgegen:
VolksmärchenMärchen aus aller WeltKunstmärchenFabelnBiblische GeschichtenAlltagsgeschichtenSchülergeschichtenKinderaussagenSprichwörter
Märchen und Geschichten leben von der Erzählsituation. Diese zeichnet sich besonders dadurch aus, dass zwischen Erzähler und Zuhörer ein Kontakt entsteht, der Gemeinschaftsgefühl und Geborgenheit vermittelt und darüber hinaus eine harmonische Atmosphäre schafft, der gerade im Zusammenleben mit Kindern große Bedeutung zukommt. Diese verschiedenen Erzählformen eignen sich hervorragend, um für Kinder Wertvorstellungen nachhaltig zu transportieren. Die Erzählungen werden von den kleinen Zuhörern mit allen Sinnen aufgenommen, spielerisch erlebt und in den Alltag integriert. Solange die Erzähltradition lebendig bleibt, bewahrheitet sich das Sprichwort:
Märchen werden so lange leben, solange es noch Erzähler gibt, die Zuhörer finden.
VOLKSMÄRCHEN
In Volksmärchen sind weises Wissen und allgemeingültige menschliche Werte verborgen. Sie laufen wie ein goldener Faden durch alle Kulturen und Zeiten. Diese Geschichten sind sehr alt und wurden über Generationen hinweg mündlich überliefert. Sie stammen von keinem eindeutig feststellbaren »Autor«. Im deutschsprachigen Raum wurden die meisten Volksmärchen im 19. Jahrhundert gesammelt und aufgeschrieben, von Ludwig Bechstein etwa oder von Jacob und Wilhelm Grimm. Die Sammlung der Brüder Grimm hat sich schnell verbreitet, wurde viel gelesen und weitererzählt. Zum Glück haben die beiden Märchensammler diese wunderbaren Geschichten aufgeschrieben, bevor sie in Vergessenheit gerieten. Ihre Märchensammlung wurde weltberühmt. Sie erfreut bis heute viele Kinder und Erwachsene. Ihre geheimnisvollen Geschichten berühren die Seele und lassen die Herzen höher schlagen. Die Sammlung entstand zwischen 1812 und 1815 und trägt den Titel »Kinder- und Hausmärchen«.
Über die Brüder Grimm ist Folgendes bekannt: Jacob Grimm wurde 1785 in Hanau geboren, sein jüngerer Bruder Wilhelm kam 1786 am gleichen Ort zur Welt. Der Vater war Jurist. Die Kinder lebten die ersten Jahre in Steinau und besuchten das Lyzeum im Kassel, wo sie später als Professoren wirkten. Am Ende lebten beide in Berlin. Wilhelm Grimm starb 1859, sein älterer Bruder Jacob 1863.
Zu ihren bekanntesten Märchen zählen »Rotkäppchen«, »Aschenputtel«, »Schneewittchen und die sieben Zwerge«, »Der Wolf und die sieben Geißlein«, »Dornröschen«, »Hans im Glück«, »Die Bremer Stadtmusikanten« und »Der Froschkönig«.
Erzählen wir Mädchen und Jungen immer wieder Märchen und Geschichten, damit sie diese zauberhafte Welt kennenlernen und sich dabei einen Reichtum an Wortschatz, Wissen und Lebensklugheit aneignen können. Traurig, wenn das nicht der Fall ist. Denn Kinder, die ohne Märchen und Geschichten aufwachsen, entwickeln kaum innere Bilder, wenig Fantasie und haben ein geringeres Sprachbewusstsein. Evelin Buerger ist Mitglied der deutschen Märchengesellschaft und beschäftigt sich deshalb viel mit Märchen und ihrer Wirkung auf Kinder und Erwachsene. Sie ist überzeugt, dass die Verarmung der Sprache auch mit dem Verschwinden der Volksmärchen zusammenhängt. Sie meint: »Worte sterben aus, weil wir uns nichts mehr zu sagen haben. Bedrohte Wörter! Mit Märchen wäre das nicht passiert.«
Märchen hinterlassen Spuren im Denken, in der Sprache und in der Seele. Sie prägen das Wertebewusstsein bis ins Erwachsenenalter hinein. Der Schriftsteller Johann Gottfried Herder sagte dazu:
Ein Kind, dem nie Märchen erzählt worden sind, wird ein Stück Feld in seinem Gemüt behalten, das in späteren Jahren nicht mehr angebaut werden kann.
MÄRCHEN AUS ALLER WELT
Weil unsere Welt immer globaler und multikultureller wird, finde ich es wichtig, dass Kinder auch Märchen von anderen Völkern, aus anderen Ländern und Erdteilen kennenlernen. Von Grönland bis Afrika, von China bis Nordamerika werden seit Jahrhunderten Märchen erzählt. Je nach Land, Religion und Brauchtum variieren die Motive. Aber alle enthalten innere Bilder und Wahrheiten, die Kinder ansprechen und verstehen: Märchen dienen der Völkerverständigung, geben alte und neue Sinnbilder weiter und pflegen die Sprache.
Märchen aus fremden Ländern können helfen, in Kindern den Sinn für Toleranz und gutes Zusammenleben zu wecken. Sie lernen dabei: Toleranz ist der respektvolle Umgang mit Anschauungen, Wertvorstellungen, Einstellungen, Verhaltensweisen und Sitten, die nicht den eigenen entsprechen. Es ist das Geltenlassen von »Anderssein«, ohne den Wert und die Berechtigung dieses Andersseins in Frage zu stellen. Diese Grundbedingung von Humanität und Demokratie ermöglicht ein freies Sich-Auseinandersetzen mit Erkenntnissen, Lebensweisen und Regeln.
Märchenerzähler kennt man vor allem aus dem Orient, wo sich die mündliche Erzähltradition über die Jahrhunderte länger gehalten hat als in vielen anderen Ländern. Ein schönes Beispiel sind die Märchen aus »Tausend und einer Nacht«, ein Meisterwerk orientalischer Erzählkunst. Mit ihrer unerschöpflichen Fantasie und Ausdauer gelingt es Scheherazade, der klugen Tochter des Wesirs, in 1001 Nächten durch das Erzählen ihrer Liebes-, Seefahrer-, Abenteuer- und Zaubergeschichten, den Sultan Scheherban so zu fesseln, dass dadurch ihr eigenes Leben gerettet wird.
Nelson Mandela sagt etwas Wunderschönes zur Lebendigkeit des Erzählens: »Eine Geschichte ist eine Geschichte, und deshalb kann man sie so erzählen, wie es der eigenen Fantasie, dem eigenen Wesen oder der jeweiligen Umwelt entspricht; wenn die Geschichte Flügel bekommt und zum Eigentum anderer wird, dann sollte man sie nicht aufhalten. Eines Tages kehrt sie zu einem zurück, bereichert durch neue Details und mit einer neuen Stimme.«
Heute wächst das Bedürfnis nach Märchenerzählerinnen und -erzählern auch bei uns. Wer Lust hat, kann sich sogar zum Märchenerzähler ausbilden lassen. Und jeder Märchenerzähler bestätigt: Märchen lebendig erzählt, wirken viel stärker als trocken vorgelesene Texte. Hier ein Zitat von Rudolf Geiger:
Erst das Erzählen gibt dem Märchen seine Seele. Gedruckt liegen Märchen nur im Grab, durch das Lesen holen wir sie in unsere Vorstellung herauf, durch das Erzählen werden sie lebendig.
KUNSTMÄRCHEN
Wo liegt der Unterschied zwischen Volksmärchen und Kunstmärchen? Kunstmärchen sind kein Volksgut, sie wurden nicht anonym und mündlich überliefert, sondern im Gegensatz dazu von einem Autor geschrieben. Das Kunstmärchen hat also einen eindeutigen Verfasser. Als modernes Beispiel dieser Gattung seien »Der Holzvogel« und »Die zwei Schwestern« von Sorbas Lotz erwähnt, die in diesem Buch zu finden sind.
Einer der klassischen europäischen Märchendichter ist Hans Christian Andersen. Er wurde am 2. April 1805 in Odense in Dänemark als Sohn eines armen Schuhmachers geboren. Er konnte kaum die Schule besuchen, bis ihm der Dänenkönig Friedrich VI., dem seine Begabung aufgefallen war, 1822 den Besuch der Lateinschule ermöglichte. Auch das Universitätsstudium wurde ihm bezahlt. Andersen unternahm Reisen durch Deutschland, Frankreich und Italien. Die Reisen regten ihn zum Schreiben an. Weltruhm erreichte Andersens mit seinen 168 Märchen, denken wir etwa an »Des Kaisers neue Kleider«, »Die Prinzessin auf der Erbse« oder »Das hässliche Entlein«. Der Märchendichter starb 1875 in Kopenhagen. Seine Märchen sprechen bis heute nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene an. Wie das Zitat aus unbekannter Quelle sagt:
Geschichten sind nicht nur dazu da, um das Kind zum Einschlafen zu bringen, sondern auch, um den Erwachsenen zu wecken.
FABELN
Einer der berühmtesten Fabelerzähler der Antike hieß Aesop. Er lebte als griechischer Sklave um die Mitte des 6. Jahrhunderts vor Christus. Seine Fabeln wurden mündlich überliefert und erst viel später aufgeschrieben. Als unterdrückter Sklave konnte Aesop seine Meinung der Obrigkeit und dem König nicht direkt ins Gesicht sagen. Darum ließ er in seinen Fabeln meistens Tiere handeln und sprechen. Am Ende seines Lebens, als er schon ein berühmter Dichter war, wurde ihm angeblich von seinem Herrn die Freiheit geschenkt. Die kurzen symbolträchtigen Geschichten, die für uns heute manchmal sehr holzschnittartig daherkommen, bringen Werte treffend auf den Punkt wie etwa: Wahrheit im Gegensatz zur Lüge, Freundschaft und Verrat, Geiz und Großzügigkeit usw. Aesop zeigt auf, dass unrechtes Handeln und Streiten sich nicht lohnt, denn:
Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte.
BIBLISCHE GESCHICHTEN
Damit Kinder in der Welt erfolgreich bestehen können, ist es wichtig, dass sie auf Fundamente aufbauen können. Nebst den Eltern haben der Kindergarten und die Schule die Aufgabe, diese Bausteine zu legen. Dabei ist der ganzheitlichen Bildung zentrale Bedeutung beizumessen; Bildung umfasst mehr als Kenntnisse in Rechnen, Schreiben oder Lesen. Da wir im christlichen Abendland leben, gehören auch biblische Geschichten dazu. Biblische Geschichten bringen »urmenschliche Erfahrungen« zur Sprache, schreibt die Schweizer Religionspädagogin Vreni Merz in ihrem Buch Die Bibel an der Bettkante: In ihnen stecken »Lebensweisheiten, die bis heute aktuell sind und die sowohl Ihnen selbst als auch den Kindern Kraft und Orientierung geben können«. Aus diesem Grunde habe ich zu jedem der fünf Werte eine passende biblische Geschichte ausgewählt, frei nacherzählt für Kinder.
Häufig treten in Märchen religiöse Motive auf, viele biblische Geschichten gleichen Märchen. Die bewussten und unbewussten Assoziationen, die das Märchen im Hörenden weckt, hängen von seinem allgemeinen Bezugsrahmen und seinen persönlichen Anliegen ab. Religiöse Menschen finden daher im Märchen sehr viel Bedeutsames. Die meisten Märchen entstanden in Zeiten, in denen die Religion ein wichtiger Teil des Lebens war. Viele Märchen der Brüder Grimm enthalten religiöse Anspielungen oder fangen mit ihnen an.
Mit biblischen Geschichten ist es wie mit einem guten Märchen: Es wird spannender und lebendiger, wenn jemand die Geschichte gut erzählen kann und nicht einfach nur herunterliest. Die Texte des Alten und des Neuen Testaments sind ebenfalls Niederschriften von Geschichten und Erfahrungen, die lange Zeit hindurch nur mündlich weitererzählt wurden. Die Geschichten werden lebendiger, wenn die Kinder einen Bezug zum alltäglichen Leben, ihren Problemen und Fragen herstellen können. Mit der biblischen Botschaft und ihren Werten können Kinder nur etwas anfangen, wenn sie verstehen, um was es geht!
Mit Kindern Szenen aus biblischen Geschichten spielen macht Spaß. Der Hintergrund des Erzählten lässt sich dadurch besser verstehen: Die handelnden Personen geraten in Diskussionen, dadurch wird ihr Handeln verständlicher und gewinnt Sinn. Die Bibel wird zum Drehbuch existentieller Fragen und Werte, weil die Kinder die gespielten Erzählungen erleben. Biblische Geschichten können helfen, achtsam mit Menschen umzugehen und Einfühlungsvermögen zu entwickeln. Die Quintessenz ist die »goldene Regel« aus dem Neuen Testament, die auch in vielen anderen Religionen verankert ist. Sie lautet sinngemäß:
Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden möchtest!
ALLTAGSGESCHICHTEN
Für Joana Feroh, die Sängerin jiddischer Chansons aus der Schweiz, ist es etwas ganz Normales, mit Kindern Geschichten zu suchen und zu erfinden. Sie sagt: »Wer mit offenen Augen durch den Alltag geht, kann sich eine aufwändige Suche ersparen. Denn: Geschichten liegen überall herum, man braucht sie nur aufzuheben!«
Für Kinder ist es wichtig, dass Eltern, Großeltern und Erziehende ihnen spontan Alltagsgeschichten aus ihrem eigenen Leben erzählen. Hier spielt die Zeitqualität und die Erinnerung eine wichtige Rolle. Kinder spitzen die Ohren, wenn es heißt: »Als der Großvater die Großmutter heiratete«, »Wir feierten Weihnachten wie...«, »Wisst ihr noch, der Zoobesuch damals...«, »Als die Maus im Wohnzimmer herumrannte...« oder »An meinen ersten Schultag erinnere ich mich noch genau...«. Das Erzählen von kleinen Familienerlebnissen fördert das soziale Bewusstsein und das Zusammengehörigkeitsgefühl.
Erzählen ist jedoch keine Einbahnstraße vom Erwachsenen zum Kind. Es läuft manchmal wie ein Gespräch spontan hin und her. Nicht erschrecken, die Geschichte nimmt dann vielleicht eine ganz unerwartete, fantasievolle oder gar fantastische Wendung. Diese gemeinsam entwickelten Alltagsgeschichten sind besonders spannend! Natürlich lassen wir uns von den Kindern auch kleine eigene Geschichten erzählen. Wir hören mit Genuss zu, ohne korrigierend einzugreifen. In unserer Familie funktionierte diese Art von Erzählen am besten am Esstisch, bei gemeinsamen Hausarbeiten oder bei Spaziergängen. Der Schriftsteller Henning Mankell denkt sogar, dass man nur existiert, wenn man erzählen kann und einem jemand dabei zuhört:
Die Gesellschaft wird durch Millionen von Gesprächen gebildet. Wenn ein Mensch seine Geschichte erzählen kann, wird er Teil einer Gesellschaft. Wem man nicht zuhört, der existiert nicht.
SCHÜLERGESCHICHTEN
Allen Unkenrufen zum Trotz, Pisastudie hin oder her, viele Kinder lieben das Erfinden, Erzählen und Aufschreiben von eigenen Geschichten. Es ist erstaunlich, wie erzählfreudig Kinder auch heute dichten, fabulieren und schreiben, wenn wir ihnen eine Plattform zum Schreiben anbieten und dazu Raum und Zeit schaffen.
Wichtig für das Gelingen einer Geschichte ist eine gute Idee, die sich entwickeln lässt. Aufgepasst, in der Kürze liegt die Würze! Die Geschichte darf nicht zu lang sein. Das Thema kann aus dem Alltag stammen, einem Wunsch entspringen oder als modernes Märchen daherkommen. Natürlich achten die jungen Schreibenden so weit wie möglich auch auf korrekte Rechtschreibung, Grammatik und Zeichensetzung. Manche schreiben lieber von Hand, andere sind stolz, die Geschichte mit dem Computer auf das Papier zu zaubern. Am Schluss werden die Geschichten zum Lesen und Erzählen an andere Kinder und interessierte Erwachsene verteilt. Die jungen Autoren sind gespannt, wie das Publikum darauf reagiert.
Was erleben Kinder beim Geschichtenschreiben? Sie entdecken und vertiefen bewusst den Umgang mit Buchstaben, Wörtern und Sätzen. Sie entwickeln Freude am spielerischen, kreativen Erzählen und Schreiben. Sie können ihre vielfältigen Gedanken und Ideen in Ruhe sortieren und strukturieren - ihre eigenen Gefühle und Vorstellungen sprachlich ausdrücken. Sie erproben ihre Fantasie, Kreativität und den spielerischen Umgang mit Schrift und Sprache. Das Verfassen und Erzählen von eigenen Texten gibt Sicherheit und stärkt das Selbstbewusstsein. Sie sehen, wie unterschiedlich die Schreibergebnisse zu einem Thema sein können und lernen diese Unterschiede wertzuschätzen.
Fantasie und Sprache stoßen Kindern Türen auf, die ihnen die Grenzen der Zukunft erweitern.
KINDERAUSSAGEN
Wir haben Kindergarten- und Grundschulkinder zu bestimmten Aspekten rund um das Thema Werte befragt. Zum Teil haben wir mündliche Aussagen gesammelt; die Grundschulkinder konnten ihre Antworten, wenn sie wollten, auch anonym aufschreiben. Kinder sind kleine Philosophen. Sie lieben Gespräche zu kniffligen Themen. Man sollte das Wissen und das Interesse der Kinder an geistigen, spirituellen und philosophischen Themen nicht unterschätzen. Wenn man ihnen genügend Zeit und Raum für spontane Gesprächsrunden gibt, wird man erstaunt sein, was Kinder alles zu sagen haben. Ich finde es spannend, wie Kinder sich heute etwa zum Sinn von Regeln, zu Mut, zu Freunden, zu Wut oder zur Seele äußern! Für mich gilt das folgende Sprichwort auch heute noch:
Nichts ist so ehrlich wie die Antwort eines Kindes!
Aus Kindermund: Die Seele im Bauch
Hier ein Beispiel, wie spannend Kinderaussagen sein können: Märchen sind Nahrung für die Seele. Sie vermögen Kinder und Erwachsene im Innersten anzusprechen, und die Symbolkraft ihrer Bilder kann bewegen und verwandeln. Wir wollten von Kindergartenkindern hören, was sie unter Seele verstehen und wo sie diese vermuten. Hier ein paar Antworten von Drei- bis Siebenjährigen:
• Wir können die Seele in unserem Körper fühlen, zum Beispiel wenn es im Herz ganz toll klopft, auch bei Liebe, Traurigkeit und Glücklichkeit.
• Der Wind ist unsichtbar, die Seele und der liebe Gott auch.
• Die Seele singt, wenn die Oma Märchen erzählt.
• Meine Mama hat die Seele schon gesehen.
• Die Seele hat Arme und ist im ganzen Körper.
• Den Himmel, in dem die Seele ist, stelle ich mir golden vor. Vielleicht bin ich da mit einer Rakete raufgeschossen worden.
• Die Seele ist im Bauch. Herz und Seele können nie sterben.
SPRICHWÖRTER UND REDEWENDUNGEN
Sprichwörter und Redewendungen geben eine Lebensregel oder eine Weisheit in prägnanter Form wieder. Die Sprache der Sprichwörter ist meist bildhaft und verweist auf die gemeinsame Wurzel alles Menschlichen, trotz der Verschiedenheit der Kulturen. Sprichwörter gibt es überall auf der Erde und in allen Sprachen. Für Kinder ist es wichtig, dass wir diese geflügelten Worte bei passender Gelegenheit immer wieder einflechten. Sie wirken wie eine innere Richtschnur und helfen ein Symbolverständnis aufzubauen. Sie funktionieren wie Code-Sätze. Wenn wir in der Familie zum Beispiel das Sprichwort »Morgen, morgen, nur nicht heute,
Verlagsgruppe Random House
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Quellenangaben: siehe Seite 250
Umschlagmotiv und Illustrationen: Anita Kreituse, Hamburg
eISBN : 978-3-641-02297-6
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