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Was macht aus einem Menschen einen Terroristen und wie ticken Selbstmordattentäter? Auf diese drängenden Fragen unserer Zeit liefern die Experten Dr. Jens Hoffmann und Diplom-Pädagoge Nils Böckler in ihrem beindruckenden Buch nun erstmals konkrete Antworten. Sie erklären an realen Fallbeispielen, wie junge Menschen sich über das Internet radikalisieren und mit welchen perfiden Methoden der Islamische Staat oder Al Qaida diese Prozesse noch beschleunigen. Hoffmann und Böckler haben sich in die Gedankenwelt radikalisierter jugendlicher Syrien-Reisender ebenso vorgearbeitet, wie in die eines Anders Breivik. Sie behandeln die Aktionen des NSU ebenso wie die psychologischen Hintergründe der Anschläge von Paris oder Brüssel. Außerdem zeigen sie, dass das Phänomen terroristischer Einzeltäter nicht nur eines der jüngeren Zeit ist, sondern schon seit Jahrzehnten eine Geißel auch der demokratischen Gesellschaften darstellt. Und wer wusste bisher schon, dass das erste Attentat im Namen des Dschihad bereits 1915 in Australien begangen wurde - von zwei Männern, deren Motivation erstaunliche Parallelen zu den Terroristen von heute aufweist.
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Seitenzahl: 218
Nils Böckler | Jens Hoffmann
VONHASSERFÜLLT
Nils Böckler | Jens Hoffmann
VONHASSERFÜLLT
Warum Menschenzu Terroristen undAmokläufern werden
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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1. Auflage 2018
© 2018 by mvg-Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
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Redaktion: Antje Steinhäuser
Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer
Satz: FotoSatz Pfeifer GmbH, Krailling
Druck: CPI books GmbH, Leck
ISBN Print 978-3-86882-691-3
ISBN E-Book (PDF) 978-3-86415-965-7
ISBN E-Book (EPUB, Mobil) 978-3- 86415-966-4
Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter
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Inhalt
Vorwort
IDer Fall Arid U.: Vom schüchternen Schüler zum Mörder
IIDie Logik des Terrors
1Wie Radikalisierung funktioniert
2Hass, der Motor allen Übels?
3Was Terror ist: Schrecken provozieren und Unterstützer mobilisieren
4Was den Mobilisierungserfolg des sogenannten Islamischen Staates ausmacht
IIIRekrutierung und Radikalisierung im Internet
5Wie der Terror den Cyberspace erobert hat
6Terror-Akquise im Netz: Die Chatprotokolle
7Grauen statt Idylle: Die Wahrheit gibt es erst zum Schluss
IVMit wem haben wir es zu tun? Persönlichkeit und Terrorismus
8Die Motivation des Violent True Believers
9Einzeltäter: Das Phänomen der einsamen Wölfe
10Ein kontrollierter Sonderling: Der Fall Anders B.
VTerrorkarrieren
11Deutsche islamistische Täter: Suche nach Orientierung und eigenen Wurzeln
12Sich für den Dschihad empfehlen: Die Kofferbomber von Köln und Koblenz
13Auf in den Kampf: Was wir über die sogenannten Dschihad-Reisenden wissen
14Frauen im Dschihad: Wachsende Minderheit mit verschiedenen Rollen
VIPerspektivwechsel: Hass von rechts
15Hasstaten mit rechtsextremem Hintergrund
16Der NSU und die Frage, was zuerst da war
VIIEin Blick zurück
17Terroristische Einzeltäter sind nicht nur ein Phänomen der Neuzeit: Das Sisi-Attentat
18Battle of Broken Hill: Auch islamistischen Terror gab es schon vor 100 Jahren
19Austauschbare Hintergründe: Von Dutschke bis heute
VIIIDas Phänomen der Nachahmungstaten
20Vom Niemand zum bösen Helden: Charlie Hebdo und die Hintergründe
21Bomben basteln für Laien: Wie Medien den Nachahmungseffekt verstärken
22Das Attentat am Olympiazentrum in München: Amok oder Terror? Wenn sich Skripte vermischen
IXWas bleibt?
23Das Wesen des Terrorismus und die Reaktion darauf
24Wer ist der Nächste? Das Problem der Stigmatisierung
25Bedrohungsmanagement als Präventionsansatz in Unternehmen, Behörden und regionalen Strukturen
XNachwort
26Die Angst vor dem Terror und der Umgang damit
Über die Autoren
Quellen
Arid U. war 21 Jahre alt, als er mehreren Menschen mit der Pistole direkt ins Gesicht schoss. Zwei dieser Menschen waren sofort tot, drei weitere wurden schwer verletzt. Diese Tat vom 2. März 2011 gilt als erster islamistischer Anschlag mit Todesopfern in Deutschland. Arid U. befand sich an jenem Tag im Dschihad, im heiligen Krieg gegen die Ungläubigen. Er war ein Terrorist. Damit könnte alles gesagt sein, tatsächlich aber ist mit diesen bloßen und kurz zusammengefassten Fakten nicht einmal ein Bruchteil der Wahrheit erörtert. Denn hinter einem solchen Fall stehen stets etliche komplexe Fragen, die nur zu oft unbeantwortet bleiben: Was macht aus einem Menschen einen Terroristen? Was bringt einen jungen Menschen dazu, dermaßen zu hassen, dass er andere Menschen rücksichtslos erschießt? Und wer wiederum sind die Hintermänner, die genau diesen Hass und das Morden auslösen wollen? Was hat die Entwicklung eines terroristischen Attentäters mit der eines Amokläufers oder, neuerdings, Amokfahrers zu tun?
Diese Fragen lassen sich zwar beantworten, aber nicht leicht und schon gar nicht kurz. Denn um zu verstehen, warum Menschen es sich zum Ziel setzen, Angst und Schrecken zu verbreiten, ist es notwendig, sich mit den sozialen Hintergründen und der Psyche dieser Täter zu beschäftigen.
Genau darum soll es in diesem Buch gehen. Es wird beschrieben, welche Persönlichkeiten besonders anfällig für extremistisches Gedankengut sind, und zudem erklärt, wie bestimmte Gruppen Einfluss auf ebendiese Menschen, die zukünftigen Täter, ausüben, um sie letztlich in ihrem Sinne handeln zu lassen.
Denn auch ein Terrorist ist zunächst einmal schlicht ein Mensch. Häufig aber ein Mensch, dessen Leben ganz und gar nicht nach seinen ursprünglichen Vorstellungen verlaufen ist und der vor diesem Hintergrund anfällig für die Einflussnahme von extremistischem Gedankengut wird.
In diesem Buch wird es aber auch darum gehen, wie sich die Taktiken der Extremisten bei der Rekrutierung ihrer Anhänger verändert haben und verfeinert wurden. Denn es wird aufseiten der Terrororganisationen mit ausgefeilter Propaganda gearbeitet, die sich nicht selten an den Strategien orientiert, mit denen etwa moderne Werbeagenturen neue Kunden ködern. Eine zunehmend wichtige Rolle spielt bei all dem das Internet, das dem Terror vollkommen neue Möglichkeiten eröffnet hat. In der digitalen Welt sind Regionen wie Afghanistan, Pakistan, der Irak oder Syrien nicht mehr annähernd so weit entfernt, wie es ein Blick auf den Globus uns glauben lässt. Vielmehr wird aus solchen Regionen in Echtzeit Kontakt mit denen aufgenommen, die etwa in Deutschland frustriert in ihren Jugendzimmern oder Wohnungen sitzen und bislang vergeblich nach einem Sinn in ihrem Leben suchen – und den die Terrororganisationen ihnen dann zu geben vorgaukeln.
Doch wenn das Internet für die moderne Zeit des Terrors steht, dann darf auch eine andere Seite nicht vergessen werden: dass Terrorismus – auch durch sogenannte Einzeltäter – kein Phänomen der Neuzeit darstellt und dass die grundlegenden Mechanismen des Terrorismus sich über die Jahrhunderte im Grunde nur wenig verändert haben. Schon vor weit mehr als 100 Jahren versuchten Personen, auf dem Umweg einer terroristischen Tat zu Ruhm und Unsterblichkeit zu gelangen. Und auch vor 100 Jahren schon zogen Menschen in einen sogenannten heiligen Krieg, um für ihren Propheten zu kämpfen, indem sie andere Menschen töteten.
Wenn es um die Psyche von Terroristen geht, dann ist eine wesentliche Feststellung, dass solche Menschen beileibe nicht immer gleich funktionieren. Da gibt es den bis zu seiner Tat harmlosen und schüchternen Schüler, wie ihn der beschriebene Arid U. verkörpert. Oder aber eine Person wie den norwegischen Attentäter und Massenmörder Anders B., der sich so gezielt und überlegt auf seine Tat vorbereitet hat, dass es im Grunde nahezu unmöglich war, ihm vorher auf die Spur zu kommen.
Gerade im Fall des Anders B. wird noch etwas anderes deutlich: Es ist inzwischen beinahe zu einer Selbstverständlichkeit geworden, dass die Namen solcher Attentäter uns durch die Berichterstattung der Medien so geläufig sind wie die Namen von Film- oder Popstars. Gerade diese Entwicklung aber soll dieses Buch nicht unterstützen oder gar fördern. Denn zum Terrorismus zählt vielfach der Wunsch des Täters, durch seine Tat Berühmtheit zu erlangen. Diese Berühmtheit wiederum spiegelt sich nicht zuletzt darin, dass immer wieder einmal die vollen Namen solcher Täter bekannt werden. In diesem Buch werden daher die Nachnamen aller erwähnten und beschriebenen Terroristen und Amoktäter nur abgekürzt mit dem ersten Buchstaben wiedergegeben.
Arid U. wurde 1990 im Kosovo geboren. Er war das zweite von drei Kindern und lebte bis zu seiner Verhaftung noch bei seinen Eltern. Nach Deutschland kam er im Alter von zwei Jahren, sein Vater arbeitete damals als selbstständiger Unternehmer, seine Mutter war Hausfrau. Arid wurde von Bekannten, Freunden und Nachbarn als unauffällig beschrieben.
Zu deutlichen Veränderungen in seinem Leben kam es 2007, als Arid 16 Jahre alt war. Der Vater litt unter gesundheitlichen Problemen, die finanzielle Situation der Familie verschlechterte sich dramatisch, da der Vater seiner Arbeit nicht mehr in vollem Umfang nachgehen konnte.
Parallel ließen die Leistungen von Arid in der Schule deutlich nach, wurden schlechter und schlechter. Schließlich musste er eine Klasse wiederholen.
Geht man der 2011 verübten, vermeintlich vom Islam geprägten Tat des Arid U. nach, so ist die Frage nach der religiösen Prägung des Täters, vor allem auch danach, wie intensiv diese bereits im Elternhaus gewesen ist, von großem Interesse. Tatsächlich hatte die Familie einen muslimischen Hintergrund, der jedoch nicht aktiv gelebt wurde. Auch Arid hatte nicht sonderlich vielfältige Beziehungen zu einer wie auch immer gearteten muslimischen Gemeinschaft. Er galt insgesamt eher als verschlossen und unsicher. Dennoch ging er zusammen mit anderen Jungs alltäglichen Freizeitbeschäftigungen nach und spielte beispielsweise leidenschaftlich gerne viele Stunden am Tag Computer, ging zum Paintball und hörte westliche Musik. Die Freunde stellten ihn später als einen höflichen, hilfsbereiten und vor allem niemals aggressiven jungen Mann dar. Er sei nicht durch besondere politische Botschaften aufgefallen. In einem Fachartikel beschreibt der zuständige psychiatrische Gutachter Norbert Leygraf Arid U. als von schmächtiger und fast schon von zerbrechlich wirkender Statur.
Kehren wir noch einmal zurück zu Arids schulischen Leistungen. Nachdem er die zehnte Klasse der Realschule hatte wiederholen müssen, wurden seine Noten wieder besser und er wechselte sogar in die gymnasiale Oberstufe. Dieser Aufwärtstrend hielt jedoch nicht lange an, und seine Leistungen ließen bald wieder nach. Arid begann, vor allem seine Problemfächer zu schwänzen, wodurch erhebliche Fehlzeiten zustande kamen. Er zog sich in sein Zimmer zurück und spielte lieber am Computer, als sich um seine Hausaufgaben zu kümmern oder an der Verbesserung seiner schulischen Karriere zu arbeiten – wie er selbst in einer Erklärung während seines Prozesses äußerte, habe er sich bei diesen Spielen stark und handlungsmächtig gefühlt. Eine Folge davon war, dass er bald Gefahr lief, auch die elfte Klasse wiederholen zu müssen. Er fiel tatsächlich durch, seinen Eltern gegenüber verheimlichte er dies jedoch. Er ging also weiter zur Schule und wiederholte die Klasse. Im Sommer 2010 verließ er die Schule schließlich ohne Abitur. Seinen Eltern hatte er allerdings erklärt, dass er alle Klassen absolviert und das Abitur in der Tasche habe und nun auf einen Studienplatz warte.
Tatsächlich suchte Arid U. in jenem Sommer 2010 einen Ausbildungsplatz als Chemielaborant – jedoch ohne Erfolg. Später begann er zunächst ein freiwilliges soziales Jahr bei einem islamischen Pflegedienst. Arid U. war kein Mensch vieler Worte, aber er liebte diese Arbeit und war stets pünktlich, wie seine damalige Vorgesetzte versicherte. Auch die Patienten hätten ihn sehr gemocht. Es war für Arid U. wohl eine Zeit, in der er sich gebraucht gefühlt hat. Er konnte etwas tun, und das, was er tat, hatte für ihn offenkundig einen Wert.
Im November 2010 geriet Arid jedoch in einen finanziellen Engpass und er begann, zusätzlich über eine Zeitarbeitsfirma bei einem Logistikunternehmen zu arbeiten. Wenig später änderte sich seine Situation erneut: Sein neuer Job ließ sich zeitlich mit seinen Tätigkeiten im Pflegedienst nicht mehr vereinbaren, weshalb er Letztere einstellen musste.
Bereits in den Jahren davor, im Jahr 2007, war Arid U. immer depressiver geworden. Darüber allerdings sprach er weder mit der Familie noch mit seinen Freuden. Arid U. hatte mit einer Antriebsschwäche zu kämpfen. So kam er morgens kaum noch aus dem Bett und kämpfte, nach eigenen Aussagen im Laufe des Prozesses, mit Suizidgedanken.
Insgesamt fixierte sich Arid U. immer stärker auf die vermeintliche Sinnlosigkeit des Lebens.
Die beschriebene Gemengelage seiner Gefühle kennen wir auch aus anderen Fällen, in denen sich junge Menschen radikalisiert haben. Ein solcher subjektiv erlebter Missstand führte in diesen Fällen häufig dazu, dass sich die jungen Menschen nach etwas sehnten, an dem sie sich festhalten konnten. Und damit kam für Arid U. wohl auch die Religion ins Spiel. Natürlich kannte er den muslimischen Hintergrund seiner Familie, nun aber reifte der Entschluss, mehr über seine Religion erfahren zu wollen. Auch in jenen Jahren gab es in der Welt religiöse Konflikte. Das Wissen darum spielte für Arid aber allenfalls eine untergeordnete Rolle. Ihn interessierte in erster Linie einfach die Religion als solche. Als er begann, regelmäßig zu beten, verspürte er womöglich zum ersten Mal so etwas wie eine Struktur in seinem Leben. Wer tagsüber die Gebote und Verbote des Islam beachtet, kann sich selbst schnell das Gefühl vermitteln, an einem solchen Tag etwas geschafft zu haben, etwas Gutes und auch moralisch Hochwertiges. Arid war stolz, dass er beim Computerspielen nicht mehr fluchte, sich von Partys fernhielt und auch keinen Alkohol mehr trank. Das Ausüben der Religion – wie etwa durch die Einhaltung der Gebetspflichten – gab ihm eine Art ganzheitlicher Genugtuung.
Da er aber in seinem Leben nie in engerem Kontakt zu einer muslimischen Gemeinschaft gestanden hatte, verschaffte er sich einen Großteil der Informationen über die Religion aus dem Internet. Dort stieß er wohl über die Eingabe verschiedener Begriffe unter anderem auf die Videos politischer Neosalafisten, die ihm den Islam erstmalig so erklärten, dass er ihn verstand – sie gaben seiner Religion ein sympathisches Gesicht und reduzierten komplexe Sachverhalte auf eine einfache schwarz-weiße Logik. Gerade von diesen einfach strukturierten salafistischen Inhalten fühlte er sich fortan angezogen. Mit weiteren Informationen wurde er auf Social-Media-Plattformen wie Facebook oder später YouTube konfrontiert. Der Verlauf scheint prototypisch: Man klickt sich durch das Internet, gibt Begriffe wie »Salafismus« oder »die wahre Religion« ein, wird in einigen Facebook-Gruppen Mitglied und gerät schließlich in etwas, das man mit dem Begriff »Inhaltsblase« beschreiben kann, was nicht zuletzt durch Eigenarten von Portalen wie Facebook gefördert wird. Öffnet man sein Facebook-Profil, findet man dort jeden Tag automatisch generierte Hinweise auf der Grundlage seiner früheren Suchverläufe – die Plattform macht einem Vorschläge, welche Seiten und Themen einen sonst noch interessieren könnten. Der Salafismus wurde Arid U. auf diese Weise vermutlich auf dem Silbertablett präsentiert.
Arid U. wandte sich bald verstärkt auch den einschlägigen dschihadistischen Foren im Netz zu. Hier wurden unter anderem Videos aus den Konfliktgebieten veröffentlicht, in denen vermeintliche Kämpfer vor die Kamera traten und über ihre Erfahrungen im Krieg gegen die Ungläubigen berichteten. Diese Videos wurden in die deutsche Sprache übersetzt, außerdem gab es dort Unterhaltungen, in denen sich die Nutzer über die Ideologie austauschten. Arid U. vertiefte sich immer stärker in diese Inhalte, weil er immer mehr Aspekte der Religion verstehen wollte. Einige Berichte deuten darauf hin, dass er im Zuge seiner Radikalisierung auch Offlinekontakte zu Aktivisten aus der radikal-salafistischen Szene in Frankfurt pflegte.
Bald verfasste Arid selbst Beiträge im Internet, in denen er den Dschihad glorifizierte: Er könne all das verstehen, was in dem Zusammenhang an Gewalt geschehe, da ja die muslimischen Brüder und Schwestern durch den Westen angegriffen würden. Der Westen sei der Aggressor und ohnehin das personifizierte Böse. Er beschäftigte sich zudem mit islamischen Kampfliedern, in denen unter anderem dazu aufgefordert wird, sich von den Andersgläubigen ab- und nur noch den eigenen Glaubensbrüdern und -schwestern zuzuwenden – ein bekanntes Motiv in der radikal-salafistischen Szene. Der Rückzug eines Menschen aus seinem bisherigen sozialen Leben, dem Freundeskreis und oftmals auch der Familie wird ideologisch flankiert und vorangetrieben.
Arid U. zog sich in den Monaten vor dem Anschlag von seinen Freunden zurück und erzählte wohl jedem von ihnen eine andere Geschichte, warum er so wenig Zeit mit ihnen verbrachte. Im gleichen Zeitraum fing er 2010 damit an, seine Ablehnung der Ungläubigen in Chats noch deutlicher und drastischer zu formulieren und auch den Märtyrertod als erstrebenswert darzustellen.
Zu jener Zeit gingen Arids Gedanken wahrscheinlich bereits über die reinen Onlineaktivitäten hinaus. Er dachte darüber nach, selbst in den Irak oder nach Afghanistan zu reisen. Er wollte sich dem Dschihad anschließen und damit offenbar seinen Teil zur vermeintlichen Rettung der muslimischen Gemeinde beitragen. In der Szene werden verschiedene Möglichkeiten propagiert, den Kampf der Glaubenskrieger zu unterstützen: Entweder man agiert mit dem sprichwörtlichen Schwert oder bietet Unterstützung in finanzieller Form. Da seine eigene finanzielle Lage aber eher als kritisch zu bewerten war, sah er für sich wohl nur noch den Weg des Kampfes. Allerdings habe er nicht gewusst, wie er nach Afghanistan kommen sollte.
Eines Abends surfte er einmal mehr an seinem Computer durch Webseiten mit Islam-Bezug und stieß dabei auf ein Video. Auf diesem machten die Darstellungen den Anschein, als seien sie durch ein Nachtsichtgerät aufgenommen. Diese Bilder zeigten, wie amerikanische Soldaten eine muslimische Frau vergewaltigten. Arid erklärte später, dass gerade diese Bilder ihn unglaublich schockiert hätten. So sehr, dass er danach überhaupt nicht mehr in seinen Alltag zurückgefunden hätte. Die Bilder, die er gesehen hatte, hätten ihn als Mensch verändert. Nur war Arid eine wesentliche Tatsache nicht bekannt: Das Video war ein Ausschnitt aus einem Hollywoodfilm. Es handelte sich um das im Jahr 2007 entstandene Kriegsdrama Redacted, das unter der Regie von Star-Regisseur Brian De Palma gedreht wurde. Dessen Handlung wiederum beruhte auf dem sogenannten Massaker von Mahmudiyya, bei dem im Jahr 2006 südlich der irakischen Hauptstadt Bagdad tatsächlich fünf US-Soldaten eine 14-jährige Irakerin vergewaltigt und ermordet hatten.
Der auf dieser Basis entstandene Film wurde von islamistischen Gruppen zu Propagandazwecken eingesetzt – und zwar in der Form von Ausschnitten, die auf Betrachter wie Arid echt wirkten.
Für Arid war der Abend nach dem Konsum dieses Videos beendet, da er zutiefst schockiert war. Er legte sich in sein Bett, konnte aber in der ganzen Nacht nicht einschlafen, da ihm die Bilder und dazu seine eigenen Gedanken nicht aus dem Kopf gingen. Dies setzte sich am folgenden Tag fort, und Arid erklärte später, dass er all das als eine Art Zeichen wahrgenommen habe: Allah wünsche, dass er sich mit dem Thema auseinandersetze. Er selbst habe dann auch bald gewusst, was er zu tun habe.
Zu jener Zeit war Arid U. bei einem Logistikunternehmen am Frankfurter Flughafen beschäftigt. Ihm fiel ein, dass er während seiner Arbeit schon mehrfach US-Soldaten beobachtet hatte.
Arid hatte an jenem Tag Spätschicht. Kurz bevor er sich auf den Weg zur Arbeit machte, entschied er sich dafür, eine Pistole und ein Messer mitzunehmen. Die Pistole stammte aus dem Haushalt der Familie.
Arid U. redete sich offenkundig ein, dass er vor einer gottgegebenen Aufgabe stand, falls er am Flughafen tatsächlich auf amerikanische Soldaten treffen sollte.
Die Waffen verstaute Arid in seinem Rucksack, dann setzte er sich in den Bus zum Flughafen. Auf dem Weg dorthin schaltete er seinen iPod ein, wie über die Überwachungskameras im Bus und die Auswertung seiner Playlist zu rekonstruieren war. Er hörte über die Kopfhörer eines seiner Naschids, islamische religiöse Lieder, unter denen es auch Dschihad-Lieder gibt. Der Text lautet in Auszügen wie folgt:
Mutter bleibe standhaft.
Ich bin im Dschihad.
Traure nicht um mich
und wisse, er hat mich erweckt.
Die Umma ist geblendet,
doch ich wurde geehrt.
Mutter bleibe standhaft,
dein Sohn ist im Dschihad.
Die Schreie wurden lauter,
die Wunden nahmen zu.
Die unerfüllte Pflicht,
sie ließ mir keine Ruh.
Mutter bleibe standhaft,
dein Sohn ist im Dschihad.
Das alles geht über viele Strophen in ähnlichem Stil weiter. Der Text handelt davon, ob die Mutter nicht die Bomben im Irak hört, dass die Geschwister gefangen sind, dass, während die Tränen der Mutter tropfen, in Palästina das Blut fließt.
Mit diesen Sätzen und der beruhigenden Stimme des Sängers im Ohr erreichte Arid sein Ziel am Flughafen von Frankfurt. Dort verließ er den Bus und machte sich auf den Weg zu jenem Bereich am Terminal 2, in dem er zuvor US-Soldaten gesehen hatte. In der Tat bemerkte Arid einen Soldaten in einer Uniform in Tarnfarben, der zu einer Anzeigetafel ging und dort allem Anschein nach auf die Ankunft seiner Kameraden wartete. Also beobachtete er die Szenerie zunächst eine Weile. Er konnte verfolgen, wie drei oder vier weitere Soldaten hinzukamen und den Wartenden begrüßten – danach verließen sie gemeinsam den Bereich und gingen hinaus vor das Terminal. Arid folgte ihnen und beobachtete die Soldaten dabei, wie sie ihr Gepäck in einem wartenden Militärbus verstauten. Währenddessen kamen weitere Soldaten aus der Flughafenhalle und verstauten ebenfalls ihr Gepäck in dem Bus.
Arid wiederum näherte sich einem der Militärs und bat ihn um eine Zigarette. Seinen Aussagen zufolge startete er Small Talk, indem er fragte, wohin denn die Reise gehen solle. Als Antwort erhielt er die Auskunft, dass die Soldaten über die US-Luftwaffenbasis Ramstein nach Afghanistan fliegen wollten. Arid stand also tatsächlich vor seiner Zielgruppe. Daraufhin nahm er seinen Rucksack vom Rücken, fasste hinein und steckte im Inneren des Rucksacks das Magazin in seine Pistole. Dann zog er sich die Kapuze über den Kopf und wartete ab, bis alle Soldaten in den Bus eingestiegen waren. Währenddessen aber kam noch ein Nachzügler aus dem Terminal und ging auf den Bus zu. Arid näherte sich dem Mann, zog seine Pistole aus dem Rucksack und schoss ihm von hinten in den Kopf. Der Soldat war sofort tot. Arid betrat nun selbst den Bus, wo er dem Fahrer sofort ins Gesicht schoss – auch dieses Opfer starb. Dann ging Arid weiter in den hinteren Teil des Busses und rief »Allahu Akbar«. Einem Soldaten, der noch im Gang stand, schoss er ebenfalls in den Kopf und verletzte ihn schwer. Ein weiterer Soldat ging daraufhin auf Arid zu – auch er wurde durch einen Schuss ins Gesicht schwer verletzt. Der Täter erhob erneut die Waffe an, um auf eine Person zu zielen, die hinter einem der Sitze Schutz suchte. Diesmal allerdings löste sich kein weiterer Schuss, denn Arids Waffe hatte eine Ladehemmung. Der Soldat erkannte seine Chance und trat die Flucht nach vorne an. Es kam zu einem Handgemenge, aus dem sich Arid jedoch losreißen und wegrennen konnte.
Zwei Polizisten wurden bald auf die Szenerie aufmerksam, weil sich auch Soldaten an Arids Fersen hefteten. Die Polizisten schlossen sich der Verfolgungsjagd an, auch ein Passant bemerkte, dass etwas vor sich ging, und stellte sich dem flüchtenden Täter in den Weg. Die Polizisten konnten dadurch aufschließen und forderten Arid mit gezogenen Waffen auf stehen zu bleiben. Arid hingegen zog sein Messer und ging auf einen der Beamten zu. Ihm war im Zuge dessen allerdings entgangen, dass sich eine Polizistin hinter seinen Rücken vorgearbeitet hatte. Sie zog ihren Schlagstock und forderte ihn auf, sein Messer umgehend niederzulegen. Von diesem Moment an zeigte Arid keine Gegenwehr mehr, sondern kooperierte.
Später sollte Arid über diesen Tag sagen, dass es sich für ihn bei der Tat nicht um ein terroristisches Attentat gehandelt habe, sondern dass er vielmehr emotional so von dem Propagandavideo aufgewühlt war, dass er diese Tat unwillkürlich hatte begehen müssen.
Arids Fall ist ein Beispiel dafür, dass es in der Radikalisierung solcher Täter eine Fixierung auf einen – auf den ganz bestimmten – Moment gibt. Ein Mensch wie er stellt sich ein Szenario über eine sehr lange Zeit hinweg vor, und dabei war es auch Teil seiner Fantasie, als Märtyrer zu sterben. In einer Erklärung gab Arid U. zu Protokoll, dass er davon ausgegangen sei, den Tag nicht zu überleben. Was er geplant hatte, war offenbar ein sogenannter Suicide by cop: Er wollte Suizid begehen, indem er sich von einem Soldaten beziehungsweise Polizisten erschießen lässt. Die Realität stellte sich für ihn jedoch anders dar.
Ein Beispiel für eine solche Dynamik sind auch Amoktäter, die sich vornehmen, sich auf öffentlicher Bühne selbst zu richten, dann aber feststellen müssen, dass ihnen die Nerven versagen. Weil sie merken, dass die Realität sich vollkommen anders anfühlt als die Fantasie. Solche Umstände führen zu Irritationen und am Ende manchmal auch zu Handlungsänderungen.
Der Fall des Arid U. ist ein gutes Beispiel dafür, wie die Radikalisierung eines Menschen ablaufen kann. Arid hatte Probleme in der Schule, es gab Probleme in der Familie, außerdem litt er unter seiner Antriebslosigkeit. Die Beschäftigung mit der Religion gab ihm die Möglichkeit, von seinen persönlichen Missständen Abstand zu gewinnen und seine Aufmerksamkeit auf jenes Unrecht zu richten, unter dem die weltweite muslimische Community – die Umma – zu leiden hatte. Seine Frustrationen konnte er auf die moralische Empörung über diese Ungerechtigkeit umlenken. Er fokussierte sich auf den Umstand, dass es in der Welt Dinge gebe, die sich noch viel schlimmer darstellten als sein eigenes Leben. Gegen diese Dinge hatte er aber das Gefühl, etwas tun zu können, vor allem für die muslimische Gemeinschaft zu kämpfen.
Am Ende eines solchen Radikalisierungsprozesses steht die absolute Fixierung auf die Pflicht zum Kampf. Eine Pflicht, die auch in jenem Naschid zum Ausdruck gebracht wurde, das Arid auf dem Weg zu dem späteren Tatort über seinen iPod hörte. Denn auch dort gibt es eine Textzeile, die genau das zum Ausdruck bringt. Diese Textzeile lautet: »Die unerfüllte Pflicht, sie ließ mir keine Ruhe.« Diese Worte machen deutlich, wie die Propaganda exremistischer Gruppen dahinter konstruiert ist. Es geht zunächst darum, den potenziellen Rekruten an die Ideologie zu binden, in ihm ein Interesse zu erzeugen, sich mit den Inhalten vertraut zu machen. Dann gibt es Inhalte, die es als eine Notwenigkeit vermitteln, dass ein jeder sich einbringe.
Arids Geschichte zeichnet einen kontinuierlich voranschreitenden Radikalisierungsprozess nach. Da waren zum einen seine Chatbotschaften, in denen er Gewalt als Form der Verteidigung und der Lobpreisung legitimierte. Hinzu kam sein Wunsch, selbst nach Afghanistan oder in den Irak zu gehen, und seine Faszination für das Märtyrertum. Als Ergänzung lässt sich noch die zunehmende Intoleranz gegenüber der westlichen Lebensweise anführen – so hatte er von den Propagandisten gelernt, dass die gesamte westliche Welt gegen den Islam hetze. Er ließ sich bald jegliches Handeln durch die heilige Schrift legitimieren oder vorgeben.
In diesem Zusammenhang müssen auch sogenannte Rechtsgutachten erwähnt werden, die unter anderem im islamistischen Umfeld von dschihadistischen Ideologen verfasst werden. Diese sogenannten Fatwas liefern für jegliches Verhalten vermeintlich ideologisch fundierte Regeln und Auskünfte. Da heißt es dann etwa, warum es die Ungläubigen zu töten gilt. Wenn sich jemand von einer solchen rigiden Auslegung angesprochen fühlt, weil sie ihm eine gewisse Struktur und Sicherheit liefert − schließlich erfährt die Person hier ganz genau, was sie tun darf und was nicht −, ist dies ein hervorragender Anknüpfungspunkt für die Rekruteure extremistischer Gruppierungen. Arid U. ließ sich von derlei Inhalten online zu Kommentaren verleiten, wie etwa dem, dass er die Ungläubigen »messern« werde. Auch in den Multiplayer-Computerspielen, die er online spielte, brachte er via Chat entsprechende Kommentare ein.
Und es muss noch einmal wiederholt werden: Die persönliche Entwicklung und die Tat beruhten bei Arid − und auch bei anderen − fast ausschließlich auf Erfahrungen, die er im Internet gemacht hatte, sowie auf vermeintlichem Wissen, das er sich im Netz angeeignet hatte. Diese Onlinewelt hatte bei der Radikalisierung des Arid U. einen hohen Anteil, persönliche Kontakte dagegen spielten zumindest anfangs eine wohl eher untergeordnete Rolle.