Von Kindern, denen das Draußen gehörte - Wulfhild Tank - E-Book

Von Kindern, denen das Draußen gehörte E-Book

Wulfhild Tank

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Beschreibung

Es war in der Nazizeit und nach dem Zweiten Weltkrieg. Kinder lebten damals mit nur wenigen, einfachen Spielzeugen. Den heute stets präsenten Medienrummel kannten sie nicht. Es war eine Zeit, in der Kinder nicht ständig von ihren Eltern beobachtet wurden und als Kinder noch miteinander spielten. Mit wenigen Mitteln, aber umso kreativer. Wulfhild Tank erzählt aus ihren Erinnerungen und beschreibt sie in vielen Kurzgeschichten. Ausgesuchte Beispiele ihrer außerordentlich fein und exakt gestalteten Scherenschnitte illustrieren die Episoden.

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Vorwort

Ich möchte Kinderleben in der Nazizeit und nach dem Zweiten Weltkrieg darstellen, eine Zeit ohne aufwändiges Spielzeug und ohne den späteren Medienrummel. Eine Zeit, in der sich Kinder nicht ständig von ihren Eltern beobachtet fühlten, als Kinder noch miteinander spielten.

Damit beleuchte ich aber auch die pauschale Aussage, den Mythos von „unbeschwerter“ oder gar „glücklicher Kindheit“.

Inhalt

Vorwort

Frühe Kindheit

Tiere im Zoo

Kröte im Steinbruch

Grabrede

Gegrillter Speck

Narben aus der Kinderzeit

Wiedersehensfreude

Spätere Kindheit

Schokolade zur Schulspeise

Rosa

Zöpfe flechten

Eierken Scholl

Kascha Dobeck

Krippenspiel

Winterfreuden

Flaschen-Schiffchen

Das Brot

Milchmann

„Großvater“

Steineschlacht

Hygiene der Vergangenheit

Moorkartoffeln

Sparen für Weihnachten

Jugend

Weihnachten nach dem Zweiten Weltkrieg

Alf und Ocki

Einkaufstasche

Schlittenfahren

Verträumter See

Eine kleine Weihnachtsgeschichte

Frühe Kindheit

Tiere im Zoo

Helga stand vor dem Zoo, früher Tierpark genannt und wartete auf ihren Enkel Enno. Die Kinderführung für Schüler von 6‒9 Jahren müsste jetzt beendet sein.

Sie sah die Anfänge dieses Zoos in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts vor sich. Doch ihre Gedanken blieben nicht hier, sondern gingen zurück zu ihren ersten Erlebnissen in einem Zoo. Das war in Breslau, 1943. Sie war drei Jahre alt geworden.

Helga erinnerte sich:

„Meine Mutter hatte sich von ihrer Patentante in Waldenburg überreden lassen, mit den vier kleinen Kindern aus dem bombardierten Ruhrgebiet zu ihr nach Schlesien zu kommen. Dort wohnten wir für zwei oder drei Monate, bis unser Vater ihr aus Ostpreußen einen Brandbrief geschickt hatte: sofort nach Dortmund zurückkehren! Schlesien sei der russischen Front viel zu nahe!

Während der Zeit in Waldenburg war Mutter mit uns Kindern zum Breslauer Zoo gefahren.“

Helga dachte an das Affengehege dort, was völlig anders ausgesehen hatte als das neue hier in Dortmund. Aber sie konnte sich nicht erinnern, um welche Art von Affen es sich gehandelt hatte.

„Ich lag mit dem Bauch auf einer flachen Sandsteinmauer, einer Mauer ohne Geländer!

Alle Leute dort schauten wie ich in eine tiefe Grube. Unten war zuerst ein gerades Stück, dahinter kamen Felsen, unregelmäßig aufgeschichtet, aber stufenförmig immer weiter nach hinten; bis fast oben hin an die gegenüber liegende Mauer. Zwischen den Felsen gab es Höhlen, wo die Affen reinliefen. Vielleicht hatten sie ihre Ställe da drin. Denn der große Affe war einmal oben in einem Loch verschwunden und kam unten wieder heraus.

Wir hatten Bonbons runter geworfen, echte Karamellen!

Die Affen zankten sich darum. Mir tat ein kleiner Affe so leid: der hatte nie eins von den Bonbons erwischt. Was mich faszinierte war, wie so ein Tier dasaß und das klebrige Papier ganz sorgfältig ab pulte...“

Helgas Gedanken wanderten weiter durch den Breslauer Zoo:

„An einem anderen Gebäude waren von außen her Vogelkäfige zu sehen. Das war eine riesige Fläche aus senkrechten Gitterstäben. Vom jetzigen Gefühl her glaube ich, dass diese Käfigwand höher war als mein Elternhaus, etwa sieben Meter. Hinter den Stäben waren deutlich kleinere Käfigabteilungen zu sehen und in jeder davon waren Vögel. Unendlich viele Vögel auf einmal; es waren phantastische Farben dabei. Ein wirres Durcheinander von Geflatter und Vogelstimmen!

Mein großer Bruder musste mich von dort wegziehen.“

Helga hörte noch die ungläubigen Vorwürfe der Mutter und der Geschwister, die ihr die eigenen Erinnerungen nicht zutrauten. Erst, als sie über ihre Gefühle den Elefanten gegenüber gesprochen hatte, hielten sie ihre Erzählungen doch für eigene Erlebnisse. Denn Empfindungen sind Eindrücke des Augenblicks, die keiner in ein anderes Gehirn einpflanzen kann.

Die Elefanten waren das Eindrucksvollste für Klein-Helga. Jetzt tauchte diese Begebenheit in ihren Gedanken auf:

„Es waren zwei oder drei auf einem flachen, recht weitläufigem Rasen. Im Hintergrund war irgendein Gebäude, die Ställe wahrscheinlich.

Ein Mann hatte riesige Birkenäste zu den Elefanten gezerrt. Der vordere Elefant schlang sein Rüsselende um den dicken Ast, hob ihn hoch, schob sich das ganze Geäst mit einem Mal unter seinen Mund und begann, die Blätter zu fressen. Seitdem hatten Elefanten für mich kein Tiermaul; ein Maul hatten nur Hunde und die anderen Tiere, die aus Näpfen oder von der Erde fressen.

Ich hockte mit den Knien auf einer niedrigen Mauer, genauso niedrig wie bei den Affen und auch ohne Geländer. Hinter dieser flachen, leicht nach hinten gerundeten Abmauerung lag ein Wassergraben. Für mich war dieser Graben breit, ja. Aber doch nicht für diese großen Elefanten! Ich schätzte damals, für deren Beine wäre es nur ein einziger riesiger Schritt, um das Gehege zu verlassen.

Dennoch hatte ich keine Angst: die anderen Leute standen und hockten genauso an der Mauer. Und der Mann mit den Birkenzweigen hatte sogar mit den Elefanten geredet und den vorderen getätschelt.

Scherenschnitt - Elefantengehege, 2008

Ich fragte mich, wieso diese Tiere einfach da drinnen blieben? Ich fand auch, der Auslauf wäre viel zu klein für einen Elefanten-Garten; unser Garten zu Hause erschien mir größer als der.

Als Erwachsene erst erfuhr ich, diese Tiere dürften keine weit ausladenden Schritte machen, sonst könnte ihre Wirbelsäule brechen.“

Endlich kam Enno durch das Drehkreuz des Zoos auf seine Oma Helga zu gestürmt! Und schon wurde sie mit neuen spannenden Kindererlebnissen überschüttet.

Kröte im Steinbruch

Der steinige Weg ging recht steil bergauf, zuerst zwischen den lang gestreckten Gärten und Obstwiesen von zwei alten Häusern, die seit Langem am Fuße eines kargen Hügels standen. Der ausgetretene Weg an Maschendraht-Zaun und an Weißdorn-Hecken entlang nannte sich „An der Hühnerhecke“.

In einem der Häuser konnte früher einmal der Betreiber des angrenzenden Steinbruchs gelebt haben, denn der schmale Weg dorthin lief direkt am Haus vorbei. Der halb runde Bruch sah in Richtung des Hügels so kahl aus, als seien vor nicht allzu langer Zeit noch Steine gebrochen worden. Die zum Wiesental hin flacheren Seiten waren mit Adlerfarn und Brombeeren verwuchert. In diesem ausgedehnten Kessel hatte die Stadt eine Parzelle zur Bebauung freigegeben. Oberhalb des Steinbruchs noch weitere Parzellen, die vom Weg 'An der Hühnerhecke' Zugang hatten.

Als Gisela vier Jahre alt war, standen sieben Häuser 'An der Hühnerhecke'. Doch mit den Gärten auf dem harten Untergrund hatten die Bewohner noch immer ihre Mühe. Denn zu der Zeit wurde nicht einfach ein Bagger bestellt, der alle Unebenheiten beseitigen sollte. Nein, Spitzhacken sorgten für die Ausformung der Grundstücke. Die dabei anfallenden Sandsteine wurden sogleich für ausgleichende Trockenmauern benutzt. In diesen Mauern wohnten Eidechsen und Kröten, kleine Mäuse, Spinnen, Schnecken und eine Menge Gewürm.

Die Grenzen der Gärten waren auch nur Bruchstein-Mauern, keine Zäune. Darum konnten die Kinder überall herumlaufen. Das kleine Mädchen nutzte diese Freiheit ausgiebig. Es fühlte sich wohl in seiner grenzenlosen Welt. Hier wollte es alles kennen lernen: jeden Höhenversatz, jede Pflanze, alle Insekten und kleineren Tiere. Die Beute seiner Erkundigungen musste die Mutter oft völlig zerquetscht aus den Schürzentaschen heraus pulen.

Eines Tages stromerte Gisela ganz nah am Abhang des Steinbruchs entlang. Der stufige Bruch lag, in warmen Gelb leuchtend, im Nachmittags-Sonnenschein. Das Kind setzte sich an seinen Rand und spielte mit den Blüten des hohen trockenen Grases rings herum. Da sah es die Kröte!

Das Tierchen hockte auf einer der Stufen im Bruch, vielleicht nur zwei Meter tiefer, und genoss die Sonne.

Das Gisela erschrak. Es wusste noch nichts von den Lebensgewohnheiten solcher Reptilien:

“Die arme Kröte, sie ist bestimmt runtergerutscht! Da kann sie doch nicht bleiben! Zwischen all den Steinen findet sie nichts zu essen. Sie sollte wieder hoch klettern!“

Die Welt des Kindes lag oberhalb des Steinbruchs; genauso müsste auch die Welt der Kröte sein.

“Ich könnte ihr helfen,“ dachte es und begann, die Steine unter ihm genau zu begutachten. Stufe um Stufe studierte es den Abstieg bis zu der Platte, auf der das Tierchen saß. Dann begann es vorsichtig die gewagte Kletterpartie. Sie bewegte sich so behutsam, dass die Kröte gar keine Gefahr spürte, sie zuckte nicht ein einziges Mal. Jetzt stand das Kind schräg über ihr auf einer weit ausladenden Sandsteinplatte.

“Wenn ich mich in die Hocke setze, kann ich sie mit meiner linken Hand erreichen.“

Da erst schreckte die Kröte hoch, doch im selben Augenblick wurde sie von Kinderfingern umschlossen.

Scherenschnitt - Rettung der Kröte, 2010

Erst einmal bewunderte das Mädchen die winzigen Finger des Tieres, die sich auf seinen Daumen gelegt hatten. Dann richtete es sich auf, um wieder hoch zu klettern. Gerade, als ein Fuß nach dem nächsten Halt suchte, löste sich der Stein, auf dem der andere Fuß stand. Er rutschte nach unten, und genauso langsam rutschte der kleine Kinderkörper mit ihr. So oft die rechte Hand nach einem größeren Stein griff, genauso oft löste der sich oder war einfach zu breit für die Hand des Kindes.

Es war nicht möglich, beide Hände zu benutzen, denn die linke hielt ja die Kröte. Das Tier durfte auf keinen Fall Schaden nehmen. So eine Rutschpartie wäre sein sicherer Tod.

Dann blieb die Platte an einem breiten Vorsprung hängen. Gisela blickte in die Höhe und wusste, dass ein Aufstieg nicht mehr möglich wäre. Also weiter nach unten krabbeln und rutschen. Es hatte keine Angst. Ohne zu weinen ließ es seinen sonderbaren Abstieg geschehen.

Senkrecht gesehen waren es von ganz oben bis zur Sohle des Steinbruchs etwa fünfzehn Meter. Darum dauerte es eine geraume Zeit, bis das Kind endlich unten angekommen war, die Hand mit der Kröte an die Brust gepresst.

Der rechte Arm und die Beine hatten Schürfwunden. Doch das zählte nicht. Ob das Kleidchen beschädigt wäre, darüber dachte das Kind gar nicht erst nach. Wichtig war jetzt nur der Weg nach Hause. Zuerst müssten der Garten und das neue Haus im Bruch erreicht werden. Von der Gartenpforte aus kannte es den Weg zurück. Das Tierchen sollte nicht hier unten leben müssen. Sicherlich war es von oben her in den Steinbruch gerutscht. Also müsste es oben im eigenen Garten wieder frei gelassen werden. Das Mädchen sah auch schon genau die Mauerspalte vor sich, die das Zuhause für seine gerettete Kröte werden sollte …

Grabrede

Reinhild regte sich über die seichte Grabrede aus nichtssagenden Worten mehr auf als über seinen Tod. Schließlich war er schon 83 Jahre alt gewesen.

Sie hatte ihn sehr gern gehabt. Als Kind nahm er die Rolle ihres Vaters und ihres Großvaters ein. Er war Alles für sie; sie hatte sich bei ihm wohl gefühlt, geborgen. Es war grenzenloses Vertrauen zu ihm, Urvertrauen.

Sie war schon vier Jahre alt, als sie seine bedingungslose Zuneigung spürte, etwas, was ihr richtiger Vater nur wenige Male als Kriegsurlauber gegeben hatte, was sie bei ihrer Mutter vermisste.

Denn deren Kinder hatten zu funktionieren. Es gab keinen Raum des Einfühlens für das eine ihrer vier Kinder, das zurückgezogen in seiner eigenen Welt lebte.

Reinhild hörte ihrer Mutter spätere Beschwerden immer noch: 'Du warst ein ganz verstocktes Kind; du hast nicht essen wollen; du bist nicht trocken geworden bis in die Schulzeit; du hast fast alles vergessen, was dir aufgetragen wurde; du bist immer unwillig gewesen …'

Wie hätte sie als Kind begreifen sollen, weshalb ihre Mutter sie nicht mochte? Jetzt wusste sie: mit ein klein wenig Anerkennung von außen her wäre sie aus ihrem Teufelskreis herausgekommen.

Ihr Onkel, nein, Mutters Onkel Karl übersah solche Ungereimtheiten, ihre kindliche Unzufriedenheit. Sie hörte keinen Tadel von ihm, er hatte immer Zeit für sie. Und vor Allem: er trug sie oft auf dem Arm!

Reinhild zupfte gerne an seinen großen weichen Ohrläppchen oder streichelte die gespannte Haut einer breiten Nackennarbe aus dem Ersten Weltkrieg. So ganz nah bei ihm konnte sie nichts Böses erreichen; da war sie sicher …

Sie sah jetzt noch seine blitzeblanken blauen Augen und fühlte die liebe Geduld, die er ihr entgegengebracht hatte.

Scherenschnitt - Die Kleine, 1994

Als sie sich vor Jahren Gedanken zu dieser Zuneigung machte, war ihr eine Erzählung ihrer Mutter eingefallen:

Onkel Karl sollte als junger Mann nur noch Augen für die junge Martha, für Reinhilds Oma, gehabt haben. Sie jedoch heiratete nicht ihn, sondern seinen Bruder Ludwig.

Reinhild hatte eine Erklärung gefunden: Vielleicht, um Martha nicht ganz zu verlieren, vielleicht, dass er nach einem Menschen griff, der auch in ihrer Zuneigung lebte: Marthas Freundin Hanna wurde seine Frau.