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Verdammte Drecks-Mist-Wanderung, verdammte! Theophil Kornmeier ist ein komischer Typ – schräg, einsilbig und geplagt von einem unverarbeiteten Trauma: Als er selbst noch ein Kind war, ist sein Bruder bei einer Alpenüberquerung abgestürzt. Er beschließt, sich seiner Vergangenheit zu stellen: mit einer Alpenüberquerung. Weil er in puncto Wandern allerdings komplett unerfahren ist, schließt er sich einer Wandergruppe an: die schlechteste Idee seines Lebens. Denn nicht nur ein verbissener Hochleistungs-Opa, eine verführerische Alpen-Lolita und der wenig motivierte Wanderführer Josef bringen Kornmeier über seine Grenzen. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, treibt ein skrupelloser Mörder in der Einsamkeit steiniger Pfade und heimeliger Berghütten sein Unwesen …
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Noch vier Wochen, dann würde es losgehen mit der Alpenüberquerung, vier Tage solo, dann von Oberstdorf nach Meran, mit einem Wandergrüppchen. Auch das würde eine Herausforderung werden. Irgendein Irrer war ja immer dabei.
Doch Theophil Kornmaier ahnt trotz der ihm angeborenen Skepsis nicht, worauf er sich wirklich eingelassen hat. Und so wird der Wandertrip nicht nur zu einer Geduldsprobe, sondern auch zu einem mörderischen Erlebnis.
Die Nebelfresser sind es gewesen.
Sie haben ganz oben gesessen, ganz still und stumm. Haben gewartet, eingehüllt in graue Wolkenkleider, und sie haben Geduld bewiesen.
Und dann ist es so weit. Da kommen welche. Endlich.
Ganz zart und sachte bringen sie die kleinen Kiesel ins Rutschen. Ihre roten Mützen leuchten, aber nur einen Meter weit, weil doch die Wolken da sind, die dunkelgrauen.
Und ihre Mundwinkel, die heben sich ein kleines bisschen, verschmitzt, und ihr Blick geht flink hin und her, zwischen den Augen der anderen und den kleinen Steinchen, und ihr Mutwille macht sie fröhlich.
Im Rutschen ist schon ein kleines Kullern zu hören, und die Nebelfresser müssen aufpassen, sonst prusten sie los und verderben alles, und so beißen sie sich auf die Lippen und schnipsen noch ein Steinchen hinterher.
Da ist das Rutschen schon besser zu hören, und aus dem Rutschen tönt ein Geräusch hervor, immer lauter und mächtiger, ein herrliches Poltern und Krachen. Ein Felsbrocken springt zu Tal, übermütig und befreit aus seinem langen Verharren. Die Sprünge werden weiter und höher, und der Fels dreht sich im Sprung und wird immer wilder in seinen Kapriolen, mit denen er den Berghang hinabbockt.
Und oben die kichernden Geister. Jetzt hört Kornmaier sie, diese Geister, und wie sie kichern, und er sieht den springenden Felsen, und er sieht, wie sein Bruder Matti vor ihm, wie der von dem Felsen mitgerissen wird, fort und hinab in das dichte Grau der tiefhängenden Wolken und hört erst den Schrei seines Bruders und dann den seiner Eltern.
Theophil Kornmaier schreckte aus dem Schlaf hoch.
Er lag auf dem Rücken, blickte zur Decke und kehrte nur langsam aus seinem immer wiederkehrenden Albtraum in die Realität zurück.
Alles hatte sich so zugetragen, damals, als er zehn Jahre alt gewesen war.
Nur die Nebelfresser, die hatte er damals nicht sehen können. Hatte er sie gehört? Er wusste es nicht mehr.
Kornmaier schloss die Augen wieder und rollte sich auf die Seite. Verharrte einen Moment in diesem elenden Gefühl, etwas aus der Traumwelt in den Vormittag mitnehmen zu müssen.
Die ganze Therapie bei Frau Sollenhauer war irgendwie für die Katz. Er war sechsundvierzig und immer noch zog ihn dieser Traum hinunter in den Abgrund seiner Vergangenheit, lag dann wie grauer Morgennebel über seinem Leben und wurde manchmal so dicht, dass ihn dieses Traumgefühl auch tagsüber in einer melancholischen Schwere versinken ließ.
Vor einem Jahr hatte er sich überwunden und war bei Frau Sollenhauer gelandet. Der Neffe des Schwagers seines Freundes Otto war auch bei der. Und da sollte sie Wunder bewirkt haben. Der Knabe hatte seine Medikamente abgesetzt und klaute keine Autos mehr. Das war doch was.
Otto hatte gesagt: »Da gehst du jetzt hin, ist ja nicht mehr mitanzusehen.«
Und Kornmaier war gegangen.
Nun war er seit einem Jahr da, aber irgendwie ging es nicht voran.
Seit einem Jahr wanderte sein Blick über den kleinen Buddha, der schräg hinter Frau Sollenhauer auf einem Regal stand. Seit einem Jahr wunderte er sich über einen Nagel in der Wand, der dort wohl mal etwas gehalten hatte, aber was?
Seit einem Jahr legte er seine Jacke über die Sessellehne und bugsierte seinen Körper, den Körper eines ehemaligen Cruiser-Boxers, in Frau Sollenhauers kleines Sesselchen.
Seit einem Jahr versuchte sie, ihn mit dem Satz »Und das macht Sie jetzt traurig« aus der Reserve zu locken.
Nichts.
Was auch immer es war, es wollte nicht. Bockte. Trotzte.
Also hatte Frau Sollenhauer eines Tages gesagt: »Herr Kornmaier, wir machen jetzt mal, ich meine, Sie machen jetzt mal eine Exposition in vivo.«
Und Kornmaier hatte geguckt und gefragt: »Aha, eine Exposition in vivo?«
Und die Sollenhauer darauf: »Ja, eine Exposition in vivo. Da gehen Sie in die Berge und setzen sich der Situation von damals aus.«
Da hatte es Kornmaier geschüttelt, das war das Letzte, was er wollte, und da wusste er, das musste er jetzt machen.
Am Wochenende darauf hatte er angefangen zu recherchieren.
Wanderungen und die Alpen. Und Oberstdorf natürlich. Da in der Nähe war es ja passiert. Auf dem Weg zur Kemptner Hütte.
Er hatte auf seinem Laptop herumgetippt, auf Bergpanoramen vor knallblauen Himmeln mit fröhlichen Menschen in bunten Hemden geschaut, und schon das konnte er nur mit etwas Whiskey ertragen.
So weit würde es noch kommen. Dass er anfing zu saufen. Mit einem Flachmann über die Alpen, sehr lustig. Er war aufgestanden, hatte die Whiskeyflasche in seiner Bar verstaut und in der Küche seine Ingwerkeksvorräte inspiziert. Gefahr in Verzug. Die letzte Packung war angebrochen.
Für einen Moment hatte er innegehalten. Ein paar Packungen würden doch wohl in den Rucksack passen?
Kornmaier war ans Küchenfenster getreten und hatte in den Hof geblickt. Efeu kroch dort unten über jedes freie Fleckchen und begann ein leichtsinnig abgestelltes Fahrrad zu befühlen.
Er in den Bergen.
Überall würden Felsen sein. Tödliche Waffen, die Leben zerstörten. Diese Gleichgültigkeit, dieses en-passant, dieser eine kleine Moment, der alles verändert hatte.
Und was würde dann sein, wenn er sich gestellt hätte? Wäre er dann ein anderer? Ging das »so einfach«?
Am Nachmittag streunte er durch Sportfachgeschäfte und drehte Rucksäcke von links nach rechts und von rechts nach links. Probierte Wanderschuhe an, die ihm nicht gefielen, und stolperte in diesen über einen kleinen Indoor-Parcours, um sie zu testen.
Er verfing sich in riesigen Regenponchos und suchte nach dem Loch, durch das man den Kopf stecken sollte. Betastete prüfend die Qualität von Funktionshemden und beschnupperte den merkwürdigen Geruch von wasserfesten Jacken.
Es war eine Katastrophe.
»Die Ästhetik des Bergwanderns ist eine Katastrophe.« Kornmaier blickte auf etwas Atmungsaktives in Neongrün und Lila. Und hatte etwas zu laut gemurmelt.
»Wie bitte?« Eine Funktionswarenfachverkäuferin stand plötzlich neben ihm. Wollte der was klauen oder was kaufen?, fragte sie sich und beäugte ihn misstrauisch. Leinenanzug, wer trug denn heutzutage Leinenanzüge. Bestimmt ein Künstler oder so. Einer ohne Geld, klauen wollen würde der, aufpassen würde sie müssen.
»Gnädige Frau, das Bergwandern, also das kann in Katastrophen enden, da gilt es, sich adäquat auszustatten, was meinen Sie?«
»Ja, allerdings, was brauchen Sie denn?« Keine Sekunde würde sie ihn aus den Augen lassen.
»Softshell, was bedeutet das denn?« Kornmaier beschlich das dumme Gefühl, dass er die Dame nicht mehr loswerden würde.
»Für wenn’s windig ist.« Der wollte doch weder was wissen noch was kaufen. Sie kannte ihre Pappenheimer, ihr machte keiner ein X für ein U vor.
»Aha.« Noch einen Moment stand Kornmaier da, sah sich selbst in einer Kniebundhose und einem Leinenrucksack und beschloss, dass seines Bleibens hier nicht länger sei.
Mit einer kleinen Verbeugung drehte er ab, verließ das Gebäude und fühlte noch draußen den bohrenden Blick der Verkäuferin im Rücken.
Würde er halt aussehen wie aus einem Fünfzigerjahre-Heimatfilm gefallen, fehlte nur noch ein kariertes Hemd.
Kornmaier hatte es sich in seinem geliebten R4, Baujahr 1974, bequem gemacht, saß da und lauschte auf eine Wortfolge, die sich wie ein dämlicher Schlager in seinem Kopf eingenistet hatte. Manchmal verstand er das Leben so was von überhaupt nicht.
Wennschon, dennschon. Wo der Quatsch jetzt herkam, keine Ahnung. Wennschon, dennschon.
Er startete den Motor und fädelte sich Richtung Hofgarten in den Verkehr ein. Er würde irgendwo illegal parken und zum Angermeier gehen. Vielleicht fand er da was Passendes fürs Wandern. Irgendetwas, das nicht zu sehr nach Tracht aussah.
Und später dann ein Abendessen mit Otto, das war genau das Richtige.
Die strenge Gartenanlage des Hofgartens lag im milden Licht der Abendsonne. Boule-Spieler waren da, routiniert zirkelten sie ihre Würfe, vornehm verhalten geriet der Jubel.
Otto wartete schon.
Ein paar Jahre hatte er in Kornmaiers Rechtsanwaltskanzlei gearbeitet. Bis er eine Kneipe für Exzentriker eröffnet hatte, das Miasanmia. Und das Ding lief so gut, dass er die Juristerei ganz an den Nagel gehängt hatte. Jetzt gab Kornmaier dort gelegentlich den Türsteher. »Ein bisschen in Übung bleiben«, hatte er befunden, obwohl seine Präsenz meist reichte. Er guckte dann gutmütig freundlich, schlug mit der rechten Faust kräftig in seine linke Hand, so, dass es ein schönes Geräusch gab, und schämte sich ein bisschen, dass er sich dabei so amüsierte.
»Na? Ausgerüstet?« Otto hob sein Glas und Theophil Kornmaier ließ sich neben ihm auf einen Gartenstuhl fallen.
»Ich verweigere die Aussage. Hast du schon was zu essen bestellt? Hunger!«
Und beide vertieften sich in die Speisekarte und wandten sich damit den wirklich wichtigen Dingen des Lebens zu.
Zwei Tage später waren die Würfel gefallen. Kornmaier war durch eine Reisebuchabteilung geschlendert, hier geblättert, dort gestöbert, seine Blicke über Bildbände mit Bergpanoramen wandern lassen und dann war sein Blick auf ein Regal gefallen.
Lauter kleine Bücher mit roten Rücken hatten da gestanden. Er hatte den Kopf schief gelegt und gelesen: Fernwanderweg E5. Klang irgendwie nach Lebensmittelvergiftung.
Vorsichtig zog er das Buch heraus. Das war es doch. Wennschon, dennschon.
Jetzt würde ihn der Quatsch in Ruhe lassen.
Geh ich eben den E5. Von Bregenz nach Bozen.
Nicht kleckern, klotzen, da würde die Sollenhauer aber gucken. Dreihundert Kilometer in vierzehn Tagen. So ungefähr jedenfalls.
Jetzt saß er in seiner Rechtsanwaltskanzlei Kornmaier & Partner mit Blick auf die Isar und biss in einen Ingwerkeks.
Dreihundert Kilometer. Er holte einen Taschenrechner aus seiner Schreibtischschublade. Wie viele Kilometer waren das denn pro Tag? Etwas mehr als zwanzig. Das war er früher lässig gejoggt. Kornmaier verharrte einen Moment, bevor er wieder in den Keks biss. Seit früher waren allerdings fünfzehn Jahre vergangen. Wie fit war er eigentlich noch? Ob er wohl etwas trainieren sollte?
Mit einem Seufzen griff er nach einer Akte und ließ Frau Rübli kommen, um seine Termine zu besprechen. Irgendwie musste er jetzt erst mal zwei Wochen freischaufeln.
Johanna K. hatte gerade ihren zweiten Orgasmus gefeiert und guckte zur Uhr, um zu prüfen, ob es noch für einen dritten reichen würde. Leider nein. In einer halben Stunde musste sie zur Uni, und es war auch gar nicht so schlecht, da nur mittelbefriedigt zu erscheinen. Männer rochen das zehn Meilen gegen den Wind, und Johanna hätte jede Menge Gelegenheiten, ihrem Hobby nachzugehen.
Sie genoss den Hass der Frauen und sonnte sich in der dümmlichen Bewunderung ihrer Verehrer. In ihrer Gegenwart wurden Männer zu Amöben. Sie liebte es zu beobachten, wie deren Intellekt im Meer des steigenden Testosteronspiegels absoff.
Einen Moment noch betrachtete sie sich in der Spiegelfolie, die sie an die Decke über ihr Bett geklebt hatte. Perfekte Rundungen, nicht zu viel, nicht zu wenig. Sie warf sich eine Kusshand zu, stand auf und zog sich an.
Carmen-Ausschnitt. Das Kleid tomatenrot. Wenn sie sich vorbeugte, waren ihre Brüste in aller Schönheit zu betrachten. Heute wäre wohl der Alex fällig. Der hatte sie schon viel zu lange ignoriert. Johanna lächelte ihrem Spiegelbild zu.
Sie war jung, sie war schön. Ein Geschenk.
»Johanna, du bist jung, du bist schön. Das ist ein Geschenk, nutze das.« Johannas Großmutter hatte das öfter mal gesagt, so unter vier Augen und irgendwie bedeutungsschwanger. Aber sie hatte das ohne einen expliziten Auftrag gesagt. Sie hätte ja auch sagen können: »Johanna, krall dir den Chefarzt in unserem Kreiskrankenhaus, wenn du mich da mal besuchst.« Oder: »Johanna, den Notar für meine Erbschaftssachen, den nimmste dir, der hat Schotter.« Nein, nichts davon. Vielleicht hatte sie auch nur sagen wollen: »Johanna, hab so viel Sex, wie du willst. Ein jeder wird dankbar sein, dich auf diese Weise kennenlernen zu dürfen.« Ja, so hätte sie es auch meinen können. Johanna blickte versonnen in eine unbestimmte Ferne, wusste, auch ohne in den Spiegel zu schauen, wie schön sich die Strahlen der Morgensonne in den Goldfäden ihrer kastanienfarbenen Haare verfingen.
Die Großmutter war tot. Hatte nichts vererbt. Hatte sie einfach nur großgezogen, nachdem Johannas Eltern sie wortlos mit sieben Jahren auf Nimmerwiedersehen verlassen hatten.
Was war also geblieben? Nur dieser Satz.
Du bist jung, du bist schön, nutze das.
Und Johanna nutzte.
Und jetzt diese Bergwanderung. Dafür wollte ihr der Lukas eintausendfünfhundert Euro geben. Nur, damit Johanna seine Schwester begleitete. Sie sei ihm das schuldig, irgendwie. Immer heißgemacht und dann doch nicht in der Kiste gelandet. Das sei abartig fies und wieso sie das mache, und jeder würde doch, nur er nicht, wieso eigentlich, nein, er wolle es nicht wirklich wissen, aber das könne sie jetzt mal machen, als Wiedergutmachung gewissermaßen. Und nicht mal umsonst. Eintausendfünfhundert Euro für acht Tage. Ein gut bezahlter Job.
Dann könnte er nämlich in Ruhe mit seinen BWL-Jungs an den Ballermann. Und seine Schwester, die Laura, die würde ihr Ding mit den Alpen machen können, und seine Nicht-Checker-Eltern, die wären auf den Malediven.
Johanna hatte überlegt, sich alles ein wenig ausgemalt. Dünnes Top, Shorts, dicke Bergstiefel, doch, das würde ihr gefallen. Sie würde aussehen wie aus einem Softporno-Alpenkalender gefallen. Oder eine karierte Bluse, so bauchfrei verknotet und: Zöpfe. Zöpfe würde sie sich flechten müssen! Die Aussicht darauf, eine Bergwandergruppe mit verknöcherten Pärchen zu sprengen, fand sie auch ohne eintausendfünfhundert Euro verlockend. Sie sagte zu.
Johanna wandte sich vom Spiegel ab, legte einen Zettel auf ihren Schreibtisch: YouTube, Gretchenzöpfe, Anleitung.
Sie war jung, sie war schön, ein Geschenk.
Ein bisschen Kondition konnte nicht schaden.
Noch vier Wochen, dann würde es losgehen, vier Tage solo, dann, von Oberstdorf nach Meran, mit einem Wandergrüppchen. Auch das würde eine Herausforderung werden. Irgendein Irrer war ja immer dabei.
Nervensägen, Besserwisser, Angeber, Heulsusen, da wartete ein weites Feld.
Immerhin, bis dahin war er sicher in Form.
Also saß Kornmaier jetzt nach Feierabend, drei Mal in der Woche, auf einem Fahrrad im Fitnessstudio um die Ecke.
Hatte das mit dem Seilspringen gleich wieder gelassen und sich gewundert, dass er das aus seiner aktiven Boxzeit viel weniger anstrengend in Erinnerung hatte. Am Wochenende machte er lange Spaziergänge und lief seine Bergschuhe ein.
Er kaufte eine braune Kniebundhose aus Kord, zwei braun karierte Hemden, ein Paar kurze und ein Paar lange braune Wollstrümpfe, einen seidenen Hüttenschlafsack, ein paar Filzlatschen für die Hütte und nach langen inneren Kämpfen einen original kanadischen Rangerhut, gegen Sonne und Regen. Blasenpflaster, eine kleine Stirnlampe, ein Kompass, ein Klappmesser mit Holzgriff (das zu kaufen hatte am meisten Spaß gemacht), ein kleiner Regenschirm – auf das Gewurschtel mit dem Regenponcho hatte er keine Lust – und eine Trinkflasche aus Metall kamen dazu.
In den riesigen Leinenrucksack passten dann noch drei Unterhosen, drei schwarze T-Shirts, ein knitterfreies schwar-zes Hemd und eine leichte helle Hose, die er platzsparend aufrollte. Seine Wintermütze, Winterhandschuhe und sein Lieblingsrollkragenpullover. Dann hatte er noch eine Windjacke aus den Fünfzigerjahren in Weinrot, und fertig. Ausweis, Krankenkassenkarte, Handy.
Zufrieden hatte er jeden Punkt im Wanderführer abgehakt.
Dann stellt er den Rucksack auf die Waage: sechzehn Kilo.
Acht waren empfohlen. Er würde also insgesamt hundertvier Kilo über die Alpen schleppen. Den Hinweis »so wenig und so leicht wie möglich« ignorierte er, war er doch vor fünfzehn Jahren wirklich fit gewesen.
Die Vorbereitungen waren immer wieder im Wechsel von kleinen Aufwallungen der Vorfreude, einer Beklommenheit, die er aber nicht als Angst bezeichnet hätte, und einer verstärkten Häufigkeit seines Angsttraumes begleitet worden.
Otto hatte den Kopf geschüttelt. »Über die Alpen? Midlife-Crisis, oder was? Leg dir doch lieber ein Motorrad zu. Oder ’ne neue Freundin.«
Und nein, Kornmaier hatte niemandem von seinem Kindheitstrauma erzählt. Auch Otto würde das nie erfahren. Nur die Sollenhauer wusste davon.
»Erstens: neue Freundin, bist du irre? Zweitens: Die Wanderung hat deine Therapiefrau empfohlen, irgendwas mit Horizont und Grenzen erweitern. Also im Grunde ist das deine Schuld.«
»Ach, die Sollenhauer?«
Otto hatte sein Weinglas betrachtet und dann am Bouquet geschnuppert. »Und du fühlst dich fit genug?«
»Nur Zweifel machen schwach.«
Wie recht Kornmaier damit haben sollte, konnte er noch nicht ahnen.
Der Schmerz war tröstlich scharf und kühl, vielleicht weil das Messer so kühl war.
Frisch und unverbraucht quoll das Blut aus dem kleinen Schnitt. Erst wuchs nur eine kleine perfekte Blutperle, die sich dann in einem zarten Gerinnsel verlor. Laura schloss die Augen.
Sie legte das Messer neben sich. Sie musste damit aufhören. Unbedingt. Aber das hatte sie schon oft gedacht. Laura schloss wieder die Augen.
Unten war die Haustür ins Schloss gefallen.
Sie stand auf und trat ans Fenster. Ihre Mutter verstaute gerade eine Sporttasche im Kofferraum ihres Cabrios. Yoga oder Spinning oder Bootcamp, Laura hatte längst den Überblick verloren.
Einmal war sie mitgegangen und war angewidert gewesen. Von ihrer Mutter, wie die da einen auf jung machte mit ihrem Pferdeschwanz. Und von sich. Überall Spiegel, die ihren mageren Körper vervielfältigten. Wie oft hatte sie schon erklären müssen, dass sie nicht magersüchtig war, aber den wirklichen Grund, wie sollte sie den erklären?
Laura hatte nur am Anfang alibihalber ein paar Dips gemacht, sich dann an den Rand gesetzt und auf ihrem Smartphone ein Spiel gespielt.
Enttäuscht und giftig zugleich gucken, ihre Mutter konnte das.
Und jetzt hatte Laura gepennt. War zu spät vom Fenster zurückgetreten. Konnte nicht weggucken, als ihre Mutter hochblickte, sie direkt anschaute und langsam den Kopf schüttelte. In Zeitlupe, voller Verachtung.
Verachtung. Das Wort hallte in Laura nach, und als sich das Tor der Garagenauffahrt schloss, stieß sie einen langen schrillen Schrei aus, der in dem leeren Haus wie in einer schallgedämmten Kabine erstarb.
Was konnte sie noch retten?
Die Hitze lag schwer und brütend über dem Bodensee, dem Städtchen Bregenz und den Bergen, die hier anfingen die Landschaft zu beherrschen, schon eine Ahnung gaben von ihrer Schönheit, ihrer Wildheit und ihrer Gleichgültigkeit den Wesen gegenüber, die auf ihnen herumstiegen, so wie das Meer gleichgültig Menschen trug oder versinken ließ.
Kornmaier hatte ein Taxi zum Hotel genommen, das in dem Örtchen Bildstein lag. Das erste Haus am Platz, nicht ahnend, dass das erste Haus am Platz keine Garantie für Luxus sein würde. Kornmaier hatte ein Faible für Fünf-Sterne-Hotels. Bei dem Wort »Hütte« dachte er an ein Chalet. Auch so ein Irrtum, wie er später noch würde feststellen müssen.
Im Hotel hatte er sich auf den Balkon gestellt und überlegt, was er hier eigentlich gerade machte und wie sehr er nun diesen Spruch »Jede Reise zum Ziel beginnt mit dem ersten Schritt« zum Leben erwecken würde. So banal, so wahr. Ohne den Fuß zum ersten Schritt anzuheben, würde er die dreihundert Kilometer nicht hinter sich bringen können.
Unter ihm lag Bregenz. Die Berge in der Ferne waren nur noch eine in Dunst gehüllte, blassblaue Fläche, und auf dem lichten Himmelsgrund lagerten zerrissene Wolkenformationen. Das Wetter würde doch halten?
Er raffte sich auf und machte einen Spaziergang durchs Dorf. Freute sich über die mit kleinen Holzschindeln bedeckten Hausfassaden und folgte schmalen Bergstraßen, die anstiegen und ihm das Gefühl gaben, dass er topfit sei. Leicht ging das, kein Ding.
Auf dem Rückweg mäanderte er an einer kleinen Wallfahrtskapelle vorbei und blieb stehen. Zwei Jungs hatten da 1629 eine Marienerscheinung gehabt, und nun stand dort dieses kleine Häuschen, das wie ein Bahnwärterhäuschen aussah und ihn anzog mit seiner tröstlichen Biederkeit.
Man konnte eine Kerze anzünden, und Kornmaier nahm eine und zündete sie an, für Matti, und da kam sie, ganz unvermittelt, die Trauer.
In einen Abgrund von Trauer blickte er, kein Boden war zu sehen, so tief ging es hinab.
Nein, nicht jetzt, jetzt war es zu viel, zu früh, zu unerwartet. Er hatte nicht damit gerechnet, nicht hier. Menschen näherten sich, lachten und machten Fotos von sich. Er umrundete die Kapelle, lehnte sich an die Rückwand und wartete, dass die Leute wieder verschwanden.
Tränen waren da, unaufhaltbar, und er hatte das Gefühl, nicht auf sicherem Boden zu stehen. Ein Schwanken kam. Seine Stirn schmerzte vor Verspannung und Unglück.
Das kann ja heiter werden. Das war der einzige Gedanke, den er fassen konnte, und: Matti, mein kleiner Matti.
Das war ein Gedanke, den musste er verbannen, seine Stirn schmerzte unerträglich. Er fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht, blieb einen Moment so, spürte die Wärme seiner Hände und atmete tief ein. Was für ein verdammter Scheiß.
Ganz dünn war die Schicht des Alltags über diesem Unglück. Ganz leicht war sie fort, diese Schicht, so leicht wie ein Seidentuch über einer offenen Wunde, das von einer leichten Brise davongetragen wurde.
Die Leute waren verschwunden, hatten fertig fotografiert, und er musste seine ganze Kraft aufbringen, um nicht in eine Endlosschleife zu geraten: Matti, mein kleiner Matti.
Fünfhundert Kilometer entfernt nahm Gerlinde Graske gerade den Nudelauflauf aus dem Ofen.
»Schatz! Abendessen!«
Sie rückte das Besteck zurecht. Hob den Kopf, lauschte. Er hatte sie nicht gehört.
Sie ging den Flur entlang, klopfte, öffnete die Tür des Arbeitszimmers.
»Essen ist fertig.«
Gerald Luscher hatte es inzwischen drauf. In Sekundenbruchteilen konnte er ein anderes Browser-Fenster öffnen. Immer dann, wenn Gerlinde störte. Und Gerlinde störte oft. Gerlinde war wie seine Mutter.
»Schön, was gibt es denn?«
»Nudelauflauf.«
»Ach toll, ich komm gleich!«
Gerald schloss den Browser, deaktivierte das WLAN und fuhr den Computer in den Ruhemodus. Es war besser, Gerlinde sah nicht, womit er sich so beschäftigte. Sie würde ausrasten.
Nun saßen Gerlinde und Gerald am Tisch und aßen.
Seit sieben Jahren waren sie ein Paar. Kurz nach dem Abi hatten sie sich kennengelernt. Seit drei Jahren wollte Gerlinde heiraten, seit zwei Jahren wollte sie Kinder. Und Gerald mauerte, schob hinaus, vertröstete.
Konnte die Kerzen nicht mehr sehen, die regelmäßig auf dem Abendbrottisch standen, hasste die Spieleabende mit Freunden, die Grillfeste am Baggersee. Beobachtete mit ungerechtem Groll, wie Gerlinde die Küche putzte mit diesem selbstzufriedenen Gesichtsausdruck, und hatte Phantasien, wie er seinen vollen Teller an die Wand warf und zusehen würde, wie die Nudeln langsam die Wand herunterrutschten.
»Und? Kommst du voran?« Gerlinde sprach mit vollem Mund.
»Ganz gut. Musst du mit vollem Mund sprechen?«
Er hatte keine Lust, über seine Diplomarbeit zu reden. Gerlinde fieberte diesem Abschluss entgegen. Dann würden sie heiraten, dann würden sie Kinder bekommen, dann würde Gerlinde endlich eine richtige Familie haben.
Für einen Moment schwieg sie. In der Küche dudelte das Radio.
»Freust du dich auch schon so?« Gerlinde sah ihn fragend an.
»Freuen? Worauf denn?«
»Na, auf unsere Wanderung über die Alpen!«
Freuen war das falsche Wort, so wie das Leben falsch war, in dem er täglich erwachte. Er fand den Ausgang nicht, hatte ihn noch nicht gefunden, musste ihn finden, sonst würde etwas passieren, irgendetwas Schreckliches, irgendetwas, das er bereuen würde.
Wenn er bei seinem Computerspiel ins nächste Level käme, das würde ihn freuen.
»Ach so. Doch, doch.« Kurz war er irritiert. Er hatte das schon wieder vergessen, das mit der Wanderung. Öde Forstwege wurden von Gerlinde zu die Alpen hochstilisiert, typisch.
Gut, dass sie nicht wusste, dass seine Diplomarbeit schon seit einem Jahr fertig war.
29. Juni
Am nächsten Morgen bahnte sich ein Geräusch sanft und stetig in Kornmaiers, aus den Tiefen des Schlafes aufdämmerndes, Bewusstsein. Regen. Trostvoll rauschend.
Er war ans Fenster getreten und hatte auf tiefhängende Wolken geblickt, die die Sicht auf die Berge verschleierten.
Nach dem Frühstück regnete es immer noch. Das Geräusch war nun irgendwie weniger gemütlich, aber Kornmaier hatte auch damit zu tun, sich auf den feierlichen Moment zu konzentrieren: den ersten Schritt zu machen, um vierzehn Tage später ankommen zu können.
Er trat auf die Straße und spannte den Regenschirm auf. Dann hob er den Fuß besonders hoch, dachte Achtung, Achtung, hier kommt der erste Schritt und lief los.
Hinter ihm, in der Dämmerung des Hotelfoyers, stand der Wirt und schüttelte den Kopf.
In den nächsten neun Stunden würde Kornmaier gefühlten 3,8 Menschen begegnen, bei dem Wetter ging niemand aus dem Haus.
Er folgte menschenleeren nassgrauen Sträßchen, ging an Bauernhöfen und Wiesen vorbei, auf denen stoisch Kühe dem Regen standhielten.
Nach dreihundert Metern waren seine Hosenbeine nass, nach fünfhundert Metern seine Schuhe. Zwei Stunden später hatte sich eine klamme Feuchtigkeit durch seine gesamte Kleidung gearbeitet.
Aha. Er würde einen Ratgeber schreiben können nach der Wanderung: Halten Sie durch. Kein Gejammer, so ist das Leben, das ist kein Kindergeburtstag. Es wird auch mal unbequem.
Noch amüsierte ihn der Gedanke, noch.
Nach einer Weile, er war jetzt schon sechs Stunden unterwegs, überlegte er, ob man das auch anders sehen konnte, das mit dem unbequem. Zum Beispiel könnte man ja einen regenfesten Poncho kaufen. Die Vorstellung, den Weg in gemütlicher Trockenheit zurückzulegen, hatte ohne Zweifel etwas für sich.
Als er dann in einem Dorfgasthof mit feuchten Geldscheinen bezahlte, war klar: Er würde das Gewurschtel mit dem Regenponcho in Kauf nehmen müssen.
Gleich morgen.
Noch eine Stunde, dann würde er an einem trockenen Ort den ersten Tag beenden können.
Was für eine tröstliche Aussicht.
Es war Brunis Idee gewesen. Fast.
Sie hatte auf der Hollywoodschaukel gelegen und Detti beobachtet. Wie er da so saß und in seiner Fotozeitung blätterte und nicht hochguckte.
Nicht in den Garten guckte, den sie jetzt drei Stunden lang von Unkraut befreit und gewässert hatte. In dem, zwischen den Buchen hindurch, warm und golden die letzten Sonnenstrahlen des Tages das Sattgrün des Rasens leuchten ließen.
Nicht hochguckte, wenn sie mit ihm sprach und er ihr antwortete. Nein, einfach die Seiten umblätterte, eine um die andere. An den Füßen immer noch die Fahrradschuhe, obwohl er mit denen kaum laufen konnte.
»Detti, ich wünsch mir was von dir.«
»Ja?« Detti blätterte.
»Ich möchte dies Jahr mit dir wandern.«
Schweigen.
»Das wäre auch für dich mal eine Herausforderung. Also, ich meine: was anderes.«
Jetzt blickte Detti auf.
»Herausforderung? Bruni: für dich, für mich sicher nicht.«
Zufrieden blickte Detti, der eigentlich Detlev hieß, wieder in seine Fachliteratur.
»Ach, Detti, mir zuliebe. Unser fünfundzwanzigster Hochzeitstag.«
Und wieder blickte Detti hoch, vernachlässigte für ein paar Sekunden sein eigenes Leben, sah für ein paar Momente auf eine Frau, die er nie wirklich geliebt hatte, es aber nie geschafft hatte, sich das einzugestehen. Der von Bruni mitgerissen worden war, wie ein Blatt im Herbststurm.
Von Bruni, die jetzt ein wenig dicklich um die Taille und mit rot gefärbten Haaren auf der Hollywoodschaukel lag und wie gewohnt sein Leben dirigierte.
»Gut, Bruni. Dir zuliebe. Ich suche aber die Wanderung raus. Eine Überraschung.«
In stiller Genugtuung schabte Detti mit den Fahrradschuhen ein paarmal über den Waschbeton der Terrasse.
Er wollte schon immer mal zu Fuß über die Alpen.
30. Juni
Das Hotel hatte Kornmaier entschädigt.
Ein altes Haus mit altem Holz überall, eine richtige Gaststube mit gescheuertem Dielenfußboden, aus den Rückenlehnen der einfachen Holzstühle war vor langer Zeit ein Herz ausgeschnitten worden.
Simple Brettertische, feines weißes Geschirr, Silberbesteck, Leinenservietten und unfassbar gutes Essen.
Er hatte ein heißes Bad genommen, darum gebeten, seine Klamotten einmal durch den Wäschetrockner zu jagen, und erschöpft und zufrieden gegessen.
Neun Stunden war er unterwegs gewesen, und er hatte sich gut gefühlt, also kräftemäßig. Mal abgesehen von der Schnapsidee, mit einem kleinen Taschenregenschirm über die Alpen wandern zu wollen, lief es doch.
Kornmaier war unternehmungslustig und gut gestimmt. Wäre da nur nicht die Sache mit dem Regen. Kein Laden mit Ponchos weit und breit. Es würde noch mal so gehen müssen.
Es gab für die Strecke von Hittisau hoch zur Hütte Staufner Haus zwei Varianten. Er wählte die längere. Was sollte er ewig in einer Hütte rumsitzen.
Im Wanderführer las er etwas von luftigen Passagen, Drahtseilsicherungen, Kammwanderung und: bei Nässe mit Vorsicht zu genießen.
Na ja, musste er eben etwas aufpassen.
Und es regnete immer noch. In der Hütte würde es sicher einen Kamin geben, da konnte er dann in aller Gemütlichkeit wieder trocknen.
Nach einem Umweg von vier Kilometern – er hatte den richtigen Abzweig verpasst – begann der erste ernsthafte Anstieg.
Aha.
Schon jetzt konnte er verbindlich der verblüfften Weltöffentlichkeit mitteilen, dass die Vorbereitung auf das Bergsteigen mithilfe eines Fahrrades im Fitnessstudio nicht die richtige war. Erkenntnisgewinn des Tages. Dachte er.
Zu seiner Überraschung hatten sich die schmalen Waldwege hoch zur Lochalpe in kleine, tückisch von Wurzeln durchzogene Bäche verwandelt. Jeder Schritt wollte wohlüberlegt sein. Rutschiges Wurzelwerk lauerte darauf, ihn zu Fall zu bringen.
Er sah auf die Uhr. Er war jetzt schon fast zwei Stunden in Verzug.
Oben auf der Lochalpe angekommen, tappte er durch dichten Nebel, vielleicht drei Meter weit konnte er gucken.
So wie damals. Da war auch so eine Wolkenwand gewesen. Damals. Nein, jetzt nicht, nicht jetzt an Matti denken. Den Weg finden, ankommen, Schluss, aus, mehr nicht.
Kornmaier blieb stehen. Da begann sie, die luftige Passage, die Nagelfluhkette. Auf dem schmalen Grat Pfützen, links und rechts ein Abgrund.
Okay.
Man musste auch umkehren können, abbrechen. Wissen, wann es unvernünftig war, weiterzugehen. Auch mal was sein lassen können.
Jetzt nur irgendwie ins Tal kommen, runter auf den anderen Weg, den, der auch zur Hütte führen sollte.
Abkürzen also.
Dritte Erkenntnis: Kürze besser nicht ab, es sei denn, es steht im Wanderführer.
Eine Stunde, hatte auf dem Schild gestanden und: Vorsicht, besonders steiler Weg. Es wurden zwei.
Vierte Erkenntnis: Schilder ernst nehmen. Zumindest wenn es geregnet hat und der Weg zur Rutschpartie verkommen ist.
Graue Wolkenfetzen zogen unter ihm durchs Tal, es hatte aufgehört zu regnen.
Ich radebreche hier den Berg herunter.
Konzentriert bleiben, nicht abrutschen, dann, ganz wichtig: nicht abrutschen, und so als Quintessenz: nicht abrutschen.
Er hatte sich einen knorrigen Ast gegriffen und hoffte, dass der unter seiner Last nicht im entscheidenden Moment wegbrechen würde. Der Weg war nur noch tiefer Morast, steil, ab und zu mit Seilsicherung versehen, weiter unten konnte er Kühe erkennen.
Kühe, dachte Kornmaier, sehr hübsche Tiere. Freundlich schnaubende Geschöpfe, die am Wegesrand standen und die Landschaft noch idyllischer machten. Also, wenn die Sonne schien.
Er hatte nicht geahnt, dass das junge Almrind als solches ein Leben in Langeweile führte, Menschen kaum kannte und sich gern mit der Verfolgung von Wanderern die Zeit vertrieb. Kühe waren als harmlose Haustiere getarnte, trittsichere Terroristen.
So war das.
Als er endlich unten auf der schmalen Talstraße stand, waren seine Hosen bis zu den Knien verschlammt, die Schuhe kaum noch als solche zu erkennen.
Aber: Die Sonne war plötzlich da. Und ein Schild. Staufner Haus: 2,5 Stunden. Irgendetwas war so richtig falschgelaufen, nein, er war so richtig falsch gelaufen, statt der insgesamt fünf war er jetzt schon mehr als sechs Stunden unterwegs. Ohne Proviant.
Kommt vor, gehört dazu. Das Leben ist kein gerader Weg, und Abkürzungen halten Herausforderungen bereit, denen du sonst nicht begegnet wärst.
Kornmaier ächzte. Sein altkluges inneres Kind nervte zunehmend.Freundlich lag das Tal vor ihm, eben ging der Weg dahin, in frisch gewaschenen Farben, Hellgrün, Dunkelgrün, und hinter sommerweißen Wolken dehnte sich ein sommerblauer Himmel. Weiden, Wiesen und ordentliche Kühe hinter Weidezäunen. Versöhnung.
Kornmaier hatte seinen treuen Helfer, den Ast, fortgeworfen und, ohne es gleich so recht zu registrieren, damit begonnen, seine Hände auf dem Rücken und unter dem Rucksack zu verschränken.
Da bahnte sich etwas an. Konnte es wohl sein, zu schwer irgendwie, der Rucksack? Das Ganze?
Er hatte keine Lust, sich damit zu befassen. So ging es ja auch, verschränkte er eben die Hände unter dem Rucksack, fertig.
Etwas anderes beschäftigte ihn mehr. Matti. Das mit der Gruppe war keine gute Idee. Was, wenn er zusammenbrach, wie sollte das gehen so unter Fremden. Peinlich berührt würden die sein und weggucken, oder gut zureden. Katastrophe. Indiskutabel.
Exposition in vivo. Noch so eine Schnapsidee. Erst der Schirm, jetzt überhaupt die ganze Wanderung.
Im Grunde hatte er gerade keine Lust mehr. Kornmaier blieb stehen. Der Rücken schmerzte, die Schultern schmerzten, die Füße schmerzten, und die Erinnerungen, die schmerzten auch. Er steuerte eine Bank an und setzte sich.
Wie spät war es eigentlich. Zur Hütte war es von der Zeit her kürzer, als jetzt noch umzukehren.
Und war das nicht so ein Moment? Wo man aufgeben wollte und es doch nicht tun würde?
Er fand, er war zu alt für solchen Sich-was-beweisen-Kram. Es ging ja auch um Matti, nicht darum, sich was zu beweisen. Oder doch? Ein kleines bisschen?
Noch zwei Stunden vielleicht, dann müsste er doch da sein.
Der letzte Anstieg lag vor ihm. Durch ein Wäldchen, runter zu einem Bach, wieder hinauf, hinauf, hinauf …
Jeden Moment musste doch die Hütte auftauchen.
Immer öfter blieb er stehen, immer öfter tat er so, als wolle er nur die Landschaft genießen.
Den lieblichen von Tannen bestandenen Bergrücken auf der anderen Seite des Tales. Die feine blaue Kontur der hohen Bergketten dahinter. Die Wolkenschiffe, die in langen Reihen grau und weiß und hoch aufgetürmt gemächlich über den Abendhimmel zogen. Die Sonne, die schon sank und einen Teil des Tales bereits in blauer Dämmerung versinken ließ.
Er hatte sich überschätzt. Gründlich. Fundamental. Epochal.
Nur weil er jedes Marmeladenglas aufkriegte und jeden unliebsamen Gast aus Ottos Miasanmia befördern konnte, bedeutete das nicht, dass er fit war. Seine Kondition war unter aller Kanone.
Kornmaier blickte in das erbarmungslose Auge der Erkenntnis. Da hatte er sich ja schön was vorgemacht. Schon länger. Schon einige Jahre.
Wo war die verdammte Hütte.
Zehn Schritte, Pause. Zehn Schritte, Pause. Zehn Schritte, Pause. Der Rucksack fünf Zentner schwer.