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Gibt es Dunkle Materie wirklich? Das Standardmodell der Kosmologie ist das heute am besten etablierte Weltbild dessen, wie das Universum entstanden ist, wie es sich seitdem entwickelt hat und woraus es besteht. Doch entdecken Forschende immer wieder Phänomene, die dieses Modell in Erklärungsnot bringen. Der renommierte Astrophysiker Dr. Marcel S. Pawlowski schildert in diesem Buch wie bestimmte Galaxien und deren Begleitergalaxien dieses Weltbild und die Existenz von Dunkler Materie herausfordern. Er zeigt, wie die Wissenschaft mit gefundenen Widersprüchen umgeht und welche Alternativmodelle in Erwägung gezogen werden. Ein faszinierender, allgemeinverständlich aufbereiteter Einblick in die aktuelle Forschung der Astronomie und die großen Rätsel des Universums.
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Seitenzahl: 353
Marcel S. Pawlowski
Von tanzenden Galaxien, Dunkler Materie und anderen kosmischen Rätseln
Marcel S. Pawlowski
Von tanzenden Galaxien, Dunkler Materie und anderen kosmischen Rätseln
Neue Erkenntnisse aus der Wissenschaft
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Originalausgabe
1. Auflage 2025
© 2025 by Finanzbuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Türkenstraße 89
80799 München
Tel.: 089 651285-0
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Redaktion: Redaktionsbüro Diana Napolitano, Augsburg
Umschlaggestaltung: Pamela Machleidt
Umschlagabbildung: NASA, H. Ford (JHU), G. Illingworth (UCSC/LO), M.Clampin (STScI), G. Hartig (STScI), the ACS Science Team, and ESA
Satz: abavo GmbH, Buchloe
eBook: ePUBoo.com
ISBN Print 978-3-95972-788-4
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-98609-540-6
Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter
www.finanzbuchverlag.de
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Vorwort – Warum dieses Buch?
Prolog – Was ist unser kosmologisches Weltbild und wie gewiss sind wir uns darin?
Die kosmische Rollenbesetzung
Was bisher geschah …
Teil 1 Zählen wir doch einfach einmal: Das Problem der fehlenden Zwerggalaxien
Kapitel 1 Was ist eine Galaxie?
Nebulöse Objekte im All
Die Große Debatte
Astronomische Entfernungsmessungen
Der Brief, der Shapleys Universum zerstörte
Galaxien und unsere galaktische Nachbarschaft, die Lokale Gruppe
Wie entdeckt man eine Satellitengalaxie um die Milchstraße?
Wie definiert man »Galaxie«?
Kapitel 2 Wie sagen wir die Entstehung von Galaxien vorher?
Wie berechnen wir ein Universum?
Holmberg geht ein Licht auf
Frühe Computersimulationen
Ein ganzes Universum im Computer
Das Problem der fehlenden Satellitengalaxien
Nomen est omen
Kapitel 3 Wie lösen wir das Problem der fehlenden Satellitengalaxien?
Wie entstehen Sterne?
Wie entstehen Sterne im Computer?
Von Skalen und Größenordnungen
Wie bleibt eine Galaxie dunkel?
Teil 2 Was so eine Zwerggalaxie »wiegt«: Ist die Dunkle Materie falsch verteilt?
Kapitel 4 Wie misst man die Masse einer Zwerggalaxie?
Eine kurze Geschichte der Spektroskopie
Von Doppelsternen und Trompeten auf der Eisenbahn
Kapitel 5 Von der Geschwindigkeit von Sternen in Zwerggalaxien zur Verteilung ihrer Masse
Wir wiegen eine Zwerggalaxie
Zwerggalaxien: Die dunkelsten Galaxien
Core-Cusp-Problem
Too-Big-To-Fail-Problem
Kapitel 6 Wie alternative Typen Dunkler Materie kosmologische Probleme lösen
Warme Dunkle Materie
Selbstinteragierende Dunkle Materie
Teil 3 Die haben den Dreh raus: Überraschende Regularität in der Rotation von Galaxien
Kapitel 7 Von der Erfindung der Radioastronomie zur Messung von Rotationskurven
Ein neues Fenster für die Astronomie
Ein wenig Mathematik zu den Rotationskurven
Radioastronomie als Chance für die Messung von Rotationskurven
Radiointerferometer und die Messung präziser Rotationskurven
Beobachtete Rotationskurven
Kapitel 8 Seltsame Regelmäßigkeiten in Rotationskurven
Die Tully-Fisher-Relation
Andere Relationen
Eine fundamentalere Relation – oder gar ein neues Naturgesetz?
Kapitel 9 Eine radikale Alternative zur Dunklen Materie
Können baryonische Effekte oder alternative Formen der Dunklen Materie helfen?
Ist das Gravitationsgesetz falsch?
MOND-Aufgang
MOND macht Vorhersagen – und ist erfolgreich
Galaxienpaare
MOND sieht doppelt
Es passt nicht überall – wie Galaxienhaufen MOND zerschießen
MOND und die Kosmologie
MOND versus Dunkle Materie
Teil 4 Der Tanz der Zwerggalaxien: Das Problem der Satellitengalaxienebenen
Kapitel 10 Die seltsame Verteilung und Bewegung der Satellitengalaxien
Erstaunlich geordnete Satellitengalaxien
Die Bewegung von Zwerggalaxien am Himmel
Von Weltraumteleskopen zur Interpretation von Eigenbewegungen in Hollywood
Der Tanz der Zwerggalaxien
Kapitel 11 Das Satellitengalaxienebenen-Problem
Wie Satellitengalaxien sich verteilen und bewegen sollten
Ist die Milchstraße eine Ausnahme?
»Schau mal, was ich gefunden habe«
Warum das Satellitengalaxienebenen-Problem nicht einfach zu lösen ist
Kapitel 12 Gezeitenzwerggalaxien als eine mögliche Lösung
Wenn zwei Galaxien sich ganz doll lieb haben
Gezeitenzwerggalaxien
Kann MOND das Gezeitenzwerggalaxien-Szenario retten?
Die Antwort ist … noch nicht bekannt
Epilog – Multiple Lösungsalternativen als Chance für wissenschaftlichen Fortschritt
Glossar
Dank
Anmerkungen
Über den Autor
Warum dieses Buch?
Was verbindet das Haar einer Astronautin mit tanzenden Galaxien? Wie hängen Galaxien aus Glühbirnen mit Computersimulationen des gesamten Universums zusammen? Warum hat eine Zugfahrt mit Blechbläsern den Grundstein gelegt für das Wiegen von Zwerggalaxien?
Dies sind einige der skurrileren Fragen, die im Laufe dieses Buchs beantwortet werden. Es handelt davon, wie bestimmte Galaxien unser gegenwärtiges Verständnis vom Ursprung und von der Entwicklung des Universums herausfordern. Gerade im Bereich der (kosmologisch) kleinsten Objekte, den Zwerg- und Satellitengalaxien, gibt es eine ganze Reihe von Problemen mit dem Standardmodell der Kosmologie, das auf der Annahme der Existenz von kalter Dunkler Materie beruht. Im Buch stelle ich einige dieser in der aktuellen Forschung intensiv diskutierten Probleme vor. Dabei erörtere ich insbesondere die ihnen zugrunde liegenden Beobachtungen detailliert, von ihren historischen Ursprüngen bis hin zu revolutionären Fortschritten der letzten Jahre.
Probleme sind in der Wissenschaft immer auch Herausforderungen der Natur an die Wissenschaftler, geeignete Lösungen zu finden. Und so werde ich anhand der aufgezeigten Probleme darstellen, welche Lösungsmöglichkeiten von Astronomen diskutiert werden. Diese steigern sich im Verlauf des Buchs von Veränderungen in kosmologischen Computersimulationscodes, die das zugrunde liegende Dunkle-Materie-Modell unberührt lassen, über Modifikationen in den angenommenen Eigenschaften der Dunklen Materie, bis hin zu der radikalen Alternative, die Gravitationsgesetze zu modifizieren, statt die Existenz von Dunkler Materie zu postulieren.
Das Buch gliedert sich in vier Teile. In jedem Teil wird je ein Problem, ein Rätsel für das Standardmodell der Kosmologie behandelt. Also ein (scheinbarer) Widerspruch zwischen dem beobachteten Universum und dem Modell der Kalten Dunklen Materie. Astrophysikalisches Vorwissen wird dabei nicht vorausgesetzt, nur eine Portion Neugierde und Interesse am Thema. Jeder Teil besteht aus drei Kapiteln. Im ersten wird zunächst mit einer ausführlichen Beschreibung der historischen Entwicklungen und Beobachtungsmethoden begonnen, die zu den entsprechenden Rätseln geführt haben. Im anschließenden Abschnitt wird jeweils diskutiert, wie aus dem kosmologischen Modell Vorhersagen getroffen werden und inwiefern diese Vorhersagen mit den Beobachtungen in Widerspruch stehen. Im dritten Kapitel wird dann immer ein Ansatz präsentiert, wie Astrophysiker versuchen, diese Probleme zu lösen.
In Teil 1 geht es zunächst darum, was Galaxien eigentlich sind, und wie die kleinen Begleitergalaxien unserer Milchstraße entdeckt wurden. Auch erkläre ich, wie kosmologische Computersimulationen Vorhersagen machen. Aus diesen erwartete man ursprünglich sehr viel mehr kleine Galaxien als tatsächlich gefunden wurden, was zum »Problem der fehlenden Satellitengalaxien« geführt hat. Moderne Simulationen bieten hier aber einen Ausweg.
Anschließend handelt Teil 2 davon, wie wir die Masse von Zwerggalaxien bestimmen. Die daraus abgeleitete Verteilung der Dunklen Materie in diesen Galaxien ist anders als von kosmologischen Simulationen erwartet. Eine mögliche Lösung ist, dass die Dunkle Materie etwas andere Eigenschaften hat als im simpelsten Modell.
Teil 3 handelt von der Rotation von Spiralgalaxien sowie von der Entwicklung der Radioastronomie zu modernen Messungen, die zeigen, dass die Rotationsgeschwindigkeiten sich sehr viel geregelter verhalten, als man dies im Modell der Dunklen Materie eigentlich erwarten würde. Was wiederum eine radikale Alternative motiviert, die lieber die Gesetze der Gravitation selbst modifiziert, als auf die Dunkle Materie als ein neues Elementarteilchen zu setzen.
In Teil 4 geht es schließlich um den »Tanz« der Zwerggalaxien um die Milchstraße, welcher geordneter ist, als im kosmologischen Standardmodell erwartet. Die zuvor diskutierten Lösungsansätze scheinen hier nicht weiterzuhelfen, was dies zu einer besonders schweren Herausforderung für das Modell der Dunklen Materie macht.
Auf mathematische Herleitungen und komplexe Gleichungen soll dabei weitestgehend verzichtet werden. Die gezeigten wissenschaftlichen Diagramme und Grafiken basieren auf echten Daten, wurden aber so dargestellt, wie ich sie per Hand skizzieren würde, um Zusammenhänge anschaulich zu erläutern. Auch konkrete Messwerte und Parameter werde ich oft nur näherungsweise angegeben. Daher verzichte ich darauf, Messunsicherheiten zu nennen, wie dies bei wissenschaftlichen Fachartikeln üblich wäre. Denn das Ziel soll es sein, ein allgemeines Verständnis zu vermitteln, wie wir uns Wissen über das Universum erarbeiten. Und nicht, ein detailliertes Lehrbuch zu schreiben. Entscheidend sind häufig ohnehin nur die Größenordnungen.
Solche Größenordnungen wiederum werden in der Wissenschaft oft mittels Zehnerpotenzen beschrieben. Dabei beschreibt der Exponent die Anzahl an Nullen vor dem Komma, wenn er positiv ist. Also 101 für 10, 102 für 100, 103 für 1000 und so weiter. Und die Anzahl der Nullen nach dem Komma, wenn er negativ ist. Also 10–1 für 0,1, 10–2 für 0,01, 10–3 für 0,001 und so weiter. Der Grund für die Verwendung dieser Schreibweise leuchtet ein, wenn man sich bewusst macht, dass es in der Astrophysik Zahlen wie 6 × 1024 gibt (die ungefähre Masse der Erde in Kilogramm), die wir anderweitig als 6.000.000.000.000.000.000.000.000 schreiben müssten.
Aber keine Sorge, ich werde versuchen, diese Größenordnungen nicht bloß als Zahl anzugeben, sondern auch intuitiver begreiflich zu machen. Astronomische Themen haben immer die Schwierigkeit, von den größten Strukturen im Universum, unfassbaren Entfernungen, immensen Zeiträumen und extrem hohen Energien zu berichten. Also sehr weit entfernt von unserer alltäglichen Erfahrungswelt zu sein. Um dieses Universum in menschlich vorstellbare Größenordnungen zu übersetzen, werden daher hier und da Analogien aufgestellt. Es spricht dabei von der schieren Größe des Universums, dass wir selbst bei diesen Analogien nicht auf der Oberfläche der Erde bleiben können. Und so kommt es zur eingangs erwähnten Astronautin, die wir im Laufe des Buchs ein wenig auf ihrer Reise von der Erde zum Mond begleiten, um als Analogie für einige der behandelten Phänomene zu dienen.1
Meine dem Buch zugrunde liegende These ist, dass wir gut daran täten, die Vielzahl an wissenschaftlichen Ansätzen willkommen zu heißen, wenn wir die beschriebenen Probleme lösen und mehr über Galaxienentstehung und die Natur der Dunklen Materie erfahren wollen. Die Vielfalt der – allesamt auf der wissenschaftlichen Literatur basierenden – Lösungsansätze, die vorgestellt werden, zeigt, dass wir Wissenschaftler von einer multiperspektivischen Herangehensweise profitieren können. Vorausgesetzt, wir sehen nur aufmerksam und offen genug hin und ziehen auch Ansätze, die uns selbst zunächst vielleicht weniger überzeugen, ehrlich und unvoreingenommen in Betracht. Und hinterfragen ebenso unsere eigenen, von uns persönlich präferierten Modelle, um eine breitere Perspektive auf die nach wie vor offenen und drängenden Forschungsfragen zu ermöglichen.
Was ist unser kosmologisches Weltbild und wie gewiss sind wir uns darin?
Wir Menschen sind neugierige Wesen. Nachdem erst einmal die Grundlagen der Existenz wie Nahrung und Schutz vor den Elementen sichergestellt waren, stellten wir uns jedenfalls rasch die Frage: Was soll das alles eigentlich? Was ist die Welt, wo kommt sie her, was machen wir darin, und warum passieren die Dinge so, wie sie nun einmal geschehen? Die Frage, ob wir dies denn überhaupt herausfinden können oder warum wir das überhaupt wissen müssen, spielte hingegen eine höchstens untergeordnete Rolle.
Schnell entwickelten verschiedene Kulturen ihre eigenen Formen von Kosmogonie (nach dem Altgriechischen Begriff für die Weltzeugung). Diese Geschichten von der Entstehung der Welt entstanden zweifellos in produktiver Zusammenarbeit mit einigen der größten Stärken von uns Menschen: der Kreativität und der Fantasie, welche eng verknüpft mit Mythologie und Religion waren.
Für viele Jahrtausende schien die Menschheit mit derartigen Erzählungen zufrieden zu sein. Aber, und auch das liegt scheinbar in unserer menschlichen Natur, früher oder später verderben wir einander den Spaß. So geschehen auch mit den fantastischen Erzählungen, wie denn die Welt entstanden sei. Damit ist es allerspätestens mit dem Aufkommen der modernen Naturwissenschaft in den letzten paar Hundert Jahren vorbei. Seitdem begannen Wissenschaftler zu fragen: Diese Geschichten sind ja schön und gut, aber was ist denn nun wirklich passiert?
Und so machte die Kosmogonie Platz für die Kosmologie, die »Lehre von der Welt«, welche ebenso von uns Menschen eine Menge Kreativität erfordert. Die Kosmologie ist in ihren Prozessen, Bestandteilen und Größenordnungen gar nicht einmal weniger fantastisch als die früheren Erzählungen zum Weltanfang: ein schier unendliches Universum, entstanden aus einer Singularität in einem unfassbar heißen Urknall vor Milliarden von Jahren, das sich seitdem ausdehnt. Ein Universum, in dem Galaxien aus Abermilliarden von Sternen entstehen und kollidieren. Ein Universum, das erfüllt ist von einer Dunklen Materie, die wir weder sehen, fühlen noch (bislang) direkt messen können, die aber entscheidend dazu beigetragen hat, dass Galaxien, ihre Sterne und Planeten, aber auch wir, heute existieren.
Die Wissenschaft der Kosmologie erhebt jedoch einen zusätzlichen Anspruch, und zwar: Das alles ist wirklich passiert, und es lassen sich zudem Nachweise dafür finden. In den modernen Naturwissenschaften ist das Überprüfen und Vergleichen des Modells, insbesondere seiner Vorhersagen, mit konkreten Beobachtungen und quantitativen Messungen, zu einem entscheidenden Bestandteil der Vorgehensweise geworden. Das beinhaltet aber auch, das Modell immer wieder nicht nur zu hinterfragen, sondern – sollte es auf eklatante Schwierigkeiten stoßen, mit tatsächlichen Beobachtungen im Einklang zu stehen – auch die Bereitschaft, es anzupassen, zu modifizieren oder es womöglich sogar aufzugeben und an seiner Stelle ein alternatives Modell zu etablieren.
Genau um derartige Tests geht es in diesem Buch und darum, wie wir mit gefundenen (scheinbaren) Widersprüchen umgehen, wie wir Lösungen für Herausforderungen suchen, aber auch welches Alternativmodell wir als Astrophysiker in Erwägung ziehen könnten. Unser heute am besten etabliertes kosmologisches Modell, also unser Weltbild dessen, wie das Universum entstanden ist, wie es sich seitdem entwickelt hat und woraus es besteht, bildet somit den Ausgangspunkt für dieses Buch. Daher werde ich dieses Standardmodell der Kosmologie im Folgenden kurz einführen. Es dient als allgemeiner Überblick und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.2
Dabei werde ich zunächst nicht zu sehr ins Detail gehen und mich auf die allgemeinen Grundzüge konzentrieren. Stattdessen wird der spätere Schwerpunkt des Buches darauf liegen, wie das Modell Vorhersagen für Galaxien macht, wie diese mit Beobachtungen des Universums verglichen werden und dass jene Vergleiche teilweise zu deutlichen Widersprüchen führen. Darauf wiederum reagierten und reagieren Wissenschaftler in unterschiedlichen Weisen. Und so wird sich zeigen, dass manche Probleme des Standardmodells der Kosmologie schlicht mit verbesserten Vorhersagen ausgeräumt werden können, sie mal kleinere Modifikationen des Modells motivieren, aber in anderen Fällen womöglich auch einen Wechsel zu radikalen Alternativ-Modellen nahelegen.
Unser Verständnis des Universums basiert zu einem großen Teil auf der allgemeinen Relativitätstheorie. Mit ihrer Hilfe kann die Entwicklung des Universums auf großen Skalen beschrieben und berechnet werden. Dabei legen die Wissenschaftler außerdem das sogenannte kosmologische Prinzip zugrunde, welches besagt, dass das Universum, betrachtet man nur ausreichend große Regionen, im Großen und Ganzen homogen und isotrop ist. Oder in anderen Worten: Wir sind nichts Besonderes, und wir sehen das Universum nicht aus einer besonderen Position heraus; es ist überall gleich.
Wer sind die Hauptcharaktere unseres kosmologischen Modells? Betrachtet man die Energiedichte des heutigen Universums, so setzt sie sich aus drei Bestandteilen zusammen: normale Materie, Dunkle Materie und Dunkle Energie.
Dass die normale Materie existiert und eine relevante Rolle spielt, gilt als gesichert, wenn wir Menschen diesbezüglich vielleicht auch etwas voreingenommen sind. Denn dies ist die Materie, aus der wir selbst und unsere Umwelt bestehen. Astrophysiker bezeichnen die normale Materie auch als »baryonische Materie«, weil sie vor allem aus Atomen mit Kernen aus Protonen und Neutronen besteht – als Baryonen bezeichnete subatomare Teilchen mit recht hoher Masse.3 Die baryonische Materie kann sichtbares Licht und andere elektromagnetische Strahlung aussenden oder absorbieren. Und sie kann wiederum Moleküle formen und bildet schlussendlich alles, was wir direkt sehen, beobachten, messen oder anfassen können. Wie beispielsweise interstellare Gaswolken, Sterne, Asteroiden oder Planeten, aber auch all unsere alltäglichen Gegenstände und Lebensformen.
Die Dunkle Materie hingegen ist eine andere Form der Materie, die sich von der normalen, baryonischen Materie vor allem darin unterscheidet, dass sie eben nicht elektromagnetisch wechselwirkt. Daher kann sie weder Licht absorbieren (wirft also beispielsweise keine Schatten) oder aussenden (sie leuchtet nicht). Licht passiert die Dunkle Materie also ungehindert. Insofern wäre eine bessere Bezeichnung eigentlich »transparente Materie«. Ihre einzige als gesichert geltende Wechselwirkung – mit sich selbst und auch mit der normalen Materie – ist die Gravitation, also die Anziehungskraft ihrer Masse. Es wird gemeinhin angenommen, dass es sich bei der Dunklen Materie um eine neue, bislang unbekannte Teilchenart handelt, die ebendiese Eigenschaften aufweist. Trotz zahlreicher und langjähriger Suchen sind derartige Teilchen jedoch noch nicht im Labor nachgewiesen oder in Teilchenbeschleunigern erzeugt worden. Daher wissen wir von der Dunklen Materie nur indirekt, und können auch nur indirekt auf ihre Eigenschaften schließen.
Die Dunkle Energie ist noch einmal mysteriöser als die Dunkle Materie. Sie sorgt dafür, dass die Expansion des Universums sich in letzter Zeit (ich spreche hier als Astronom, das heißt in etwa den letzten vier Milliarden Jahren) wieder beschleunigt. Worum genau es sich bei dieser Dunklen Energie handelt, ist allerdings bislang fast völlig unklar. Für unsere späteren Betrachtungen ist sie weniger relevant, da sie auf kosmisch sehr großen Skalen wirkt. Dieses Buch hingegen befasst sich mit – aus kosmologischer Perspektive – kleinen Skalen: mit Galaxien und Zwerggalaxien, welche größtenteils bereits entstanden sind, bevor die Dunkle Energie für die kosmische Expansion relevant wurde. Aus diesen Gründen werden wir die Dunkle Energie im Folgenden nicht weiter behandeln.
Das einfachste Modell, das eine Vielzahl an kosmologischen Beobachtungen mit nur sechs Parametern konsistent erklären kann, wird das ΛCDM-Modell genannt. Das Akronym setzt sich zusammen aus dem griechischen Buchstaben Λ (Lambda), der für die kosmologische Konstante steht, welche die Dunkle Energie parametrisiert. Und CDM bedeutet »Cold Dark Matter«, also Kalte Dunkle Materie, was die dominante Massekomponente in diesem Modell beschreibt. Da Wissenschaftler in ihren Erklärungen stets versuchen, sparsam zu sein und nur die allernötigsten Entitäten und Eigenschaften einzuführen (siehe Ockhams’s Rasiermesser4), ist dies das von der breiten Mehrheit der Kosmologen bevorzugte Modell. Es wird daher auch das Standardmodell der Kosmologie genannt, in Anlehnung an das Standardmodell der Teilchenphysik. Was verbirgt sich hinter dem Begriff Kalte Dunkle Materie? Von hinten aufgeschlüsselt setzt dieser sich zusammen aus:
Materie, weil angenommen wird, dass es sich um eine neue Teilchenart handelt. Dafür muss das Standardmodell der Teilchenphysik erweitert werden, weil es in diesem keinen geeigneten Kandidaten für die Dunkle Materie gibt. Ein vielversprechender Ansatz war die Theorie der Supersymmetrie, in der jedes bekannte Elementarteilchen einen »supersymmetrischen« Partner hätte. Einer davon könnte dann das Dunkle-Materie-Teilchen sein. Trotz umfangreicher Suchen gibt es bislang aber keine klaren Hinweise darauf, dass die Supersymmetrie-Theorie korrekt ist.
Dunkel, weil wir sie nicht sehen können. Dunkle Materie interagiert schlicht nicht mit Licht, schirmt es nicht ab, wirft keine Schatten, sendet keines aus oder leuchtet nicht. Überhaupt scheint sie nicht elektromagnetisch zu wechselwirken, auch in anderen Wellenlängenbereichen können wir sie nicht direkt beobachten. Ihre einzige nennenswerte Interaktion mit normaler Materie scheint mittels der Gravitation stattzufinden.
Kalt, weil angenommen wird, dass sie aus Elementarteilchen mit recht großer Masse bestehen soll. Wenn das der Fall ist, dann bewegen sich diese Teilchen relativ zur Lichtgeschwindigkeit nur langsam, was wiederum bedeutet, dass sie sich in kleinen Regionen ansammeln können, ohne gleich wieder wegzufliegen. Was wichtig ist, um kleinskalige Strukturen zu formen, wie beispielsweise kleine Zwerggalaxien.
Dieses Standardmodell der Kosmologie ist erfolgreich in der Beschreibung des Kosmos und seiner Entwicklung als Ganzem und der Bildung von großskaligen Strukturen im Universum. Andererseits gibt es aber auch kosmische Rätsel, insbesondere auf der Skala von Galaxien, von denen wir einige im Folgenden kennenlernen werden. Bevor wir aber damit beginnen, sollten wir uns noch schnell mit der Geschichte des Universums bis heute vertraut machen. Nebenbei werden dabei einige der wichtigsten Hinweise auf die Existenz der Dunklen Materie auf kosmologischen Skalen behandelt.
Dem Standardmodell der Kosmologie zufolge entstand das Universum vor etwa 13,8 Milliarden Jahren in einem Urknall. Damals war es extrem kompakt. Man nimmt daher an, dass es aus einer Singularität, also praktisch aus einem einzigen Punkt, entstanden ist. Presst man viel Masse und Energie in ein kleineres Volumen, so wird es warm. Dementsprechend war das frühe Universum extrem heiß. Seit dem Urknall dehnt sich das Universum jedoch aus (der Raum selbst, nicht nur der Inhalt). Im Zuge dieser Ausdehnung sank die Temperatur. Nach etwa einem Millionstel einer Sekunde war das Universum ausreichend abgekühlt, dass die Quarks, also die elementaren Bausteine der Baryonen, begannen, sich zu Protonen und Neutronen zusammenzuschließen. Aufgrund der hohen Energien wandelten sich Protonen und Neutronen zunächst aber noch ständig ineinander um. Bis nach etwa einer Sekunde die Temperatur so weit gefallen war, dass Neutronen zwar noch zu Protonen zerfallen konnten, aber keine neuen Neutronen aus Protonen gebildet wurden. Das Universum dehnte sich weiter aus, und die Temperatur sank weiter ab. So weit, dass sich nach etwa zehn Sekunden erste Protonen und Neutronen mittels Kernfusion zu Atomkernen zusammenschließen konnten. Es bildete sich Deuterium (ein Proton und ein Neutron), Helium (je zwei Protonen und Neutronen) sowie kleine Mengen an Lithium und Beryllium. Die anderen, schwereren Elemente sollten erst später in der Entwicklung des Universums im Inneren von Sternen geformt werden.
Dieser Kernfusionsprozess, man spricht auch von der »primordialen Nukleosynthese«,5 dauerte etwa drei Minuten. Dann wurde die Temperatur wiederum so gering, dass keine weiteren Verschmelzungen stattfinden konnten. Wie bei dem bei Kindern beliebten Stuhltanz (auch als Reise nach Rom oder Jerusalem bekannt) hatte es in dieser knappen Zeit nicht jedes Neutron geschafft, sich einen Platz in einem Atomkern zu sichern. Da freie Neutronen nicht stabil sind, zerfielen diese in den folgenden Minuten in stabile Protonen und Elektronen.
Das Ergebnis dieser primordialen Nukleosynthese bestimmt, mit welcher Verteilung an Elementen das Universum startete. Aus Messungen wissen wir, dass die baryonische Materie im frühen Universum aus etwa 75 Prozent Wasserstoff, 25 Prozent Helium, einem Hundertstel Prozent Deuterium und Helium-3 und kleinen Spuren von Lithium bestand. Diese Verhältnisse hängen dabei davon ab, welche Dichte die Baryonen im frühen Universum hatten. Um die gemessenen Verhältnisse zu erklären, musste die Dichte an Baryonen deutlich geringer sein als die anderweitig gemessene Gesamtmassendichte des Universums. Damit liefert die relative Häufigkeit der Elemente einen ersten Hinweis darauf, dass es neben den Baryonen noch eine andere Form der Materie geben muss, die nicht an der Nukleosynthese teilnimmt. Dies ist eines der wichtigen Argumente für die Existenz Dunkler Materie als eine neue Teilchenart, die nicht direkt mit den Baryonen wechselwirkt.
Nachdem die ersten Minuten des Universums sehr ereignisreich waren, dauerte es nun eine Weile, bis es zum nächsten großen Meilenstein kam. Zunächst war das Universum erfüllt von einem heißen Plasma aus den Atomkernen und Protonen, Elektronen und Lichtteilchen (Photonen). Letztere, also das Licht, konnte im Plasma keine großen Abstände zurücklegen, ohne gestreut oder absorbiert zu werden. Energie wurde daher ständig zwischen den verschiedenen Bestandteilen ausgetauscht. Das Plasma waberte gewissermaßen wie eine kochende Ursuppe vor sich hin und wies dabei nur geringe Dichteschwankungen auf. Wurde eine Region etwas dichter, so stieg in ihr auch der Druck und trieb das Plasma wieder auseinander.
Die Dunkle Materie, die zu der Zeit ja auch schon vorhanden war, scherte sich um all das herzlich wenig. Denn sie interagierte mit dem Plasma nur mittels der Gravitation. Regionen, die eine etwas erhöhte Dichte an Dunkler Materie aufwiesen, konnten so unter dem Einfluss ihrer eigenen Gravitation zusammenfallen und weitere Dunkle Materie anziehen. So begann die Dunkle Materie, im Gegensatz zum Plasma, bereits frühzeitig zu kompakteren Strukturen zusammenzufallen.
Nach 400.000 Jahren war die Temperatur dann endlich so weit abgefallen, dass die nackten Protonen und Atomkerne sich mit Elektronen zusammentun und stabile Atome formen konnten. Diese Phase wird auch die kosmische Rekombination genannt. Erstmals war es dem Licht nun möglich, ungestört große Entfernungen zurückzulegen. Man sagt daher auch, dass das Universum durchsichtig wurde.
Die Temperatur des Plasmas betrug zu diesem Zeitpunkt etwa 3000 Kelvin6, was wiederum festlegte, mit welcher typischen Energie die Photonen, die Lichtteilchen, starteten. Und das Universum wurde tatsächlich so durchsichtig, dass diese Photonen noch heute durch das All fliegen. Aufgrund der Rotverschiebung7 durch die Expansion des Universums hat sich ihre Wellenlänge allerding sehr weit verschoben, sodass sie heute im Mikrowellenbereich liegt und einer Temperatur von nur noch 2,73 Kelvin entspricht.
Diese Strahlung lässt sich messen und wird die kosmische Hintergrundstrahlung genannt, da sie das gesamte All erfüllt und aus allen Richtungen kommt. Oft wird sie auch als das »Echo des Urknalls« umschrieben. Die kleinen Dichteunterschiede, die das Plasma zur Zeit der kosmischen Rekombination aufwies, führten zu leichten Temperaturunterschieden, welche wir heute in der kosmischen Hintergrundstrahlung messen können. Sie betragen nur etwa ein Hunderttausendstel der gemessenen Temperatur, sind also sehr kleine relative Schwankungen. Aber aus den Eigenschaften dieser Temperaturschwankungen und ihrer Verteilung am Himmel lassen sich viele globale Eigenschaften des Universums ablesen.
Im Rahmen des Standardmodells der Kosmologie kann man die Struktur der Fluktuationen sehr gut mit dem Modell in Einklang bringen, wenn die richtigen Modellparameter gewählt werden. Daher wird die kosmische Hintergrundstrahlung zum einen als Bestätigung des ΛCDM-Modells gesehen und liefert zum anderen wichtige Messungen seiner Parameter.8 Einer dieser Werte ist die Hubble-Konstante, welche die Expansionsrate des Universums beschreibt und aus der sich daher auch das Alter des Universums bestimmen lässt. Ein weiterer Parameter ist die Materiedichte des Universums, also wie viel Masse das Universum pro Volumen enthält. Letzteres deutet wiederum auf die Existenz Dunkler Materie als eine neue Teilchenart hin, welche nur mittels der Gravitation nennenswert mit den Baryonen wechselwirkt. Aus der kosmischen Hintergrundstrahlung lässt sich nämlich auch bestimmen, dass die Materiedichte in diesen Baryonen deutlich geringer ist als jene in Dunkler Materie.
Die bislang genaueste Vermessung der kosmischen Hintergrundstrahlung, durch die Planck genannte Satellitenmission der Europäischen Weltraumbehörde ESA, liefert folgende Zusammensetzung der Energiedichte des heutigen Universums: Es besteht aus etwa 5 Prozent normaler (baryonischer) Materie, zu knapp 27 Prozent aus Dunkler Materie und aus etwa 68 Prozent Dunkler Energie. Die Dunkle Materie macht daher fast sechsmal so viel Masse aus wie die normale, baryonische Materie. Dementsprechend dominant sollte die Dunkle Materie in der weiteren Entwicklung des Universums sein, insbesondere bei der Bildung von Strukturen und Galaxien.
Aus den leichten Dichtefluktuationen im frühen Universum sollten schlussendlich die heutigen Strukturen im Kosmos entstehen. Also insbesondere Galaxien, die millionenmal dichter sind als das durchschnittliche Universum. Wie die kleinen Überdichten im frühen Universum anwachsen, lässt sich zunächst recht gut rein mathematisch berechnen.9 Wir wissen, dass die Dichtefluktuationen, als die kosmische Hintergrundstrahlung entstanden ist, nur etwa 0,001 Prozent betrugen. Nun kann man berechnen, um wie viel diese kleinen Fluktuationen in der Zeit, die seit der Entstehung der kosmischen Hintergrundstrahlung vergangen ist, angewachsen sein können. Das Ergebnis: nur um etwa einen Faktor 1000. Es sollte also nur etwa einprozentige Überdichten geben. Wenn das stimmt, dann sollten Galaxien, Sterne, Planeten und wir Menschen (noch) gar nicht existieren.
Aber das ist noch kein Grund, unsere Existenz infrage zu stellen. Denn die Berechnung geht davon aus, dass die Strukturen erst mit der kosmischen Reionisation begannen anzuwachsen. Das stimmt zwar für die Baryonen. Aber es gibt da ja noch einen anderen Charakter in unserem kosmologischen Standardmodell. Und dieser kann glücklicherweise einen Vorsprung herausholen: die Dunkle Materie.
Dunkle Materie fühlt, per Definition, nur die Gravitation. Während beispielsweise der Strahlungsdruck bei den Baryonen vor der kosmischen Rekombination dem Kollaps einer etwas dichteren Region im heißen Plasma entgegenwirkt, so spürt die Dunkle Materie keine derartige dem Kollaps entgegenwirkende Kraft. Die Dunkle Materie kann daher schon früh und nahezu ungehindert kollabieren. Sie bildet schließlich ein komplexes kosmisches Netz, das durchzogen ist von dichteren Filamenten, entlang derer sich später Galaxien verteilen und bewegen. Diese sind umgeben von großen, sehr viel leereren Regionen (sogenannten Voids). In Punkten, an denen mehrere große Filamente zusammentreffen, können wiederum noch massereichere Strukturen wie Galaxienhaufen entstehen. Ein Beispiel für solch ein kosmisches Netz ist in folgender Abbildung dargestellt. Diese basiert auf einer Simulation des Hestia-Projekts meines Kollegen Noam Libeskind vom Leibniz-Institut für Astrophysik, Potsdam (AIP).10 Es zeigt die Dichte Dunkler Materie in einer Region mit etwa 160 Millionen Lichtjahren Kantenlänge, wobei dunklere Regionen höherer Dichte entsprechen.
Wenn die Baryonen im Zuge der kosmischen Reionisation endlich kollabieren können, so finden sie sich bereits umgeben von großen Strukturen in der Dunklen-Materie-Verteilung. Sie fallen daher bevorzugt in diese ein, verstärken sie und können so sehr viel schneller Strukturen bilden, als das ohne die Dunkle Materie möglich wäre. Damit liefert die Strukturbildung im Universum ein weiteres wichtiges Argument für die Existenz von Dunkler Materie.
Es bilden sich also zunächst dichtere Haufen von Dunkler Materie, welche von Astrophysikern auch »Dunkle-Materie-Halos« genannt werden. Die Baryonen sammeln sich in den Zentren dieser Dunkle-Materie-Halos und bilden dort schlussendlich die sichtbaren Galaxien. Dabei entstehen im Standardmodell der Kosmologie Strukturen – insbesondere Dunkle-Materie-Halos und damit Galaxien – hierarchisch. Das heißt, dass zunächst viele kleinere Überdichten an Dunkler Materie, also kleine Dunkle-Materie-Halos, entstehen.11 In diesen können sich wiederum Galaxien bilden, wobei die kleinsten von ihnen als Zwerggalaxien bezeichnet werden. Sie beginnen nun rasch, miteinander zu kollidieren, ein Prozess, der gerade im frühen Universum besonders häufig vorkam. Die kleineren Dunkle-Materie-Halos und ihre Galaxien verschmelzen daher zu immer größeren Strukturen. So bilden sich allmählich große Galaxien wie die Milchstraße. Zwar werden die Verschmelzungsprozesse im Laufe der Zeit weniger, sie gehen aber dennoch kontinuierlich weiter und sind auch heute nicht völlig abgeschlossen. Daher werden um jede größere Galaxie viele Überbleibsel der angezogenen kleineren Zwerggalaxien erwartet. Da Letztere ihre Muttergalaxie wie Satelliten umkreisen, nennt man sie auch Satellitengalaxien.
Dunkle-Materie-Halos
Der Begriff ist eine Anlehnung an die beobachteten »Stellare Halos« von Galaxien. Das sind kugelförmige Bereiche aus diffus verteilten Sternen, die größere Galaxien umgeben. Da sie wie Lichthöfe aussehen, wurde dafür der entsprechende griechische Begriff »hálōs« verwendet. Heute nehmen wir an, dass die Galaxien auch von einer in etwa kugelförmigen Verteilung von Dunkler Materie umgeben sind (die sich allerdings weiter erstreckt als die Sternverteilung), welche in Analogie zum Stellaren Halo daher Dunkle-Materie-Halo genannt wird. Der Begriff findet aber inzwischen Verwendung für jede von der kosmischen Expansion entkoppelte, gravitativ gebundene Ansammlung von Dunkler Materie, ob sie nun eine sichtbare Galaxie enthält oder nicht.
Neben Galaxien entstehen auch noch größere Strukturen, die als Galaxienhaufen bezeichnet werden, in welchen Tausende von Galaxien enthalten sein können und die als die größten gebundenen Strukturen im Universum gelten. Die Galaxien bewegen sich mit so hohen Geschwindigkeiten, dass die Galaxienhaufen eigentlich auseinanderfliegen sollten, wenn die zusätzliche Masse der Dunklen Materie sie nicht zusammenhalten würde. So lässt sich aus der Verteilung der Geschwindigkeiten von Galaxien in einem Galaxienhaufen abschätzen, wie viel Masse dieser enthält.
Dies war historisch betrachtet einer der ersten Hinweise auf die Dunkle Materie. Der Schweizer Astronom Fritz Zwicky beobachtete in den 1930er-Jahren Galaxien im Galaxienhaufen Coma, der etwa 330 Millionen Lichtjahre von uns entfernt ist. Er bestimmte, dass sich diese Galaxien nicht alle mit exakt derselben Geschwindigkeit bewegten, sondern um eine mittlere Geschwindigkeit herum streuten. Und zwar mit Unterschieden von etwa 1000 Kilometern pro Sekunde. Damit sollte der Galaxienhaufen eigentlich binnen (kosmologisch gesehen) kurzer Zeit auseinandergeflogen sein und nicht mehr existieren. Zwicky nahm daher im Umkehrschluss an, dass der Galaxienhaufen ausreichend Masse enthalten muss, um nicht auseinanderzufliegen – dass er sich also in einem Gleichgewichtszustand befinden sollte –, und berechnete die dafür notwendige Gesamtmasse. Diese verglich er mit der Masse in allen sichtbaren, leuchtenden Galaxien. Dabei fand er einen eklatanten Widerspruch. Um die hohen beobachteten Geschwindigkeiten zu erklären, so schloss er, »müsste also die mittlere Dichte im Comasystem mindestens 400-mal größer sein als die aufgrund von Beobachtungen an leuchtender Materie abgeleitete. Falls sich dies bewahrheiten sollte, würde sich also das überraschende Resultat ergeben, dass Dunkle Materie in sehr viel größerer Dichte vorhanden ist als leuchtende Materie.«12 Es sollte zwar noch etwa ein halbes Jahrhundert dauern, bis dieser Gedanke in der heute angenommenen Form von Dunkler Materie endete, aber ein Grundstein war gelegt.
Streng genommen hatte Zwicky den Großteil der baryonischen Masse von Galaxienhaufen übersehen. Denn neben den Galaxien selbst enthalten diese noch einmal etwa fünfmal mehr heißes Gas, was mittels Röntgenteleskopen gemessen werden kann, die aber zu Zwickys Zeiten noch nicht existierten. Aus der Verteilung und Temperatur des Gases in Galaxienhaufen lässt sich ebenfalls die Masseverteilung bestimmen, und auch diese Messungen deuten darauf hin, dass sie große Mengen Dunkler Materie enthalten müssen.
Schließlich lässt sich die Masse eines Galaxienhaufens auch daraus bestimmen, wie dieser das Licht von weit hinter ihm liegenden Galaxien krümmt. Denn laut der Allgemeinen Relativitätstheorie sorgt eine große Masse für eine gekrümmte Raumzeit, welche wiederum wie eine Linse wirken kann und daher auch Gravitationslinseneffekt genannt wird.
Beobachten wir einen Galaxienhaufen, so erscheinen weit hinter ihm liegende Galaxien verzerrt. Aus dieser Verzerrung lässt sich zurückrechnen, wie viel Masse zwischen den Galaxien und uns liegt. Daraus kann man wiederum auf die Masse schließen, die in dem Galaxienhaufen enthalten ist. Dabei ist die Messung – im Gegensatz zu den Massebestimmungen mittels Galaxiengeschwindigkeiten oder dem heißen Gas – unabhängig davon, ob der Galaxienhaufen sich in einem Gleichgewichtszustand befindet oder nicht. Trotzdem sind die Messungen mittels des Gravitationslinseneffekts mit jenen der anderen beiden Massenbestimmungsmethoden im Einklang und deuten ebenfalls auf einen dominanten Anteil an Dunkler Materie hin. Aber auch für individuelle Galaxien gibt es viele Hinweise auf die Existenz von Dunkler Materie. So rotieren Spiralgalaxien wie unsere Milchstraße schneller, als das von der sichtbaren Masse her zu erwarten wäre. In Kapitel 7 befasse ich mich damit noch umfangreicher.
Das auf der Kalten Dunklen Materie basierende Standardmodell der Kosmologie (ΛCDM) wurde also konstruiert, um zahlreiche Messungen und Beobachtungen auf kosmologischen Skalen zu reproduzieren. Es macht aber, betrachtet man die Entstehung und Entwicklung von Strukturen im Universum, auch Vorhersagen für Galaxien wie die Milchstraße und sogar für ihre kleineren Begleitergalaxien. Dabei passen jedoch die Erwartungen des Modells und die Beobachtungen der Astronomen nicht immer zusammen. In den folgenden Teilen dieses Buchs soll es nun darum gehen, wie es zu diesen kosmischen Rätseln gekommen ist, wie Astronomen damit umgehen und welche möglichen Lösungen heute in Betracht gezogen werden.
Zählen wir doch einfach einmal: Das Problem der fehlenden Zwerggalaxien
Im ersten Teil behandeln wir die Fragen: Was ist eine Galaxie? Gibt es außerhalb der Milchstraße noch welche? Wenn ja, wie viele? Oder genauer gesagt: Wie haben wir Astronomen gelernt, dass das Universum erfüllt ist von Galaxien? Dass unsere eigene Milchstraße umgeben ist von zahlreichen zwergartigen Begleitergalaxien? Wie wurden und werden diese entdeckt, und wie viele kennen wir heute?
Und ganz wichtig: Passt diese Anzahl mit den Vorhersagen überein, welche wir aus dem auf der Kalten Dunklen Materie basierenden kosmologischen Standardmodell ableiten? Die Antwort, so viel sei bereits verraten, ist: Nein. Oder doch? Oder vielleicht doch nicht, aber andersherum? Nun, es ist kompliziert und hat auch viel damit zu tun, wie wir ein Universum im Computer entstehen lassen.
Was ist eine Galaxie?
Man könnte salopp sagen: Ich erkenne eine Galaxie, wenn ich sie sehe. Das Bild, das einem bei dem Begriff Galaxie als Erstes in den Sinn kommt, ist vermutlich eine Spiralgalaxie: abgeflacht, mit einem hell leuchtenden Innenbereich und nach außen hin übergehend in bläulich-schimmernde Spiralarme, mit dunklen Staubwolken dazwischen. Aber das ist nur eine spezielle Art von Galaxie. Andere Galaxien sind optisch nicht so leicht zu identifizieren oder können ohne moderne Technik gar nicht erst gefunden werden. Eine wissenschaftlich tragfähige Definition ist ein subjektives Einschätzen dessen, was eine Galaxie ist, ohnehin nicht. In der Tat standen Astronomen vor nicht allzu langer Zeit noch vor demselben Problem, wie ein Ausflug in die Geschichte dieses Themas offenbart. Denn was Galaxien sind, und dass es überhaupt Galaxien außerhalb der Milchstraße gibt, ist gerade mal seit etwa 100 Jahren etabliert.
Man hatte zwar nach der Erfindung des Teleskops und der kontinuierlichen Weiterentwicklung dieser Beobachtungsinstrumente neben zahlreichen Sternen, einigen Planeten und einer Handvoll Monden im Sonnensystem auch andere Gebilde in den kosmischen Weiten aufgespürt. Die Natur dieser Gebilde war zunächst jedoch in mehrfacher Hinsicht nebulös. Zum einen ganz praktisch: Es handelte sich um diffusere Gebilde, im Gegensatz zu den punktartigen Sternen und Planeten. Daher etablierte sich für sie die Bezeichnung als Nebel, welche zunächst recht freizügig für alles verwendet wurde, das durch das Okular eines Teleskops eher schwammig-ausgedehnt erschien als kompakt-punktförmig (Gas- und Staubwolke, Emissionsnebel, Sternhaufen und eben auch das, was wir heute als Galaxien kennen).
Eine erste große Sammlung solcher Objekte am Nachthimmel war der Catalogue des Nébuleuses et des Amas d’Étoiles, der Katalog der Nebel und Sternhaufen, erschienen Ende des 18. Jahrhunderts. Besser bekannt als der Messier Katalog, nach seinem Ersteller, dem französischen Astronomen Charles Messier. Der Sohn eines Verwaltungsbeamten hatte eine Passion für die Astronomie und insbesondere für die Entdeckung von Kometen, seit er als Dreizehnjähriger den Großen Kometen von 1744 gesehen hatte, eine besonders spektakuläre Erscheinung am Himmel mit zeitweise sechs Schweifen. Messier war einer der ersten, die systematisch nach Kometen gesucht haben. Im Laufe seines Lebens entdeckte er etwa zwanzig solcher Objekte.
Kometen werden auch Schweifsterne genannt, da sie sich durch einen leuchtenden Schweif auszeichnen. Bei den Kometen selbst handelt es sich um kleine Objekte im Sonnensystem, mit Durchmessern von wenigen Kilometern. Sie bestehen aus Eis, Staub und Gestein. Kommt solch ein Objekt der Sonne nahe, dann beginnt es auszugasen: leicht flüchtige Substanzen sublimieren auf der der Sonne zugewandten Seite, und auch Staubteilchen, die im Eis des Kometen eingebettet sind, werden mitgerissen. So entsteht ein Koma, eine neblig-diffuse Hülle, die mit dem Objekt selbst den Kopf des Kometen darstellt. Kommt der Komet der Sonne noch näher, dann bildet sich auch noch der für diese Objekte charakteristische Schweif, der viele Millionen Kilometer lang sein kann. Er entsteht dadurch, dass die kleinen Bestandteile des Kometen – Gas und sehr feiner Staub – in einem starken Wind vom Strahlungsdruck der Sonne weggepustet werden. Deshalb zeigt der Gas-Schweif stets von der Sonne weg, folgt also nicht der Bahn des Kometen. Größere Staubteilchen sind hingegen weniger anfällig für diesen Strahlungsdruck und folgen daher eher dem Pfad des Kometen, sodass sie einen zweiten Schweif bilden können.
Charles Messier suchte den Himmel nach solchen diffusen Erscheinungen ab. Dabei fielen ihm aber auch einige Objekte auf, die zwar diffus waren, aber Nacht für Nacht an derselben Stelle des Himmels blieben. Da sich Kometen im Sonnensystem um die Sonne bewegen, musste es sich bei diesen Erscheinungen um andere Objekte in deutlich größerer Entfernung handeln. Irgendwann wurde es Messier offenbar zu bunt, immer wieder solche falschen Kometen zu beobachten, und er beschloss gemeinsam mit seinem Assistenten Pierre Méchain, eine systematische Sammlung dieser diffusen Erscheinungen zu erstellen.
Der so entwickelte Katalog wurde zwischen 1774 und 1781 veröffentlicht und enthält über 100 astronomische Objekte ganz unterschiedlicher Natur. Den größten Anteil stellen Sternhaufen dar. Diese umfassen sowohl offene Sternhaufen, was relativ lose Ansammlungen von Sternen bezeichnet (insgesamt 26), als auch sogenannte Kugelsternhaufen, was dichtere Konzentrationen von Sternen sind (29). Ebenfalls zahlreich vertreten in Messiers Katalog sind Galaxien (39), aber auch einige abgeworfene Hüllen aus Gas und Plasma von Sternen am Ende ihrer Entwicklung, die als planetare Nebel bezeichnet werden (obwohl sie nichts mit Planeten zu tun haben, 4). Eine Handvoll anderer Nebel (7) sind ebenfalls vertreten.
Trotz dieser irritierenden Vielfalt im Messier-Katalog bezeichnen Astronomen viele der Objekte auch heute noch nach ihrer Messier-Nummer. So handelt es sich bei M1 beispielsweise um den Krebsnebel, den Überrest einer Supernova-Explosion. M2 ist ein Kugelsternhaufen, eine dichte Ansammlung von, wie man heute weiß, etwa 150.000 Sternen. Auch unsere nächste große Nachbar-Spiralgalaxie Andromeda ist im Katalog vertreten und wird auch heute noch sehr häufig verkürzt als M31 bezeichnet. Die Natur dieser Objekte war im 18. Jahrhundert allerdings noch ungeklärt.
Das war auch 100 Jahre später noch so, als 1888 der New General Catalogue of Nebulae and Clusters of Stars, oder Neuer Gesamtkatalog von Nebeln und Sternhaufen, erschien, welcher vom dänischen Astronomen John Louis Emil Dreyer zusammengestellt wurde. Abgekürzt als NGC ist er auch heute noch namensgebend für Tausende astronomische Objekte.
Der NGC-Katalog hat 7840 Einträge und wurde in den folgenden 20 Jahren nochmals um 5386 Objekte erweitert in den Index Catalogues (kurz IC, ebenfalls namensgebend für viele der Objekte). Bei dieser Vielzahl und Vielfalt an diffusen Objekten drängte sich den Astronomen nun aber unweigerlich die Frage auf: Was ist das eigentlich alles für ein Zeug? Während wir heute wissen, dass auch dieser Katalog eine bunte Mischung aus Galaxien, Sternhaufen und Emissionsnebel enthält, war die Natur dieser Objekte damals nicht geklärt. Tatsächlich herrschte selbst vor nur gut 100 Jahren in der Astronomie noch kein Konsens darüber, was Galaxien eigentlich sind. Und so wussten wir auch nicht, wie groß sie sind, wie weit entfernt sie sind, woraus sie bestehen oder wie sie dorthin gekommen sind, wo wir sie beobachten.
Die Wissenschaftler hatten allerdings inzwischen diverse Vorstellungen und Hypothesen entwickelt. Sie waren sich aber – wie das so oft der Fall ist bei neuen Entwicklungen – zunächst nicht einig, welche davon denn nun zutrifft. Diese Auseinandersetzung gipfelte schließlich in der »Great Debate«, der Großen Debatte.
Die Kontrahenten der Großen Debatte waren zwei amerikanische Astrophysiker: Harlow Shapley (damals 34 Jahre alt) vom Mount-Wilson Observatorium und Heber Doust Curtis (damals 47) vom Lick-Observatorium. Am Abend des 26. April 1920 trafen die beiden, aus Anlass eines Treffens der Nationalen Akademie der Wissenschaften, im Baird-Auditorium des National Museum of Natural History in Washington aufeinander. Es ging bei der Debatte um nichts anderes als um die Frage, wie groß das Universum sei, ob es auf die Milchstraße beschränkt oder sehr viel größer sei.13
Shapley hatte 1915 die »Big-Galaxy-Hypothesis«, die Große-Galaxie-Hypothese, formuliert. Diese interpretierte die Milchstraße als die einzige Galaxie im Universum und ging davon aus, dass sich die diffusen Nebel innerhalb dieser befinden. Die Nebel mussten also relativ klein und nahe gelegen sein, und das Universum würde nur die Milchstraße umfassen. Curtis hingegen vertrat die »Island Universe Theory«, die Weltinseltheorie. Dieser zufolge ist die Milchstraße nur eine von vielen Galaxien, und die Nebel sind andere Galaxien außerhalb der Milchstraße. Damit müssten sie weit entfernt liegen und entsprechend große Abmessungen haben und das Universum also sehr viel größer sein als die Milchstraße. Übrigens war schon der Philosoph Immanuel Kant Anhänger dieser Theorie und für die Schaffung des Begriffs »Welteninsel« verantwortlich.
Beide Seiten hatten gute Argumente, doch die zugrunde liegende wissenschaftliche Frage wurde nicht an jenem Abend beantwortet. Derartige Konflikte gegensätzlicher Hypothesen können häufig erst entschieden werden, wenn neue Beobachtungsdaten eindeutige Hinweise liefern. Aber die Debatte half auch dabei, die Argumente und möglichen wissenschaftlichen Tests herauszuarbeiten, welche die Frage schlussendlich beantworten sollten.
Nach ihrer Debatte veröffentlichten Curtis und Shapley je einen wissenschaftlichen Aufsatz, welcher jeweils die gegensätzlichen Positionen und ihre jeweiligen Argumente hervorragend zusammenfasste.
Shapley argumentierte wie folgt: Wenn Spiralnebel wie Andromeda tatsächlich entfernte Galaxien mit einer Größe vergleichbar jener der Milchstraße seien, dann müssten sie in einer Entfernung von hundert Millionen Lichtjahren liegen. Dies war schier unvorstellbar weit entfernt für das Verständnis der damaligen Zeit und erschien daher unplausibel (was, so kann man kritisieren, nicht wirklich ein wissenschaftliches Argument ist).