Von Teheran nach Hamburg - Cyrus Banani - E-Book

Von Teheran nach Hamburg E-Book

Cyrus Banani

4,6

Beschreibung

Dr. med. Cyrus Banani wurde am 3.7.1933 in Teheran/Iran geboren. 1953 machte er dort am Alborz-Gymnasium sein Abitur. Am 24.1.1954 ist er in Hamburg angekommen, um dort Medizin zu studieren. Ab 1963 arbeitete er in mehreren Krankenhäusern, darunter bei Prof. Pellnitz (sein Doktorvater) HNO, bei Prof. Heim in der Chirurgie, der Anästhesie und der Urologie und bei Prof. Saling in der pränatalen Medizin. Am 1.10.1968 eröffnete er seine erste Praxis in Berlin Reinickendorf und am 2.1.1976 schließlich am Kurfürstendamm. In seinen Lebenserinnerungen schildert Dr. Banani ein bewegtes Leben zwischen seiner persischen Herkunft, zahlreichen Auslandsaufenthalten und seiner großen Berufung, der Medizin.

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Für die technische Unterstützung bedanke ich mich bei Anne Winkler.

Für meine Frau Soheila

9 Monate alt

1. Schultag

5. Klasse

Gymnasium

Abitur

20 Jahre Deutschland

35 Jahre

45 Jahre

65 Jahre

Hiermit möchte ich, Dr. Cyrus Banani, diese Schrift mit meinen Erinnerungen meiner Frau Soheila zu ihrer freien Verfügung überlassen.

Ich bin kein Schriftsteller, sondern nur ein einfacher Mediziner.

In der letzten Zeit in Deutschland habe ich unter großem Druck gestanden. Das ist der Grund dafür, dass ich damit angefangen habe, meine Erinnerungen aufzuschreiben.

Ich habe meine Frau im Alter von 63 Jahren kennengelernt und aus Liebe geheiratet. Ihre Geduld, Freundlichkeit und Liebe hat mir zurück ins Leben geholfen.

Nun bin ich 79 Jahre alt und sowohl körperlich als auch geistig gesund.

Dies ist allein meiner Frau zu verdanken, die mir ein zweites Leben schenkte, als ich mich selbst nach Jahren der Einsamkeit in Australien bereits aufgegeben hatte.

Deshalb danke ich dem lieben Gott dafür, dass er mir diesen rettenden Engel geschickt hat.

Bei meinen Notizen handelt es sich um Tatsachen. Es wurden keine Änderungen zugunsten oder zuwider anderer Personen vorgenommen.

Die Niederschrift basiert einzig auf meinen Erinnerungen und verfolgt dabei nicht das Ziel, wissenschaftlichen, medizinischen oder geschichtlichen Ansprüchen gerecht zu werden. Erinnerungen sind natürlich immer auch etwas Subjektives. Falls die meinigen jemandem nicht gefallen sollten, möchte ich deshalb hiermit im Voraus um Entschuldigung bitten.

Ich möchte weder Kritiker noch Schulmeister sein, sondern habe diese einfachen Erinnerungen primär zu Papier gebracht, damit sie nicht in meinem Schädel verbleiben und eines Tages in Gnade mit mir unter der Erde verschwinden.

Dr. Cyrus Banani

Berlin, den 1. April 2013

Am 3. Juli 1933, einem Mittwoch, kam ich nahe Meydane Sepah im Zentrum von Teheran zur Welt.

Ich war das zweite Kind meiner überglücklichen Eltern. Zuvor war bereits mein Bruder Parvis geboren worden, später folgte meine Schwester Firoozeh.

Wir waren nicht wohlhabend, aber glücklich und zufrieden mit dem, was wir hatten. Und dies wiederum hatten wir alles meinem Vater zu verdanken, der gebildet, erfahren, philosophisch belesen und sehr klug war.

Meine Urgroßeltern stammten aus Gandsche, das in der Nähe von Baku, der Hauptstadt des heutigen Aserbaidschan, liegt. Wegen eines Krieges wanderten sie nach Täbriz aus, wo mein Vater geboren wurde. Anschließend fuhren sie über das Kaspische Meer und ließen sich in Maschhad nieder, wo mein Vater die Schule besuchte und später meine Mutter heiratete.

Nachdem mein Bruder in Maschhad geboren worden war, ließ sich meine Familie dann in Teheran nieder. Mein Vater, der ein leidenschaftlicher Fotograf war und viele hochinteressante Fotos hinterlassen hat, eröffnete dort gemeinsam mit einem Kompagnon ein Fotoatelier.

Da es zu dieser Zeit noch keine Universität gab, besuchte er später die Akademie, um Europäische Buchhaltung zu studieren. Seinen Abschluss in diesem Fach nutzte er anschließend, um bis zu seiner Pensionierung als Beamter im Wirtschaftsministerium zu arbeiten. Dabei nahm er einen hohen Posten ein und wurde unter anderem nach Urumieh, Buschehr, Schiras und Isfahan entsandt.

Wie bereits erwähnt, nahm ich in meiner Familie den Platz des Zweitgeborenen ein. Über diesen Umstand war ich als Kind jedoch nicht besonders glücklich. Ich redete mir ein, mein Bruder sei wichtiger als ich, da er stets und bei allem der Erste war. Er wurde zuerst eingeschult, er machte als Erster von uns seinen Abschluss etc.

An seinen ersten Schultag etwa erinnere ich mich noch gut. Er trug einen neuen Anzug, ein neues Hemd, das ihm noch zu groß war, sowie neue Strümpfe und Schuhe. Meine Mutter war überzeugt davon, dass am ersten Schultag alles so neu sein sollte wie zu Beginn eines neuen Jahres.

Alle hatten gute Laune und es gab sogar ein kleines Fest. Meine Eltern waren sehr stolz darauf, dass eines ihrer Kinder nun ein Schulkind war, und mein Vater begleitete Parvis bis vor das Schultor.

Am Tag meiner eigenen Einschulung besuchte mein Bruder bereits die dritte Klasse, was erheblich dazu beitrug, dass ich mich ihm gegenüber sehr unwichtig fühlte.

Später verstand ich, dass Parvis nicht wichtiger, sondern nur älter war, und habe über meine kindliche Eifersucht gelacht.

Unserem Vater bedeutete es sehr viel, dass wir glücklich waren. Deshalb haben unsere Eltern oft eigene Wünsche zurückgestellt, um die unsrigen erfüllen zu können.

Als ich fünf Jahre alt war, wurde meine Mutter erneut schwanger. Sie war darüber besorgt und sehr traurig. Doch als Firoozeh dann zur Welt kam und sich als Mädchen erwies, war sie unser Nesthäkchen. Sie war sehr ruhig und sehr lieb. Deshalb wurde sie von uns allen verwöhnt.

Besonders großen Wert legte unser Vater auf unsere Ausbildung. Obwohl dies mit großen Schwierigkeiten verbunden war, schickte er uns stets auf die besten Schulen, wie etwa auf die Nobonyade Razi oder die Nobonyade Nezami.

Nach dem Krieg wurden Fahrräder aus Deutschland importiert. Sie waren nicht verchromt, sondern komplett schwarz eingefärbt. Wir wünschten uns ein solches Fahrrad, und schließlich vertraute uns unsere Mutter ihre gesamten Ersparnisse an, damit wir uns diesen Wunsch erfüllen konnten. Mein Bruder und ich fuhren mit dem Geld zum Bazar, um dort eines der begehrten Räder zu kaufen. Unseren neuen Schatz haben wir dann den gesamten Rückweg lang getragen, um zu verhindern, dass die staubigen Straßen Schmutzspuren darauf hinterließen. Später haben wir sehr darüber gelacht.

Anfangs war das neue Rad für mich viel zu groß, weshalb wir meist zu zweit darauf fuhren. Mein Bruder fuhr und ich saß auf der Stange, manchmal seitlich im »Damensitz«, aber das sah dann komisch aus.

Mein Vater legte großen Wert auf einen liebevollen Umgang und Harmonie in der Familie. Außerdem war er sehr gastfreundlich und wurde dabei immer von meiner Mutter unterstützt. Wir bekamen oft Besuch, der manchmal sogar über mehrere Jahre hinweg blieb. Zum Beispiel hat einer meiner Onkel bei uns gelebt, während er in Teheran Jura studierte. Später erlangte er als Dr. jur. richtiggehende Berühmtheit.

Einmal habe ich meinem Bruder beim Spielen ein Bein gestellt. Ich habe das Spiel gewonnen, während er hingefallen ist und sehr geweint hat. Mein Vater bemerkte das alles, sagte jedoch nichts, sondern tröstete nur meinen Bruder. Später jedoch nahm er mich beiseite und sagte: »Mein lieber Sohn, weißt du eigentlich, wie schrecklich es wäre, wenn dein Bruder durch eine Verletzung gelähmt bliebe? Das wäre eine große Katastrophe für die ganze Familie! Die größte Katastrophe jedoch wäre es für dich selbst. Denn wenn ich einmal sterben würde, wärst du derjenige, der lebenslang seinen Rollstuhl schieben müsste. Deshalb musst du gut darauf aufpassen, dass er immer gesund bleibt. Außerdem willst du doch Arzt werden. Und es ist die Pflicht eines Arztes, für die Gesundheit der Familie zu sorgen.«

Das habe ich eingesehen und diese Einsicht fortan in meinem Herzen bewahrt.

Trotz des Altersunterschieds spielten wir manchmal auch mit unserer einzigen Schwester. Sie war fröhlich und lieb und wir liebten sie sehr. Allerdings waren wir ihr oft überlegen. Manchmal neckten wir sie ein bisschen und machten ihr zum Beispiel während des Versteckspielens weis, dass sich unsere Mutter unter dem Teppich versteckt habe, um uns dann darüber zu amüsieren, wie sie unter dem Teppich zu suchen begann.

Mein Vater war für damalige Verhältnisse sehr gebildet und diskutierte gern. Damals gab es nur wenige Bücher und Zeitungen, kein Radio und kein Fernsehen. Deshalb kamen oft Menschen zu uns, um meinen Vater um Rat zu bitten oder mit ihm verschiedene Themen zu erörtern.

Ich war als Kind schon sehr wissbegierig und setzte mich dann gern in eine Ecke des Raums, in dem die Gespräche stattfanden, um zuzuhören. Dass ich so vielen interessanten Diskussionen folgen konnte, an denen sich zahlreiche ältere und hochgebildete Menschen beteiligten, hat mich sehr geprägt und sicher dazu beigetragen, dass ich so diskussionsfreudig geworden bin, wie ich bin.

Gegenüber von unserem Haus befand sich ein Lebensmittelgeschäft. Damals gab es noch keine Supermärkte und Selbstbedienungsläden und noch nicht einmal Kühlschränke. Deshalb mussten wir alles frisch im Lebensmittelladen kaufen. Der Lebensmittelhändler notierte die Preise unserer Einkäufe und an jedem Monatsende beglich mein Vater dann die Gesamtrechnung. Lebensmittel wie Käse wurden damals jeweils vom Verkäufer abgeschnitten, gewogen und dann in Zeitungspapier oder manchmal auch in Feigenblätter eingeschlagen und verkauft. Um Milch, Joghurt oder andere Flüssigkeiten erwerben zu können, musste man sein eigenes Gefäß mitbringen.

In der Schule erwies ich mich als sehr guter Schüler. Damals war es noch üblich, dass Schüler in der Schule bestraft wurden. Bestraft wurde ich zum Glück nie, dafür jedoch oft gelobt. Im Jahr 1945 erhielt ich von der Schule deshalb sogar ein Lobgedicht über mich, das damals in der Schülerzeitung veröffentlicht wurde und das ich immer noch im Original besitze. Dieses persische Gedicht könnte man sinngemäß etwa so übersetzen:

»Wer wie Cyrus Banani tüchtig lernt,

der wird später erfolgreich und stolz sein.

Komm, Schüler, nimm dir Banani als Vorbild,

weil er in dieser Welt glücklich und erfolgreich sein wird.«

1945 war ich zwölf Jahre alt.

Meine Großmutter väterlicherseits stammte aus einer sehr vornehmen Großfamilie, in der sie zu einer feinen Dame herangewachsen war. Sie war streng religiös und legte größten Wert auf peinlichste Sauberkeit. Von meiner Mutter, die als junge Frau bei ihr lebte, hatte sie keine sehr hohe Meinung. Unklugerweise hatte sie meinem Bruder, als dieser etwa zwei oder drei Jahre alt war, ein unschönes Foto von sich geschenkt, das seitdem in seinem Zimmer aufgestellt war. Das Bild löste so große Ängste vor ihr in meinem Bruder aus, dass er fast krank wurde, als sie ihren Besuch bei uns in Teheran ankündigte. Als sie schließlich eintraf, versteckte er sich.

Nachdem sie uns öfter besucht und immer bei uns gewohnt hatte, gewann ich sie jedoch sehr lieb. Sie war sehr klug und hat mir viele weise Sprichwörter beigebracht, die ich zum Teil noch heute gern verwende.

Ich erinnere mich gut daran, dass sie immer einen Schleier trug. Einmal, kurz nach der Verhängung des Schleierverbots durch Reza Schah Pahlavi, trafen wir auf der Straße auf einen Polizisten. Dieser hielt meine Großmutter fest, entschleierte sie und zerriss ihren Schleier anschließend. Sie weinte sehr, weil es gegen ihren Glauben verstieß, sich unverschleiert in der Öffentlichkeit zu zeigen. In der Folgezeit ging sie, wie viele andere gläubige Frauen, aufgrund des Verbots nicht mehr aus dem Haus.

Ein Verwandter von uns hatte eine sehr hässliche Frau geheiratet, die nicht nur stark schielte, sondern zudem noch richtige »Froschaugen« hatte. Er freute sich sehr über das neue Gesetz, führte seine Frau gern unverschleiert und in europäischer Kleidung aus und nahm mit ihr an jeder Feierlichkeit teil. Als seine Freunde sich darüber wunderten und danach fragten, warum er seine unansehnliche Frau jedem zeige, sagte er: »Ich möchte, dass jeder nun sieht, was ich jahrzehntelang allein erlitten habe.«

Die Meinungen über das neue Gesetz waren also sehr geteilt. Während die einen wirklich traurig darüber waren, keinen Schleier mehr tragen zu dürfen, freuten sich die anderen.

Ich hatte eine sehr liebe Tante, die acht Jahre älter war als meine Mutter und selbst keine kleinen Kinder mehr hatte. Sie wohnte neben uns und war für mich wie eine Oma, die immer Zeit für mich hatte und bei der ich alles machen durfte. Immer, wenn ich mit meiner Mutter nicht einverstanden war, habe ich meine Schulsachen, meine Schlafsachen und meine Schuluniform genommen und bin damit zu ihr gegangen. Sie hat mich stets mit offenen Armen empfangen und dann beschäftigt, bis ich genug hatte und nach Hause gebracht oder von meiner lieben Mutter abgeholt wurde.

Ein Problem dabei war allerdings, dass ich bei diesen kleinen »Umzügen« jeweils den Nagel mitnahm, der mir als Kleiderhaken diente, um ihn dort in die Wand zu schlagen, wo er benötigt wurde. Dadurch erzeugte ich so viele Löcher, dass die für den Haken vorgesehene Wand im Haus meiner Tante und jene bei uns schnell stark perforiert waren.

Wenn ich beim Essen einmal unzufrieden war, habe ich mich in eine Ecke gesetzt, von der aus ich den Tisch beobachten konnte. Meine Mutter stellte mein warmes Essen, meine Getränke und den Teller mit meinem Obst dann auf einem Tablett zur Seite. Wenn ich fand, dass sich zu wenig Obst darauf befand, rief ich aus meiner Ecke: »Ich werde kein Obst essen, aber es ist trotzdem viel zu wenig davon auf dem Tablett!« Nachdem die anderen ihre Mahlzeit beendet hatten, kam meine Mutter dann gewöhnlich zu mir, streichelte mich und nahm mich mit zu Tisch.

Im Anschluss an unsere Grundschulzeit ermöglichte uns unser Vater unter großen Mühen den Besuch der Alborz-Schule.

Während des Zweiten Weltkriegs hatte der persische Staat das große amerikanische College von den Amerikanern übernommen und unter dem Namen Alborz-Schule weitergeführt. Es war damals unter Tausenden das größte und beste Gymnasium von ganz Persien.

Ein paar Jahre nach der Übernahme durch Persien übernahm Dr. Mojtahedi den Posten des Direktors.

Dr. Mojtahedi hatte in Paris Mathematik studiert, für seine Doktorarbeit die Bestnote erhalten und war dafür von der Pariser Universität Sorbonne ausgezeichnet worden. Er hat immer großen Wert auf Pünktlichkeit, Disziplin sowie die bestmögliche Ausbildung gelegt. An der Alborz-Schule sorgte er außerdem dafür, dass neue Möglichkeiten, um Sport zu treiben, eingerichtet wurden.

Durch sein Wissen und seine unermüdliche Arbeit sowie die Hilfe der besten Lehrer, die zum Teil in Europa studiert hatten, wurde an der Schule für damalige Verhältnisse Unglaubliches geleistet.

Es gab die besten Laboratorien, einen Gymnastikraum, viele Sportplätze inklusive Fußballplatz, mehrere Volleyball- und Basketballfelder sowie zahlreiche Pingpong- und Schachtische. Dieses Arbeitsumfeld und das friedliche Milieu haben die Alborz-Schule zu dem gemacht, was sie war und sie positiv von Tausenden anderen Schulen unterschied.

Ich habe die Ehre gehabt, ganze sechs Jahre – von 1947 bis 1953 – Schüler an Dr. Mojtahedis Schule gewesen zu sein. Ich war ein guter, disziplinierter und ordentlicher Schüler. Kein einziges Mal bin ich zu spät gekommen und ich habe an keinem einzigen Tag gefehlt. Nicht einmal Fieber konnte mich am Schulbesuch hindern. Deshalb schätzte mich der Direktor sehr. Dr. Mojtahedi erwähnte dies sogar meinem Vater gegenüber.

Alle seine Schüler liebten den Direktor, Dr. Mojtahedi, und sind ihm bis heute sehr dankbar. Viele von ihnen sind in Europa und Amerika bekannte Wissenschaftler, Ärzte oder Ingenieure geworden.

Dr. Mojtahedi liebte Deutschland und schätzte die deutschen Erziehungsmethoden. Disziplin, Genauigkeit und Pünktlichkeit hatten für ihn einen sehr hohen Stellenwert und er war sehr bestrebt, diese Tugenden auch seinen Schülern zu vermitteln, denen er zudem dazu riet, in Deutschland zu studieren.

Er stand jeden Tag zu Schulbeginn an der Schultür und setzte mit gespitztem Bleistift einen Punkt vor den Namen der Schüler, die zu spät kamen. Dazu nutzte er ein Notizheft, in dem die Namen all seiner Schüler verzeichnet waren. Wenn jemand sich oft verspätete, musste er die Schule zum Schuljahresende hin verlassen.

Unsere Schultage begannen stets pünktlich um acht Uhr morgens und endeten am späten Nachmittag, schlossen allerdings eine zweistündige Mittagspause mit ein. Manchmal verbrachten einige Schüler diese Mittagspause auch in der Schule und aßen nur etwas Brot mit Joghurt, Käse oder Ähnliches, das im Lebensmittelladen der Schule erworben werden konnte. Dieser befand sich in einer kleinen Bude, aus der heraus Getränke, Baguettebrote und Sandwichs verkauft wurden.

Die Schülerschaft der Schule setzte sich sowohl aus Moslems als auch aus Zarathustriern, Juden, (armenischen) Christen und Heiden zusammen. Ich erinnere mich noch gut an meinen jüdischen Freund David B., mit dem ich zusammen einkaufte und Brot und Joghurt teilte und von dem ich viel gelernt habe. Er war freundlich und so höflich, dass er beispielsweise, wenn sich der Joghurt dem Ende zuneigte, stets aufhörte zu essen, sodass ich ihn mehrfach auffordern musste, sich noch etwas zu nehmen. Er war ein sehr gläubiger, guter Mensch, der mir nicht nur erklärte, was »koscher« bedeutet, sondern mir überhaupt spannende Einblicke in seine Religion vermittelte. Die Begegnung mit ihm hat sich auf mein weiteres Leben sehr positiv ausgewirkt. Leider habe ich ihn aus den Augen verloren, wünsche ihm jedoch dort, wo er lebt, alles Gute!

Und noch etwas ist mir in Erinnerung geblieben: In der damaligen Zeit war es in Persien politisch sehr unruhig. Es kam oft zu Zusammenstößen zwischen Gläubigen, Kommunisten, Paniranisten und Anhängern von Mossadegh. Letztere waren meist in der Überzahl und hatten zusätzlich auch noch Probleme mit der Polizei.

Eines Tages sagte ein Lehrer zu einem Schüler, mit dem ich befreundet war, dass er den Klassenraum verlassen solle. Mein Freund ging daraufhin aus dem Klassenraum, versteckte sich jedoch hinter der Tür, da er Sorge hatte, Ärger zu bekommen, wenn er die Schule ganz verließ.

Ein paar Minuten später schickte unser Lehrer einen weiteren Schüler aus dem Raum. Dieser zweite Schüler weigerte sich jedoch und blieb einfach in der Klasse. Da er als Paniranist galt und die Paniranisten dafür bekannt waren, dass sie gelegentlich sogar kalte Waffen mit sich führten, ergriff der Lehrer selbst keine weitere Maßnahme, sondern bat den Klassensprecher darum, den Ordnungsdirektor zu holen. Zu jener Zeit war der Stellvertretende Direktor dafür verantwortlich, für Ordnung zu sorgen. Er war es auch, der dafür zuständig war, Schüler zu bestrafen. Als der Klassensprecher aus dem Raum ging, entschloss sich mein Freund, der ja noch immer hinter der Tür stand, ihn zu begleiten. Vor allem, weil er Angst hatte, dass der Stellvertretende Direktor ihn ansonsten hinter der Tür entdecken könnte. Als die beiden zusammen beim Stellvertretenden Direktor ankamen, fragte dieser zuerst, warum sie zu zweit kämen. Daraufhin erklärte ihm mein Freund, dass die Wege so unsicher seien, dass sich der Lehrer entschlossen habe, sicherheitshalber einen Paniranisten und einen Kommunisten zusammen zu schicken. Übrigens waren weder mein Freund noch der Klassensprecher in irgendeiner Partei. Sie waren lediglich klug und schlagfertig. Und letztlich erfolgreich damit, denn alles, was der Stellvertretende Direktor, der mit leicht türkischem Akzent sprach, entgegnete, war: »Wenn nur ihr beiden ruhig bleibt, werden wir in der ganzen Schule Ruhe haben.«

Wie bereits erwähnt wurde, sind viele meiner ehemaligen Schulfreunde mittlerweile berühmte Leute geworden.

Ein sehr guter Freund von mir, der eine Klasse der Alborz-Schule mit mir besuchte, ist Dr. Firooz T., der nach seinem Schulabschluss in Hamburg studiert hat und heute ein sehr angesehener und bekannter Radiologe ist. Wir pflegen unsere Freundschaft nach wie vor und treffen uns, wann immer es möglich ist.

Ich weiß nicht, ob damals alles besser oder schlechter war, aber was ich sagen kann ist, dass mir die Zeit meiner Ausbildung mit dem Studium, den Freundschaften und überhaupt ihrer ganzen Lebensweise als sehr guter Lebensabschnitt in Erinnerung geblieben ist.

Viele meiner Mitschüler aus der Alborz-Schule wurden durch die Schilderungen von Dr. Mojtahedi dazu angeregt, Deutschland kennenlernen zu wollen. Auch ich zählte zu jenen, die gern nach Deutschland kommen wollten.

Mein größter Wunsch war es, mich in Deutschland zum Arzt ausbilden zu lassen.

Als Teenager musste ich mich einmal einer Mandeloperation unterziehen. Als wir den HNO-Arzt aufsuchten, setzte sich dieser auf den Stuhl, der mir gegenüberstand. Natürlich betäubte er meinen Hals vor dem Eingriff, aber leider hat er vergessen, mir zu sagen, dass sich mein Rachen durch die Spritze verengt anfühlen und ich deshalb schlecht Luft bekommen würde. Ich bekam durch das Gefühl, dass mir die Luft abgeschnürt wurde, solche Angst, dass ich meine rechte Hand befreit und so fest nach seinem Oberschenkel gegriffen habe, dass ich ihn fast verletzt hätte.

Unser Hausarzt war der berühmte Arzt Dr. Loghman-Adham. Er hatte mich sehr gern, weil ich ein wohlerzogenes und reinliches Kind war. Ihm habe ich gesagt, dass ich später Arzt werden wollte, um all das zu lernen, was er wusste. Einmal etwa hat mir Dr. Loghman-Adham erklärt, dass er vor mir bereits zwei Patienten behandelt habe, die beide an der Leber erkrankt waren. Der eine dieser Patienten war dick, der andere dünn. Dass der dicke Patient krank war, führte der Arzt darauf zurück, dass er zu viel fettes Essen gegessen hatte. Dem Dünnen dagegen bescheinigte er, krank geworden zu sein, weil er insgesamt viel zu wenig aß. Mir selbst riet unser Hausarzt deshalb, Maß zu halten, um gesund zu bleiben.

Es hat mich als Kind sehr beeindruckt, dass der Doktor stets genau sagen konnte, was man essen oder tun musste, um gesund zu werden. Und es hat mich dazu motiviert, all diese Dinge selbst lernen zu wollen.

50 Jahre später habe ich sein Grab auf dem Prominentenfriedhof von Teheran besucht.

Obwohl wir wenig Geld hatten, versuchte meine Mutter immer, uns zu ermöglichen, uns schick zu kleiden. Für damalige Verhältnisse war unsere Kleidung verhältnismäßig hell und sehr europäisch angehaucht. Zusätzlich sollten wir uns sehr gut benehmen und uns freundlich, höflich und herzlich verhalten. Als ich das als Kind einmal leid wurde, riss ich mich von der Hand meiner Mutter los und lief weg. Damals gab es noch keinen nennenswerten Autoverkehr auf den Straßen, dafür aber eine Vielzahl an gefährlichen Kutschen und Transportern, die von Pferden oder Eseln gezogen wurden. Dieser Umstand und die Tatsache, dass viele arme Menschen die Straßen bevölkerten, führte dazu, dass sich meine Mutter schreckliche Sorgen um mich machte.

Ich kam allerdings nicht weit, sondern wurde von den ersten Polizisten, denen ich begegnete, festgenommen. Die Beamten hatten sofort erkannt, dass ich kein Straßenjunge war, und erhofften sich durch meine Festnahme Vorteile von meinen vermeintlich reichen Eltern. Ich erklärte den Polizisten, dass ich meine Mutter verloren hatte, doch sie brachten mich dennoch direkt ins Polizeirevier. Dort angekommen, stellte ich mich schnell auf einen Stuhl und begann damit, die Nationalhymne zu singen, die ich auswendig kannte. Ihr Text bestand aus einem Loblied auf den Kaiser, das es den Beamten vorschrieb, strammzustehen und zu salutieren. Als meine Mutter weinend im Revier eintraf und die strammstehenden Polizisten sah, musste sie es ihnen nachtun. Dann aber schloss sie mich glücklich in die Arme und trug mich nach Hause. Als ich sie fragte, warum sie verloren gegangen war, musste sie sehr lachen und lachte weiter, bis wir bei unserem Haus ankamen.

Als Kind war ich für die damaligen Verhältnisse sehr oft krank und musste oft zum Arzt. Nachdem ich im Anschluss an die Mandeloperation ein selten auftretendes Fieber bekam, von dem der Arzt mich befreite, stand mein Entschluss endgültig fest: Ich wollte selbst Arzt werden, um alle gesund zu machen.