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Nach dem Erfolg von "Gentrifidingsbums" das neue Standardwerk zur Debatte! Ja, Sie lesen richtig: Es gibt eine Alternative zum urbanen Kapitalismus, die mit Mietenwahnsinn, prekären Dienstleistungen und Gated Communities brechen kann. Experimente dazu laufen allerorten. Der Weg zu dieser Utopie erfordert List und Entschlossenheit. Aber das Ziel lohnt: die freie Stadt der Zukunft, der Ort, an dem die Menschen gemeinsam ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen. Die Zukunft des Kapitalismus entscheidet sich in der Stadt. Seit dem Crash von 2008 rennen immer mehr Menschen gegen die Zumutungen einer Stadt als Anlageobjekt an, die die urbanen Räume vollends in Profit- und Sicherheitsmaschinen verwandeln. Sie fordern: "Recht auf Stadt" für alle. Gegen das "Gentrifidingsbums" setzen sie Versammlungen, Wiederinbesitznahme öffentlicher Räume, echte Beteiligung an der Gestaltung der Städte. Die Umrisse einer anderen Stadt zeichnen sich bereits ab. Niels Boeing, selbst Aktivist in den urbanen Auseinandersetzungen, beschreibt die Spielräume und gibt ihnen eine kluge und durchdachte Grundlage. Aus dem Inhalt: Recht auf Stadt / Selbstverwaltung / Staat und Herrschaft / Wohnen / Produktion / Nachhaltigkeit / Kommen und Bleiben / Gemeinschaft und Gesellschaft / Spielräume und Kampfzonen / Die freie Stadt der Zukunft
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Seitenzahl: 175
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Es gibt eine Alternative zum urbanen Kapitalismus, die mit Mietenwahnsinn, prekären Dienstleistungen und Gated Communities brechen kann. Experimente dazu laufen allerorten. Der Weg zu dieser Utopie erfordert List und Entschlossenheit. Aber das Ziel lohnt: die freie Stadt der Zukunft, der Ort, an dem die Menschen gemeinsam ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen.
Die Zukunft des Kapitalismus entscheidet sich in der Stadt. Seit dem Crash von 2008 rennen immer mehr Menschen gegen die Zumutungen einer Stadt als Anlageobjekt an, die die urbanen Räume vollends in Profit- und Sicherheitsmaschinen verwandeln. Sie fordern: »Recht auf Stadt« für alle.
Gegen das »Gentrifidingsbums« setzen sie Versammlungen, Wiederinbesitznahme öffentlicher Räume, selbstbestimmte Gestaltung der Städte. Die Umrisse einer anderen Stadt zeichnen sich bereits ab. Niels Boeing, selbst Aktivist in den urbanen Auseinandersetzungen, beschreibt die Spielräume und gibt ihnen eine kluge und durchdachte Grundlage.
NIELS BOEING, 48, Mitglied des Aktionsbetriebs LOMU – local organized multitude, aktiv im Hamburger Netzwerk »Recht auf Stadt«, Reisender und Journalist u. a. für Die Zeit, Freitag, Technology Review. Zuletzt erschien von ihm 2011 bei Edition Nautilus Alles auf null. Gebrauchsanweisung für die Wirklichkeit.
Edition Nautilus Verlag Lutz SchulenburgSchützenstraße 49 a · D- 22761 Hamburgwww.edition-nautilus.deAlle Rechte vorbehalten · © Edition Nautilus 2015Originalveröffentlichung · Erstausgabe August 2015Umschlaggestaltung: Maja Bechert, Hamburgwww.majabechert.deAutorenporträt Seite 2: Dorothee Wolter1. AuflagePrint ISBN 978-3-89401-825-2ePub ISBN 978-3-86438-187-4
Start
Über die Stadt
Wegzeichen: Kapitalismus
Über das Recht auf Stadt
Wegzeichen: Multitude
Über die Selbstverwaltung
Wegzeichen: Staat und Herrschaft
Über das Wohnen
Wegzeichen: Kapital
Über die Produktion
Wegzeichen: Nachhaltigkeit
Über das Kommen und Bleiben
Wegzeichen: Gemeinschaft und Gesellschaft
Über Spielräume und Kampfzonen
Détournez!
Beschluss
Message
Danke!2
Anmerkungen
Literatur
Für die Aktivist*innendes Hamburger Netzwerks»Recht auf Stadt«
Ich gehe durch eine enge Straße, eine übel kalte Nacht ist angebrochen, aber ich friere nicht. Ein weißer LKW hält auf der Fahrbahn neben mir, der Fahrer kurbelt die Scheibe runter und fragt, ob ich einsteigen will. Hinten kommt Bewegung in die LKW-Plane, dann sehe ich ein vertrautes Gesicht, das mich heranwinkt. In zwei Sekunden bin ich auf der Pritsche und zwänge mich ins vollgepackte Innere, zwischen Lautsprecher, Anlage, Generator und fünfzehn Menschen, die mir verhalten zulächeln. Das trübe gelbe Licht des Innenraums ist von einer dumpfen Anspannung erfüllt, in die sich schwarzer Humor mischt, denn die Lage könnte beschissener nicht sein.
Keine Ruhe ringsum. Polizeisirenen tönen unaufhörlich von allen Seiten durch die Planen herein.
Links könnt ihr nicht abbiegen, sage ich, da ist eine Polizeisperre, zwei andere geben dies durch die kleine Luke in die Fahrerkabine weiter. Der Wagen fährt wieder an, direkt in die Einbahnstraße rein. Der einzige Weg raus.
Im Dämmerlicht erscheint mir die Pritsche wie das Innere eines U-Boots, ein urbanes U-Boot mit einer Mission. Wir müssen irgendwie die Häuser erreichen, vor denen Straßensperren liegen, denn das, was in den letzten Stunden passiert ist, können wir nicht akzeptieren. Wir müssen die Häuser erreichen, aus denen man die Menschen rausgeschmissen hat, eine Woche zuvor mitten in der Nacht.
Der LKW biegt links ab, dann geht es sehr, sehr lange geradeaus, wieder links, durch die Luke erhasche ich einen Blick auf eine Kreuzung, über die im Sekundentakt Mannschaftswagen mit ohrenbetäubendem Getöse hinwegpreschen. Ein Ausnahmezustand, den ich nicht erwartet hatte.
Die Leute in der Fahrerkabine bleiben cool, sie drehen eine weitläufige Schleife am Hafen entlang, das können wir nur erahnen, es geht weiter auf verschlungenen Wegen, wieder links, rechts, links. Und dann steht der Wagen schließlich neben den Ruinen von morgen.
Die Heckplane wird aufgeknüpft, der Generator angeworfen, schon schallt ein fetter Beat gegen die lichtlosen, menschenleeren Häuser, diese Schande einer reichen Stadt. Auf dem Vorplatz brandet Jubel auf, und Hunderte Leute kommen begeistert auf den LKW zugelaufen. Diesen Punkt haben wir gewonnen. Aber das Match ist nicht zuende. Es ist noch im ersten Satz.
Ich muss mich sogleich korrigieren: Was sich seit einiger Zeit in vielen Städten der Welt ereignet, so auch an jenem 21. Dezember 2013 in Hamburg, ist kein »Match«.
Ein Match folgt Regeln, die für beide Seiten gelten, ist der Fairness verpflichtet und wird im Prinzip zwischen Gleichen ausgetragen. Wer verliert, hat nichts verloren – es kann immer ein Rückspiel geben, und ein Bier nach dem Abpfiff mit freundschaftlichen Sticheleien lässt die Niederlage heiter verblassen.
In den Städten jedoch geht die eine Seite mit sehr viel Kapital, Abrissbaggern, einem hochgerüsteten Polizeiapparat und dem Recht als Waffe ins Spiel, die andere Seite hingegen mit nichts als ihrer Entschlossenheit, ihrem Witz und ihren Körpern, die sie auf die Straße bringt. Die andere Seite sind die Bewohner, die Plätze behaupten, Häuser retten, Mieter verteidigen, skandalösen Leerstand besetzen, Flüchtlinge schützen wollen. Dafür prügelt man auf sie ein, beschießt sie mit Tränengas, verhindert Versammlungen und Demonstrationen. Natürlich im Namen des Rechtsstaats, der »marktkonformen Demokratie«.
Ein neuer Kampf in den Städten, um die Städte ist entbrannt. Szenen, wie sie sich in Hamburg abspielten, hat es in ähnlicher Weise auch in Athen, Istanbul, Rio, New York, London, Hongkong und andernorts gegeben. Weitere werden folgen.
Dieser Kampf in den Städten ist keiner, den man führen kann, weil man Ungerechtigkeiten und politische Frechheiten nicht länger hinnehmen oder ein liebgewonnenes Quartier retten will. Es ist ein Kampf, den man führen muss: um der Zukunft willen, in der sich der Neoliberalismus nach dem Crash von 2008 häuten und in einen grün lackierten, vollends autoritären Hightech-Kapitalismus verwandeln könnte, in der die unternehmerische Stadt zur Maschine wird und jeden Quadratmeter städtischen Raums beansprucht.
»Unter dem Deckmantel der ›Organisierung des Raumes‹ geht es tatsächlich darum, das Leben im Voraus zu determinieren«, schreibt Manuel Castells schon 1972 in Kampf in den Städten. Man könne, stellt er fest, »die allgemeine Tendenz beobachten, alle möglichen Probleme und Konflikte als ›städtische‹ hinzustellen …, und zwar mit dem Ziel, sie mit ›technischen, neutralen, kalkulierbaren‹ Mitteln anzugehen.«1 Castells untersuchte diese Tendenz damals etwa am Abriss alter Arbeiterviertel im Zentrum von Paris, am Vorabend des gerade heraufdämmernden Computerzeitalters. Rückblickend erweisen sich diese Kämpfe als vergleichsweise grobes Vorspiel einer Zurichtung der Städte, die nun in eine neue Phase tritt.
Moment, stopp, wird der eine oder die andere sagen, sollen die Städte allen Ernstes unsere größte Sorge sein? Klimawandel, Ressourcenverschwendung, Hunger, Kriege, Kapitalakkumulation, Ausbeutung – was ist mit ihnen? Ist das mit den Städten nicht ein Spezialdiskurs eines bestimmten urbanen Milieus, das sonst keine Probleme hat?
Für viele im frühen 21. Jahrhundert ist die Stadt eine Selbstverständlichkeit. Immer schon dagewesen. Sie wurden in sie hineingeboren oder zogen in jungen Jahren dorthin, um der ökonomischen Aussichtslosigkeit der Provinz oder der Öde von Suburbia zu entkommen. Nicht immer freiwillig, doch dann formt sich bald die »young idea« eines anderen, neuen, aufregenderen Lebens im Kopf, das The Jam in »In the City« besangen.
Aber das ist nicht die ganze Geschichte. Treten wir einen Schritt zurück und fragen: Was ist die Stadt?
Sofort haben wir Bilder vor Augen. Von unzähligen Häusern, Straßen, Plätzen, Boulevards, Parks, Denkmälern, Türmen, Tempeln, Menschenmassen, die durch die Straßen eilen oder sich über Märkte schieben, vielleicht auch von Festungen und Stadtmauern. Die Stadt ist das steinerne »Habitat« des Menschen, seit er die Felder, Weiden und Dörfer verlassen hat. Doch schon in dieser Formulierung steckt ideologische Fiktion.
Die Erste ist, dass Städte entstanden, nachdem die bäuerliche Zivilisation, die die Welt der Jäger und Sammler abgelöst hatte, eine gewisse Reife und Komplexität entwickelt hatte. Darin kommt der Glaube an den linearen Fortschritt zum Ausdruck, der die Neuzeit prägt. Henri Lefebvre räumt damit gleich zu Beginn von Die Revolution der Städte auf: »Der Übergang vom Wildbeutertum zum Ackerbau vollzog sich erst unter dem (autoritären) Druck städtischer Zentren.«2 In der Umgebung der 11 500 Jahre alten Tempelstadt Göbekli Tepe, im Südosten der heutigen Türkei gelegen, finden sich beispielsweise keine Spuren von Landwirtschaft, wie Archäologen staunend entdeckt haben.3 Die Stadt des Anfangs ist die politische Stadt. »Sie ist ganz und gar Ordnung, Erlaß, Macht«, schreibt Lefebvre.4 Sie ist das steinerne Zentrum einer neuen, hierarchischen Gesellschaftsordnung, die von dort durchgesetzt wird. Von »Habitat« kann keine Rede sein, denn die meisten Menschen leben anfangs nicht in diesem Zentrum, aber sie bekommen es zu spüren, wenn sie in den Tempeln ihre Abgaben leisten müssen. Die Stadt kommt so mit einem autoritären Charakterzug in die Welt, den sie nicht mehr verlieren wird.
Auch wenn in der klassischen Antike schon Frühformen des Kapitalismus auftauchen, liegt sein Reich noch weit hinter dem Horizont der Geschichte. Seine Vorboten, die Händler, sind in der politischen Stadt nicht wohl gelitten, und auch die Handwerker als frühe Produzenten gelten nichts. Ihr bewegliches Eigentum, allem voran das Geld, das ihnen eine gewisse Unabhängigkeit von der Scholle verschafft, steht in Konkurrenz zum Besitz des Herrschers und des Klerus, zum Selbstverständnis der politischen Stadt als Mittelpunkt einer Weltanschauung. Märkte und Handelsplätze haben in ihr nichts verloren.
»Im Grunde gelingt es der Ware, dem Markt und dem Händler erst im europäischen Abendland, gegen Ende des Mittelalters, siegreich in die Stadt einzudringen«5, schreibt Lefebvre. Ihre Stadt ist die Handelsstadt, die auf die politische Stadt folgt.6 Der Händler und der Handwerker werden zum Bürger und damit zur gesellschaftlichen Formation, die fortan mit dem Adel um Pfründen streitet. Die Stadt ist immer noch eine Insel im Ozean der bäuerlichen Zivilisation, und so hätte es Jahrhunderte weitergehen können. Doch der ökonomische Streit von Adel und Händlern in England bringt etwas ins Rollen, das den Lauf der Weltgeschichte verändert.
Karl Polanyi schreibt: »Der Wesenskern der Industriellen Revolution des 18. Jahrhunderts war die geradezu ans Wundersame grenzende Verbesserung der Produktionsmittel, begleitet von einer katastrophalen Erschütterung des Lebens des einfachen Volkes.«7 Bereits in der Tudor-Epoche kommt es zu Einhegungen von Allmenden, Lords eignen sich Ackerland an, um es zu Schafsweiden zu machen, weil die Tuchproduktion hübsche Gewinne verspricht. Dieser »Krieg gegen das bäuerliche Gewerbe« bringt Menschen um Land und Einkünfte, eine erste Welle der Massenverarmung setzt ein, die das Mittelalter so nicht gekannt hatte. Noch ist die Produktion ein »Anhängsel zum Handel«8, der sich jedoch immer stärker ausweitet und den Export entdeckt. Mit der Maschinisierung der Tuchproduktion wandelt sich der Händler zum Fabrikanten, der die aus der Subsistenzwirtschaft herausgerissene Landbevölkerung als Arbeitskräfte anheuert, in die Stadt zieht. Von dort führt kein Weg mehr zurück aufs vollends eingehegte Land, wo die Agrarlöhne zum Leben nicht reichen. Die Urbanisierung ist von einer »verhängnisvollen Nichtumkehrbarkeit«9, wie Polanyi in The Great Transformation schreibt. Die Städte explodieren, die Industriestadt entsteht. Nur zwei Zahlen: 1750 leben erst 2,7 Prozent der Bevölkerung Englands in Städten, 1800 sind es bereits 22,8 Prozent.10 Andere europäische Länder folgen dieser Entwicklung bald.
Lefebvre betont jedoch zurecht, dass die Stadt mit der Industrialisierung nicht einfach größer wird, dass die reinen Zahlen der fortschreitenden Urbanisierung – die auch heute in keinem UN-Bericht zur weltweiten Verstädterung fehlen – den Kern der Erschütterung verfehlen. Er schreibt:
»Die urbane Realität, die an Umfang gewonnen hat und jeden Rahmen sprengt, verliert in dieser Bewegung die ihr in der vorausgegangenen Epoche zugeschriebenen Eigenschaften: organisches Ganzes, Zugehörigkeit, begeisterndes Bild, ein von glanzvollen Bauwerken abgemessener und beherrschter Raum zu sein. … Die städtische Wirklichkeit wird Befehl, unterdrückerische Ordnung, Markierung durch Signale, wird summarische Verkehrsordnung und Verkehrszeichen.«11
Die Stadt wird summarische Verkehrsordnung, indem sie sich um den Strom der Rohstoffe, Waren und Arbeitskräfte neu formiert. Sie gibt sich als Verkehrsordnung eine neue Raumordnung, schleift Stadtmauern, selbst Ghettos – die dem Strom im Wege stehen –, legt Straßen und Eisenbahntrassen bis dicht ans Zentrum, um den Strom von und zu den Fabriken fließen zu lassen. Die erste spektakuläre Raumordnung nimmt Georges-Eugène Haussmann in Paris zwischen 1853 und 1870 vor, indem er 120 Meter breite Boulevards durch die dicht bebaute Stadt schlagen lässt. Die zweite Raumordnung wird in der Charta von Athen gut sechzig Jahre später gedanklich vorbereitet und im Fordismus nach dem Zweiten Weltkrieg Wirklichkeit. Leben, Produzieren und Konsumieren bilden eigene Zonen, die mit dem neuen Massenprodukt des privaten Autos über ins städtische Gewebe hineingeschnittene Verkehrsadern verbunden sind, und bescheren der Gesellschaft die öde Innenstadt, das sterile Gewerbegebiet, die dumpfe Vorstadt und die idiotische Trabantenstadt.
Gerade die Trabantenstadt ist der von allem Urbanen gereinigte »Lebensraum«, der den Wohnraum ablöst. Der Lebensraum ist »Anwendung eines globalen, homogenen und quantitativen Raums, Zwang für das ›Erlebte‹, sich in Schachteln, Käfigen oder ›Wohnmaschinen‹ einschließen zu lassen«, schreibt Lefebvre.12 Die Rede von der Stadt als »natürlichem« Habitat übernimmt unkritisch den Gedanken des Lebensraums – dies ist die zweite ideologische Fiktion.
Die Limesstadt in der Nähe von Frankfurt am Main kommt mir in den Sinn. Als Kind streifte ich damals an den Nachmittagen begeistert in einer mehr oder weniger großen Kinderhorde durch die grünen Flächen zwischen den Plattenbauten der hufeisenförmigen Trabantenstadt. Wir hielten auf irgendeiner rechteckigen Wiese zum Fußballspielen und wurden zuweilen auf dem Nachhauseweg an den zwei großen Spielplätzen entlang des Hauptwegs durch die Siedlung – des »Mittelwegs« – von gelangweilten Jugendlichen gestellt, die die bedingslose Herausgabe des Balls verlangten. Den bolzten sie dann hundert Meter in einen der Vorgärten der Reihenhäuser, die es zwischen den Plattenbauten gab. Abwechslung boten die beiden Kioske, wo »Sputniks« und Eis lockten, und hier und da eine Baustelle. Der Mittelweg war das Gegenteil einer Straße als öffentlicher Raum, die Erwachsenen eilten ihn morgens hinunter, um die S-Bahn zur Arbeit zu bekommen, und abends hinauf, um in die Wohnschachteln zurückzukehren. Niemand wäre je auf die Idee gekommen, auf dem Mittelweg zu flanieren. Als Tummelplatz für minderjährige Situationisten, die von Debord noch nichts wussten, war die Limesstadt durchaus gelungen. Aber sie war auch nur mit den Augen eines Kindes ernst zu nehmen.
Für die Nachkriegsmoderne ist die Limesstadt, in die ab 1964 die ersten Bewohner einziehen, ein Vorzeigeobjekt. Vier Jahre später wird in den europäischen Straßenschlachten auch der Traum vom fordistischen urbanen Lebensraum angegriffen. Noch einmal zwei Jahre später zieht Lefebvre in Die Revolution der Städte Bilanz. Drei zukunftsweisende Thesen formuliert er darin: Die Industriestadt geht in eine gerade beginnende vierte Form, die »kritische Zone«, über, die nicht mehr als Stadt, sondern als »Verstädterung« bezeichnet werden sollte; die Gesellschaft der nachindustriellen Zeit wird eine vollständig verstädterte Gesellschaft sein; und die »urbane Problematik erfaßt die gesamte Erde«.13 Vor allem die dritte These ist 1970 keineswegs so klar, wie sie heute erscheint. China hat gerade die Kulturrevolution überstanden, aber der staatskapitalistische Aufbruch unter Deng Xiao Ping, der eine atemberaubende Verstädterung Chinas einleiten wird, ist noch nicht einmal zu erahnen. In Lagos leben nur 1,2 Millionen Menschen, 13 Millionen weitere werden erst in den folgenden Jahrzehnten hinzukommen und die nigerianische Metropole zum zweifelhaften Klischee eines »Drittwelt-Molochs« machen.
Für Lefebvre ähnelt die kritische Zone noch einer Black Box, deren Innenleben er nicht recht durchschaut. Sein Mitarbeiter Castells – die beiden arbeiten damals an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris zusammen – bemerkt: »In immer schnellerem Rhythmus treten Büros an die Stelle von Industrien und Wohnungen.«14 Die nachindustrielle Gesellschaft kündigt sich an und mit ihr das Zeitalter der deindustrialisierten, neoliberalen Städte. Daniel Bell schreibt 1973: »Die nachindustrielle Gesellschaft schließlich beruht auf Dienstleistungen, ist also ein Spiel zwischen Personen. In ihr zählt weniger die Muskelkraft oder Energie als [die] Information.«15
Fahren wir den Film einmal im Zeitraffer ab: Die Fabriken verschwinden, der Himmel wird wieder blauer, in Hinterhof-Werkstätten ziehen Künstler und Lebenskünstler ein und kreieren das Loft als Wohntraum, die Stadtzentren werden exzessive Konsumzonen, die Innenstädte beleben sich wieder und erleben Wellen der Gentrifizierung, Industriebrachen erstehen als Technologie-Hubs oder exklusive Wohnquartiere wieder auf, Einkaufsstraßen werden zu »Business Improvement Districts« mit privaten Wachdiensten, Gated Communities poppen auf, das Stadtmarketing gewinnt an Bedeutung, das Buhlen der Metropolen um »Leistungsträger« und Touristen intensiviert sich, die Events im städtischen Raum folgen immer dichter aufeinander, die Kreativwirtschaft steigt zum Lead-Sektor auf; dazwischen Hausbesetzungen, die geräumt werden, Riots, die verpuffen, Proteste gegen die Globalisierung, die sich auflösen, doch gegen Ende des Films steigert sich ihre Frequenz, beginnen sie das Bild der nachindustriellen Verstädterung zu überlagern. Dann stoppt der Film. Wir sind im Hier und Jetzt.
Schnell geschnittene Bilder sind à jour, aber trügerisch. Uns entgeht vielleicht ein Schwenk auf eine Hausfassade oder auf zwei Personen am Bildrand, erst recht der Blick ins Innenleben des städtischen Gewebes, das keinen sichtbaren Ausdruck findet. Seine Veränderung entzieht sich der Verbildlichung, ist aber zentral für das Verständnis der Gegenwart.
Bell kündigte in Die nachindustrielle Gesellschaft den Aufstieg zweier Protagonisten an: des akademisch geschulten Managers und des, wie man heute sagen würde, »Wissensarbeiters«. Sie lösen in den frühindustrialisierten Ländern Fabrikant und klassischen Arbeiter ab. Der Wissensarbeiter hält nicht mehr Maschinen am Laufen, auf dass sie einen unaufhörlichen Strom an Waren ausspucken, er produziert selbst. Ideen, Konzepte, Berechnungen, auch Töne und Bilder, mit denen die Warenproduktion außerhalb der Stadt gesteuert und vermarktet wird. Ist der klassische Arbeiter vor allem Anbieter seiner Muskelkraft, bietet der Wissensarbeiter nur noch seinen Kopf an. Den Kopf voran wird er schließlich mit seinem ganzen Leben in die Verwertung seiner selbst gesogen. Wie er sich kleidet, was er isst, welche Filme er sieht, wie er wohnt, wandelt sich vom Ausdruck einer selbst gewählten, noch spielerischen Identität zur Person als Marke, die auf dem Arbeitsmarkt mit anderen Personen-Marken konkurriert.
Die Befreiung aus dem muffigen bürgerlichen Korsett, in der bei 68ern und Hippies immer auch die Hoffnung auf eine neue Kollektivität mitschwingt, entwendet der Neoliberalismus ein Jahrzehnt später. Er setzt die Produktivkraft des Individuums als Ganzem frei, in jenem »Spiel zwischen Personen«, das die Dienstleistungsökonomie antreibt. Punk und Thatcherism mögen in jener Phase der Entwendung, Ende der Siebziger, als Antagonisten erscheinen. In ihrer Ablehnung der als peinlich empfundenen Hippie-Counterculture entpuppen sie sich heute eher als zwei Strudel einer Strömung, die beginnt, den Gedanken vom freien Kollektiv zu unterspülen. Auch Punk wird schließlich entwendet und schafft es als Business-Punk mit blau gefärbten Haaren in der Gestalt von Craig Kanarick16 gar, zur Ikone des digitalisierten Neoliberalismus zu werden.
Auch wenn bei Bell immer wieder ein kulturkonservativer Unterton mitschwingt, etwa wenn er in der nachindustriellen Gesellschaft die »Aushöhlung« moralischer Werte kommen sieht, nimmt er eine weitere Entwicklung korrekt vorweg. Bell schreibt: »Information bedeutet alles und wird zur Machtquelle innerhalb von Organisationen. Damit rückt die fachliche Qualifikation zum Kriterium der Position auf, was indessen dem Trend, der breiten Bevölkerung mehr Rechte, ein stärkeres Mitspracherecht in gesellschaftlichen Belangen, einzuräumen, zuwiderläuft.«17 Der Konflikt zwischen Kapitalist und Arbeiter weicht dem Konflikt zwischen Fachleuten und Bevölkerung »in den Organisationen und auf kommunaler Ebene«.18 Was Bell noch nicht ahnt, weil bei ihm die Stadt nicht im Mittelpunkt der Betrachtungen steht, ist deren Neujustierung als unternehmerische Stadt, propagiert – und hinlänglich zitiert – unter anderem vom Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi Anfang der Achtziger. Der Konflikt in der Organisation und in der Kommune fällt in eins, wenn die »Stadtväter« sich in ihrem Selbstverständnis zu Managern wandeln.
Die Stadtbewohner sind nun gehalten, die Auslagen herangeschaffter Waren leerzukonsumieren und zugleich die Stadt selbst als vermarktbares Produkt mit zu produzieren. Das tun sie, indem sie Vierteln durch ihr bloßes Alltagsleben ein Gesicht geben, das sich für immer neue Attraktionen und Events eignet, und auch gleich noch die Dienstleistungen für deren Besucher erbringen – vom Bierausschank bis zum Design des Lokalkolorits. Geschleift wird dabei der öffentliche Raum, was wiederum Lefebvre korrekt vorwegnimmt:
»Wenn die Behörde Prozessionen, Maskeraden, Bälle und folkloristische Feste genehmigt, dann wirkt die Besitzergreifung und Wiederinbesitznahme der Straße durch den Menschen wie eine Karikatur. Eine echte Inbesitznahme – die ›Demonstration‹ – wird von den Kräften der Unterdrückung bekämpft, die Schweigen und Vergessen gebieten.«19
Unter der Umgestaltung der Stadt zum Produkt liegt eine Ebene, auf die David Harvey immer wieder hinweist. Es ist die Stadt als Anlageobjekt. Das war sie zwar schon im 19. Jahrhundert, als der Haussmann’sche Umbau von Paris über Kredite finanziert wurde. Und auch im Nachkriegsboom der USA kann Suburbia, angeschoben durch Haussmann-Bewunderer Robert Moses, nur entstehen, weil über Steuererleichterungen und neue Finanzierungsmodelle Kapital mobilisiert wird. Doch gilt hier noch der Burgfrieden zwischen Kapital und Arbeit, der den Massenkonsum überhaupt erst ermöglicht. Der Preis, den das Kapital angesichts der Systemkonkurrenz aus dem Ostblock zahlt, sind der Sozialstaat und die Kooperation mit den Gewerkschaften. Dieser Burgfrieden endet für die Städte 1975 mit dem Bankrott von New York City. Eine Gruppe von US-Banken verweigert der Stadt notwendige Kredite, um das Haushaltsdefizit zu überbrücken. Harvey schreibt: »Das Ganze lief auf einen Putsch der Finanzinstitute gegen die demokratisch gewählte Regierung von New York City hinaus.«20
Diese stellen für die weitere Finanzierung Bedingungen. Die Stadt verpflichtet sich, unter Aufsicht neuer Institutionen wie der Municipal Assistance Corporation und dem Emergency Financial Control Board, die Löhne für die städtischen Angestellten einzufrieren, die Ausgaben für Bildung, Nahverkehr und Gesundheitsdienste zu kürzen. Zugleich müssen die Pensionsfonds der Stadtbediensteten ihre Einlagen in den Schuldverschreibungen von New York City anlegen. Harvey schreibt: »Damit waren den Gewerkschaften Daumenschrauben angelegt, denn wenn sie ihre Forderungen nicht mäßigen wollten, liefen sie Gefahr, bei einem Bankrott der Stadt ihre Pensionsansprüche zu verlieren.«21