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"Die Uhr tickt. Oder ist eine Bombe in der Gegenwart? Draußen verändert sich etwas, und es fühlt sich nicht gut an." Eine Inventur tut not: Niels Boeing nimmt sie in 99 Behauptungen auf 99 Seiten vor. Vom Leben in der Stadt als kritischer Flaneur oder als Beobachter am Schreibtisch, über Versuche, das Leben - und die Stadt - besser zu machen, von Kunstprojekten und Happenings, von Politik und Liebe berichtet er. Es ist an der Zeit, sich selbst als Bürger, als Konsument, als Mensch in die Waagschale zu werfen. Jede Überlegung spitzt sich in einem Slogan zu. "Profit sucks." "Der Ausnahmezustand ist bereits eingetreten." "Die wichtigste Technologie ist Zuhören." "Opposition ist nicht genug." "Zivilisation ist eine KMettenreaktion." "Desertiert haufenweise." So wird durchgespielt, wo und wofür eine kritische, intellektuelle Generation heute, nach '68, nach '89, steht. Alles auf Null legt die Spielräume und Kampfzonen frei, die auf dem Weg aus dem Kapitalismus zu durchqueren sind. "Niels Boeing hat die Warterei schon lange satt. Sie entspricht nicht seinem Temperament. In diesem Buch fragt er nach Möglichkeiten. Nach der massenhaften Produktion von Unterscheidung und Möglichkeiten. Vielleicht halten Sie das für eine geringe Ambition. Doch es ist mehr, als wir von den meisten aktuellen Texten erwarten können." Oliver Fahrni (Nachwort)
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Seitenzahl: 157
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WIE SOLLEN WIR LEBEN? WAS KÖNNEN WIR TUN?
Diesen Grundsatzfragen geht Niels Boeing nach und erörtert sie nachdenklich bis kämpferisch, subjektiv bis imperativ: »Wir sind die Vielen, und wir können den neuen Beat anschlagen, der alle Macht pulverisieren wird. Wir, die Multitude. Wir werden uns erkennen, wenn wir es endlich zulassen, wenn wir unser lauwarmes Leben hinter uns lassen und es denen gleichtun, die brannten und niemals froren. ›Let’s burn!‹«
NIELS BOEING, 44, Mitglied des Aktionsbetriebs LOMU – local organized multitude, aktiv im Hamburger Netzwerk »Recht auf Stadt«, Reisender und Journalist u. a. für Die Zeit, Freitag, Technology Review. Co-Autor von 21000 Kilometer oder die Kunst, sitzen zu lernen – Eine Reise von Hamburg nach Kapstadt mit Bus, Bahn und Boot (Rowohlt).
CHRISTOPH SCHÄFER, 47, Bildhauer, Konzept- und Videokünstler. Hat als Teil der Gruppe »Park Fiction« das Konzept der urbanen Wunschproduktion entwickelt. Ist Autor von Die Stadt ist unsere Fabrik und aktiv im Hamburger Netzwerk »Recht auf Stadt«.
OLIVER FAHRNI, 55, Journalist und reisender Sozialwissenschaftler. Früher stellvertretender Chefredakteur der Weltwoche und Auslandschef der Woche. Er führt die geogesellschaftliche Denkfabrik Cargo3 und ist Redakteur der Gewerkschaftszeitung work in Bern.
GEBRAUCHSANWEISUNGFÜR DIE WIRKLICHKEIT
MIT ILLUSTRATIONEN VON CHRISTOPH SCHÄFERUND EINEM NACHWORT VON OLIVER FAHRNI
Für Lore Hamburg
Für Franz Công Bùi
Für die Vielen,die ans Desertieren denken
EDITION NAUTILUS Verlag Lutz Schulenburg | Schützenstraße 49 a | D - 22761 Hamburg |www.edition-nautilus.de| Alle Rechte vorbehalten | © Edition Nautilus 2011 | Umschlag: Maja Bechert |www.majabechert.de| Originalveröffentlichung | Erstausgabe August 2011 | Druck & Bindung: Druckhaus »Thomas Müntzer« | 1. Auflage | Print · ISBN 978-3-89401-747-7 | eBook · ISBN 978-3-86438-049-5 (ePub) · ISBN 978-3-86438-050-1 (PDF)
Die Uhr tickt. Oder ist es eine Bombe in der Gegenwart?
Der Sekundenzeiger rückt weiter, und ich wäge meine Optionen, berechne meine Produktivität, unaufhörlich, schwitzend stapele ich Zigarettenkippen und habe doch nur wenig zu bieten, das sich für die Gegenwart eignet.
Meine Träume bringen mir nichts ein. Sie sind nichts wert.
Meine Hände brauche ich gar nicht erst anzusehen. Ich habe nichts Praktisches gelernt, das für die Zukunft taugen würde.
Ich wurde in eine neue Wildnis hineingeworfen, in der die Überlegenheit des Kopfes über die Faust das Überleben sichern soll. Unter Wölfen, deren Köpfe Fangzähne haben.
Mein Kopf hat keine Fangzähne, auch wenn andere das Gegenteil behaupten.
Du musst Inventur machen, schneller, die Zeit verstreicht. Zeit ist Geld, das ist das Gesetz der Gegenwart. Beides zerrinnt, und dann bist du nichts, ein Staub.
Draußen verändert sich etwas, und es fühlt sich nicht gut an. Draußen, wo ich mich verkaufen muss wie alle anderen. Das ist das andere Gesetz der Gegenwart, unter dem wir alle ächzen.
Ich kenne niemanden, der keine Bleijacke unter seinen Klamotten trüge.
In den Köpfen rattern die Rechenwerke, wie sie den Kampf gegen die Zeit gewinnen können, gegen das zerrinnende Geld. Klauben irgendetwas zusammen und werfen zuletzt sich selbst auf den Markt, um mit dem Geld Aufschub zu erhalten. Spannen die Gesichtsmuskeln, um jederzeit loslächeln zu können.
Der Zeiger ist weitergerückt, während ich stehen geblieben bin. Das wird mich einiges kosten.
Profit sucks.
Auf der Straße wächst seit Stunden eine Schneedecke und hüllt die nächtliche Stadt in Schweigen. Ein Schweigen, in dem plötzlich alle zu träumen wagen. Wenn nichts mehr geht und alles zusammenbricht, wäre wieder alles möglich.
Das Gestern wäre ausgelöscht und das Morgen noch ein leeres Blatt. Darauf schrieben wir Geschichte.
Dann sehe ich, dass kein Schnee fällt, sondern Staub. In dicken Flocken senkt er sich schmutzig über unsere Zeit.
In der Schattenstaubzeit haben sich die alten Utopien in die Ritzen grauen Mauerwerks verkrochen. Nur eine Explosion würde sie daraus hervorholen können.
Um sie mit unseren intellektuellen Taschenmessern herauszukratzen, brauchten wir tausend Jahre. Aber nur Unmenschen denken in Jahrtausenden.
Ich erwische mich dabei, dass auch ich vom Ausnahmezustand träume. Für diesen romantischen Wahn sollte ich mir eine reinhauen. Für Unzählige ist der Ausnahmezustand längst eingetreten, und nicht nur im Kongo.
Geh ins nächste Einkaufszentrum, in die Siedlungen von Farland, nicht weit weg von der Innenstadt, da kannst du die Verwüstungen selbst sehen. Wenn du nur deine staubverklebten Augen aufbekämst, Idiot.
Ich wende mich ab vom Fenster und schmeiße die Uhr an die Wand. Das Ticken verstummt nicht. Also doch eine Bombe.
Wie viel Zeit bleibt mir noch?
Bis zum Morgengrauen vielleicht.
Aus dem Kühlschrank hole ich mir ein Bier, zünde die nächste Zigarette an und setze mich an den leeren Tisch, auf dem ich meine Gedanken ausbreiten und sortieren werde. Diese Inventur ist schon lange überfällig, will ich nicht irre werden. Ich notiere:
Der Ausnahmezustand ist bereits eingetreten.
Wir waren aufgebrochen, als wir noch keine Gewichte an den Füßen hatten. Ein neues Jahrzehnt hatte begonnen, der Kommunismus war untergegangen, vor uns die Zukunft, leuchtend, aufregend und definitiv unübersichtlich.
»Wir sind die erste Generation, die keine Entschuldigung hat, nicht alles zu wagen«, sagte R damals. Die Großeltern hatten uns einen Wohlstand ohne Beispiel erarbeitet, die Eltern ’68 unerhörte Freiheiten erkämpft.
Wir stürzten uns ins Getümmel, ins große Spiel, dessen Regeln wir verändern würden, wenn wir sie erst verstanden hätten.
Heute haben wir Gewichte an den Füßen und glauben, dass man in dieser realen Welt nur noch eins tun kann: mitspielen. Und ging dieses Spiel nicht kinderleicht von der Hand, solange sich die Konten nicht leerten?
Wenn ich beim Grillen oder auf einer Party noch mal fragte: »Können wir über Politik reden?«, erntete ich schallendes Gelächter. Ein guter Gag. Dabei meinte ich es ernst.
Das 68er-Credo, dass das Private politisch ist, haben wir auf bizarre Weise umgebogen. Das Private ist Politik genug. Das Management der Möglichkeiten ist schließlich ein Fulltime-Job. Da bleibt keine Zeit, über die Gegenwart nachzudenken.
Unsere Generation ist einfach abgehauen, sagt O. Die 68er werden alt, und nach ihnen das Vakuum. Keiner mehr da, um dagegen zu kämpfen, dass die Bastionen der Grundrechte und des Sozialstaats geschleift werden.
Ich will das nicht auf mir sitzen lassen, aber O winkt ab. Wir haben uns alle entzogen, ich genauso wie du, sagt er. Ich würde mir in die Tasche lügen, wenn ich das leugnete. Es tut nichts zur Sache, ob einer den Staat als Selbstbedienungsladen oder als Monster ansieht. Das Ergebnis ist dasselbe:
Ohne dich ist diese Gesellschaft unvollständig.
Force! Nach vorne! Ich muss alles hinter mir lassen, das Neue duldet keinen Aufschub. Aber dann überkommt mich die Lähmung schon vor dem ersten Schritt:
Wohin genau? Was tun? Wie sein?
Ja, zuerst diese Frage: Wie sein?
Ernsthaft und verantwortungsbewusst, Schluss mit dem Boheme-Zauber, der sich um nichts schert, denke ich, es gilt: »Fang bei dir selbst an.« Schon hunderte Male gehört.
Aber lauert in der Ernsthaftigkeit nicht das Pathos, das unerträgliche, im Verantwortungsbewusstsein das humorlose Spießertum? Braucht es nicht gerade Ironie und Unverbindlichkeit, um diesem Elend zu entgehen?
Ich weiß es nicht.
Aber Disziplin ist unverzichtbar, wenn wir das Neue überhaupt schaffen wollen. Zerstreuung 24/7 ist das Wesen der Spaßgesellschaft. Ob als Millionärsbonanza oder Hartz-IV-TV, macht keinen Unterschied. Durchsoffene Nächte taugen für Heldenepen des Existenzialismus, aber sie sind folgenlos.
Doch andererseits: Hat nicht religiöse Disziplin den verhassten Kapitalismus über uns gebracht? Asketen sind immer das Militär des Geistes gewesen, und geistige Demilitarisierung ist wichtiger denn je.
Das weiß ich immerhin.
Und weiter prasseln die Widersprüche auf mich ein, und je länger ich nachdenke, desto mehr schwankt mir der Grund unter den Füßen. Im Orkan der Meinungen und Statistiken wird alles zugleich plausibel und hochgradig suspekt.
Wie John Difool fliege ich im freien Fall durch die Ebenen vermeintlicher Gewissheiten, direkt der Kloake mit den Psychoratten entgegen. Tolle Aussichten, um eine Revolution zu starten, aber scheiß drauf.
Gegensätze sind Lichtspiele.
Hey, ich bin es, dein Sezierer.
Ich schaue mich um, kann aber niemanden sehen. Wer ist da?
Vorsicht! Keine unbedachten Äußerungen, keine dummen Fragen. Was du auch sagen willst, ich werde es gegen dich verwenden. Du redest von Werten, von Theorien, von Utopien. Ich werde sie dir nicht lassen, Stück für Stück werde ich sie zerreißen, werde gegenreden – und glaub nicht, dass du mich täuschen kannst. In dem Augenblick, da du die Seite wechselst, auf mich eingehst, tauche ich ab und erwische dich von hinten. Du wunderst dich, dass ich dir das so sage. Es tut nichts zur Sache, deshalb sage ich es. Ich werde kein gutes Haar an dir lassen, dich zerfleischen, wenn du dich in den Fallen, die ich aufstelle, windest.
Das hat mir noch gefehlt. Was soll dieses Gequatsche?
Cool down. Ich rede von meiner Konfrontation mit dir. Du bist das Problem, weil du nichts zu Ende gedacht hast. Weil du dieses System aufrechterhältst. Weil du kooperierst. Weil du einen Konsens suchst. Konsens ist Feigheit. Ich will die Differenz, denn sie ermöglicht Identität. Ich schaffe mir das Ghetto, aus dem heraus ich dich traktiere mit dem Vorwurf, du würdest mich missachten und diskriminieren. Und tätest du es nicht, würde ich dich so erbarmungslos reizen, bis du mich ins Ghetto prügelst. Ich werde den Faschisten auch aus dir hervorzerren.
Wut steigt in mir auf, doch der Sezierer setzt nach.
Ja, das kannst du nicht ertragen. Ich werde euch reizen, bis ihr hilflos um euch schlagt und alles in Trümmern liegt. Bis alles zur Kenntlichkeit entstellt ist.
Und dann?, frage ich.
Das ist nicht mein Problem, sagt der Sezierer.
Na klar, schon verstanden. Abgang, Mann.
Sezieren ist nicht genug.
In einem hat der Sezierer recht: Der Faschismus ist eine Krankheit, die in der Mitte der Gesellschaft ausbricht. Von wegen Extremisten. Es sind immer schon gewöhnliche Leute gewesen, die tagsüber das Geschäft des Bösen verrichten und nachts ihren Kindern über den Kopf streicheln. Die Bestialität spaltet sich problemlos von der Liebe ab, wenn die Tür ins Schloss fällt. Schizophrenie als Normalzustand.
Klar, dass diese Erkenntnis einen Schock auslöste. Traurig, dass sie in eine Psychose umschlug.
Entlarve den Faschisten, den Rassisten, den Sexisten, der sich hinter der Maske des Biedermanns, gar des Gutmenschen verbirgt. Und wenn er die Maske nicht wahrgenommen hat, umso schlimmer für ihn.
Für die rhetorisch Begabten ein leichtes Spiel. Fortan wird jeder Satz, jede Handlung seziert und gewendet, und da, schon wieder ein Keim der Barbarei entdeckt. An den Pranger damit. Was für ein Fest.
Übermächtig ist die Versuchung, diesen Spürsinn zum eigenen Vorteil auszuschlachten. Aber die Eitlen und die Selbstgerechten sind ihr in Scharen verfallen. Das ist das eigentliche Elend der Linken. Sie klagen zu viel an.
Dabei kann keiner von ihnen die Frage beantworten, woher er weiß, dass das Virus der Menschenverachtung nicht auch in ihm schlummert. All die intellektuellen Belesenheitsnachweise überzeugen mich nicht. Und ich möchte verstehen, inwiefern sich das große Verdächtigungsspiel von faschistoider Denunziation unterscheidet.
Ich habe ohnehin den Verdacht, dass das Verdächtigungsspiel dem eigenen Exorzismus dient. Die Idiotie des Ablasshandels hat den Katholizismus überlebt, wenn die Überführung eines Kryptofaschisten als Nachweis gilt, sich selbst von allem faschistoiden Gedankengut gereinigt zu haben. Die Erkenntnis eigener Schuldfähigkeit hat eine linke Bigotterie hervorgebracht:
Jeder ist seines Nächsten Faschist.
Das Haus, in dem ich lebe, steht in Posertown. Am Ortseingang lassen unsichtbare Barrieren die Lachmuskeln erstarren, und schon geht das nächste Verdächtigungsspiel los.
Finde die Uncoolen. Entlarve die politisch Unkorrekten. Strafe die Unkreativen mit Verachtung. Zeige deine Hipness. Bekanntschaften werden durch ein Zucken im Augenwinkel angedeutet. Freundschaften dagegen frenetisch zur Schau gestellt.
Am Pferdemarkt findet in einem Hinterhof eine Party statt, und nach all den Jahren läuft dort immer noch music for modern living. Trainingsjacken schieben sich im Wummern der Bässe durch ein Loft, überall Turnschuhe, die jetzt Sneakers heißen.
Das hat immerhin den Vorteil, dass ich von all den Zehen verschont bleibe, die sich mir im Sommer aus Schlappen entgegenrecken. Füße, an denen der zweite Zeh viel zu lang und oft genug behaart ist.
Alle bemühen sich redlich, Erfolg und Sexiness zu verkörpern. Aber das ist kein Spiel. Hier ist keine Geste überschäumend, alles ist kalkuliert.
Der Typ auf dem Sitzpuff gegenüber hält sein Bier lässig zwischen zwei Fingern und dem Daumen, so wie eine Bockwurst. Es soll Leichtigkeit andeuten. Er stemmt sein Bier nicht, er pfeift es sich beiläufig rein.
Wahrscheinlich denkt gerade irgendjemand dasselbe über mich, beobachtet mich aus der hinteren Ecke des Raumes auf meinem Sitzpuff, auf dem ich vor mich hin starre, und woher soll er wissen, dass es nur aus Ratlosigkeit ist?
Auch Posertown glaubt an die Kraft des gepanzerten Ich®. Verdächtig sind immer die anderen. Ich winde mich unter diesem Schwachsinn, möchte sie alle in Grund und Boden lächeln, aber was für ein kleinlicher Gedanke, nicht besser als all die überflüssigen Gesten.
Für Arroganz gibt es keine Entschuldigung.
Aber wer bin ich, mich zu beschweren? Von Zeit zu Zeit leide ich unter misanthropischen Anfällen, die wie Schnupfen über mich kommen. Vielleicht ist es die Hektik der Stadt, die ihren Tribut fordert. Vielleicht ist es auch das große Gefangenendilemma der gesellschaftlichen Subjekte, die es nie schaffen, eine kritische Masse zu bilden.
Mit saurer Miene laufe ich durch die Straßen und finde alle, die mir entgegenkommen, zweifelhaft, versuche, sie anhand ihrer Gesichtsausdrücke eines Vergehens zu überführen, dessen sie sich gar nicht schuldig gemacht haben, aber ich frage nicht nach, denn ich kenne sie ja nicht.
Heimlich belausche ich ein Gespräch an der Kasse im Supermarkt, in der Kneipe am Tresen, im Zug, ein Gespräch, dessen Kontext ich nicht kennen kann, aber ich will Sätze, die ich aufschnappe, falsch verstehen können und mich echauffieren über Unbedarftheit, Klugscheißerei oder Hippe-Sau-Getue. Ich will eine Bestätigung für meine Unterstellung, dass man auf die graue Masse nicht rechnen kann.
Ortegas Aufstand der Massen ist einem Schlaf der Massen gewichen, eingenickt unter dem Bombardement des Entertainments, in das selbst Katastrophen und Krisen wie diese noch verwandelt werden. Ihr wacht doch nur auf, um weiter zu konsumieren, denke ich, und euch in die Tasche zu lügen.
Ich bin kurz davor, mich dem bohrenden Nihilismus zu ergeben, die ganze Donquichotterie hinzuwerfen, denn ist es das nicht, was ich mache, wenn ich hoffe, die Welt ließe sich doch noch aus den Angeln heben?
Pass auf. »Der Hund des Zweifels schläft leise. Er könnte aufwachen und deine Überzeugung anbellen, und du wärest verloren«, ließ Feuchtwanger den alten Musa Ibn Da’ud sagen.
Lass den Hund des Zweifels weiterschlafen. Geh raus und mach die Augen auf. Da ist keine graue Masse.
Rechts und links von dir wohnen Menschen.
Ich höre in die Stille und meine ein Murmeln zu vernehmen, das durch die Städte, durchs Land rauscht. Ja, da ist doch was: Sie sind dagegen, und sie werden langsam mehr.
Gegen Bereicherung. Bin ich auch.
Gegen Überwachung. Bin ich auch.
Gegen Armut. Bin ich auch.
Gegen Faschos. Bin ich auch.
Gegen Wucher. Bin ich auch.
Gegen Umweltzerstörung. Bin ich auch.
Gegen Waffenhandel. Bin ich auch.
Gegen den Irak-Krieg. Bin ich auch.
Gegen Rassismus. Bin ich auch.
Gegen Sexismus. Hey, bin ich auch. Gimme Five.
Ich bin sogar gegen noch mehr.
Gegen die Berliner Republik und ihren Neoimperialismus.
Gegen Schwarz-Rot-Gold.
Gegen den Kapitalismus.
Gegen Privateigentum an den Produktionsmitteln.
Gegen den Sozialismus.
Gegen Fundamentalisten jeder Couleur.
Gegen Gott.
Gegen Richard Dawkins.
Gegen Che-Guevara-T-Shirts.
Gegen Gedankenlosigkeit.
Gegen intellektuelle Faulheit.
Gegen … noch mehr.
In Nächten wie diesen bin ich so dagegen, dass es mir fast die Luft nimmt. Die Menge pogt und grölt, während Bonaparte »Anti, Anti« ins Mikro brüllt. Ja, ja, anti, anti, und ich gröl mit. Opposition ist Pop.
Aber hörst du das? Die Maske ist noch nicht fertig, doch das Ende geht im Tosen unter. »I won’t say no – it’s yes, I say.«
Ich will auch yes sagen. Aber yes wozu? Wofür bin ich?
Opposition ist nicht genug.
Der Hund des Zweifels zuckt im Schlaf mit den Beinen, während ich weitere Worte in die Tasten haue. Ich will an die Kraft des Wortes glauben, daran, dass all die Megatonnen Tinte, die geschrieben wurden und werden, etwas verändern. Aber immer wieder taucht dieser Satz von Erich Kuby in meinem Kopf auf: »Mit Schreibmaschinen ändert man das System nicht.«
Die Dissidenten haben die Schreibmaschinen gegen Computer eingetauscht, schreiben noch entschlossener gegen die Verhältnisse an, der Output ist gewaltig angeschwollen, und doch kommen immer wieder nur Analysen und Pamphlete heraus. Lauter rechtschaffene Empörung, so viel Empörung war schon lange nicht mehr wie in diesen Tagen. Wer wird die glasklaren Sätze hervorbringen, die den Deckel des Wasserkessels davonschleudern können und wie ein Strahl kochend heißen Dampfes in die Verhältnisse hineinstieben?
Nicht so ein laues Zeug wie »Eine andere Welt ist möglich«. Wer das noch mal behauptet, muss es hundertmal in Schönschrift aufschreiben.
Auch nicht Kurz’sche Wut wie »Der Inhalt der Befreiungsbewegung kann nur die kategoriale Kritik am gesellschaftlichen Formzusammenhang des modernen warenproduzierenden Systems sein«, die schon kalt ist, bevor man den Satz überhaupt zu Ende gesprochen hat. So richtig er ist.
Wortgewaltig kreisen die Dissidenten die Gegenwart ein, aber bevor sie einem Adler gleich auf sie herabstürzen können, um sie zu packen, ist sie schon in die Zukunft entwischt. Wie finden wir heute die Worte für morgen? Die wir nach vorne schleudern und die uns morgen, wenn wir nach einer unruhigen Nacht erwachen, vor Augen stehen und mit enormer Wucht alles klar erscheinen lassen, einmal auf der Höhe der Zeit?
Vielleicht ist dies ein Ding der Unmöglichkeit und unsere Wortgewalt reicht wirklich nur für Mantren, die unser Nervensystem manipulieren, auf dass wir uns in Bewegung setzen und dabei feststellen:
Handeln heißt erkennen.
Meine Gedanken schweifen in die Ferne der »anderen Welt«, wo der Tross der Protesttouristen seine Illusionen nachlädt. Draußen sind es jetzt dreißig Grad im Schatten, und es staubt nicht mehr. Ein Begrüßungskomitee hält ein Schild hoch: Welcome to the IPZ.
Was ist die IPZ?, frage ich mich auf dem Weg zum Bus. Orientierungslos halte ich noch zwanzig Minuten durch. Serpentinen, einer kotzt. Die Antwort ist der Strand. Hier muss alles wunderbar sein, denke ich, als ich in den endlos blauen Himmel blinzle und verzückte Traveller an mir vorbeischweben.
Sie diskutieren leise, wie viel besser die Dreadlocks hier geflochten werden, und wie viel billiger erst. Geld ist also nicht mehr wichtig, durchfährt es mich erleichtert, hier ist keiner mehr Materialist, ein Palmenblattwürfel genügt zum Glück, zwei mal zwei Meter im Grundriss, und fünfzig Meter bis zur Wasserkante. Für lächerliche 100 Peseten – oder waren es Rupien? Wo bin ich noch gleich? Ach egal, wir sind alle Internationalisten. One world, one party.
Hinten am Ende des Strands kaufe ich mir gleich Batikhosen, die hier alle anhaben. Ein paar Typen fahren auf Motorrädern vorbei, sie haben ganz kurze Haare, wie Mönche, und hinter sich tolle braungebrannte Frauen. Mich haut’s um. Ich lass mir auch die Haare schneiden.