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Sie leben unerkannt unter uns – unsere Nachbarn, Freunde, Mitmenschen. Doch wehe, wenn ihr wahres Wesen ans Licht kommt! In einem kleinen hessischen Dorf zur Zeit der Napoleonischen Kriege häufen sich seltsame Morde. Die Dorfbewohner glauben an einen Werwolf, und zwei Märchenforscher aus Kassel bestärken sie in diesem Verdacht. Doch ist der Schuldige wirklich der, für den sie ihn halten? („Wer hat Angst vorm bösen Wolf?“) Eine Schulklasse macht sich auf die Jagd nach schwachen, verwirrten Vampiren, ausgemergelte Gestalten, die im hellen Tageslicht hilflos durch den Wald irren. Doch als ein Gewitter heraufzieht und die Nacht anbricht, ändert sich die Lage. („Die Jäger und die Gejagten“) Ein Junge findet in den Ruinen eines Gebäudes einen halbtoten Vampir und pflegt ihn – um sich mit seiner Hilfe an seinen sadistischen Schulkameraden zu rächen. („Sebastians Vampir“)
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Von Werwölfen, Vampiren und anderen Mitmenschen
Impressum
Grafik
Zitat
WER HAT ANGST VORM BÖSEN WOLF? Ein kriminalistisches Märchenpuzzle in neun Teilen und einem Epilog
I Ein Müller auf Freiersfüßen
II Müllers Freud und Leid
III Von Werwölfen und Gelehrten
IV Ein Mädchen auf Abwegen
V Begegnung im Wald
VI Geflüster um Mitternacht
VII Wie man einen Werwolf tötet
VIII Der Knopf im Gries
IX Die Jagd auf den Werwolf
EPILOG
Zitat
DIE JÄGER UND DIE GEJAGTEN. Erinnerungen an damals und heute
I
II
III
Zitat
SEBASTIANS VAMPIR Aus den Aufzeichnungen eines Vaters
Sebastians Vampir
Zitat
ANNABELLE Ein Märchen aus unserer Zeit
I
II
III
IV
Der Autor
Gruß
Erik Hauser
Phantastische Erzählungen
Impressum
Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.
Erste Auflage im Oktober 2024
Copyright © 2024 dieser Ausgabe by
Ashera Verlag
Hochwaldstr. 38
51580 Reichshof
www.ashera-verlag.net
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder andere Verwertungen – auch auszugsweise – nur mit Genehmigung des Verlags.
Covergrafik: pixabay
Innengrafik: pixabay
Szenentrenner: pixabay
Coverlayout: Atelier Bonzai
Redaktion: Alisha Bionda
Lektorat & Satz: TTT
Vermittelt über die Agentur Ashera
(www.agentur-ashera.net)
„Die Werwölfe sind nach jungem Blute gierig und rauben Kinder und Mädchen mit blinder Kühnheit.“
Jacob Grimm, Deutsche Mythologie, Bd. 1, Cap. XXXIV: Aberglaube, Sektion: Werwolf
An einem frostigen Nachmittag im November klopfte zu bereits fortgeschrittener Stunde ein Mann an die Tür einer einzeln stehenden Hütte im Wald. Er war ungefähr vierzig Jahre alt, stämmig, von mittlerer Größe und trug einen dicken Schafpelz und auf dem Kopf eine zerknautschte, an manchen Stellen nicht mehr vollends saubere Mütze. Die Haare, die unter der Mütze hervorschauten, waren weiß verklebt von Mehlstaub, und man erriet unschwer den Müller in dem Mann.
„Herein!“, ertönte es aus dem Inneren der Hütte.
Der Müller wischte sich die Stiefel vor der Tür ab – er hinterließ zwei schmale weiße Streifen vom Mehlstaub, der unter seinen Sohlen klebte – und trat ein.
„Grüß Gott, Kati“, sagte er, hinter der Schwelle stehen bleibend.
„Grüß Gott, Müller, was führt dich hierher?“, fragte die alte Frau, die am Feuer neben dem Kamin saß und strickte.
„Nun, ich war gerade auf dem Weg nach Neurach und dachte, ich schau mal vorbei. Bittest du mich nicht herein?“
„Du bist ja schon herinnen“, gab die alte Frau zurück, deren Stimme trotz ihres hohen Alters noch kräftig und scharf klang, „was soll dann das lange Bitten? – Bist du einmal herinnen, so magst du auch bleiben. Aber schließ die Tür: Mir zieht, und das ist nicht gut für eine alte Frau wie mich.“
Der Müller drehte sich hastig um und schlug die Tür zu, die mit einem dumpfen Krachen ins Schloss fiel. Dann zog er die Mütze vom Kopf und schaute sich in der engen Kammer um.
Außer einem Tisch, einer Bank, einigen Stühlen und einer wuchtigen schweren Bauerntruhe in einer Ecke gab es nicht viel zu sehen. Von der Decke hingen Kräuter, außerdem ein Kranz Zwiebeln und Knoblauchzehen. In einem großen Topf auf dem Ofen brodelte eine Suppe; ein Geruch nach Kohl und Schmalz hing in der Stube. Zwei niedrige Türen auf der Rückseite führten in weitere Kammern. An einer der Türen blieb der Blick des Müllers haften.
„Schön warm hast du’s hier“, meinte er nach einer Weile des Schweigens und nestelte verlegen an seiner Mütze.
„Ja, meine alten Knochen vertragen die Kälte nicht“, klagte die alte Kati, die ihr Strickzeug hatte sinken lassen und den Müller über den Rand ihrer Brille hinweg musterte.
„Dort draußen braut sich was zusammen: ein Sturm. Wir kriegen dieses Jahr heftig Schnee.“
„Bist du gekommen, mir das zu sagen, Müller? Dann kannst du wieder gehen: Ich hab es schon in den Knochen gespürt.“
Der Müller riss seinen Blick von der Tür zur hinteren Kammer los. „Das Klärchen: Es ist nicht hier?“
„Es ist zum Wegnerhof, wir brauchen Eier und Mehl.“
„Zum Wegnerhof? Warum kommt ihr nicht zu mir?“
„Der Wegner Toni legt ihr immer noch ein paar Eier extra in den Korb. Und sein Mehl kostet uns nicht mehr als das Eure, ist aber viel feiner.“
„Der Wegner Toni, so so.“ Der Müller stand einen Moment sinnend da, dann gab er sich einen Ruck: „Kati, hör zu: Du weißt, ich bin allein und ohne Frau, seit mir die Marie in den Mühlteich gefallen ist. Ich brauch jemanden für die Wirtschaft. Und das Klärchen, ich hab sie geschaut, wie sie im Wald das Holz und den Reisig zusammengeklaubt, kräftig ist sie geworden, groß und grade gewachsen. Es wär eine Schand, wenn sie enden würd so wie …“, der Müller hielt inne.
„So wie wer?“, krächzte die Alte. „So wie ich meintest du wohl?“
„Geh, Kati, sei mir nicht bös“, sagte der Müller, der sich unter dem Blick der alten, kurzsichtigen Augen wand, „ich hab’s nicht so gemeint. Es ist ja nur weil. – Und einen Besseren wie mich könnt das Klärchen nicht finden. Ich hab noch zwanzig Ar Land zur Mühle dazu, und der Wald am Karpfenteich gehört mir auch und die Fischrechte dazu. Die Mühle geht gut, da kann der Wegner Toni das Mehl so billig machen, wie er will, die Leute kommen doch zu mir!“
„Sie ist zu jung! Noch ein Kind!“, krächzte die Alte.
„Ach was, zu jung. Deine Augen werden auch schon alt und schlecht, Kati. Hast du sie in letzter Zeit mal genau angeschaut, das Klärchen? Das Blut wallt schon in ihr, sag ich dir.“
„Wohl eher in dir, Müller. Nein, mein Klärchen geb ich dir nicht. Sie hat was Besseres verdient.“
„Was Besseres? Einen Prinzen meinst du wohl? Oder etwa den polnischen Grafen, der sich seit Neuestem hier bei uns einquartiert hat und nächtens durch die Wälder streift? Der ist arm wie eine Kirchenmaus, sag ich dir. Pass nur auf: So mancher reiche Graf hat sich hinterher als armer Schneider herausgestellt!“
„Und wenn du zehnmal so reich wärst wie der Graf, das Klärchen kriegst du nicht.“
„Meinst du? Du vergisst, dass der Grund, auf dem deine armselige Hütte steht, und die Wiese hinterm Bach, wo ihr eure Kuh weidet, mir gehört.“
„Was willst du damit sagen? Du kannst uns nicht aus dem Haus jagen. Dein Vater hat mir das Wohnrecht zugestanden und auch das Recht, mein Vieh auf seinen Wiesen zu weiden, solange ich lebe.“
„Was der Vater zugesichert hat, daran muss sich der Sohn noch lange nicht gebunden fühlen. Schriftlich habt ihr nichts abgemacht, damals.“
„Sein Ehrenwort hat er mir gegeben.“
Der Müller lachte hässlich auf. „Das gilt mir grad so viel wie ein Furz im Wind.“
„Versündige dich nicht, Müller“, drohte die Alte, die ihr Strickzeug hatte in den Schoß sinken lassen und dem Müller aus wässrigen Augen einen Blick zuwarf, der wenig Gutes verhieß. „Die Sache wird schlecht für dich ausgehen. Und selbst wenn ich’s wollte: Es geht nicht. Das Mädel hat seinen eigenen Kopf.“
„Es wird schon weich werden, wenn du nur zustimmst. Und zustimmen wirst du müssen, willst du nicht Hab und Gut verlieren. Es kommt der Winter, und es ist nicht gut, ohne ein Dach überm Kopf. Wirst schon noch sehen, dass es angenehmer ist, die Füße am Herd des Müllers zu wärmen, anstatt den Schnee auf sein altes Haupt rieseln zu lassen. Man vergisst nur allzu leicht das Atmen. Selbst die Würmer verkriechen sich lieber in der Erde, als im Freien dem Winter zu trotzen.“
„Geh jetzt, Müller, du hast genug geredet. Und das Klärchen, das kriegst du nicht. Nicht, solange ich lebe.“
„Dass du dir da nur nicht das eigene Grab prophezeit hast. Wart’s nur ab! Ich krieg das Mädel doch!“ Damit derhte sich der Müller herum, setzte die Mütze schief auf den Kopf und stapfte aus der Hütte hinaus.
„Fahr zur Hölle!“, hörte er noch die keifende Stimme der Alten hinter ihm, ehe die dumpf ins Schloss fallende Tür ihre Stimme abschnitt.
Draußen ging die Sonne bereits unter und tauchte die Felder und Wiesen in ein fahles Rot. Ein frischer Wind pfiff in den Kronen der Bäume längs des Wegs. Der Müller schnürte seinen Pelz fester und stapfte heimwärts. Der Ärger über die Alte, die seinen Wünschen im Weg stand und ihm das Klärchen nicht geben wollte, hatte ihn so aufgeheizt, dass er den Wind und die Kälte zunächst kaum spürte. Es war ihm, als ob er platzen möchte vor Wut. Wie konnte sie nur so mit ihm reden, die hässliche alte Vettel? Wie konnte sie es wagen, ihm, dem reichen Müller, die Stirn zu bieten? Na warte, fluchte er in Gedanken vor sich hin, wirst schon noch sehen, wohin dich deine Sturheit bringt, alte Hexe! Im Straßengraben sollst du sitzen und vor Hunger und Kälte schlottern. Krepieren sollst du meinetwegen. Und das Klärchen, das krieg ich auch ohne deine Hilfe. Wirst schon sehen. Und wenn wir dann in der Hochzeitskutsche an dir vorbeifahren, glaub nur nicht, ich würf dir auch nur einen Fünfer vor die Füße. Die Knochen vom Hochzeitsmahl kannst du fressen, mehr hast du nicht verdient, alte Sünderin …
Unter diesen wärmenden christlichen Gedanken war der Müller bis an die Weggabelung gekommen, wo die holprige Straße rechter Hand zum Dorf führte und linker Hand ein schmaler Pfad in den Wald abzweigte. Vom Dorf aus gelangte man auf einem ebenen, bequemen Fuhrweg immer am Bach entlang endlich zur Mühle. Aber es war auch ein weiter Umweg, einmal um das ganze Dorf und den stattlichen Wald herum, und vor Einbruch der Dunkelheit kaum mehr zu schaffen. Es dämmerte bereits, und die Bäume warfen lange Schatten auf den Boden. Der Müller entschloss sich, den kürzeren Weg durch den Wald zu nehmen. Wenn er zügig ausschritt, konnte er noch vor dem Angelus zuhause sein. Zudem verspürte er in seinem Magen, just an der Weggabelung, ein Drücken und Zwacken, und es ließ sich von demselben Ort aufsteigend auch ein dumpfes Rumoren vernehmen, welches, alles zusammengenommen ihm die Entscheidung erleichterte. Der Gedanke an das Paar fette Rindswürste, das seiner heuer zu Abend harrte, trug ein Übriges dazu bei, den Müller auf den engen, gewundenen Pfad in den Wald zu schicken.
Unter dem Dach der Bäume war es schon dunkler als draußen im freien Feld. Auch schwankten die Wipfel der Bäume gar schauerlich im Wind. Dem Müller wurde es jetzt doch etwas bang ob seiner allzu großen Forschheit. Trotz seines dicken Schafpelzes begann ihn zu frösteln – da half auch der Gedanke an die alte widerliche Vettel, der er es noch heimzahlen würde, nichts mehr. So rasch ihn seine kurzen, krummen Beine trugen, hastete der Müller auf dem schmalen Pfad weiter in den Wald hinein. Bis zur Mühle konnte es nicht mehr allzu weit sein. Hörte er nicht schon den Mühlbach rauschen und das Rad der Mühle sich drehen? Aber nein, das war nur das Säuseln des Windes in den Wipfeln der Bäume und das Knacken von Holz im Wald. Gar seltsame Dinge erzählte man sich über diesen Wald: Allerhand Getier trieb dort sein Unwesen, und die Menschen im Dorf vermieden es, nach Einbruch der Dunkelheit einen Fuß dort hineinzusetzen. Den beiden gelehrten Städtern, die auf ihrer Reise im Nachbarort Station gemacht hatten, hatte man allerdings einen Bären aufgebunden, indem man ihnen einen hanebüchenen Unsinn über Hexen, Zwerge und Werwölfe aufgetischt hatte, die den Wald unsicher machen sollten. In der warmen Stube, bei Kerzenschein oder in fröhlicher Gesellschaft beim Rösslwirt, hätte der Müller auch bestimmt über die Leichtgläubigkeit der beiden ‚Gelehrten‘ gelacht, aber jetzt, wo er in der Dämmerung unter den stumm dräuenden Fichten und Föhren einher schritt, war er sich nicht sicher, ob nicht doch ein Körnchen Wahrheit an den Lügenmärchen war. Natürlich gab es keine Hexen oder Zauberer – aber Zwerge, die hatte er selbst schon einmal gesehen, in Mudach, wo sie in der Mine arbeiteten, mit ihren Gesichtern so schwarz wie Ruß, egal, wie viel sie sich auch wuschen. Und wenn es auch keine Werwölfe gab, so mochte doch ein einzelner Wolf oder auch ein Rudel nächtens den Wald unsicher machen.
Den Müller ängstigte jetzt das Rauschen des Windes und das Rascheln der Zweige und selbst das kleinste Knacken eines Astes – aber mehr noch ängstigte ihn die eigene Fantasie. Hätte er geahnt, dass er über eine so lebhafte Vorstellungskraft verfügte, die ihm die Gefahren des Waldes in den schrillsten Farben auszumalen imstande war, er wäre an diesem Abend zuhause geblieben und hätte keinen Schritt vor die Mühle getan.
Mittlerweile stand die Sonne bereits so tief am Horizont, dass ihre Strahlen nur noch wie ein matter Glanz die Umgebung erhellten. Die ehemals kräftigen Farben des Waldes, das Grün der Büsche und Sträucher, das Rot, Gelb und Braun des gefallenen Laubes, das grüne Moos an den Bäumen, ja selbst das schmutzige Weiß des an manchen Stellen noch nicht geschmolzenen Schnees vom Vortag, alles verblasste, wurde trübe und verlor jegliche Strahlkraft. Es war, als sei eine unheimliche Macht dabei, die Farben aus den Dingen herauszusaugen, als habe eine unsichtbare Hand mit wenigen Strichen alles Leuchtende weggewischt und die Welt von einer bunten, fröhlichen Angelegenheit in ein einförmiges, trauriges Etwas verwandelt. Was vorher bunt und hell gewesen, war nun düster und grau. Der Pfad, dem der Müller folgte, schlängelte sich als bleiches silbernes Band zwischen den starr und stumm dastehenden Bäumen dahin. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, die Abkürzung durch den Wald anstelle des breiten, geraden Fuhrwegs um das Dorf herum zu nehmen? Der Pfad schlug Haken, wand sich, machte Biegungen und Verrenkungen, dass der Müller nicht mehr wusste, ob er der Mühle einen Schritt näher gekommen war, oder ob ihn der Pfad im Kreis führte. Und bald schon würde die Sonne vollends untergegangen sein und tiefe Nacht unter den Wipfeln der Bäume herrschen. Hastig eilte der Müller auf dem krummen Pfade voran. Wenn er nur noch rechtzeitig aus dem Wald herauskäme, bevor das Dunkel den letzten Sonnenstrahl verschluckte. Nur mit Mühe erkannte der Müller den Boden zu seinen Füßen. Irgendwo im Wald knackte ein Ast. Erschrocken blieb der Müller stehen und lauschte auf das Geräusch, das in der Stille vor Sonnenuntergang wie dumpfer Donner nachhallte. Ob da noch jemand war? Wer außer ihm trieb sich zu dieser Stunde im Wald herum?
„Hallo? Ist da jemand?“, rief der Müller in den düsteren Wald hinein.
„Jemand – jemand – jemand“, antwortete ihm ein höhnendes Echo.
„Hallo?“
„Hallo!“, antwortete das Echo.
„Hallo? Hallo?“
„Hallo! Hallo!“
Nun wurde es dem Müller zu dumm, er ließ sich doch nicht von einem Echo ins Bockshorn jagen! Entschlossen rückte er die Mütze auf dem Kopf zurecht, stemmte die Fäuste in die Seite und schritt weiter voran. Die Lippen spitzend, versuchte er sich sogar an einem forschen Wanderlied, verstummte aber nach einigen Takten wieder, die raunenden Bäume gaben ein zu kritisches Publikum ab.
Und während er so dahinschritt, kam ihm in Gedanken wieder die Erinnerung an das Klärchen ein, deretwegen er den Weg heute nach der Hütte der alten Käthe unternommen. Vielleicht, dachte er, dass er dem Klärchen im Wald begegnete? Es wäre nicht das erste Mal. Hatte das Mädchen doch die Angewohnheit, viel Zeit im Wald zu verbringen, wo es Reisig und Holz sammelte oder nach Pilzen und Kräutern suchte. So war der Müller ihr schon mehrere Male unverhofft begegnet, und so konnte es wohl auch dieses Mal wieder geschehen.
Kaum hatte er dies gedacht, da vermeinte er schon Schritte zu vernehmen und seitwärts des Wegs eine schlanke Gestalt hinter einem Baum auftauchen zu sehen. „Klärchen?“
Die Gestalt wandte sich nicht um, sondern schritt tiefer in den Wald hinein.
„Klärchen! Ich bin’s, der Müller.“
Die letzten Sonnenstrahlen fielen auf die sich entfernende Gestalt, so dass es aussah, als sei sie mit Blut übergossen.
Der verliebte Müller hastete, so rasch ihn seine kurzen dicken Beinchen trugen, der Fliehenden hinterher.
„Warte! Klärchen, so warte doch!“
Wie um ihn zu necken, schien vor ihm in dem dunkler werdenden Wald immer wieder kurz die holde Gestalt zwischen den Büschen oder hinter Zweigen und Bäumen auf. Jedoch so sehr sich der Müller auch anstrengte, er konnte sie nicht einholen. Endlich hielt er erschöpft inne und lehnte sich, nach Atem ringend, gegen den Stamm einer kahlen Pappel. Dunkel war es ringsumher geworden, und der Müller konnte kaum noch die Hand vor den Augen sehen. Und jetzt fing es auch noch zu schneien an. Der Müller spürte mehr, als dass er sie sah, die kalten, nassen Flocken auf seine Stirn und Wange fallen. Das vermaledeite Mädchen! Was musste es nur vor ihm davon rennen? Jetzt war er vom rechten Pfad abgekommen und musste bei Nacht und Schnee und Eiseskälte im Wald umherirren.
Im Gesträuch zu seiner Rechten raschelte es. „Klärchen? Bist du es?“
Die Zweige bogen sich auseinander, und eine undeutliche Form schob sich aus dem Gebüsch heraus.
„Klärchen, hör auf mit dem Unsinn. Ich bin’s, der Müller. Zeig dich, Klärchen.“
Ein Paar rot glühender Augen leuchtete im Dunkeln auf, und etwas blies seinen heißen Atem in des Müllers Gesicht. Der nahm keinen Anstand, sondern schnurstracks die Beine in die Hand und rannte um sein Leben. Hinter sich hörte er das Schnauben der Bestie und das knirschende Geräusch der ihn verfolgenden Schritte auf dem weichen Neuschnee.
Es heißt, die Angst verleihe Flügel, und auch, wenn dem nicht wirklich so ist, flitzte der Müller doch so geschwind auf seinen kurzen Beinchen davon, dass wohl nicht einmal ein galoppierendes Pferd ihn eingeholt hätte, geschweige denn ein anderes von Gottes Geschöpfen. Trotzdem vermochte er das wütende Schnauben und die federnden Schritte der teuflischen Bestie nicht abzuschütteln. Mal hörte er die Schritte und das Schnauben links von sich, mal hörte er sie rechts von sich. Im Dunkeln glaubte er, eine geduckte Gestalt wahrzunehmen, die an seiner Seite lief, ihn mehrfach überholte. Ein rot glühendes Augenpaar blitzte ihn an. Der Müller schlug Haken wie ein Hase, um dem furchtbaren Verfolger zu entgehen, aber es half alles nichts, die Schritte und das Schnauben ließen nicht locker, sie hetzten ihn immer weiter zwischen den Bäumen hindurch, wie ein Jäger sein Wild.
Der Müller stolperte über eine Wurzel und plumpste der Länge nach hin. Nun ist’s um mich geschehen, dachte er, Müller, dein letztes Stündlein hat geschlagen. Und er fühlte schon den feurigen Atem der Bestie in seinem Nacken und die spitzen Zähne, die sich in sein Fleisch bohrten. Aber nichts geschah. Zitternd lag der Müller mit dem Gesicht nach unten auf dem vom Schnee aufgeweichten Erdboden und lauschte auf die Geräusche rings um ihn im dunklen Wald, die auf sein nahendes Ende hindeuten mochten. Schnee knirschte, ein Zweig knackte. Schritte näherten sich. Der Müller drückte sein Gesicht tiefer in die Erde. Sein letzter Gedanke galt den Paar Bratwürsten, die nun nutzlos auf dem Herd verbrutzeln würden. Wenn nur die dicke Hilde, seine Dienstmagd, sie sich nicht selbst einverleiben möchte!
„Müller, was macht Ihr hier mit dem Gesicht im Dreck?“
Den Müller überkam angesichts der bekannten menschlichen Stimme ein Gefühl unendlicher Dankbarkeit, wie er es sonst nur zu Heiligabend kannte, wenn er nach seiner Gewohnheit vor der Christmette in der Kammer heimlich die Geldsäckel zählte, die er übers Jahr hinzugewonnen hatte.
„Herr Graf, Ihr seid’s. Bin ich froh, Euer Wohlgeboren zu sehen.“
„Nun, nun, Müller“, gab der fremde Graf, denn um niemand anderen handelte es sich, zurück, „ansonsten freut ihn der Anblick goldener Taler mehr als mein bleiches Angesicht. So stehe er doch auf, er holt sich noch den Tod auf der kalten Erde.“
„Gewiss, Herr Graf, es war nur – wegen der Bestie!“
„Bestie?“
„Sie hat mich verfolgt. Ein Wolf, ein riesenhafter Wolf!“
Der Graf – ein schlanker, hochgewachsener Jüngling mit schwarzen Locken und vollen, roten Lippen – lächelte eigenartig. In seinem nach der neusten Pariser Mode geschnittenen schwarzen Frack, dem über die Schultern geworfenen Carrick, den übers Knie gehenden Hosen und dem hohen Stehkragen mit dem bauschig geschlungenen Halstuch, wirkte er wie eine Figur aus einer von Lord Byrons romantischen Versepen. Trotz der nächtlichen Kälte hatte er weder Frack noch Carrick zugeknöpft, so dass darunter sein aus feinem schwarzem Samt gearbeitetes Gilet zum Vorschein kam, an dem rechts und links je eine Reihe elfenbeinerner Knöpfe schimmerten.
„Was redet er da für einen Unsinn! Im ganzen Wald gibt es keinen einzigen Wolf mehr.“
„Oh, wenn Herr Graf wüssten! Verfolgt hat er mich, den ganzen Weg. Gewiss lauert er hier noch irgendwo. Wir müssen uns vorsehen, Herr Graf.“
Der Graf lachte hell auf. „Außer uns ist hier niemand, Müller.“
„Seid Ihr sicher?“
„Er kann unbesorgt sein. Kommt jetzt, ich zeige Ihm den Weg aus dem Wald hinaus, zu Seiner Mühle. Sicher hat Er sich verlaufen, bei Nacht und bei Dunkelheit.“
„Ergebensten Dank, Herr Graf. Gern würde ich Euer Wohlgeboren zum Dank zu mir in die Mühle bitten, doch ist die Hilde, meine Magd, bei ihren Eltern, und in der Mühle ist nichts am rechten Platz und auch kein Feuer im Herd.“
„Schon gut, Müller, ich rechne auf nichts. Folgt mir.“
„Habt Dank, Herr Graf, vielmals.“
„Schon recht. Halte Er sich nur gut an meiner Seite, damit Ihm kein Wolf zu nahe komme.“ Der Graf lachte auf seine seltsame Art, und den Müller überkam wieder ein merkwürdiges Gefühl, wie wenn sich spitze Zähne in sein Fleisch bohrten.
In der Dorfschenke hatte sich an jenem Abend – wie üblich an Markttagen – etliches Volk versammelt.