Von Wespen und Raubfröschen - Alla Leshenko - E-Book

Von Wespen und Raubfröschen E-Book

Alla Leshenko

0,0

Beschreibung

Die Membran der Wirklichkeit ist fadenscheinig und Dinge, die dahinter lauern, übersteigen das Fassungsvermögen unseres Verstandes. Das ist die Essenz des Horrors. Dieser Erzählband gewährt dem Leser Einblicke in die Realitäten hinter unserer Realität. Mal darf man nur durch das Schlüsselloch hineinspähen, mal steht die Tür weit offen. So kann eine auf den ersten Blick harmlose Mitfahrgelegenheit durchaus in einer feindlichen Parallelwelt enden und die Suche nach einem passenden Geburtstagsgeschenk einen Alles-oder-nichts-Kampf gegen echte sowie innere Dämonen nach sich ziehen. Eine vermeintliche Fee entpuppt sich als Irrlicht und eine zauberhafte Meerjungfrau als ... Nun ja, wie wäre es mit einem Spiel? Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist böse.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 302

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Ich folge dir

Das Poster

Der Neue

Ertragreicher Boden

Ich sehe was, was du nicht siehst

La Fleur du mal

Wo einst das Meer war

Mitfahrgelegenheit

„Wir spielten und spielten und spielten, so dass es das reine Wunder ist, dass wir uns nicht totgespielt haben.“Astrid Lindgren

Ich folge dir

Zur Beerdigung von Gerda Meyer kamen viele Menschen. Zu viele, wenn man bedachte, dass ihr Freundeskreis in den letzten Jahren aus natürlichen Gründen erheblich geschrumpft war und die gesamte lebende Verwandtschaft aus einer Tochter, einem Schwiegersohn und einer Enkelin bestand.

In der Friedhofskapelle tönte leise Musik: Klang gewordene Substanzlosigkeit.

Die Pfarrerin erschien. Ebenjene, die vor einem Jahr die Erstklässler an ihrem ersten Schultag gesegnet und jedem einzelnen ein hässliches Reflektor-Kreuz um den Hals gehängt hatte.

Sofie Knipp wibbelte ständig auf der Sitzbank umher. Sie dachte an ihren ersten Schultag zurück und daran, wie froh sie war, dass Oma Gerda jetzt in einem Sarg lag und bald unter die Erde gebracht würde. Sie schämte sich ihrer Gedanken ein wenig, jedoch nicht so sehr, dass ihre Heiterkeit dadurch verebbte.

Sofie hatte ihre Oma nie gemocht. Oma hatte schlecht gerochen und ihre Frikadellen hatten scheußlich geschmeckt.

Nur ungern war das Mädchen bei ihr über Nacht geblieben, wenn Korinna und Wolfgang einen ihrer kinderfreien Abende genossen hatten. In Omas Haus durfte Sofie weder laut sein, noch mit Freundinnen spielen, denn Oma hatte eine irre Angst um die hellen Bodenfliesen und fand, ihre Enkelin trüge zu viel Schmutz hinein.

„Liebe Anwesende, wie schön, euch hier so zahlreich anzutreffen. Wir versammeln uns heute im Namen Gottes, um unsere geliebte Gerda Meyer auf ihrem letzten Pfad ins Reich unseres Herrn zu begleiten.“

Die Pfarrerin lispelte. Als Sofie noch ein Kindergartenkind gewesen war, hatte sie auch gelispelt. Aber jetzt, wo sie bereits die zweite Klasse besuchte, kam es ihr komisch vor, dass eine erwachsene Frau nicht imstande war, Worte korrekt auszusprechen.

Sie wünschte sich so sehr, dass die Beerdigung bald vorbei war und sie und ihre Eltern wieder nach Hause gehen konnten. Außerdem wünschte sie sich das kleine Puppenzimmer, das in einem Holzkasten mit Glasfront an der Wand in Omas Kellerbar hing.

Das Stübchen war Sofies Meinung nach das vollkommenste Meisterwerk. Wie oft fantasierte das Mädchen, darin würde eine winzige Fee wohnen. Eine Blütenfee, die nach einem anstrengenden Tag im Wald, an dem sie unaufhörlich kaputte Blumen repariert und Waldtiere gerettet hatte, nach Hause kam, um sich in ein Miniaturbett zu legen, das kleine Nachtlämpchen anzuschalten und in einem winzigen Buch zu lesen.

Egal, wie oft Sofie ihre Oma angebettelt hatte, doch bitte nur ein einziges Mal mit dem Puppenzimmer spielen zu dürfen, es war alles vergebens gewesen.

„Wenn ich nicht mehr bin“, sagte Oma, „bekommst du das Ding. Aber nur dann und nicht einen Tag früher.“

„Wann bist du denn nicht mehr?“, fragte Sofie verzweifelt.

Oma rümpfte die Nase und murmelte etwas Unverständliches. Sofie blieb vor der an der Wand hängenden Holzkiste stehen und stellte sich vor, wie sie sie eines Tages einfach von den Häkchen nahm und die Glasfront hochschob, um ihren Spieldurst endlich zu stillen.

Am Morgen vor der Beerdigung hatte Sofie sich ungewöhnlich still verhalten. Auf Korinnas Frage, was mit ihr los sei, schlug sie die Augen nieder und schwieg beharrlich.

„Ich weiß, dass du traurig bist. Und es ist auch in Ordnung so“, betete Korinna die von ihr auswendig gelernte Litanei herunter, welche sie in einem psychologischen Ratgeber aufgeschnappt und für nützlich empfunden hatte. „Trauer ist eine ganz natürliche Sache und du musst dich nicht dafür schämen.“

Sofie, die in Wirklichkeit kein bisschen traurig war, verzerrte ihr Puppengesicht zu einer dramatischen Miene der Verzweiflung. „Mami“, sprach sie, ohne den Blick vom Boden zu heben, „ich vermisse Omi so fürchterlich.“ Ein Schluchzer entkam ihren Lippen und ihre Brust erbebte.

Überglücklich, ihr küchenpsychologisches Wissen zu gebrauchen, nahm Korinna ihre Tochter eifrig in den Arm. „Wir vermissen sie alle, mein Schatz“, sprach sie und drückte Sofie fest an sich. „Du darfst ruhig weinen, wenn du willst. Lass deinen Emotionen freien Lauf.“

Eine schwere, glitzernde Träne verließ Sofies Auge und bahnte sich den Weg ihre Wange herab. „Ich möchte so gern ein Andenken an Oma haben, etwas, das ich mir ins Zimmer stellen könnte, um es jeden Tag zu bewundern und Omi nie zu vergessen.“ Überwältigt von der eigenen Schauspielkunst, heulte Sofie nun richtig.

„Wenn du magst, fahren wir nach der Trauerfeier zu Omas Haus und du suchst dir ein hübsches Ding aus, das dich immer an sie erinnern sollte“, schlug Korinna vor.

Sofies Gesicht erhellte sich. Sie schlug die Arme um den Hals ihrer Mutter und küsste sie auf die Schläfe. „Danke, Mami! Du bist wirklich die Beste!“

Irgendwann waren die Trauerrede und die Beisetzung vorbei. Das mit Kränzen und Sträußen überhäufte Grab wirkte unbeholfen und aufgesetzt. Die sich in einem Lokal versammelte Gesellschaft schlurfte munter Kaffee und aß Apfelkuchen und Donauwelle zu Ehren der Verstorbenen. Sofie, die zwischen ihren Eltern saß, stocherte mit der Gabel lustlos auf ihrem Stück Kuchen herum, wobei sie immer wieder sehnsüchtig auf die Armbanduhr ihres Vaters schielte. Korinna hatte die Halle bis 16:00 reserviert und es würde noch eine ganze Stunde dauern, bis sie endlich gehen konnten.

Liebe Uhrzeiger, warum seid ihr bloß so langsam, krakeelte sie in sich hinein. Dreht euch bitte, bitte ein bisschen schneller!

Eine ältere Dame, die Sophie von einem der Bilder aus Omas Fotoalbum zu kennen glaubte, eilte vom anderen Ende der Halle zu ihnen herüber. „Kindchen“, sprach sie zu Sophie, „dich habe ich ja schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen! Zuletzt, als deine liebe Großmutter ...

(Sofie hasste es, wenn jemand Großmutter sagte)

… mit dem Kegelclub nach Dresden gefahren ist. Deine Mutter hat Gerda damals zum Bahnhof gebracht und dich auch mitgenommen. Du hast in einem Kinderwagen gesessen und fürchterliche Blähungen gehabt.“ Sie tätschelte Sofies Arm. „Du hast die gleichen Augen wie Gerda. Ach, wie schade um sie. Ich hoffe, du kommst schon sehr bald über die Trauer hinweg.“

Warum färben alte Frauen ihre Haare so eigenartig lila?, überlegte Sofie, während sie die Frisur der Dame höflichdistanziert inspizierte. Wenn ich einmal alt bin, möchte ich wie diese Tina Hagen aussehen. Laut sagte sie nur Danke.

Die Dame drehte sich zu Korinna. „Viel Kraft, Liebes“, sprach sie. „Wenn du Kummer hast, ruf mich jederzeit an.“

Um kurz vor fünf parkte die knippsche Familienpritsche vor dem Domizil von Gerda Meyer. Das Haus mutete gespenstisch an: Die Zimmer, in denen kein Licht mehr brannte, der Kühlschrank, der keine Geräusche mehr machte, die Uhr, die auf einmal so laut tickte, dass einem der Kopf dröhnte. All das versetzte Sofie in eine Art Starre. Sie fröstelte und schaute sich unbehaglich um.

Wolfgang schaltete das Licht in der Küche ein. Das Schnalzen des Schalters erzeugte Gänsehaut in Sofies Nacken. Sie fuhr sichtlich zusammen, woraufhin Wolfgang ihr übers Haar strich. „Hab keine Angst. Geh schon, such dir etwas aus.“

Sofies Beklommenheit löste sich im wohlvertrauten Klang seiner Stimme auf. Sie glitt an ihm vorbei die Kellertreppe hinab. Als sie am Ende der Treppe angelangt war, bekam sie es erneut mit der Angst zu tun. Hier unten war es auf eine klebrige Art dunkel und ein kaltes, unangenehmes Echo von Zigarettenqualm hing in der Luft. Blindlings versuchte Sofie einen Lichtknopf an der Wand zu ertasten, schaffte es jedoch nicht. Die Dunkelheit fühlte sich lebendig an, sie waberte und wogte wie das schwarze Innere eines urzeitlichen Ungeheuers.

„Fass die Puppenstube nicht an! Sie gehört mir!“, hörte Sofie plötzlich ihre Großmutter aus der Ferne fauchen. Blanke Panik nahm von ihr Besitz und in diesem Augenblick glaubte sie fest, dass die Finsternis niemals von ihr lassen würde. In ihrer Brust entstand ein schriller Schrei, der jedoch nicht entweichen konnte, weil Entsetzen ihre Kehle zu eng geschnürt hatte. Sie rang um Beherrschung, bis sie schließlich wieder in der Lage zu atmen war. „Papiiii“, rief sie aus aller Kraft.

Wolfgangs eilige Schritte hallten dumpf und schwer über ihrem Kopf und nur wenige Sekunden später stand ihr Vater schon vor ihr – ein strahlender Held in weißer Rüstung, jederzeit bereit, die bösen Geister zu vertreiben. „Ich bin doch hier“, sagte er und nahm Sofies Hände in seine.

Zusammen betraten sie den Kellerraum. Eiligen Schrittes und ohne groß umherzuschauen, erreichte Sofie die an der Wand hängende Puppenstube. Ihre Augen leuchteten auf. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und streckte die Arme danach aus. Das Herz sprang ihr beinahe aus der Brust, als sie die Holzkiste ihrer Träume endlich zu fassen bekam. Während der Heimfahrt umklammerte sie sie so fest, als wäre sie eine Reliquie.

Zu Hause angekommen, rannte Sofie schnurstracks nach oben ins Kinderzimmer. Sie stellte die Kiste in die Mitte ihres Schreibtisches, schob einen Stuhl heran und versank in tiefer Bewunderung. Sie schob das Frontglas hoch und betastete die winzigen Möbelstücke, die sich in der Stube befanden. Die karierte Tagesdecke, die über dem Bett lag, fühlte sich flauschig an.

Bald kommt Mirabelle nach Hause, dachte sie. Ihre Fee musste unbedingt Mirabelle heißen – das wusste sie schon immer. Ihrer Meinung nach war es der schönste aller Namen und passte perfekt zu einer Blumenfee.

In der Nacht wachte Sofie auf. Es war kein sanftes Erwachen, sondern eines mit kaltem Schweiß auf der Stirn und einem nassgeschwitzten Bettlaken. In ihrem Traum hatte sie Oma Gerda gesehen: quicklebendig und auf fantastische Weise um Jahrzehnte verjüngt.

Oma saß auf ihrer Terrasse unter einer orange-weiß gestreiften Markise und trank Kaffee. „Jetzt bin ich ganz schön tot, Kindchen“, sprach sie, an ihrer Tasse nippend. „So ist es nun mal im Leben.“ Sie winkte bitter ab und fuhr fort: „Es war kein Geheimnis für mich, dass du mich nicht leiden kannst. Ich mochte dich auch nie besonders. Du bist ein freches, aufsässiges Ding, aber immer noch die Tochter meiner Tochter.“

Die sonnige Terrasse wurde plötzlich mit dem Schatten einer Gewitterwolke überzogen. Und die Oma sah auf einmal nicht mehr jugendlich aus, sondern aschfahl im Gesicht und irgendwie echsenhaft. Sie gluckste unangenehm auf, und als sie wieder sprach, klang ihre Stimme gurgelnd. „Du weißt, dass du nicht mit den Fremden reden darfst, oder? Ja, das solltest du aber wirklich lassen! Und schlepp bloß keinen Unrat ins Haus, verstanden? Die Bodenfliesen sind hell und ich bin zu alt, um sie zu säubern. Alt bin ich und tot.“

Mit diesen Worten fiel Oma Gerda wie eine ausgetrocknete Sandskulptur auseinander. Ihre Tasse mit dem restlichen Kaffee landete auf dem Boden und zerbarst. Im selben Moment spürte Sofie, wie fremde Hände sie am Kleid packten und sie wegzuzerren versuchten. Sie schrie und wachte ruckartig auf.

Sie befand sich in ihrem Bett. Oma Gerda war nichts als ein Traum, ein dummer, grässlicher Traum! Ihre Hände krampften sich um die Steppdecke und eine kalte Erkenntnis durchzuckte sie: Die Puppenstube war weg!

Ihr Blick wanderte panisch zum Schreibtisch. Danke, lieber Gott, die Puppenstube stand unverändert da, doch etwas war dennoch neu. Sofie rieb ungläubig die Augen, weil sie das, was sie sah, nicht begreifen konnte: In der Puppenstube brannte Licht.

Im Glauben, sie würde weiter träumen, stand Sofie auf. Auf Zehenspitzen näherte sie sich der Puppenstube. Die kleine Tischleuchte auf dem Miniaturnachtschränkchen strahlte wahrhaftig und hell. Wie verzaubert blickte das Mädchen auf den winzigen Lichtpunkt.

„Mirabelle, bist du es?“, flüsterte sie, erhielt jedoch keine Antwort.

Batteriebetrieb mit Zeitschaltuhr, dachte sie enttäuscht. Wie die Lichterketten am Weihnachtsbaum. Warum ist es mir bloß nicht schon früher aufgefallen?

Noch nicht ganz zu Ende gedacht, vernahm sie ein Geräusch, das sie an die flatternden Flügelschläge einer Libelle erinnerte. Sofie schaute zum Fenster, doch es war geschlossen. Vor dem Fenster war ein Insektennetz gespannt: Unmöglich, dass ein so großes Insekt hätte eindringen können. Entrüstet stapfte Sofie zurück zum Bett, setzte sich auf die Kante und schaute zu, wie ein Mondstrahl ihre nackten Füße umspielte.

Das Flattern ertönte erneut, diesmal deutlicher als zuvor. Das Mädchen glaubte, die Quelle des Geräusches unter dem Bett zu wissen. Sie knipste ihre lustige Clownfisch-Lampe an, begab sich auf alle Viere und presste ihre rechte Wange auf den weichen Teppichboden.

Im selben Augenblick vernahm sie das Flattern so nah an ihrem linken Ohr, dass sie aufsprang und wild mit den Armen herumzufuchteln begann. Dann huschte sie wieder in die Koje und zog sich die Decke über den Kopf.

Einige Sekunden später traute Sofie sich, ihre Schutzhülle ein wenig anzuheben, um die Lage zu inspizieren. Ihre Pupillen erweiterten sich vor Erstaunen, als sie eine winzige beflügelte Gestalt im Mondschein entdeckt hatte, die nur wenige Zentimeter über dem Boden in der Luft schwebte.

Möglichst behutsam, um den wunderlichen Eindringling nicht zu vertreiben, streifte Sofie ihre Decke ab, und setzte sich vorsichtig im Bett auf. Die schwebende Silhouette schien die Bewegung gemerkt zu haben, machte jedoch keine Anstalten, fortzufliegen.

„Mirabelle, ich weiß, dass du es bist“, flüsterte Sofie. „Ich wusste immer, dass es dich gibt.“

Das libellenartige Geschöpf flog näher an das Mädchen heran, sodass seine Körperkonturen nun deutlich sichtbar waren. Es sah aus wie eine kindliche Frau – keine zwei Zoll groß –, aus dem Rücken deren zwei Paar lichtdurchlässige Flügel wuchsen. Ihr winziges Antlitz zeugte von einer überirdischen Schönheit. Es schimmerte in einem matten Perlenglanz, so zart wie das Blatt einer Jasminblüte. Die langen, lockigen Haare des Wesens sahen genauso aus, wie Sofie es sich stets vorgestellt hatte. Auch die Farbe stimmte mit ihrer Fantasie überein: die des Akazienhonigs.

Die Fee zog Runden um Sofies Kopf und vollzog ab und zu eine Zwischenlandung auf ihrer Schulter. Als das Mädchen ihr seine Handfläche als Sitzmöglichkeit anbot, folgte die Fee der Einladung ohne Zögern. Beim Landen kitzelten ihre Flügel leicht die empfindliche Haut des Mädchens, sodass es begeistert kicherte. Nach einem kurzen Betrachten fiel Sofie auf, dass Mirabelle keine Beine besaß. Ihre obere Körperhälfte wurde von der Hüfte abwärts zum Hinterleib einer Libelle.

„Du hast ja gar keine Beinchen“, staunte Sofie.

Die Fee schaute sie erschrocken an und vergrub dann das Gesicht beschämt in den Händen.

„Oh nein! Das ist doch nichts Schlimmes!“, versuchte das Mädchen sie zu beruhigen. „Du bist auch ohne Beine sehr hübsch!“

Wie ein scheues Tier blickte Mirabelle hinter ihren Händen hervor. Ihre Augen glänzten vor darin stehenden Tränen. Dann lächelte sie und flog hinauf unter die Decke. Dabei drehte sie sich gekonnt in der Luft, führte anmutige Pirouetten vor und sah aus wie die winzigste Luftgymnastin der Welt.

Sofie applaudierte voller Begeisterung. Als die kleine Tänzerin dann auf ihrem Knie landete, quiekte das Mädchen vor Entzücken und Freude.

„Gefällt dir dein Zuhause?“, fragte sie.

Die Fee nickte.

„Und dein Bettchen? Ist es kuschelig genug oder möchtest du es weicher haben?“

Ein Kopfschütteln.

„Ich will alles tun, damit du dich bei uns wohl fühlst. Wenn Mama und Papa dich sehen, werden sie so richtig staunen!“

Mirabelle riss die Augen weit auf und wedelte protestierend mit den Armen.

Sofies Gesicht wurde verschwörerisch. „Oh, ich verstehe! Ich soll unsere Freundschaft geheim halten!“

Ein erleichtertes Nicken. Ein Lächeln. Ein freudiger Salto in der Luft. Dann packte Mirabelle eine von Sofies weizenblonden Haarsträhnen, wickelte sie um ihr Handgelenk und zog daran.

„Aua, das tut weh!“, schimpfte Sofie.

Die Fee bedeutete dem Mädchen, dass es ihr folgen solle.

„Wohin gehen wir?“, fragte Sofie.

Mirabelle zeigte nach draußen Richtung Krähenacker.

„Aber meine Eltern erlauben mir niemals, so spät alleine rauszugehen!“

Einen Finger an die Lippen gepresst, lächelte Mirabelle verschmitzt und zeigte zuerst auf sich selbst und dann auf Sofie.

„Stimmt!“, sagte das Mädchen. „Zu zweit ist man nicht alleine. Warte bitte, ich ziehe mir nur meine Hausschlappen an und nehme den Teddy mit.“

Auf Zehenspitzen gingen sie die Treppe hinunter. Genau genommen war Sofie diejenige, die ging. Mirabelle flatterte wenige Zoll vor der Nase des Mädchens und zeigte ihm den Weg.

Vor einem Jahr hatte Wolfgang während seines Sommerurlaubs den heimischen vier Wänden eigenhändig eine neue Treppe verpasst. Die alte war zu dem Zeitpunkt bereits stolze vierzig Jahre alt gewesen und hatte entsetzlich gequietscht. Wäre sie nicht ausgewechselt worden, hätten Sofies Schritte Wolfgang und Korinna ohne Zweifel aus dem Schlaf gerissen und dem Nachtausflug somit ein frühes Ende bereitet.

Die Eingangstür war abgeschlossen. Der Schlüssel steckte wie immer im Schlüsselloch.

„Dreimal nach rechts drehen und fertig ist die Sache!“, hatte Korinna ihr erklärt. Dies tat Sofie nun auch, steckte danach den Schlüssel in die Brusttasche ihres Pyjamahemdes und zog die Tür hinter sich möglichst leise zu.

Draußen war es frisch. Ein leichter, aber dennoch kühler Wind wehte durch die Wipfel.

Ich hätte Socken anziehen müssen, dachte Sofie, als sie bemerkte, dass ihre Zehenspitzen kalt waren. Mirabelle zerrte nun ungeduldig an ihrem Hemdsaum. Die Stirn in Falten gelegt, schob das Mädchen die Unterlippe vor. „Es ist kalt und dunkel hier“, klagte es. „Ich will zurück in mein Bettchen!“

Im selben Moment leuchtete Mirabelles libellenartiger Unterleib wie eine kleine Glühbirne auf: Ein schwacher Lichtpunkt im Dunkeln, der Trost und Zuversicht spendete.

„Wo gehen wir eigentlich hin?“, fragte Sofie, die sich jetzt etwas wohler fühlte.

Die Fee zeigte geradeaus, erneut in Richtung Krähenacker.

Der Krähenacker war ein eineinhalb Hektar großes Feld, das der Familie Fischer gehörte. Seinen Namen verdankte es zahlreichen Krähen, die sich dort jedes Jahr zu Aussaat- und Erntezeit versammelten, um hinter dem Pflug oder Mähdrescher herzuziehen und an die zutage beförderten Würmer, aufgeschreckten Mäuse und Erntereste zu gelangen.

Die Ackerkrähen waren freche, draufgängerische Biester, die keinerlei Respekt vor Menschen oder anderen Lebewesen verspürten. Doch sogar die frechsten Krähen mussten nach dem Sonnenuntergang schlafen. Jedoch nicht in jener Nacht.

Als Sofie mit ihrem fest an die Brust gepressten Teddy den Feldweg betrat, sah sie im geisterhaften Mondeslicht hunderte und aberhunderte von Krähen, die den Feldrand wie schwarzes Garn säumten und sie mit ihren kleinen, schlauen Augen begleiteten – stumm und ohne sich zu regen.

Der dünne Schein, der von Mirabelle ausging, spendete nur eine schemenhafte Beleuchtung. „Ich habe Angst, Mirabelle, lass uns umkehren!“, jammerte Sofie, folgte der Fee dennoch unaufhörlich weiter.

Wenige Minuten später ließen Sofie und die Fee den Acker hinter sich und zogen immer weiter zum grünen Streifen, der die Wohnsiedlung, in der Sofie zu Hause war, von der L154 trennte.

Es war nur ein kleines Stück Wald, das sich gleichermaßen bei Joggern und Hundebesitzern einer großen Beliebtheit erfreute. Dort verlief ein von tausend Füßen frei getrampelter Spazierpfad, entlang dessen mehrere Sitzbänke aufgestellt waren.

Anfangs blieben Sofie und Mirabelle auf dem Spazierweg, doch schon bald machte die Fee einen Schlenker nach links. „Dort will ich nicht hin“, protestierte Sofie. Natürlich wusste sie, dass es kein richtiger Wald war: Wenigstens keiner, in dem es vor wilden Tieren wimmelte oder ein Kind sich hätte verlaufen können. Und dennoch ergriff allmählich das Unbehagen von ihr Besitz.

Zweige und Äste kratzten an den Beinen und Armen des Mädchens. Direkt an seinem Ohr konnte es das gläserne Summen einer Mücke vernehmen und seine Hausschlappen drohten ihm jede Sekunde von den Füßen zu fallen und für immer verloren zu gehen.

Sofie stolperte über einen Ast und fiel auf die Knie. Der weiche, feuchte Waldboden fing ihr Gewicht behutsam auf, sodass sie sich nicht verletzte. Doch noch bevor sie ihren Körper aufrichten konnte, zog Mirabelle bereits hektisch an einer ihrer Haarsträhnen.

„Warum hast du es überhaupt so eilig?“, schnaubte Sofie.

So gingen sie noch eine Weile weiter ins dunkle Grün hinein, bis das Mädchen auf einmal einen schwachen Nadelbaumgeruch wahrnahm. Schwach, aber deutlich. Viel zu deutlich, um mit etwas anderem verwechselt zu werden. Ein beunruhigender Gedanke leuchtete in Sofies Kopf wie ein Warnsignal auf: In unserem Wäldchen wachsen keine Tannen. Auch keine Eiben, Fichten und wie sie alle sonst noch heißen mögen!

Im kleinen Wäldchen nahe Krähenacker gab es Birken, Ulmen, Espen und Haselnusssträucher, aber keine Nadelbäume. Vergangenes Jahr hatte Sofies Schulklasse einen Ausflug in das Wäldchen unternommen. Die Klassenlehrerin hatte sie die Namen aller Bäume, die dort wuchsen, aufschreiben lassen. Sie haben sogar Blätter für ein Herbarium gesammelt. Somit war Sofie sicher, dass sie sich nicht mehr dort befand, wo sie sich hätte befinden müssen.

Sie begann zu schluchzen.

Mirabelle hing vor Sofies Gesicht in der Luft und gestikulierte wild, um ihr klarzumachen, dass sie sich beruhigen und weitergehen sollte. Mit ihren winzigen Händen strich sie dem Mädchen die Tränen von den Wangen. Jene Berührung empfand Sofie als tröstlich und begann sanfter zu atmen.

Von irgendwoher ertönte der gemächliche Ruf einer Eule und noch etwas, was das Mädchen entfernt an Gesang erinnerte. Der Wald wurde dichter. Der Gesang, der sich angenehm mit den Naturgeräuschen vermischte, zeichnete sich dabei immer deutlicher ab. Die Melodie kam Sofie vertraut vor, doch sie war sich unschlüssig, woher sie sie kannte.

Noch ein paar Schritte. Sofies Augen eröffnete sich eine in Mondschein getränkte Lichtung. Auf einem gefallenen Baumstamm, der quer über die Lichtung im hohen Gras lag, saß eine Frau, die sang.

Das Haar der Singenden schimmerte rot. Es fiel ihr in sanften Wellen über den Rücken wie ein glühender Wasserfall. In der Hand hielt sie einen großen Kamm, mit dem sie sich immer wieder durch das Haar fuhr. „Ich will das Kind sehen“, sprach sie, ohne sich umzudrehen. Die Stimme floss wie ein Bach, umhüllte mit ihrer Zahmheit, ließ nicht los.

Unsicher, jedoch neugierig trat Sofie einen Schritt auf die Frau zu. Die Hausschlappen des Mädchens waren mit Morast getränkt und gaben schmatzende Geräusche von sich. Der Duft der Tannen war nun derlei intensiv, dass die gesamte Welt aus ihm zu bestehen schien.

Sofies Augen trafen sich mit denen der Singenden, deren Gesicht im gleichen Maße bezaubernd anmutete wie ihre Stimme. Mit einer gebieterischen Handbewegung schickte sie Mirabelle fort. „Wessen Gartens Blume bist du? Wessen Vaters Kind?“, fragte sie Sofie.

„Ich bin ein Mensch. Und mein Papa heißt Wolfgang“, gab das Mädchen zurück.

Etwas raschelte im Gras. Es hörte sich an wie ein im Laub wühlender Gecko, nur dass dieser Gecko sehr groß zu sein schien.

Sofie schaute dorthin, wo das Wühlen herkam und konnte tatsächlich eine Bewegung im Gras erahnen. Ihr Blick verfolgte die Bewegung, bis sie feststellte, dass die Frau ebenso wie Mirabelle keine Beine besaß. Ihre Hüfte verlief in etwas, was Sofie als einen Schwanz zu erkennen glaubte. Einen Meerjungfrauenschwanz, dessen Ende im Graswuchs der Waldlichtung verschwand.

„Bist du eine Meerjungfrau?“, fragte Sofie.

„Wenn man so will“, antwortete die Frau mit einem zufriedenen Lächeln.

Wäre das Mädchen etwas weniger gebannt gewesen, wäre ihm ohne Zweifel aufgefallen, dass die Gesichtszüge der Meerjungfrau ständig merkwürdig zuckten, als würde es sie eine enorme Anstrengung kosten, die eigene Mimik unter Kontrolle zu halten.

„Willst du meine Haare kämmen?“, fragte die Frau.

Sofie nickte. Sie hätte sich nichts Schöneres vorstellen können, als das Haar einer echten Meerjungfrau zu berühren.

„Dann setze dich zu mir.“

Sofie schwang sich auf den Baumstamm neben die schöne Singende, die dem Mädchen ihren schweren Elfenbeinkamm übergeben hatte und dann ihren Kopf auf seinen Schoß legte. Mit beiden Händen streichelte Sofie über die seidenen Wellen, die sich über sie ergossen hatten und begann zu kämmen. Jegliches Zeitgefühl ging ihr währenddessen verloren.

Die ersten Sonnenstrahlen zeigten sich bereits im Osten, als die Frau ihren Kopf von Sofies Schoß erhob. „Das hast du gut gemacht, Kleines“, sagte sie. „Ich würde dich ab und zu besuchen kommen, wenn ich darf.“

Sofie, die sich unglaublich benommen und leer fühlte, murmelte etwas, das wie eine Zustimmung klang. Mirabelle flog gleich danach heran, um das Mädchen zurück nach Hause zu begleiten. Unterwegs sprach Sofie nicht. Ihren Teddy hatte sie im Wald liegen lassen und kümmerte sich nicht weiter darum. Teddy war ihr jetzt egal.

Über dem Krähenacker herrschte der morgendliche Nebel und die Vögel waren allesamt verschwunden.

Sofie schloss die Haustür auf. Ihre Kraft reichte gerade mal aus, um den Flur zu durchstreifen. Vor der Küchentür wurde ihr schwarz vor Augen und sie brach zusammen.

„Frau Knipp, seien Sie beruhigt, ihre Tochter hat nichts. Sie hat nur geschlafwandelt“, redete Dr. Hormes auf Korinna ein. “Im Normalfall erledigt sich das von ganz alleine.“

Sofie saß inzwischen im Warteraum und schaute sich die aktuelle Yps-Heft-Ausgabe an.

Korinna, die jene durch jahrzehntelange Erfahrung untermauerte Gelassenheit des Kinderarztes als Inkompetenz gedeutet hatte, gab nun ihr Bestes, um ihm vielleicht doch noch eine düsterere Diagnose zu entlocken. „Sie haben sie heute Morgen nicht gesehen. Ihre Hausschuhe, ihr Pyjama waren voller Schlamm und das Gesicht leichenblass.“

Dr. Hormes seufzte: „Ihre Tochter war draußen im Garten und die Nacht war zugegeben frisch. Aber ihr Körper zeigt keinerlei Anzeichen einer Unterkühlung. Ihr geht es gut. Sie kann sich nicht einmal an die vergangene Nacht erinnern.“

„Was soll ich denn tun, wenn sie es wieder macht?“

Sichtlich bemüht, gelassen zu bleiben, wiederholte der Arzt erneut das, was er in der vergangenen halben Stunde schon mehrmals erzählt hatte: „Zuallererst Ruhe bewahren. Passen Sie auf, dass die Türen und Fenster im Haus verschlossen bleiben. Bewahren Sie den Haustürschlüssel außerhalb von Sofies Reichweite. Werden Sie nicht panisch, falls Sie sie beim Schlafwandeln erwischen. Führen Sie sie so sanft wie möglich zurück ins Bett oder wecken Sie sie vorsichtig. Ich gehe jedoch stark davon aus, dass es bei diesem Einzelfall bleiben wird.“

Korinna schaute entnervt drein. „Würden Sie mir bitte ein Attest für die Schule ausstellen? Ich würde Sofie gerne ein paar Tage zu Hause behalten. Die Beerdigung hat ihr wohl doch schwerer zugesetzt, als ich gedacht habe.“

„Ja“, sagte Dr. Hormes und seufzte erneut. „Wenn es Ihr dringender Wunsch ist, dann bitte schön.“ Er stand auf und streckte Korinna seine runzlige, mit pergamentener Haut bezogene Hand entgegen. „Machen Sie es gut, Frau Knipp. Das Attest können Sie gleich an der Rezeption abholen.“

Die Annahme des Kinderarztes, Sofie könne sich an ihre nächtliche Wanderung nicht erinnern, war falsch. Dem Mädchen war durchaus bewusst, wo und mit wem es die Nacht verbracht hatte.

Bevor Korinna sie zu Dr. Hormes geschleppt hatte, hatte sie ihr ganzes Zimmer nach Mirabelle abgesucht. Ohne Erfolg. Von der Fee fehlte jede Spur.

„Schatzi, sollen wir vielleicht Pommes und Burger essen gehen?“, fragte Korinna, nachdem sie die Arztpraxis verlassen hatten und ins Auto gestiegen waren.

Doch das Einzige, was Sofie wollte, war wieder zu Hause zu sein. Sie musste schließlich ihr Zimmer für die Meerjungfrau hübsch machen. „Ich habe keinen so großen Hunger und will nach Hause“, gab sie zurück.

Korinna zuckte mit den Schultern und startete den Wagen.

Zu Hause machte Sofie sich unverzüglich daran, ihr Spielzeug zu ordnen. Alles musste auf seinen Platz. Aus dem Schrank hatte sie sogar einen Satz frischer Bettwäsche hervorgekramt und überzog ihr Bett eigenhändig neu. Dann befeuchtete sie im Bad ihr altes Shirt und wischte damit den Staub von ihrem Schreibtisch, auf dem immer noch die Puppenstube ihrer Träume stand.

Während dieser Aufräumaktion dachte sie ununterbrochen an die vergangene Nacht. Sie wusste nicht recht, ob sie überhaupt wollte, dass die Meerjungfrau sie besuchen kam. Im Grunde konnte Sofie sich glücklich schätzen, ein solches Abenteuer erleben zu dürfen (Nicht jeden Tag laufen einem waschechte Feen und Meerjungfrauen über den Weg!). Dennoch war ihr ein wenig mulmig zumute. Vielleicht sollte sie lieber doch alles ihrer Mutter anvertrauen. Aber dann wäre Mirabelle mit Sicherheit stocksauer! Sie würde sich bestimmt nie wieder blicken lassen. Und was erwartete sie eigentlich von ihrer Mutter? Dass sie Verständnis dafür aufbrachte, dass es eine Märchenwelt gab? Zu so etwas waren Eltern Sofies Meinung nach von Natur aus vollkommen außerstande.

Du weißt, dass du nicht mit den Fremden reden darfst, oder? Und schlepp bloß keinen Unrat ins Haus, verstanden?

Mit einem Schlag hatte sich das Mädchen an seinen Alptraum erinnert. Es fröstelte.

Aber eine Nixe ist doch keine Fremde. Sie ist nicht einmal ein Mensch, feilschte Sofie mit sich selbst. Ein vorsichtiges Klopfen an der Tür unterbrach ihr inneres Verhandlungsgespräch.

„Du meine Güte!“, staunte Korinna, als sie das frisch geordnete Zimmer ihrer Tochter erblickt hatte. „Was ist denn in dich gefahren?“

Für gewöhnlich war Sofie kein sonderlich ordnungsbewusstes Kind. Das Höchste aller Gefühle bestand für sie darin, die getragenen Socken nach der zehnten Aufforderung in den Wäschekorb zu stecken.

„Erwartest du etwa einen Gast, Schatzi?“, scherzte Korinna und streichelte Sofie übers Haar.

„Ja“, entgegnete das Mädchen und staunte über die Selbstverständlichkeit, mit der die Antwort ihre Lippen verlassen hatte.

„Und wer kommt alles? Lass mich raten ...“, Korinna legte die Stirn in Falten und presste einen Zeigefinger ans Kinn. „Ich wette, es wird eine Prinzessin sein!“

„Eine Meerjungfrau“, korrigierte Sofie trocken.

„Na dann wünsche ich euch eine tolle Party. Ruf mich, wenn ihr etwas braucht“, sagte Korinna, bevor sie hinter der Tür verschwand.

Sofie blieb alleine mit ihren Gedanken. Den Rest des Tages wartete sie auf den Besuch, aber weder Mirabelle noch die Meerjungfrau tauchten auf.

Als Wolfgang von der Arbeit nach Hause gekommen war, konnte sie ihn und ihre Mutter unten flüstern hören. Das Mädchen schlich zur Treppe, um der geheimen Unterhaltung ihrer Eltern zu lauschen. Das tat sie öfters – ganz besonders dann, wenn ihr Geburtstag nahte und sie noch keinen blassen Schimmer hatte, was ihr Geschenk sein würde.

„Nein, nein, sie erinnert sich immer noch an nichts. Der Arzt sagte, alles werde sich von allein erledigen. Das mag ich aber so nicht hinnehmen! Der alte Pferdedoktor wollte mich nur abwimmeln …“, sprach Korinna.

„Was hat die Maus den ganzen Tag getrieben?“

„Nichts Besonderes, außer dass sie auf einmal ihr Zimmer aufgeräumt hat.“

„Nun, dafür gab’s aber auch höchste Zeit!“ Wolfgang klang belustigt.

„Ach ja“, Korinnas Stimme klang, als würde sie lächeln, „sie hat eine Meerjungfrau zu Besuch. Eine Art imaginäre Freundin, nehme ich an. Wir sollten es im Auge behalten.“

„Unsere Tochter hat eine hervorragende Fantasie, sonst nichts“, sagte Wolfgang, bevor Sofie hörte, wie er die Badezimmertür hinter sich zuzog.

Zu Abend gab es Backkartoffeln mit Kräuterquark und Putengeschnetzeltes. In der Küche roch es köstlich! Ein Fest der Sinne, wie Wolfgang zu sagen pflegte. Unter anderen Umständen wäre Sofie jetzt fröhlich durch das Haus gehüpft, in Erwartung, sich die schönste Backkartoffel aussuchen zu dürfen. Alles wäre wie sonst gewesen, wenn bloß nicht diese drückende Unruhe, die in ihr zu wachsen angefangen hatte, nachdem die ersten Schatten der Dämmerstunde sich gezeigt hatten.

Noch nie zuvor hatte sie sich vor der Dunkelheit gefürchtet. Im Sommer machte sie des Öfteren spätabendliche Taschenlampen-Erkundungstouren mit ihrem Vater und es wäre ihr nicht einmal im Traum in den Sinn gekommen, dabei ängstlich zu werden. Jetzt jedoch, obwohl sie sich daheim befand, fühlte sich die Abenddämmerung wie ein Grabstein auf ihrem Herzen an. Sofie war zum Heulen zumute.

„Frau Nasic kam heute erneut mit Verspätung ins Büro“, klagte Wolfgang.

„Sie scheint aber unheimlich viel Wert aufs Betriebsklima zu legen“, entgegnete Korinna und verzog das Gesicht.

Für gewöhnlich wäre Sofie bei so einem Erwachsenengespräch ganz Ohr gewesen, hätte Fragen gestellt und ihre Eltern mit ihrer forschenden Art garantiert zum Lachen oder Verzweifeln gebracht. Doch nun wünschte sie sich einzig und alleine eine Fernbedienung, mit der sie Korinna und Wolfgang hätte stumm schalten können. Sie wollte ihren halbvollen Teller gegen die Wand knallen und dann losbrüllen und hinauslaufen, weg von Zuhause, von allem, was sie kannte und liebte.

Stattdessen blieb sie am Tisch sitzen, bis alle Teller leer waren.

Dem Familienplaner zufolge war an jenem Abend Wolfgang an der Reihe, Sofie ins Bett zu bringen. Nach dem Zähneputzen kuschelte Sofie sich unter die Decke. Die Unruhe legte sich ein wenig und sie war froh, am nächsten Tag nicht in die Schule gehen zu müssen.

„Mama sagt, du hättest heute eine Nixe zu Besuch gehabt“, sagte Wolfgang.

Sofie nickte.

„Hat sie auch einen Namen?“

Sofie schüttelte den Kopf.

„Na gut, dann kannst du mir vielleicht verraten, wo die ganzen Wikinger hin sind?“

„Welche Wikinger denn?“ Ein listiger Lachfunke flammte in Sofies Augen auf.

„Na die, die dein Zimmer immer so verwüsten.“

Der Funke rutschte in Sofies Nase und kitzelte dort wie eine Feder. Dann prustete sie los, explodierte förmlich wie ein sprudelndes Feuerwerk. Die Unruhe kroch vorrübergehend in ihre dunkle Höhle zurück.

„Ich habe dich so lieb, Papi!“, sagte das Mädchen. „Es ist wirklich toll, dass ich ausgerechnet dich als Vater bekommen habe.“

Wolfgang umarmte seine Tochter innig. „Gute Nacht, Schatzi-Maus. Und denke immer daran, dass deine Mutter und ich dich über alles lieben.“

Er knipste das Licht aus. Er ging hinaus. Die Dunkelheit flüsterte und lebte.

Sofie wurde wach, weil jemand ihre Schulter streichelte. Schlaftrunken öffnete sie die Augen und versuchte mit der Hand den Schalter ihrer Nachttischlampe zu ertasten. Als das Licht anging, sah sie die Meerjungfrau auf der Bettkante sitzen.

„Du bist doch gekommen“, wisperte Sofie. „Ich habe mein Zimmer für dich zurechtgemacht.“

„Das ist schön“, antwortete die Nixe und steckte dem Mädchen ihren Kamm entgegen.

Wie schön sie doch war, dachte Sofie. Noch viel schöner als letzte Nacht. „Wo ist Mirabelle?“, fragte sie.

„Es spielt keine Rolle“, entgegnete die Meerjungfrau. „Kämm mir das Haar.“

Korinna hatte schlecht geträumt. An die Einzelheiten des Traumes vermochte sie sich nicht mehr zu erinnern, wurde dennoch das ungute Gefühl, das es in ihr ausgelöst hatte, nicht los.

Sie musste pinkeln. Auf der Toilette sitzend, fiel ihr plötzlich auf, dass sie vergessen hatte, vor dem Schlafengehen den Haustürschlüssel zu verstecken. Auf leisen Sohlen glitt sie die Treppe hinunter, zog den Schlüssel aus dem Schlüsselloch heraus und begab sich wieder nach oben. Als sie an Sofies Zimmer vorbeiging, konnte sie durch den Spalt zwischen Türblatt und Boden das Licht brennen sehen.

Das ist ja etwas Neues, dachte sie. Zuletzt hat sie im Hellen geschlafen, als sie fünf gewesen ist. Leise öffnete sie die Kinderzimmertür und konnte ihren Augen nicht trauen.

Sofie saß auf dem Bett und starrte ins Nichts. Auf ihrem Schoß der Kopf einer Frau, deren rostbraunes, dreckiges Haar die komplette untere Körperhälfte ihrer Tochter bedeckte. Wie in Trance fuhr das Mädchen mit der Hand durch diese ekelerregenden Zotteln. Und auf dem Boden vor dem Bett lag etwas Riesenhaftes zusammengerollt. In stummer Bestürzung begriff Korinna, dass es der Schwanz einer Schlange war.

Sie wollte losschreien, ihr Kind packen und wegtragen, doch in diesem Moment schaute Sofie sie mit einem abwesenden, lethargischen Blick an. Dann presste sie sich einen Finger an die Lippen. „Nicht wecken“, sprach sie.

Diese Worte verschlugen Korinna den Atem. Sie taumelte hilflos. Ihre Beine brachten sie ins Schlafzimmer, ohne dass sie Notiz davon nahm. Sie fiel mit dem Gesicht nach unten in ihr Ehebett neben Wolfgang und ihr Bewusstsein verabschiedete sich.

Wolfgang saß auf dem Sofa neben seiner Frau und streichelte ihren Arm. „Schatz, Schlangenfrauen gibt es nur im Zirkus. Die Beerdigung und der gestrige Tag sind zu anstrengend für dich gewesen.“

„Nein, ich weiß, was ich gesehen habe! Ich weiß es einfach! Es war kein Traum!“

„Liebling, du hast deine Periode, da verhältst du dich immer so merkwürdig.“

Korinnas kreidebleiches Gesicht bekam auf einmal Farbe und verwandelte sich mit einem Schlag in eine Hexengrimasse. Sie sprang auf und beugte sich bedrohlich über ihren Mann.

„Jedes verdammte Mal, wenn eine Frau etwas sagt oder tut, womit ein Mann aufgrund seiner Beschränktheit nichts anfangen kann, meint er, sie habe NUR ihre Tage“, brüllte sie ihn an. „Weißt du eigentlich, wie scheiße das ist?“

Wolfgang, dessen Körperhaltung tiefste Reue ausdrückte, stammelte Entschuldigungen.

„Siehst du nicht, dass mit unserem Kind etwas nicht stimmt?“, fuhr Korinna fort, diesmal jedoch etwas leiser. „Sie ist leichenblass! Sie sieht krank aus!“

„Vielleicht sollten wir mit ihr zum Arzt, um …“, Wolfgang brachte den Satz nicht zu Ende.

„Wo bin ich denn mit ihr deines Erachtens gestern gewesen? Oder meinst du, der alte Hormes hat seine Meinung über Nacht geändert? Er nimmt mich doch kein bisschen ernst!“

Wolfgang stand auf und schnappte seine Aktentasche vom Wohnzimmertisch. „Ich muss jetzt ins Büro“, sprach er, „du solltest heute nicht so viel tun. Gönnt euch einen schönen Stadtbummel oder so …“

Korinna winkte genervt ab.

Nachdem ihr Mann das Haus verlassen hatte, ging sie zum zigsten Mal die Treppe hinauf ins Zimmer ihrer Tochter. Sofie lag unbedeckt im Bett und sah in den frühen Morgensonnenstrahlen entzückend aus. Es wäre ein perfektes Bild gewesen, wenn nicht die dunklen Ringe, die wie bösartige Schatten ihre Augen umrandeten.

Korinna setzte sich behutsam neben Sofie und küsste ihre Schulter. Als sie den Kopf wieder hob, fiel ihr Blick auf einen dunklen Fleck, wenige Zoll oberhalb Sofies linkem Knie. Bei einem näheren Betrachten konnte Korinna inmitten des Flecks zwei kleine schwarze Punkte feststellen, die wie tiefe Einstiche einer Injektionsnadel aussahen, und beide einen Umfang von wenigen Millimetern aufwiesen.

Hat sie die sich etwa beim Schlafwandeln zugezogen?, fragte Korinna sich. Stammen die Einstiche vielleicht von dem Dornenbusch im Garten? Wie oft habe ich Wolfgang gesagt, dass das Ding weg muss …