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"Wir alle werden seit Jahren ausspioniert: Ob beim Surfen im Internet, beim E-Mail-Schreiben oder bei der Webcam-Nutzung - überall und jederzeit." Das sagt Götz Schartner, professioneller Hacker und Experte für Spionage und Gegenspionage im Internet. "Ob Weltkonzern oder Privatmann - es soll sich keiner einbilden, dass er die Ausnahme ist." In seinem neuen Buch zeichnet der Bestsellerautor die Geschichte der Online-Spionage nach und demonstriert, wie unverschämt der Staat seine Bürger belügt. Schartner zeigt, wie sich jeder von uns mit einfachen Methoden gegen die allgegenwärtige Bespitzelung im Netz wehren kann.
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Seitenzahl: 153
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GÖTZ SCHARTNER
Wie wir alle seit Jahren ausspioniert werden und wie wir uns wehren können
Copyright © 2014 by Götz Schartner
Copyright der deutschen Ausgabe 2014: © Börsenmedien AG, Kulmbach
Covergestaltung: Johanna WackGestaltung und Satz: Franziska Igler Lektorat: Egbert Neumüller Druck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm
ISBN 978-3-86470-188-7
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Tick, tack, tick, tack … jede Sekunde werden weltweit mehr als 300.000 Kurznachrichten (SMS) verschickt. Das macht zusammen geschätzte zehn Billionen allein im letzten Jahr. Trotz Smartphone und Tablet-PC ist die SMS die ungekrönte Königin der mobilen Kommunikation, mit Millionen treuer Fans. Ihr größter ist unbestritten der US-Geheimdienst National Security Agency (NSA), der in dem riesigen Strom aus Informationen nach Herzenslust fischt, immer auf der Suche nach Informationen. In einer streng geheimen Präsentation1 bezeichnet der Dienst den SMS-Verkehr wenig überraschend als wahre „Goldmine, die es auszubeuten gilt“. Und das tut er seit Jahren mit Hingabe. Mithilfe der Schnüffelsoftware „Dishfire“ griffen die IT-Experten 2011 gut 200 Millionen SMS ab – an einem einzigen Tag wohlgemerkt. Welche konkreten Ziele – sofern solche überhaupt existieren – mit der Datensammelei verfolgt werden, bleibt ein Geheimnis der NSA. Bekannt ist, welche Informationen die Behörde durch die Auswertung von Kurznachrichten über Sie erhält: alle möglichen. Sie fahren über das Wochenende in den Kurzurlaub? Viel Spaß! Wenn Sie eine SMS-Bestätigung für die Hotelbuchung erhalten, ist die NSA mit von der Partie. Sie wissen nicht mehr, wann Sie die Grenze passiert haben? Fragen Sie doch beim Geheimdienst nach. Dank Roaming-Abkommen lassen sich Ort und Zeitpunkt des Grenzübertritts minutengenau nachvollziehen. Ein auf der Reise verpasster Anruf erzeugt auf Ihrem Handy eine automatisierte Benachrichtigung. Aus dieser erfahren die Experten, wer Sie zu erreichen versucht hat und von wo der Anruf stammte. Je mehr SMS abgefischt werden, desto besser lernen die Analysten Ihren Freundes- und Bekanntenkreis kennen. Bewegungsmuster lassen sich so ebenfalls erstellen.
Das Ausspähen von Kurznachrichten ist trotzdem nur ein Puzzlestück im Bestreben der Behörde, die weltweite Kommunikation auszuspähen. Telefongespräche, E-Mails, Chats, Soziale Netzwerke, Fotos, Dokumente: Die Bespitzelung ist allumfassend.2 Alle Quellen werden rund um die Uhr angezapft, überall steckt die NSA ihre Nase rein, immer unter dem Deckmantel der Terrorabwehr. Regeln und Gesetze scheren die Geheimdienstler einen Dreck und wer bei den Aktionen nicht kooperiert, wird mithilfe willfähriger Richter gefügig gemacht. So musste der US-Mobilfunkkonzern Verizon dem FBI und der NSA per geheimen Gerichtsbeschluss3 täglich die Verbindungsdaten von Millionen Amerikanern liefern – ohne konkreten Verdacht. Um an die Daten von Google, Microsoft und Yahoo zu gelangen, bemühten die Schnüffler nicht einmal mehr die Richter.4 Deren Server wurden ganz altmodisch gehackt. Überflüssig zu erwähnen, dass es auch in diesen Fällen keine Verdachtsmomente gab, die einen solchen Zugriff gerechtfertigt hätten.
Dass die Menschen heute überhaupt so viel über die zweifelhaften Überwachungsmethoden der Geheimdienste wissen, dass sie die Namen von Schnüffelprogrammen wie XKeyscore, Prism, Dishfire und all den anderen kennen, verdanken sie einem Mann: Edward Snowden. Mit seinen ersten Enthüllungen im Juni 20135 brachte der Ex-NSA-Mitarbeiter den Stein ins Rollen und schaffte es weltweit in die Schlagzeilen. Snowdens geheime Dokumente zeichnen das beängstigende Bild eines völlig außer Kontrolle geratenen Geheimdienstes, dessen Datenhunger unersättlich ist und der nicht unterscheidet zwischen Gut und Böse, Freund und Feind. Millionen Menschen feiern den Amerikaner seither als Held, fiebern jeder seiner Enthüllungen entgegen. Doch der Preis, den Snowden zahlt, ist hoch: Er hat sein Zuhause verloren, seine Familie und Freunde – vielleicht für immer. In seiner Heimat wird er per Haftbefehl6 wegen Landesverrats gesucht. Im Falle einer Verurteilung droht dem Whistleblower eine lebenslange Gefängnisstrafe. Mit seiner spektakulären Flucht ins russische Exil ist der 31-Jährige der amerikanischen Justiz zwar vorerst entkommen. In Sicherheit ist er nicht. In einem Interview erzählte der Amerikaner, dass er ständig E-Mails erhalte, in denen ihm mit dem Tod gedroht werde. Natürlich ist es denkbar, dass der Ex-NSA-Mitarbeiter seine Lage absichtlich dramatischer darstellt, als sie tatsächlich ist. Doch was hätte er davon? Gegen diese Vermutung spricht zudem, dass ihn ein Mitarbeiter der NSA in einem Interview mit US-Medien als „schlimmsten Vaterlandsverräter aller Zeiten“ bezeichnete,7 den man lieber heute als morgen tot sähe. Insofern muss es überraschen, dass Snowden noch am Leben ist. Doch wie lange noch? Das von Russland gewährte Asyl wurde zwar 2014 um drei Jahre verlängert.8 Wie es danach weitergeht, weiß aber niemand.
War es das wert? In seinem ersten Interview mit Guardian-Journalist Glenn Greenwald sagte Edward Snowden auf die Frage, weshalb er an die Öffentlichkeit trete: „Mit der Zeit verstärkt sich das Gefühl, etwas Falsches zu tun, und man möchte darüber mit jemandem sprechen. Doch je häufiger man darüber spricht, desto mehr wird man ignoriert und desto öfter heißt es, das sei kein Problem. Irgendwann ist man überzeugt, dass diese Dinge von der Öffentlichkeit bewertet werden sollten und nicht von jemandem, der dafür von der Regierung angeheuert wurde.“9 Edward Snowden hat aus der Überzeugung heraus gehandelt, das Richtige zu tun. Seine Enthüllungen sollten die Menschen aber auch wachrütteln, sie auf die Barrikaden treiben. Damit ist Snowden zumindest in Deutschland gescheitert. Die große Mehrheit der Bundesbürger lässt der NSA-Skandal kalt. In Umfragen10 gaben ganze 25 Prozent an, „sehr besorgt“ zu sein. Ein Aufschrei in der Bevölkerung, wie ihn sich der Whistleblower gewünscht hat, sieht anders aus. Der große Rest verfolgt seine Enthüllungen mal mehr, mal weniger interessiert, je nachdem, ob gerade das Handy der Kanzlerin angezapft wurde – als ob deren Grundrechte mehr zählen würden als die aller anderen – oder doch nur Beweise für eine neue Schnüffelsoftware vorgelegt werden. Die Deutschen sehen tatenlos zu, wie ihre Grundrechte mit Füßen getreten werden. Was ist mit dem Schutz der Privatsphäre, was mit der Unschuldsvermutung? Was mit dem Briefgeheimnis, das nicht nur den Briefkasten und dessen Inhalt unter den besonderen Schutz des Staates stellt, sondern auch das E-Mail-Konto? Die Deutschen verhalten sich gemäß dem Motto: Der Staat wird’s schon richten. Die bittere Wahrheit ist eine andere: Wer sich auf die Politik verlässt, ist schon verlassen. Die Bundesregierung reagierte auf die Veröffentlichungen bislang mit einer Mischung aus Lügen, Verharmlosung, Naivität und völliger Inkompetenz – wobei es schwerfällt zu beurteilen, was einem davon die meiste Angst einjagt.
Dieses Buch hilft dem Leser, sich gegen die Spähangriffe der Geheimdienste zur Wehr zu setzen, indem es zeigt, wie man auch im Zeitalter der digitalen Kommunikation und des Internets unsichtbar bleibt und seine Daten schützt. Es räumt mit dem weit verbreiteten Irrglauben auf, dass die Bespitzelung keine direkten Folgen für die Betroffenen habe, denn das Gegenteil ist der Fall. Es schildert einige der aufsehenerregendsten Fälle von Whistleblowing – nicht nur den von Edward Snowden aufgedeckten NSA-Abhörskandal – und porträtiert Menschen, ohne deren Mut und hohen moralischen Standards es schlichtweg undenkbar ist, dass diese Vorgänge ihren Weg an die Öffentlichkeit gefunden hätten. Es beschreibt aber auch, welchen hohen Preis Whistleblower für ihr Handeln bezahlen, wie sie diffamiert, als Verräter denunziert, gemobbt und sogar mit dem Tode bedroht werden. Ich belege zudem, wie dreist die Politik die Öffentlichkeit belügt, wenn sie behauptet, keine Kenntnisse über die Methoden von NSA und Co zu haben – und wie sie zum Mittäter wird, indem sie zulässt, dass Grundrechte missachtet werden.
Julian K. ist das, was man landläufig als freundlichen Mitmenschen bezeichnet, immer nett und hilfsbereit, immer da, wenn Not am Mann ist. Mit seiner Ehefrau Claudia und dem vier Jahre alten Sohn Philipp bewohnt der 39-Jährige ein Reiheneckhaus vor den Toren Münchens. Die schmucke Immobilie mit ihren kaminroten Dachziegeln, der strahlend weißen Fassade und den flaschengrünen Fensterläden ist sein ganzer Stolz. Lange hatten er und Claudia auf die Verwirklichung ihres Traums von den eigenen vier Wänden gespart, dann, im Jahr 2011, schien die Gelegenheit günstig: In Südeuropa tobte die Wirtschaftskrise, Griechenland, Portugal und Spanien drohte der Staatsbankrott. Um die Region zu stabilisieren, drehte die Europäische Zentralbank (EZB) den Geldhahn so weit auf wie nie zuvor und die Kreditzinsen rauschten in den Keller. Die Eheleute hatten die Entwicklung aufmerksam verfolgt, nächtelang Finanzierungspläne für den Hauskauf geschmiedet und wieder verworfen und erst zugeschlagen, als sie sicher waren, die Finanzierung stemmen zu können. Während Claudia wegen der Schulden bei ihrer Hausbank auch heute noch manchmal schlecht schläft, ist Julian rundum zufrieden. Was soll passieren? Er hat einen guten Job als Verkäufer in einem Softwareunternehmen, das Programme für die Finanzindustrie entwickelt. Und die werden schließlich immer gebraucht – heute mehr denn je.
Julian K. ist ein guter Verkäufer, ein Glas-voll-Typ, wie seine Kollegen immer sagen. Sein freundliches Wesen und der unerschütterliche Optimismus machen ihn bei seinen Kunden beliebt. Sein Arbeitgeber schätzt an dem Familienvater hingegen die ausgeglichene Art, seine Teamfähigkeit und, vor allem, die guten Verkaufszahlen. Im Kollegenkreis ist er akzeptiert. Dass er Muslim ist, hat bislang niemanden sonderlich interessiert. Religion ist bei den Treffen, zu denen sich sein Verkaufsteam zusammenfindet, kein Thema. Es geht um andere Dinge: schwierige Kunden, Verkaufsziele, Abschlüsse, Boni. An jenem Freitagnachmittag drehen sich die Gespräche um die bevorstehende Branchenmesse in London, das wichtigste Event des ganzen Jahres. Jede Menge potenzieller Kunden, die es zu beeindrucken gilt. Die Konkurrenz ist natürlich ebenfalls vor Ort. Also wird ein Schlachtplan geschmiedet. Die Gruppe tüftelt über mögliche Strategien, es wird diskutiert und gestritten, doch am Ende sind alle zufrieden. Als sich Julian schließlich in seinem Wagen auf den Heimweg macht, ist es schon spät und er ist müde. Dass er bei der Messe in der nächsten Woche auslassen muss, weil ihn sein Arbeitgeber bei einer wichtigen Präsentation dabei haben will, hat ihn enttäuscht. Doch nur kurz. Er kennt seine Kollegen und vertraut ihnen: „Die kriegen das auch ohne mich hin.“ Während Julian auf die Autobahn auffährt, lässt ihn eine Idee kurz lächeln. Er fummelt aus der Innentasche seiner Anzugjacke das Smartphone hervor und beginnt zu tippen: „Hey Leute! Tut mir einen Gefallen und BLAST SIE WEG! Reißt von mir aus den ganzen verdammten Laden ein! Gruß Julian.“ Dann wählt er die Kontaktliste für seine Arbeit aus und drückt auf „SMS senden“. Auf dem Display erscheint: „SMS gesendet.“
Als er eine knappe Stunde später leise die Haustür aufschließt, wartet Claudia bereits auf ihn: „Wie war dein Tag? Du siehst müde aus“, stellt sie besorgt fest. „Alles in Ordnung, Schatz, alles in bester Ordnung“, antwortet er und gibt ihr im Vorbeigehen einen flüchtigen Kuss. Er streift die schwarzen Anzugschuhe ab, stellt sie in das Schuhregal hinter der Eingangstür und schlüpft in seine Pantoffeln. Dann legt er sich auf die Couch im Wohnzimmer, wo er augenblicklich einschläft.
72 Stunden später liegt das Leben von Julian K. in Trümmern.
Als er am Montagmorgen das Haus verlässt, zeigt das Thermometer eisige zwölf Grad minus. Die Luft ist klar und kalt und die tief stehende Sonne blendet. Mit einem geübten Griff fischt er die Sonnenbrille hinter der Blende hervor, dann startet er den Motor seines Wagens. „Hoffentlich haben die Jungs in London Erfolg“, denkt er. Dann wäre im neuen Jahr vielleicht beides drin, ein neues Auto und der Urlaub in Italien. Für den Weg in die Münchener Innenstadt benötigt er selten mehr als 55 Minuten, doch heute ist der Verkehr dichter als sonst. „Wahrscheinlich wieder so ein Depp, der mit seinem Bulldog auf den Acker schleicht.“ Sein schwarzer Passat Kombi rollt auf die letzte Ampel im Ort zu, danach geht’s hoffentlich zügiger. „Rot, war ja klar. Ich könnte im Büro anrufen und sagen, dass es etwas später wird.“ Im selben Moment, in dem Julian den Gedanken zu Ende bringt, bricht um ihn das Chaos aus. Überall zuckende Blaulichter. Eine Stimme aus dem Lautsprecher, die seinen Namen ruft. Polizisten mit gezückten Waffen – „Die zielen auf mich! MICH?“ Wieder wird er gerufen, die Tür seines Passats aufgerissen. Hände greifen ins Wageninnere und zerren ihn nach draußen. Sein Gesicht auf dem Boden. Gefesselt.
Claudia schlägt die Augen auf. „Der verdammte Wecker. Ich hatte das Scheißding doch ausgestellt.“ Mit fahrigen Bewegungen tastet sie nach dem Gerät auf dem Nachttisch, findet den Alarmknopf und hackt mit kurzen Fingerstößen darauf herum. Das Klingeln hört nicht auf. Claudia setzt sich im Bett auf und lauscht. Das Geräusch kommt von unten, von der Eingangstür. Jemand hält offenbar den Klingelknopf gedrückt. „Der Briefträger? Ich habe doch gar nichts bestellt. Der kann sich was anhören.“ Verärgert schwingt sie die Beine über die Bettkante, steht auf und greift nach ihrem Bademantel. Als sie die Treppe runtergeht, hört sie eine Stimme vor der Tür: „Frau K., machen Sie bitte die Tür auf, Polizei.“ Claudia blickt durch den Türspion und sieht etwas, das ein Dienstausweis sein könnte. Wissen tut sie es nicht, schließlich hat sie noch nie einen gesehen. Sie kriegt es mit der Angst zu tun: „O Gott, Julian“, entfährt es ihr, während sie den Schlüssel im Türschloss nach rechts dreht und die Klinke drückt. Vom Ruck überrascht, mit dem die Tür nach innen aufgestoßen wird, stolpert Claudia einige Schritte zurück. Als sie Halt findet und nach vorne blickt, stehen mehrere Männer im Hausflur. Einer, vermutlich der, der die Tür aufgestoßen hat, tritt auf sie zu und reicht ihr ein offiziell aussehendes Schreiben. „Frau K.? Das ist ein richterlicher Durchsuchungsbeschluss. Gehen Sie bitte aus dem Weg.“ Claudia versteht kein Wort, sie ist durcheinander. Ist etwas mit ihrem Mann passiert, oder dem Sohn? Das ergibt doch alles überhaupt keinen Sinn. „Kommen Sie, ich habe ein paar Fragen.“ Der Mann nimmt Claudia am Arm und führt sie in die Küche. „Setzen Sie sich“, sagt er und drückt sie auf einen Stuhl am Küchentisch. Er mustert sie eine Weile aufmerksam, dann beugt er sich zu ihr runter und fragt: „Wussten Sie, dass Ihr Mann ein Terrorist ist?“
„Also noch mal ganz von vorne“, seufzt Julians Gegenüber mehr gelangweilt als in der Hoffnung, tatsächlich etwas Neues zu erfahren. Sie sitzen nun schon geschlagene drei Stunden – oder waren es drei Tage? – in dem kleinen Verhörraum und Julian friert. Er hat jegliches Zeitgefühl verloren. Anfangs hatte er versucht, den beiden Beamten, die mit ihm im Zimmer waren und die ihn verhörten, zu erklären, dass das alles ein Missverständnis sei, ein riesiger Irrtum. Keine Reaktion. Stattdessen die immer gleichen Fragen:
„Wie heißen Sie?“
„Julian K.“
„Weshalb wollten Sie in London eine Bombe zünden?“
„Das wollte ich nicht.“
„Wer sind Ihre Hintermänner?“
„Ich habe keine Hintermänner.“
„Wer sind Ihre Kontaktleute?“
„Ich habe auch keine Kontaktleute.“
„Wer sind die Leute, denen Sie die SMS geschickt haben?“
„Arbeitskollegen.“
„Weshalb sind Sie zum Islam konvertiert?“
„Weil ich im Glauben an Allah eine Religion erlebe, die für die Menschen gemacht wurde.“
„Wie heißen Sie?“
„Julian K.“
Julian kannte die Fragen auswendig. Nur einmal hatte der Mann, der ihm am Tisch gegenübersaß, kurz innegehalten, einen Computerausdruck aus der Tasche gezogen und ihm unter die Nase gehalten. „Können Sie mir das erklären?“ Julian schaute auf das Blatt Papier und las: „Hey Leute. Super Treffen. Tut mir einen Gefallen und BLAST SIE WEG! Reißt von mir aus den ganzen verdammten Laden ein! Gruß Julian.“ Das war seine SMS, die er am Freitag auf der Heimfahrt an die Mannschaft geschickt hatte. „Wie zum Teufel kommen die an meine SMS?“, dachte er, besann sich dann aber eines Besseren und fragte stattdessen: „Ist das ein Witz?“ „Sehen Sie mich lachen?“, kam es zurück. Also fing Julian an zu erzählen. Von seiner Arbeit als Verkäufer, von den Treffen mit seinen Kollegen, von der Heimfahrt und der Idee, das Team anzufeuern. Als er geendet hatte, fragte sein Gegenüber: „Was Besseres haben Sie nicht auf Lager?“ „Ich will einen Anwalt“, antwortete Julian, dem nun klar wurde, dass man ihm nicht glaubte. „Einen Anwalt? Wo sich doch alles nur um ein Missverständnis handelt?“ – Der Beamte lächelte höhnisch. „Vielleicht doch nicht, hm? Na, dann auf ein Neues. Wer sind Ihre Auftraggeber?“
Irgendwann am Abend hatten sie es aufgegeben. Julian war erschöpft, sein Kopf dröhnte und er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Ein Uniformierter hatte ihn aus dem kleinen Verhörraum geholt, ihm Gürtel und Schnürsenkel abgenommen und ihn in eine noch kleinere Zelle gesteckt. Als deren Tür laut krachend ins Schloss fiel, setzte sich Julian auf das Bett – das einzige Möbelstück im Raum – und heulte wie ein Schlosshund. Als er am nächsten Morgen durch das laute Klappern von Schlüsseln im Schloss erwachte, ließ Julian die Augen geschlossen. „Hoffentlich habe ich das alles nur geträumt“, war der erste Gedanke, der ihm kam.
Die Geschichte lässt sich hier abkürzen, denn Julian K. hat nicht geträumt – er existiert nicht, ebenso wenig seine Frau Claudia oder sein Sohn Philipp. Er ist auch kein Verkäufer mit Reihenhaus im Grünen. Er ist eine Erfindung – meine Erfindung. Die Figuren dienen nur dazu, die Geschichte mit Leben zu füllen. Eine Geschichte, die den meisten Menschen unglaublich erscheinen mag, oder zumindest stark übertrieben. Und die sich doch zumindest in Teilen genau so abgespielt hat – 7.000 Kilometer westlich von München, in der kanadischen Provinz Québec.
Am 24. Januar 2011 befand sich der kanadische Vertriebsmanager Saad Allami auf dem Weg zur Schule seines Sohnes, als er ohne Vorwarnung von der örtlichen Polizei angehalten und verhaftet wurde. Die Beamten brachten den 40-Jährigen auf eine Polizeistation und verhörten ihn mehrere Stunden lang.11