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Jetzt bin ich so wie deine Jeans Ich häng an dir und bin recht blau Auch wenn du's gar nicht mehr verdienst Bin ich dein Mann, du meine Frau Das Leben behandelt Sachbearbeiter Lorenz Brahmkamp nicht gut – vielleicht als Quittung dafür, dass er es häufig mit der Wahrheit nicht so genau nimmt: Seine Frau hat ihn verlassen, also schreibt er ihr Drohgedichte, bei seinen Kollegen ist er unbeliebt und tut alles dafür, dass das so bleibt, sein Körper lässt ihn vermehrt im Stich, aber er wird keinesfalls mit Sport oder gesunder Ernährung gegensteuern. Ausgerechnet jetzt trifft er auf den Selfmade-Millionär Alexander Schönleben. Der Mann ist das genaue Gegenteil von Lorenz: erfolgreich, fit, beliebt und sexuell voll ausgelastet, mit allem Pi, Pa und Po. Weil Glück immer verdächtig ist, vermutet Lorenz automatisch, dass irgendwas mit diesem Schönleben ganz und gar nicht stimmt, und plötzlich steht der renitente Sachbearbeiter aus Osthofen vor einer Entscheidung, die sein Leben völlig auf den Kopf stellen kann … »Ralf Husmann – der Pate des deutschen Humors« Die Welt online
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Seitenzahl: 323
Ralf Husmann
Vorsicht vor Leuten
Roman
Fischer e-books
Life is … funnier than shit.
Joe Minaldi, Es war einmal in Amerika
Und hinter all den bunten Lackfassaden
geht’s doch nur um das alte Überleben
und ob’s noch was zum Nachtisch gibt
und wann endlich wir wieder einen heben
Jörg Fauser, Mama Stadt
Solange ein Mann sich noch eine Bratwurst macht, hat er nicht aufgegeben. Lorenz Brahmkamp öffnet mit der breiten Seite seines Küchenmessers eine Flasche Bier und dreht die Wurst auf dem Teller so, dass die gebogenen Enden nach oben zeigen. Wenigstens das Essen lächelt.
Als Katrin noch da war, hat Lorenz sich erfolgreich an Seeteufel-Saltimbocca gewagt, an Kaninchen in Rotwein oder an Entenbrust mit Mango Chutney. Als frisch verlassener Mann um die vierzig ist er nun wieder bei Hausmannskost. Für einen alleine lohnt sich kein Aufwand. Das gilt kulinarisch, sexuell, vielleicht sogar generell. Für einen alleine lohnt sich kein Aufwand. Sicher auch der Grund, warum Gott Eva erschuf. Nach dem Essen öffnet Lorenz noch eine Flasche Bier und greift zu Papier und Kugelschreiber.
Wie der Fisch am Angelköder
Wie am Kanzleramt der Schröder
Wie der Selbstmörder am Strick
Häng ich an dir, du dummes Stück
Mit Gedichten hat er Katrin damals rumgekriegt. Um noch mal auf Gott zu kommen: ER schenkt ja nicht mit beiden Händen aus. Ein Mann ist entweder attraktiv oder lustig. Oder reich. Oder intelligent. Oder wenigstens stark. Lorenz Brahmkamp sah sich am ehesten bei »lustig«. Und fühlte sich bestätigt, als Katrin etliche Vierzeiler später mit ihm ausging. Was sich reimt, ist gut, wusste schon Pumuckl.
Jetzt bin ich so wie deine Jeans
Ich häng an dir und bin recht blau
Auch wenn du’s gar nicht mehr verdienst
Bin ich dein Mann, du meine Frau
Irgendwie verrutscht ihm die Romantik neuerdings ins Beleidigende, mitunter sogar ins Drohende. Drohgedichte. Ein ganz neues Genre. Dabei vermisst er Katrin wirklich, gerade jetzt nach Bier und Bratwurst. Gerade deswegen. Mit Katrin war sein Leben Seeteufel-Saltimbocca mit Wein, ohne sie ist es Bratwurst mit Bier. Lorenz muss aufpassen, dass es nicht Slim Fast mit Wodka wird, die simpelste Methode, gleichzeitig satt und blau zu werden.
Die Wohnung ist merkwürdig still. Eine ungute Stille wie nach einem Witz über den Islam. Ihm fehlt, dass Katrin sinnlos durchs Fernsehprogramm zappt, was ihn immer aufgeregt hat, als sie noch da war. ›Fernsehen‹ ist eines der Wörter, die ohne Katrin eine andere Bedeutung haben. Genau wie Entenbrust, Dänemark, Elton John oder Liebe. Alles für immer aus unterschiedlichsten Gründen mit Katrin verbunden …
Er macht noch eine Flasche auf. Lorenz Brahmkamp wird sich nicht hängenlassen. Er wird stattdessen eine Liste machen, einen Plan. Wenn er eines gelernt hat als Sachbearbeiter im Referat Planung und Bauaufsicht der Stadt Osthofen, dann Listen und Pläne zu machen. Ene, mene, miste, mach erst mal Plan und Liste. Er hat drei Biere intus, aber er ist oft am nüchternsten, wenn er leicht betrunken ist. Er schreibt:
Ziel: Katrin
Plan: 1. Abnehmen
Seit Katrin weg ist, geht Lorenz aus den Fugen. Er wächst täglich ein kleines Stück, wie eine Millionenstadt in der Dritten Welt. Außerdem spürt er in letzter Zeit ein Stechen, mal in der Brust, mal in der Magengegend. Seine Organe machen offenbar eine Art Warnstreik. Kein Wunder. Seit vierzig Jahren in derselben Firma, werden sie zunehmend schlecht behandelt, das wollen sie sich nicht länger gefallen lassen. Lorenz kann es seinen Organen nachempfinden. Wenn es so weitergeht, wird er um einen Arzt nicht mehr herumkommen. Vielleicht droht sogar Sport.
2. Job sichern
Eine Behörde ist keine artgerechte Haltung für Lorenz Brahmkamp, findet er noch immer. Während Katrin ein Stockwerk über ihm, im Referat Haushalt und Finanzen, eine kleine Karriere hinlegt, steht Lorenz seit Jahren auf der Abschussliste seines Chefs. Mangelnder Ehrgeiz, zu viele Fehltage, zu viele Ausreden. Er hat insgesamt fünfmal Sonderurlaub für Beerdigungen von Großmüttern genommen. Lorenz erklärte die fünf Omas damit, dass er ein armes Findelkind sei, das später seine wirklichen Eltern plus Großeltern ausfindig gemacht habe. Alles natürlich gelogener als bei Moses. Außerdem hat Lorenz in den letzten Jahren mehr Krankheiten erfunden als die Pharmaindustrie. Erhöhter Knochendruck, Bandscheibendehnung, lumbale Zerrung im Außenohr. Alles totaler Quatsch. Aber eine Lüge zieht die nächste nach sich, unvermeidbar wie Blähungen nach Hülsenfrüchten.
3. Ehrlich werden
Lorenz hat ein Talent zum Lügen. Schon in der Schule hatten andere eine Begabung für Fremdsprachen, Mathe, Deutsch oder wenigstens Sport. Lorenz nur fürs Lügen. Er war nie um eine Erklärung verlegen. Der Papagei der Nachbarn hatte ausgerechnet auf dem Matheheft Durchfall bekommen oder Lorenz hatte die Zeugen Jehovas ins Haus gelassen, die ihn vom Ende der Welt überzeugt hatten, angesichts dessen Hausaufgaben sinnlos waren. Ausreden waren unerschöpflicher als das Öl im Nahen Osten.
Katrin fand das am Anfang ihrer Beziehung noch witzig, weil Lorenz dafür sorgte, dass sie beide zum Beispiel um lästige Verwandtenbesuche herumkamen – beim ersten gemeinsamen Weihnachten erfand sich Lorenz »Indische Kindergrippe«, mit der als Erwachsener nicht zu spaßen sei, und sie beide blieben lachend zu Hause –, dann aber merkte sie, dass er auch ihr gegenüber nicht immer die Wahrheit sagte. Sie vermutete eine Affäre und war auch nicht zufriedener, als sie feststellte, dass er keine hatte, sondern eher aus Bequemlichkeit log. Katrin, die der Meinung war, man müsse was aus seinem Leben machen, und Lorenz, der fand, das Leben sei wie Bier oder Sex, also in purer Form schon ganz prima, da müsse man nichts mehr draus machen. Das Leben mit Katrin, fand er, sei sogar wie Bier und Sex, und das war nicht einmal gelogen.
Sie hatten Spaß. Sie ergänzten sich. Katrin konnte nicht kochen, Lorenz verstand nichts von Autos, sie spielten beide Kniffel, gingen ins Kino und kauften sich Heinrich, den Goldfisch. An anderen Tagen aber konnte er der ehrgeizigen Katrin nicht erklären, dass er nicht einmal eine Weiterbildung machen wollte.
Lorenz wollte nicht für ein paar lumpige Taler mehr erst in Abendkursen pauken und sich dann im Tagesstress der Stadtverwaltung aufreiben. Er versicherte stattdessen, er habe den Antrag eingereicht, man habe aber einen nigerianischen Kandidaten aus Oberhausen bevorzugt, wegen Integration und so weiter. (Aus dem Stegreif erfand er eine traurige Flüchtlingsgeschichte, komplett mit kleinen Negerkindern und Eltern, die seinerzeit aus Nigeria tagelang durch die Wüste … und kein Wort Deutsch gekonnt … und der Sohn jetzt bei der Stadt!) Lorenz trauerte angemessen um die verpasste Chance und wurde von Katrin getröstet. Das Glück war wiederhergestellt. Dann flog die Geschichte auf und schlug eine erste, echte Macke ins Fundament ihrer Ehe. Von da an bröckelte sie häppchenweise wie ein morscher Keks.
Jetzt hat er doch etwas aus seinem Leben gemacht, nämlich einen riesigen Trümmerhaufen. Lorenz schreibt groß unter seine Liste:
Leben ändern
Eine Zeitlang starrt er auf die beiden Worte. Dann macht er noch eine Flasche Bier auf.
Aus dem Schreibblock fällt ihm der Zettel entgegen, den er am Vortag beim Aufräumen gefunden hat. Ein »Gutschein für zehn Küsse« von Katrin. Ein Relikt aus »glücklichen Tagen«, als sie einen Tauschhandel hatten: Gedichte gegen Gutscheine für Massagen, Küsse, Abendessen. Lange her. Lorenz wischt sich Feuchtigkeit aus den Augenwinkeln.
Wenn du dir denkst, dass du mich kennst
Kennst du mich aber schlecht
Ich kann auch anders, sprach der Wurm
Und ward ein toller Hecht
Er hängt den Plan feierlich mit einem Magneten an die Tür des Kühlschranks, so wie Luther einst seine Thesen an die Tür der Kirche. Lorenz ist sein eigener Reformator. Er wird sich ändern.
Lorenz trägt im Bett noch immer Katrins T-Shirt. Es riecht schon lange nicht mehr nach ihr, auch wenn er sich das einredet. Das T-Shirt ist pink und zu kurz, so dass es komplett über seine behaarte Bauchrundung nach oben rutscht und ihn aussehen lässt wie den gutmütigen Schwager von King Kong auf dem Christopher Street Day.
Lorenz stöhnt sich aus dem Bett in eine halbwegs senkrechte Position. Sein Körper sortiert sich. Einzelne Bauteile machen sich bemerkbar.
Mit vierzig ist man in einem Alter, in dem man »falsch gelegen« haben kann. In seinem eigenen Bett! Mit achtzehn hatte er bei Interrail-Fahrten durch halb Europa Nächte auf der Gepäckablage eines überfüllten Zugabteils verbracht und war am anderen Morgen frisch und ausgeruht. Jetzt schläft er auf einer teuren Taschenfederkernmatratze und hat ziehende Schmerzen in Nacken und Rücken.
Zwanzig Zwerge mit Prostatabeschwerden sitzen in seinem Duschkopf und pinkeln ihm auf die Haare. Der schlappe Wasserdruck der Dusche hat mit Verkalkung zu tun. Katrin wollte das Bad renovieren, sie wollte eine von diesen Regenduschen haben und den Duschvorhang durch Glastüren ersetzen. Aber Lorenz war im Lügen begabter als im Handwerken und hatte beständig Ausreden, um die Renovierung zu verschieben. Jetzt denkt Lorenz jeden Morgen an sie, wenn das Wasser sich am Duschvorhang vorbei auf dem Badezimmerboden in einer Pfütze sammelt.
Lorenz schlurft in die Küche und setzt Kaffee auf, zu dem Rühreier passen würden. Dann fällt sein Blick auf die Kühlschranktür.
Abnehmen
Andererseits gibt’s noch Eier im Kühlschrank und getrocknete Tomaten. Es gibt sogar noch Speckwürfel. Und schließlich ist das Frühstück die wichtigste Mahlzeit des Morgens. Brahmkamp kann sich bei Bedarf jederzeit auch selbst belügen.
Der Speck brät aus, einer der männlichsten Gerüche, die Lorenz sich vorstellen kann. Das wäre ein Parfüm für ihn. »Speck« by Calvin Klein. Dann singt James Brown aus dem Handy mitten in die ersten Gabeln Rührei. Herr Brown fühlt sich gut, singt er auf Englisch. Herr Kleinert dagegen, der Anrufer und Brahmkamps Chef, ist anderer Laune. »Wo sind Sie denn?« Irgendwas ist schiefgelaufen. »Haben Sie die Mail nicht gelesen?«
»Doch, klar!« Lorenz hat keine Ahnung, um welche Mail es geht.
»Der Schönleben wartet!!«
Kleinert regt sich krächzend auf, aber Lorenz reagiert in solchen Momenten wie ein erfahrener Politiker: Beschwichtigen, abstreiten, ablenken. »Ich bin gleich da … ich hab nur die Mark-Frank-Allee noch nicht gefunden …«
»Franz-Marc-Allee!!« Kleinert hustet, als hätte er eine Blechlunge.
»Ach so«, Lorenz lächelt und legt nach: »Und ich dachte, vielleicht war Mark Frank der Bruder von Anne Frank, und deswegen ist die Straße auch so versteckt.«
»FRANZ MARC!!« Kleinert klingt wie Darth Vader. »Der Dichter oder Komponist oder was der war!«
»Na, dann kann ich ja lange suchen«, sagt Lorenz mit echt klingendem Vorwurf in der Stimme, und auch darauf fällt Kleinert herein.
»Hat Frau Dressel Ihnen das denn nicht aufgeschrieben?«
Frau Dressel ist Kleinerts Sekretärin und damit ein optimaler Sündenbock. »Ist ja jetzt egal«, sagt Lorenz großzügig, »ich guck grad auf die Karte … aah, da, die Franz-Marc-Allee, hab ich gefunden!« Lorenz tippt mit dem Zeigefinger laut raschelnd auf die Fußballergebnisse einer zwei Wochen alten Zeitung. »Das ist gar nicht so weit … wenn ich Gas gebe, bin ich in fünf Minuten da, höchstens zehn!«
Zwanzig Minuten wird er mindestens brauchen, und das auch nur, wenn er sofort losfährt. Aber er hat eine Art inneres Anschiss-o-Meter, das an Kleinerts Tonfall merkt, wann der wirklich sauer ist. Offenbar hat Schönleben den Termin gestern noch vorverlegen lassen, was an Lorenz vorbeigegangen ist, weil er sich vorzeitig aus dem Büro gestohlen hat, um zum Hellersee zu fahren und das herrliche Wetter zu nutzen. Der Mensch muss auch mal unter Leute.
»Ich sag dem Schönleben, dass Sie gleich da sind«, hustet Kleinert und schiebt hinterher: »War ja klar, dass Sie’s versauen …«
»Ich versau’s nicht, Herr Kleinert, ich bin top vorbereitet!«
Schönleben wäre eine echte Chance, bei Kleinert ein paar Punkte gutzumachen. Die gesamte Führungsriege der Stadtverwaltung ist euphorisch wegen Schönleben. Und das Schicksal in Gestalt einer Grippewelle hat ausgerechnet Lorenz diesen Mann quasi vor die Füße gespült. Er wirft einen Blick auf seine Rühreierruine und einen auf die Uhr. Er ist noch nicht angezogen. Auch ein Nachteil, wenn man plötzlich wieder allein lebt: Nichts wäscht oder bügelt sich von selbst. Alle Unterhosen sind schmutzig, bis auf die alberne, auf der vorne eine Schlange von einem gleichnamigen Beschwörer aus einem Korb geblasen wird. Ein Mitbringsel von Katrin von irgendeiner Fortbildung in Stuttgart, das deswegen auch »der schwäbische Schlangenschlüpfer« genannt wurde. Seine Notunterhose. Es hilft nichts. Er muss jetzt los.
Alexander Schönleben ist ein erfolgreicher Unternehmer, der sich in Osthofen niedergelassen hat. Neues Geld, aber davon reichlich, nach allem, was man so hört, gemacht mit irgendwelchen Spekulationen.
Was die Stadtväter so begeistert, ist, dass er sein Geld offenbar in Osthofen ausgeben will. Schönleben hat Interesse an der alten Bauschuttdeponie gezeigt, um deren weitere Nutzung es seit Jahren Streit gibt. Er hat in dieser Angelegenheit um ein »informelles Treffen« gebeten, was übersetzt heißt, dass etwas ausgekungelt werden soll. Normalerweise kein Fall für den Sachbearbeiter Lorenz Brahmkamp. So was läuft auf Dezernenten-Ebene. Aber Kleinert fällt mit Grippe aus, genauso wie seine Stellvertreter. Selbst die Stellvertreter der Stellvertreter liegen flunderflach in ihren Betten und niesen, husten und schwitzen. Schönleben hat aber offenbar gedrängelt. So muss also Brahmkamp das Treffen absolvieren. Eigentlich hat er die Unterlagen der Bauschuttdeponie am Vortag sogar mit an den Hellersee genommen, war aber dann zu genervt von der Verliebten-Epidemie auf dem Rasen rund um den See. Überall lagen sinnlos kichernde Teenager und hatten ihre Gesichter ineinander verkeilt. Auch Pärchen in seinem Alter turtelten wie Statisten in einer Reklame für Glück oder Eiscreme. In dieser Situation konnte er keinen Aktenordner auspacken, ohne sich vollends einsam zu fühlen. Jetzt ist er auf das Treffen nicht vorbereitet, mit dem er sich im Büro etwas Luft verschaffen könnte.
Die Franz-Marc-Allee liegt in Osthofen-Tannbusch, dem Nobel-Stadtteil. Hohe Hecken, hohe Decken, tolle Autos, kleine Läden, in die die beschäftigungswilligen Ehefrauen der Besser-und Bestensverdiener abgeschoben werden. Hier gibt es mehr Hunde als Kinder und mehr Golfspieler als Arbeitslose. Das Gute an diesem Stadtteil ist, dass man keinen Parkplatz suchen muss. Auch Schönlebens Haus hat eine Auffahrt, in der schon ein roter Porsche parkt, und eins dieser Allradmonster, die nur in schwer zugänglichen Gebieten sinnvoll sind, aber immer in Gegenden wie Osthofen-Tannbusch stehen. Glänzend zeigen sie Brahmkamps eingedelltem Corsa ihre makellosen gelackten Karosserien. Alles an Schönlebens Haus ist ordentlich, aufgeräumt, rechtwinklig und kühl. Ein Gegenentwurf zur gemütlichen Verwahrlosung in Lorenz’ Wohnung. Sauber ausgerichtete Grashalme, arrogante Schieferplatten, die einem den Weg zum Haus vorschreiben. Hier gibt es sicher niemanden, der einem telefonisch ins Rührei quatscht.
Lorenz hat in seinem Beruf oft mit viel Geld zu tun, aber nur als Zahlen in Excel-Tabellen und Formularen. Hier dagegen wohnt das Geld. Die Autos sagen »Geld«, der Springbrunnen vor dem Haus sagt »Geld«, die modernen Laternen längs der Auffahrt sollen in erster Linie Geld ausstrahlen und erst in zweiter Linie Licht. Das Haus ist ein Protzklotz. Neureich in Osthofen. Lorenz kennt diesen Typus, während er selber jetzt eher neuarm ist, seit Katrin ihm nicht nur im Bett, sondern auch auf dem Konto fehlt. Katrin, die schon lange aus der »Villa Hechtsuppe« ausziehen wollte, wie sie ihre gemeinsame Wohnung getauft hat, bei der es im Winter durch die undichten Fenster zieht. Katrin, die immer hoch hinauswollte. Wie ein Echo seiner eigenen Gedanken hört Lorenz jetzt ein heiteres Frauenlachen aus Richtung des Hauses. Vielleicht, denkt Lorenz, wäre Katrin in so einem Haus nicht auf den Gedanken gekommen, ihn zu verlassen. Lorenz latscht absichtlich direkt neben den Schieferplatten über den Rasen auf den Eingang zu.
Zwischen Garage und Haustür stehen Blumen Spalier. Natürlich keine Allerweltstulpen, sondern irgendwelche exotischen Pflanzen mit komplizierten, geschwungenen Köpfen. Auch die Botanik muss hier protzen. Er tritt beiläufig eine der Blumen um, als Rache für die verpassten Rühreier und den Anschiss von Kleinert. Irgendwo bellt ein Hund. Sicher eine vom Aussterben bedrohte Art. Lorenz nimmt ein paar Schritte Anlauf. Er wird Schönleben heimzahlen, dass der so ein Haus hat und solche Autos und nicht von Katrin verlassen wurde. Lorenz kickt eine Reihe besonders leuchtender Blumen mit Vollspann in die dahinterliegende Hecke. 1:0 für Brahmkamp im Blumenfußball. Lorenz reißt automatisch die Arme hoch und streckt seine Zeigefinger in die Luft. »I am the champion, my friend!«. Bei »… no time for losers …« ist er schon leicht außer Atem. Lorenz klappt seine ausgestreckten Arme wieder ein, setzt seinen offiziellen Gesichtsausdruck auf und geht zum Hauseingang.
Die massive Haustür öffnet sich, bevor er sie erreicht hat, und Alexander Schönleben steht im Türrahmen. »Ich wollte gerade … «, fängt Lorenz an.
»Ich weiß«, fällt ihm Schönleben ins Wort, »ich hab Sie schon gesehen!« Er deutet auf einen Monitor, der direkt neben der Wohnungstür in die Wand eingelassen ist. Anscheinend hängen überall Kameras. Eine zeigt direkt die Auffahrt und die umgetretenen Blumen. Der Blumenfußball wurde heute live im Fernsehen übertragen. »Da saß ein Rudel fetter Wespen, auf jeder Blume eine, super aggressiv«, lügt Lorenz los, aber sein Gastgeber unterbricht erneut: »Kommen Sie rein.« Schönleben verschwindet im Inneren des Hauses.
Lorenz könnte sich ohrfeigen. Blumen umtreten fällt sicher nicht in die Kategorie »Job sichern«. »Ich muss mich wirklich entschuldigen.« Lorenz versucht, so zerknautscht wie möglich zu wirken, und Schönleben lacht: »Ich kann das Gemüse auch nicht leiden. Das meiste ist noch von den Vorbesitzern. Auch der Springbrunnen und der ganze Alarm-Tinnef. Ich würde mir so was nie hinstellen, aber die haben mir einen guten Preis gemacht, und ich wollte nicht monatelang ’ne Hütte suchen.«
Lorenz ist überrascht. Vielleicht hat er instinktiv sogar alles richtig gemacht. Schönleben ist schlank, um die vierzig und sagt »Hütte« und »Tinnef«. Er ist deutlich zu braun für den Osthofener Sommer und trägt eins dieser atmungsaktiven Sporthemden und eine Trainingshose mit den drei Streifen. Er schwirrt barfuß durch die Räume, seltsam aufgedreht, wie der Duracell-Hase nach einem doppelten Espresso. Schönleben wirkt ohnehin nicht wie ein Geschäftsmann, sondern wie ein etwas zu alter Animateur im Club Robinson, nur dass er nicht so gut aussieht. Am Hinterkopf lichtet sich das strohblonde Haar, das in kleinen Büscheln absteht und so aussieht, als würde ein Teddy seine Füllung verlieren. Die Nase ist leicht windschief, und auch die Zähne sehen so aus, als hätte eine Klammer ihnen gutgetan. »Machen Sie sich keine Gedanken wegen der Blumen«, sagt Schönleben und hackt auf einem Blackberry herum, während er gleichzeitig den riesigen Fernseher im Auge behält, auf dem stumm Nachrichten und Börsenkurse zu sehen sind. Schönleben strahlt so viel Energie aus, als hätte er eine kleine Turbine verschluckt.
Lorenz will Boden gutmachen. »Ich weiß nicht, wie viel Ihnen Herr Kleinert schon von mir erzählt hat …«
»Laufen Sie?« Lorenz kann mit der Frage nichts anfangen. »Laufen, joggen, Sie wissen schon.«
»Ähm …«
»Normalerweise lauf ich immer mit Otto Gassi«, Schönleben läuft auf der Stelle, um zu demonstrieren, was er meint, »aber wenn ich die Wahl hab zwischen Mensch und Hund …«
Der ist als Kind mal in Red Bull gefallen. »Ich hab leider was am Rücken«, lügt Brahmkamp los, prallt aber nur auf Schönlebens unverändertes Lächeln. »Was denn?«
»Bandscheibendings … sehr kompliziert.«
»Da ist Laufen doch das Beste.«
»In meinem Fall nicht. Da ist Laufen das Schlechteste.«
»Wieso?«
»Spinale Karthose.« Lorenz sieht Schönleben herausfordernd an. In Phantasielatein ist er kaum zu schlagen.
Schönleben ist aber nicht im mindesten beeindruckt. »Wir probieren’s einfach mal. Wir können ja aufhören, wenn’s nicht geht!«
Laufen. Ebenso wenig wird Lorenz sich selbst in die Luft sprengen. »Was haben Sie für ’ne Schuhgröße?«, fragt Schönleben.
Am verwirrendsten ist das Lächeln. Mit dem Lächeln kann man eine Kleinstadt den ganzen Tag lang mit Energie versorgen. »47, 48, eher größer.«
»Kann ich gar nicht glauben.« Schönleben ist nicht Kleinert. Dem kann man so schnell nichts vormachen. »Sieht mir eher nach 43, 44 aus!«
»Oder so«, sagt Lorenz dumpf.
»Wie ich!« Schönleben strahlt jetzt auch darüber, dass sie beide vielleicht gleich große Füße haben, und verschwindet in einem angrenzenden Raum. Lorenz wird nicht schlau aus dem Mann. Ist dieses Laufen vielleicht doch die subtile Rache für das Blumenmassaker?
Der Raum, in dem er steht, ist genauso verwirrend. Von der Größe könnte man locker Squash darin spielen, zumal eine Seite komplett verglast ist. Eine Wand ist mit Natursteinen verkleidet, und in der Mitte ist ein moderner Kamin eingelassen. Die lederne Sitzlandschaft steht aber so, dass man weder auf den Fernseher noch den Kamin sehen kann, sondern auf die Fensterfront, vor der ein professionell gepflegter Garten liegt. In einer Ecke des Raumes thront ein Flügel, der dient aber anscheinend hauptsächlich als Ablage für Gläser, Flaschen und Unterlagen. Der Boden besteht aus großen Granitfliesen, auf denen Teppiche liegen, und ein roter, seidener Hausmantel, der vermutlich zu der Frau gehört, deren Lachen Lorenz vorhin gehört hat. Alles hier ist klar, einfach, gradlinig. Nicht wie bei Lorenz, in dessen Wohnung Beziehungsarchäologen Schicht um Schicht abtragen könnten, um bis zu den Anfängen vorzustoßen, so wie er selbst vorgestern den Kuss-Gutschein gefunden hat.
Schönleben kommt zurück und schwenkt ein Paar Turnschuhe und in der anderen Hand Sporthose, Socken und ein Trikot. »Wir laufen nur die kleine Runde, das schaffen Sie schon«, strahlt er und drückt Lorenz alles in die Arme.
Das Lächeln kommt ohne Häme, einladend, als hätte er ihn nicht zum Laufen, sondern zum Saufen aufgefordert. So geht sympathisch, denkt Lorenz gegen seinen Willen, andererseits kann der sympathische Schönleben jederzeit den verschnupften Kleinert anrufen. ›Ihr Herr Brahmkamp kam zu spät, hat meinen Vorgarten gerodet und sich dann geweigert, mit mir zu laufen!‹ Lorenz kann es sich nicht leisten, nach Katrin jetzt auch noch den Job zu verlieren. Er ist vierzig und nicht in einem Videospiel. Er hat nicht noch vier oder fünf Leben. Er hat nur dieses eine, das vermutlich schon zur Hälfte um ist.
Schönleben hat sich in Rekordzeit Tennissocken und Laufschuhe angezogen, während Lorenz sich noch nicht nennenswert bewegt hat. Er macht noch einen Versuch auszuweichen: »Ich dachte, wir reden über die Bauschuttdeponie, Herr Schö–«
»Können wir doch beim Laufen!«, strahlt Schönleben aus blauen Augen. »Ohne Laufen kommt der ganze Tag nicht in Schwung. Mittlerweile brauche ich das richtig«, sagt er und hat jetzt wieder die Finger auf dem Organizer, »und so können wir Ihre kleine Verspätung locker wieder rausholen …« Schönleben lächelt unergründlich wie der Sohn von Mona Lisa.
»Ich hatte gestern eine kleine Party«, sagt Schönleben, »deswegen sieht’s im Haus noch ein bisschen chaotisch aus.« Er trabt locker, während Lorenz das Gefühl hat, seine inneren Organe werden in einer Lostrommel durcheinandergeschüttelt.
»Ich auch«, sagt er, »ganz kleine Party, nur mit mir.« Kurze Sätze bilden, sonst werden seine beiden Lungenflügel gleich nebeneinander am Wegrand liegen.
»Das sind oft die besten«, lacht Schönleben, »kommt auf den Grund an. Was war’s denn bei Ihnen?« Lorenz winkt ab. »Also eine Frau. Solche Partys kenn ich auch.« Schönleben wirkt so professionell sympathisch, als wäre er ein Prototyp für Jörg Pilawa.
Sport ist eine der seltsamsten Betätigungen des Menschen. Kein Tier käme auf den Gedanken, Sport zu machen. Eine Antilope, die ein bisschen durch die Steppe joggt, um fit zu bleiben, ist nicht vorstellbar. Aber Schönleben ist keine Antilope. Er läuft, und Lorenz versucht Schritt zu halten.
Die Sonne hängt dezent hinter einem leichten Wolkenband, und Vogelgezwitscher untermalt Lorenz’ Keuchen. Sie biegen in den Stadtwaldweg. Ein unregelmäßiges »plock!« weht von den Plätzen des Tennisvereins herüber. Ansonsten ist es leise. Es sind kaum Autos auf der Straße. Die Reichen sind schon längst unterwegs, denkt Lorenz, das Geld wird anderswo gemacht, und die Frauen, die berufslos in solchen Häusern leben, sind es gewohnt, keinen Krach zu machen. Lorenz ist hier und jetzt der Lauteste.
Und Schönleben hört nicht auf zu fragen. Wie es sonst so läuft im Leben? »Besser, als ich jetzt laufe«, keucht Lorenz und Schönleben lacht. Wo er so herkommt, was er so macht? Kein Wort über die Bauschuttdeponie. Stattdessen Fußball. Schönleben sagt, er hat Fußball quasi im Blut. Schließlich ist er während des Jahrhundertspiels geboren. WM-Halbfinale Deutschland gegen Italien in Mexiko 1970. Derselbe Jahrgang also wie Lorenz, dessen Körper den Notstand ausruft. Denkbar, dass sein Leben gar nicht erst zur Hälfte um ist, sondern schon komplett. Vermutlich sterben auf Joggingstrecken mehr Leute als in Raucherkneipen. Zusätzlich geht ihm die Heiterkeit seines Mitläufers auf die Nerven. Schönleben tut so, als flösse in seinen Adern eine Mischung aus Sekt und Konfetti. Lorenz dagegen hat Blutrauschen im Ohr.
»Können wir jetzt mal aufhören mit dem Quatsch?« Durch Lorenz’ Atemnot kommt es wie ein Notruf heraus, und Schönleben hat ein Einsehen.
Sie pausieren am Rande der Tennisplätze. Auf dem einzigen besetzten Platz bemüht sich eine ältere, dralle Brünette, den Anweisungen des Tennislehrers zu folgen, der neben einem Einkaufswagen voller Bälle steht. An einer Holzbank macht Schönleben ein paar Liegestütze. »Tennis ist vorbei«, sagt er, während die Dralle talentlos die Bälle über den Platz schaufelt. »Golf ist das neue Tennis.« Er pumpt sich auf und nieder wie eine Schildkröte und redet ohne Anstrengung weiter. »Und im Golf ist noch mehr Geld zu holen als früher im Tennis. Das sollten wir nicht liegenlassen.« Lorenz hat eher das Gefühl, er selbst ist es, den man besser liegenlassen sollte. So ein Golfplatz ist ideal auf dem Gelände rund um die alte Bauschuttdeponie, findet Schönleben und klemmt sich, wie ein Flamingo auf einem Bein stehend, den anderen Fuß unter den Hintern. Ein Designer-Outlet, dazu Restaurants, Kinos, alles so wie in Amerika. Einen Namen hat er für das Ganze auch schon: »Megapark Osthofen«. Die einsame Frau mit dem Tennisschläger versucht sich jetzt an der Rückhand. Sie erscheint Lorenz wie seine einzige Verbündete. Die will sicher auch lieber woanders sein. Schönleben vollführt eine Art Drei-Viertel-Spagat, redet aber locker weiter. Lorenz fühlt eine Mischung aus Bewunderung und Verachtung, ähnlich wie gegenüber Fernsehköchen und Pornodarstellern.
Schönleben redet von Investoren, die er an der Hand hat. »Das Interesse müssen wir nutzen. Da liegen aktuell große Chancen für uns.« Er sieht Lorenz an, als seien sie ein Team. »Wir müssen jetzt nur schnell sein«, sagt er. Lorenz ist sich inzwischen ganz sicher, dass dieser Schönleben ihn vorführen will.
»Schnell und Stadtverwaltung sind natürliche Gegensätze!« Lorenz kontert mit Humor, Schönleben lacht das Schönlebenlachen, was so echt und leicht wirkt, als sei er bei Julia Roberts in die Lehre gegangen. Schönleben spricht über den Weg, der ja bekanntlich immer da ist, wo auch ein Wille ist, und von den Vorschriften, die gemacht werden, damit sie auf ebendiesem Weg umgangen werden können. Währenddessen versucht Lorenz sich daran zu erinnern, was die Erkennungszeichen für einen Herzinfarkt sind.
Der Tennislehrer spielt seiner drallen Schülerin weitere Bälle zu, die sie verbissen ins Netz schlägt. »Wollen wir umkehren?«, fragt Schönleben unvermindert freundlich.
Lorenz will sich auf keinen Fall von diesem gebräunten Schnösel vorführen lassen. Er wird sterben oder durchhalten. Seine inneren Organe hassen ihn. Er ist sicher, dass das ein oder andere am Ende dieses Laufs ausgetauscht werden muss, aber er läuft weiter. Gott sei Dank stellt Schönleben jetzt keine Fragen mehr, sondern plaudert über sich. Er kommt aus einfachen Verhältnissen, ein kleines Kaff bei Lübeck, zum Vater hat er keinen Kontakt mehr, die Mutter dagegen ist gestorben, als Schönleben erst 14 war. Wenn Lorenz noch Luft hätte, könnte er jetzt lachen. Ihre Biographien sind so gleich wie ihre Schuhgrößen. Eine Banklehre hat Schönleben absolviert und dann gemerkt, dass er besser mit Geld umgehen kann als die meisten Kunden. Dann ist er vom platten Land weggezogen, und jetzt, jetzt kann er nicht meckern, sagt Schönleben, lacht und läuft. Lorenz läuft in seinem Schatten. Genau so hat sich Schönleben das vermutlich vorgestellt. Der Trottel aus der Stadtverwaltung eiert hinterher.
Nach außen aber bleibt Schönleben freundlich. Schade findet er es, dass Geldverdienen in Deutschland so einen schlechten Ruf hat. In Tannbusch sind fast alle Straßen nach Malern und Schriftstellern benannt, Leuten also, die sich in den meisten Fällen zu Lebzeiten kein Haus in Tannbusch hätten leisten können. »Kennen Sie auch nur ein Bild von Franz Marc? Sehen Sie. Aber der kriegt eine Eins-a-Straße hier!«
Lorenz muss an Kleinerts Anruf vom Morgen denken. Es kommt ihm vor, als sei das lange her. Schönleben redet weiter: »Ich war zum Beispiel auf dem Hermann-Hesse-Gymnasium. Aber Schriftsteller wollte damals natürlich keiner von uns werden! Fußballer schon eher. Zum Icke-Häßler-Gymnasium wären wir gerne gegangen, aber Hermann Hesse?!«
Wie eigentlich jeder, der es zu etwas gebracht hat, fühlt sich Schönleben offenbar zu wenig beachtet. »Vielleicht benennt man ja mal ’n Friedhof nach Ihnen, ich wär gleich der erste Kunde.« Lorenz röchelt. Es ist nicht mehr genug Luft in Osthofen, um ihn am Leben zu halten.
Schönleben öffnet lachend die Haustür. »War’s so schlimm?« Lorenz nickt, und Schönleben lacht wieder sein beeindruckendes Lachen. Sein Gesicht ist nur leicht von Feuchtigkeit überzogen, wie die Rückseite einer angeleckten Briefmarke, während Lorenz’ Poren weinen. »Gleich werden Sie sich super fühlen!« Schönleben ist schon wieder barfuß und wirft seinem Gast ein Handtuch zu. »Ich zeig Ihnen, wo Sie duschen können.« Schönleben deutet auf eine Wendeltreppe am Ende des Flurs. »Da unten finden Sie alles, was Sie brauchen.«
Lorenz torkelt in die angegebene Richtung. Sobald er auf halber Höhe der Treppe ist, gehen Lampen an, die in der Decke versenkt sind. Es riecht nach einem Saunaaufguss, in einem Regal liegen große, flauschige Handtücher, und ebenfalls in die Decke eingelassen sind kleine Lautsprecher, aus denen jetzt Musik tröpfelt. Lorenz sieht eine große, begehbare Dusche mit einem suppentellergroßen Duschkopf. Die gläserne Tür zur Dusche schließt mit einer Gummileiste, und in der Ecke der Dusche ist eine gekachelte Sitzecke, neben einem Bataillon teuer aussehender Fläschchen. Offenbar ist die Sitzecke beheizbar, ebenso wie die Handtuchhalter neben der Dusche. Und das ist ja offenbar nur das Gästebadezimmer! Das hier, das ist Katrins Badezimmerparadies. Das Sahnehäubchen auf der Demütigung ist der bodenlange holzgerahmte Spiegel, der einen verschwitzten, rotfleckigen Lorenz Brahmkamp zeigt. Er wäre jetzt schon wieder in der richtigen Stimmung für ein Bier. Lorenz pellt sich aus seinem Trikot, aus seinen geliehenen Schuhen und der geborgten Hose. Alles ist durchgeschwitzt und peinlich. Aber so leicht kriegt ihn Schönleben nicht klein. Lorenz lässt sich von Luxus nicht fertigmachen. Nur weil ihm Schönleben diesen Spiegel vorhält, der offenbar zeigen soll, was andere aus einem Leben gemacht haben, das ähnlich gestartet ist wie seins.
Leben ändern
Der Plan am Kühlschrank.
Abnehmen
Das zumindest hat er heute erreicht. Etliche Fettzellen sind sicher schon aus purer Angst verbrannt. Aus den Lautsprechern kommt meditative Beruhigungsmusik, die Lorenz noch weiter aufregt. Der ganze Vormittag war eine einzige Frechheit. Passend dazu sieht Lorenz in dem großen, gut ausgeleuchteten Spiegel jetzt deutlich die kleinen grauen Sprenkel in den Haaren über den Ohren. In dem schwach befunzelten Badezimmerschränkchen, in dessen verspiegelter Tür er sich normalerweise rasiert, fallen die grauen Haare weniger auf. Zu Hause betrachtet er sich ohnehin selten selbst. Vor dem Spiegel stehen ist ein Job für Schneewittchens Stiefmutter, nicht für Männer, findet Lorenz. Andererseits, bei anderen Männern in seinem Alter ist auf dem Kopf schon Kahler Asten, und auch sonst kann Lorenz eigentlich noch ganz zufrieden sein, findet er. Optisch kann er mit einem wie Schönleben mithalten. Optisch ist der nämlich nichts Besonderes, und das ist Lorenz schon lange. Gut, Schönleben hat ziemlich blaue Augen, die von Lorenz sind farblich eher unentschlossen. Nutellafarben vielleicht. Aber sie tun ihren Job. Noch braucht er keine Brille. Es gibt eine leichte Tendenz zu den Brahmkamp’schen Hamsterbäckchen, die auch seine Mutter hatte, aber das gleicht sich durch die windschiefe Nase bei Schönleben wieder aus. Der hat auf der anderen Seite natürlich dieses Lachen, etwas Vergleichbares kommt Lorenz nicht über die Lippen, aber insgesamt gibt es überhaupt keinen Grund, sich von diesem Typen und seinem Badezimmerspiegel fertigmachen zu lassen. Lorenz zieht seinen Bauch ein und posiert, um es dem Spiegel zu zeigen. Nur die alberne Schlangenbeschwörerunterhose stört.
Lorenz sieht die blondierte Blondine erst sehr spät, die geräuschlos von irgendwo hergekommen ist. Sie trägt offenbar nichts weiter als den seidigen, roten Kimono, der zuvor im Wohnzimmer auf dem Teppich gelegen hatte, und sie tut so, als sei es für sie normal, hier fremde Männer in Unterhose, Sportsocken und Bodybuilderhaltung vor dem Spiegel vorzufinden. »Hi, ich bin Theresa«, sagt sie und hält ihm eine Hand hin, die in unglaublich roten, gleich langen Fingernägeln endet.
Er schüttelt sie und setzt blöde dazu: »Wie die Mutter?« Brahmkamp bereut es im gleichen Moment, andererseits gibt es in seiner Situation keinen wirklich sinnvollen Satz, und seiner führt zumindest dazu, dass sie lacht und dadurch die Kimonoseide von ihrer nackten Brust rutscht. »Genau wie die Mutter, nur nicht ganz so heilig!«, sagt sie, während Brahmkamp auf diese Brust starrt, die mit ihrer ganzen sanften, weichen, sehr erwünschten Rundung ein so perfekt designter Gegenentwurf zu all den sanften, weichen unerwünschten Rundungen bei Brahmkamp ist, dass man auch wegen der Form der Brust sagen könnte, diese Brust ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, wenn man denn Brahmkamp als Fass bezeichnen will. Er hat Schönlebens Haus hingenommen, die Autos, das Laufen, das Badezimmer, aber eine solche Brustbesitzerin ist zu viel.
Theresa lacht. Ein fröhliches Lachen, ein weibliches Pendant zum Schönlebenlachen. Das Lachen, das er schon auf der Auffahrt gehört hat. Sie rafft ohne Hektik den dünnen Stoff wieder zusammen und sagt: »Bin sofort wieder weg.« Sie rumort im Regal hinter den flauschigen Handtüchern, und Lorenz starrt. Starrt auf das dichte Muster von hellen Sommersprossen an ihren Beinen und die seidige Falte des Kimonos, die ihren Hintern teilt, während sie sich vornübergebeugt hat, so dass jetzt beide Brüste erahnbar sind. Katrin ist seit drei Monaten aus dem Haus, und es ist lange her, dass Lorenz so nah bei einer so nackten Frau stand.
Sie sucht und findet ein kleines grünes Fläschchen, während Brahmkamp sich nicht von der Stelle bewegt. Sie schüttelt ihre Haare, von denen sie ein paar Millionen mehr zu haben scheint als normale Menschen. »Das war’s schon«, sagt sie und will gehen.
»Ich bin Lorenz«, sagt Lorenz, obwohl unpassend viel Zeit vergangen ist, seit sie ihren Namen genannt hat.
Theresa bleibt stehen, sieht ihn kurz an und grinst. »Da kriegt ja der Begriff ›Schlange stehen‹ eine ganz neue Bedeutung.« Er braucht einen Moment, bis er begreift, dass sie seine Unterhose meint, auf der sich die beschworene Schlange albern beult. Lorenz ist froh, dass er durchs Laufen schon so rot ist, dass er röter nicht werden kann.
»Das ist ein Geschenk«, erklärt er, und Theresa lächelt und sagt: »Absolut. Das hab ich schon verstanden.« Wieder braucht Lorenz einen Moment, bis er begreift, dass sie nicht die Unterhose gemeint hat. »Aber im Augenblick kann ich nichts weiter anbieten als eine kalte Dusche.« Unbeeindruckt dreht sie sich um und hinterlässt kleine Tapsen auf dem Boden des Badezimmers.
Nach dem Duschen schleicht Lorenz die Wendeltreppe wieder hoch und hofft, Theresa nicht noch mal über den Weg zu laufen. Er hofft auch, dass sie Schönleben erst von ihrer Begegnung vor dem Spiegel erzählt, wenn er wieder weg ist. Stattdessen trifft er oben auf einen älteren Mann mit komplett grauem Haar, was aber durch einen beeindruckendem Haarschnitt ausgeglichen wird. Es sieht aus, als hätte ein Designer jedes einzelne Haar mit Spezialkleber auf der Kopfhaut angebracht. Dazu trägt er ein blaugestreiftes Businesshemd mit einer Krawatte, die parallel zu offenbar seidenen Hosenträgern läuft. Lorenz dagegen kann nicht aufhören zu schwitzen. Die Frisur grüßt förmlich, und Lorenz nickt zurück.
Aus dem Nichts kommt Schönleben dazu, schon vollständig umgezogen und geföhnt. Er trägt jetzt eine Anzughose mit einem Gürtel, auf dessen goldener Schnalle die Buchstaben AS stehen, und dazu ein Hemd in hellem Lila, mit einem Muster aus kleinen Dollarzeichen, wie Lorenz beim zweiten Hinsehen feststellt. Schönleben hat sein Heizstrahlerlächeln angeknipst und verbreitet gute Laune mit einem langgezogenen »Ahh, da ist er ja!«, als hätte er lange auf Lorenz gewartet, um ihn der Frisur vorzustellen. »Das ist der Herr Brahmkamp, ’ne dicke Nummer bei der Stadt.«
Lorenz weiß nicht, ob »dicke Nummer« eine Anspielung auf sein Gewicht ist, aber Schönleben hat schon einen Arm um ihn gelegt und schiebt ihn sanft in Richtung der Haustür, während er der Frisur erklärt: »Wir waren gerade ’ne Runde laufen.« So wie Schönleben es sagt, klingt es, als täten sie das seit Jahren täglich. »Wir haben auch über den Megapark gesprochen. Herr Klarenberg ist einer der Investoren«, erklärt er an Lorenz gewandt, um direkt anschließend der Frisur zu versichern: »Sieht alles sehr gut aus!« Die Frisur, die also Klarenberg heißt, und Schönleben lachen verschwörerisch.
»Ich hab nichts anderes erwartet«, sagt Frisur.
Schönleben ist unterdessen mit Lorenz bei der Haustür angekommen. »Mir hat’s Spaß gemacht. Können wir jederzeit wieder machen.« Schönleben zwinkert ihm zu, als hätten sie beide irgendeine Ferkelei veranstaltet.
Lorenz versucht einen letzten Akt von Widerstand: »Was die Deponie angeht: Das muss auch von anderen Referaten geprüft werden. Ob das gut aussieht, kann man also danach erst sagen.«
Schönleben lächelt eisern: »Sie machen das schon!« Es klingt halb wie eine Drohung, halb wie eine Prophezeiung. Schönleben öffnet die Haustür. Direkt davor steht Theresa, die jetzt knallenge Jeans und ein über die Schulter gezogenes Top trägt. Neben ihr steht schwanzwedelnd ein grimmiger Terrier und knurrt. »Wer hat die umgetrampelt?!« Theresa hat die Blumenüberreste in der Hand, an denen sich Lorenz zu Beginn seines Besuchs ausgetobt hat.
»Schatz, das ist der Herr Brahmkamp«, sagt Schönleben.
»Wir haben uns schon kennengelernt«, sagt Schatz und dann lauter: »Das sind meine Lieblingsblumen!« Der Hund unterstreicht Theresas schlechte Laune mit einem Bellen.
Das Ganze ist ein abgekartetes Spiel, einzig zu dem Zweck, ihn fertigzumachen. Lorenz versucht, Würde vorzutäuschen und erhobenen Hauptes zu seinem Wagen zu gehen. Aber die Muskeln in seinen Beinen wissen nichts von Würde und knicken zweimal kurz weg.
Als er an seinem Corsa angekommen ist, sieht er, dass Schönleben, Theresa und der Hund ihm nachschauen. Die beiden Menschen winken, der Hund hält skeptisch den Kopf schief.
Schönleben hat ihm laufend zeigen wollen, dass Widerstand seitens der Stadt gegen seine Pläne sinnlos ist. Lorenz reagiert darauf trotzig wie ein Teenager. Der wird sich noch wundern! Vor hundert Jahren hätte man sich duelliert. Heute ist die Rache aus Papier. Die Rache des Sachbearbeiters. Es fließt kein Blut, nur Tinte. Das ist der Fortschritt. Lorenz schreibt also einen Bericht. Finger weg von Schönleben! Er muss es allerdings sachlicher formulieren. Ein Argument wäre gut. Irgendein dubioses Indiz. Wie damals die angeblichen Massenvernichtungswaffen im Irak. Wenn der Krieg erst mal läuft, sind die Gründe nicht mehr so wichtig. Leider hat Schönleben nichts wirklich Angreifbares gesagt. Lorenz kaut an einem Bleistift und starrt auf seinen Bildschirm. Er wird schon was finden. Er ist bei der Stadt. Es gibt genug Vorschriften und Paragraphen, um ganze Imperien zu ruinieren. Brahmkamp schreibt, dass er im Folgenden seine Eindrücke des Treffens zusammenfassen möchte. Er schreibt, die Pläne für einen sogenannten Megapark sind »unausgegoren«, von einer »Unterstützung seitens der Stadt ist abzuraten«. Aber das reicht nicht. Er braucht mehr.