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In Stockholm wird ein verwahrlostes Mädchen aufgegriffen. Niemand weiß, wer sie ist und woher sie kommt, sie ist völlig verstört und spricht kein Wort. Zur gleichen Zeit erschüttern zwei grausame Morde die Stadt. Eine rätselhafte Spur führt die Kommissare Jeanette Kihlberg und Jimmy Schwarz zu dem Mädchen und zu einem Buch, das in Schweden gerade in aller Munde ist: Es erzählt die tragische Geschichte einer jungen Frau, die vor über hundert Jahren in den einsamen Wäldern Nordschwedens ein hartes Dasein fristete. Noch ahnen Kihlberg und Schwarz nicht, wie finster die Abgründe sind, die sich bald vor ihnen öffnen …
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Seitenzahl: 575
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Aus Stinas Leben und Tod von Per Qviding
Kapitel 9
Kapitel 10
Aus Stinas Leben und Tod von Per Qviding
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Aus Stinas Leben und Tod von Per Qviding
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Aus Stinas Leben und Tod von Per Qviding
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Aus Stinas Leben und Tod von Per Qviding
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Aus Stinas Leben und Tod von Per Qviding
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Aus Stinas Leben und Tod von Per Qviding
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Aus Stinas Leben und Tod von Per Qviding
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Aus Stinas Leben und Tod von Per Qviding
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Aus Stinas Leben und Tod von Per Qviding
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 73
Aus Stinas Leben und Tod von Per Qviding
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 76
Kapitel 77
Kapitel 78
Kapitel 79
Quellennachweise
Autor
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Buch
In Stockholm wird ein verwahrlostes Mädchen gesichtet. Sie trägt ein schmutziges weißes Kleid, ist völlig verstört und spricht kein Wort. Zur gleichen Zeit werden die Kommissarin Jeanette Kihlberg und ihr Kollege Jimmy Schwarz zu einem Baustellengelände gerufen. Ein Mann wurde grausam getötet. Kurz darauf wird in einem anderen Stadtviertel die Leiche einer Frau entdeckt. Eine rätselhafte Spur führt Kihlberg und Schwarz zu dem verstörten Mädchen. Und bei ihren Ermittlungen stoßen sie immer wieder auf ein Buch, das gerade in aller Munde ist: Es erzählt die tragische Geschichte einer jungen Frau, die vor über hundert Jahren in einem kleinen Dorf in den abgelegenen, einsamen Wäldern Jämtlands lebte. Es ist eine Geschichte von Hunger, entsetzlichen Qualen und Tod. Noch ahnen Kihlberg und Schwarz nicht, wie finster die Abgründe wirklich sind, die sich bald vor ihnen öffnen …
Weitere Informationen zu Erik Axl Sund
sowie zu lieferbaren Titeln des Autors
finden Sie am Ende des Buches.
Erik Axl Sund
Band 3
der Kronoberg-Reihe
Psychothriller
Aus dem Schwedischen
von Nike Karen Müller
Die schwedische Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel »Otid« bei Ordfront, Stockholm.
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Deutsche Erstveröffentlichung Januar 2023
Copyright © der Originalausgabe by Erik Axl Sund 2022
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2023
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Published by agreement with Salomonsson Agency
Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München
Covermotive: Nastasza Fiedotjew/Trevillion Images; FinePic®, München
Redaktion: Maike Dörries
KS · Herstellung: ik
Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss
ISBN: 978-3-641-16740-0V003
www.goldmann-verlag.de
»Wenn man ein Vogeljunges von seiner Mutter trennt und ihm stattdessen einen Gummistiefel vor den Schnabel stellt, nimmt es den Gummistiefel als seine Mutter an.
Wenn dem Vogeljungen zwei Gegenstände gezeigt werden, ein harter und kalter, der Nahrung enthält, und ein weicher und flauschiger, der Wärme spendet, dann entscheidet sich das Vogeljunge für das flauschig Weiche.«
Aus Stinas Leben und Tod von Per Qviding
Rangierbahnhof, Tomteboda
Es war noch früh am Morgen, als der Güterzug mit Papierholz aus Norrland den Rangierbahnhof Tomteboda erreichte. Der Lokführer wusste nicht genau, wann er weiterfahren würde. Seinen Informationen zufolge war mit weiteren Verspätungen zu rechnen, und eigentlich sollte er überhaupt nicht hier sein. Aufgrund verschiedener logistischer Probleme war der Transport über das Nadelöhr Getingmidja in Stockholm umgeleitet worden, anstatt den kürzesten Weg über Hallsberg zur Zellstofffabrik in Bråviken zu nehmen. Vermutlich würde er südlich von Stockholm abgelöst werden.
In den letzten Jahren hatte er oft darüber nachgedacht, wieder nach Finnland zu ziehen, eines der am wenigsten privatisierten Länder, was den Schienenverkehr betraf. Außerdem bezahlte der finnische Bürger nur halb so viel wie seine schwedischen Nachbarn für die gleiche Qualität. Hier konnten keine Verkehrsuntersuchungen der Welt den liberalen Mythos zerstören, dass die Gesetze der freien Marktwirtschaft alles regelten. Wie kleine Kinder mit einer Spielzeugeisenbahn, dachte er.
Nach einem weiteren Update der Verkehrslage beschloss er, die Waggons zu inspizieren. Das hätte bereits in Borlänge getan werden müssen, war dort aber aus logistischen Gründen nicht mehr möglich gewesen.
Zunächst wollte er sich jedoch eine verdiente Rauchpause gönnen. Er stieg aus dem Führerhaus. Der Bahnhof lag öde im fahlgelben Licht der Morgendämmerung, er lehnte sich an den Zaun neben dem Gleis und drehte sich eine Zigarette.
Es ging ein leichter Wind, der ihm sagte, dass es ein schöner Tag werden würde. Er schob sich die filterlose Zigarette zwischen die Lippen und sog an den herausstehenden Tabakkrümeln. Sie schmeckten süßlich und nach Kirschen.
Auf einem der hinteren Waggons, die mit kleinerem Brennholz beladen waren, schlug eine weiße Plane im Wind. Eine Ecke hatte sich gelöst, was schon ausreichen konnte, um sich zu verfangen und Kleinholz mit sich zu reißen. Das hätten die Kranführer oben in Sveg beim Beladen des Waggons eigentlich bemerken müssen.
Er verzichtete darauf, die Zigarette anzuzünden, ließ sie in die Brusttasche gleiten und ging am Zaun entlang zu dem Waggon. Als er näher kam, bemerkte er noch etwas anderes direkt unter der Plane.
Verflucht.
Er querte das Gleisbett und kletterte auf den Wagen, stützte sich an einem der Eisenpfosten ab, während er einen Fuß auf einen dicken Stamm stellte und sich nach oben schwang, um besser sehen zu können.
Da sah er es.
Ja, verdammt noch mal, das war tatsächlich eine Hand.
Eine erdverschmierte Hand ragte aus einer dunkelgrünen, zerfetzten Jacke, und als ein Windstoß die Plane wieder anhob, fiel sein Blick auf einen Haarschopf.
Lange blonde Locken voller Tannennadeln und Sägespäne.
Eine Tote, dachte er und überlegte, ob er selbst genauer nachsehen oder die Polizei rufen sollte. Unschlüssig balancierte er vorsichtig zum nächsten Eisenpfosten.
Der einzige Tote, den er in seinem Leben gesehen hatte, war sein Vater. Ein Veteran aus dem Winterkrieg, der im Herbst ’65 dem Granatfieber ins Gesicht gelacht hatte und zu Hause in Karleby in den Wald gegangen war, sich eine Handgranate in den Mund gestopft und den Ring gezogen hatte. Das bisschen, was von ihm übrig war, war kein schöner Anblick gewesen, als er ihn damals gefunden hatte.
Das hier konnte kaum schlimmer sein, und er beugte sich vor und schlug die Plane zurück.
Aus einem Auge traf ihn ein dunkler Blick, und in die Hand, die eben noch reglos gewesen war, geriet Leben.
Midsommarkransen
Es war ungewöhnlich warm für die Jahreszeit, 22 Grad im Schatten, und fast windstill. Kriminalhauptkommissarin Jeanette Kihlberg legte sich mit einem Glas Eistee in die Hängematte im Garten hinter dem Haus und versuchte, ihren letzten freien Tag zu genießen. Sie hatte eine vorgezogene Woche Urlaub genommen, um in ihrem Haus ein wenig Ordnung zu schaffen.
Beim Besichtigungstermin acht Monate zuvor war sie eine Runde durch den Garten geschlendert und hatte zu den beiden Stockwerken des Krähenschlosses hinaufgeschaut. Es hatte damals im Großen und Ganzen genauso ausgesehen wie jetzt. Traurige Reste von roter Farbe an der Fassade und verstreute weiße Farbinseln an den Eckpfosten, undichte Dachrinnen und morsche Fenstersimse.
Sie fand es sympathisch, sich nicht um das äußere Erscheinungsbild zu kümmern, was alle anderen sahen, sondern sich stattdessen auf die inneren Werte zu konzentrieren. Auf das, was sie selbst am allerschlechtesten konnte.
Die Hängematte knarzte, als sie sich nach dem Teeglas und den Zigaretten ausstreckte. Es war drückend, die Luft war schwül und lähmte sie. Es gab noch viel zu tun am Haus, um es zu ihrem zu machen.
Sie blieb sitzen, bis sie den Eistee ausgetrunken hatte, ging dann nach drinnen und stellte den Fernseher im Wohnzimmer an. Sie ließ die Sendung laufen und nahm mit einer Schachtel Fotos auf dem Sofa Platz, um ein paar für den Kühlschrank auszusuchen.
Sie hörte mit halbem Ohr den Moderator des Literaturmagazins, ein antiquierter Kulturmensch, den Autor vorstellen, der zu Gast war.
… dies ist also Ihr fünfzehntes Buch, und zum ersten Mal haben Sie die Handlung von der Gegenwart in die Vergangenheit verlegt, genauer gesagt, in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Können Sie uns etwas über die Gründe für diese Entscheidung erzählen?
Das ist also mein sechzehntes Buch, nicht das fünfzehnte …
Jeanette sah von den Fotos auf und seufzte, als sie sah, wer in der Sendung interviewt wurde.
Per Qviding war in ihrem Alter, Anfang fünfzig, und ausgesprochen gut erhalten. Vor zwanzig Jahren, Ende der Neunziger, war sein Debüt erschienen, der vom New Age inspirierte Roman Lebensreise. Jeanette hatte ihn gelesen und ihn als philosophisches Buch abgespeichert, das seine Leserschaft dazu ermuntern wollte, seine Träume niemals aufzugeben. Sie hatte es oberflächlich und nicht gut geschrieben gefunden und sich gewundert, wie schnell es die Bestsellerlisten erobert hatte. Per Qviding hatte ein Vermögen damit verdient, war um den Globus gereist, um seinen Roman zu präsentieren, mit namhaften Preisen ausgezeichnet worden und hatte bei allen möglichen kulturellen Veranstaltungen mitgewirkt.
Sie wandte sich wieder den Fotos auf dem Sofatisch zu und blieb bei einem Bild hängen, das sie vergangenen Frühling ausgedruckt hatte. Es zeigte ihren Sohn Johan während eines Spring Breaks in San Francisco zusammen mit einem Mädchen. Johans Lächeln und sein Blick ließen darauf schließen, dass das Mädchen neben ihm mehr war als nur eine gute Bekannte.
Im Fernsehen berichtete Per Qviding von seinem neuen Roman, der auf wahren Begebenheiten basierte, und Jeanette erinnerte sich daran, was nach dem Erfolg seines ersten Buches passiert war. Qviding hatte sich von seiner Ehefrau scheiden lassen und seine Literaturagentin geheiratet. Es war eine schmutzige Scheidung gewesen, seine Ex-Frau hatte ihn in mehreren verbitterten Interviews beschuldigt, dass Lebensreise ein Plagiat war, in Anlehnung an ein Manuskript, das sie selbst verfasst habe. Sie hatten sich schließlich auf einen Vergleich einigen können, und Jeanette war davon ausgegangen, dass Qviding sich das Schweigen seiner Frau erkauft hatte. Das alles war jedoch inzwischen nichts als Spekulation, da sie an Brustkrebs gestorben war und sich selbst nicht mehr dazu äußern konnte.
Jeanette dachte an ihren Ex-Mann Åke und daran, dass sie durch seine Erfolge als Künstler vermögend geworden war. Åke hatte vor rund zehn Jahren seinen Durchbruch gehabt, und obwohl sie diejenige gewesen war, die ihn all die Jahre durchgefüttert hatte, hatte er nicht mal ein Wort des Dankes für sie übriggehabt.
Sie betrachtete das Foto ihres lächelnden Sohnes, der mittlerweile dreiundzwanzig Jahre alt war. Offiziell hatten sie sich das Sorgerecht geteilt, aber inoffiziell hatte der große Künstler nicht das geringste Interesse gezeigt, Zeit mit seinem einzigen Kind zu verbringen, und Jeanette fragte sich, ob die beiden heute überhaupt noch Kontakt hatten.
Entweder man geht gegen die Einsamkeit an, oder man akzeptiert sie, dachte sie.
Sie hatte ihre Einsamkeit selbst gewählt, von zwei Ausnahmen abgesehen. Neben dem Hohlraum in ihrem Herzen seit Johan gab es einen weiteren leeren Winkel.
Etwa zur gleichen Zeit, als Åke sich aus dem Staub gemacht hatte, hatte sie jemanden kennengelernt, eine Person, die ganz plötzlich wieder aus ihrem Leben verschwand, ohne dass sie etwas tun konnte, um dies zu verhindern.
Sofia Zetterlund, die ihr dabei geholfen hatte, einen wirklich komplizierten Fall zu lösen.
Sofia Zetterlund, die mit der Zeit eine gute Freundin wurde.
Die mit der Zeit jemand geworden war, den sie vielleicht hätte lieben können.
Verfluchte Sofia.
Nun war es zu spät, um etwas zu ändern an dem, was passiert war. Zu spät. Für alles. Zu spät, um noch mal Kinder zu kriegen, zu spät, um dem Leben noch eine neue Richtung zu geben.
Ich bin vor Kurzem den Nachlass meiner Tante durchgegangen, die außerhalb von Ljusdal in Hälsingland gelebt hat, und bin dabei auf ein paar Tagebücher von 1860 gestoßen. Eine Verwandte von mir hat sie geschrieben, sie hieß Stina und kam aus einem abgelegenen Dorf in Jämtland.
Wieder zog der Fernseher Jeanettes Aufmerksamkeit auf sich. Etwas in Qvidings Stimme machte sie neugierig, und sie legte das Foto von Johan und die zehn Jahre alten Erinnerungen aus der Hand. Per Qviding hatte eine angenehme Stimme. Sie wirkt vertraulich, wie die Stimme eines alten Freundes, dachte sie.
Aus verschiedenen Gründen hatte es Stina später nach Stockholm verschlagen, vermutlich war sie eine von denen, die vor der Hungersnot geflohen waren, und auf Södermalm war dann so etwas wie ein bunter Hund aus ihr geworden. Sie irrte durch die Straßen, redete in Zungen und wurde in die Psychiatrie eingewiesen mit der Diagnose der sogenannten Predigtkrankheit … Ich bin ganz sicher, dass Stina nicht verrückt war, sondern dass sie uns auf ihre Art etwas mitteilen wollte. Etwas, das ihr als Kind bei einem Nahtoderlebnis widerfahren war. Ich habe versucht, das in meinem neuen Roman zu verarbeiten, und das Phänomen ist auch mir nicht ganz fremd, da ich auf eigene Erfahrungen zurückblicken kann.
Jeanette wusste nicht viel über Qvidings Privatleben, außer dass er sich immer wieder aus der Öffentlichkeit zurückzog und nur in den Medien auftauchte, wenn ein neuer Roman von ihm erschien. Auch wenn die Kritiker nicht gleichermaßen beeindruckt von den Folgeromanen gewesen waren wie von seinem Debüt, hatte das den Verkaufszahlen keinen Abbruch getan. War Qvidings Privatleben auch weitgehend unbekannt, so war sein Vermögen ein wiederkehrendes Thema in den Abendzeitungen.
Ich habe immer großen Wert auf meine persönliche Integrität gelegt und habe das darum nie öffentlich gemacht. Doch jetzt weiß ich, dass es an der Zeit ist, kein Blatt mehr vor den Mund zu nehmen …
Jeanette hörte mit wachsendem Erstaunen zu, als Per Qviding erzählte, dass er als junger Mann als Anästhesiepfleger gearbeitet hatte, hinter der Fassade des geordneten Lebens aber an einer schweren Alkohol- und Tablettenabhängigkeit gelitten habe. In einem seiner im Prinzip täglichen Räusche hatte er sich mit dem Motorboot aufs Meer hinausbegeben und einen Unfall gebaut. Er wäre beinahe ertrunken, hatte im Koma gelegen, und während die Ärzte um sein Leben rangen, hatte er sich in einer Art Grenzland befunden.
Das war weder ein mentaler noch ein physischer Zustand, es war etwas anderes … Ich bin seltsamerweise am siebten Tag wieder aufgewacht. Als Gott ruhte, bin ich aufgewacht …
Ein Ertrinkender?, dachte Jeanette.
Danke, Per. Da kann man ja gespannt sein, davon und von Ihrer Verwandten Stina zu lesen. Mehr darüber nach der Pause. Wir sind gleich wieder zurück.
Jeanette ging mit dem Foto von Johans Spring Break, ein paar alten Schulfotos von ihm und einem von einer Fußballfreizeit in die Küche, um sie an den Kühlschrank zu pinnen.
Sie räumte das Geschirr in die Spülmaschine, das seit dem Frühstück auf dem Tisch stand, und stellte die Maschine an, während im Wohnzimmer die Literatursendung weiterging.
Stina glaubte, sie habe Gott gesehen, das Fegefeuer und das Paradies. Ich bin, wie Sie sicher verstehen, ein säkularer Mensch. Ich meine, dass alles Geistliche dringend eines neuen Diskurses bedarf, und vermeide stets Worte wie Gott, Engel, Himmel und Hölle. Das Gerede über Gott verschreckt die Menschen und steht einer seriösen Diskussion im Weg.
Das Klingeln eines Telefons durchdrang die Geräuschkulisse aus Fernseher und Geschirrspüler, Jeanette ging ins Wohnzimmer und sah sich um.
Wir müssen damit aufhören, das Geistliche von der Wissenschaft zu trennen. Ist es nicht pure Idiotie, dass wir nicht die Dinge erforschen, die wir nicht verstehen? Stellen Sie sich vor, wir hätten eine ähnliche Sichtweise auf die Mikrobiologie zum Beispiel … wir wären um ein Vielfaches unwissender und unaufgeklärter. Anstatt Menschen wie Stina als eine Besessene, Wahnsinnige oder Predigtkranke zu verachten, sollten wir ihre Erlebnisse ernst nehmen. Und von ihnen lernen, anstatt sie wegzusperren.
Eins der Probleme in einem großen Haus bestand darin, dass das Telefon meistens unauffindbar war, doch jetzt konnte Jeanette endlich lokalisieren, wo es klingelte. Sie hatte es auf den Tisch in der Diele gelegt, nachdem sie vom Einkaufen nach Hause gekommen war.
Ich glaube, Stinas Erlebnisse haben für uns eine ganz besondere Bedeutung, in der heutigen Zeit, in der die Menschen vor großen …
Sie schaltete den Fernseher aus, ging in die Diele und nahm den Anruf an.
Es war Jimmy Schwarz, einer der leitenden Ermittler und Jeanettes direkter Untergebener bei der Polizei Stockholm. »Ich fahre gerade nach Kvarnholmen raus«, sagte er, »und ich schlage vor, du kommst ebenfalls dorthin, auch wenn du offiziell noch Urlaub hast.«
Während Schwarz schilderte, was passiert war, ging Jeanette auf, dass traurigerweise das, was sie brauchte, ihre Arbeit war und keine Freizeit.
Ein Mord war schwer zu überbieten, wenn es darum ging, belanglose Gedanken in andere Bahnen zu lenken.
Weiße Melancholie
Im Südwesten Jämtlands, im Grenzland zwischen Wald und Fjäll, liegen drei Blockhütten, und vom Fjäll rinnt ein Bach hinab, der ein Stück weiter entfernt in einen Weiher mündet. Es gibt nur einen Pfad, der von den Häusern zum Weiher führt, und wollte man einen anderen Weg einschlagen, musste man sich durch unwegsames Terrain schlagen: heimtückische Moore, dichter Urwald, steile Abhänge und steinige Schluchten. In dem Wald gibt es Wölfe, Bären, Vielfraße und Luchse; Raubtiere, deren Namen wir, die wir hier wohnen, nicht aussprechen. Vor ein paar Jahren hatten wir eine Ziege, aber sie büxte aus und wurde halb im Sumpf versunken und in Stücke gerissen wiedergefunden. Jetzt halten wir nur noch Hühner.
In der einen Hütte wohnt Ingar mit seiner Familie und in der anderen wohnen wir, Familie Qviding. Außerdem gibt es zwei kleinere Nebengebäude. Eines dient als Speicher und Lager für die Wintersaat, das andere ist das Hühnerhaus mitsamt einem schmalen Hühnergarten. Zwischen den Gebäuden liegen ein paar karge Anbauflächen, hauptsächlich für Wurzelgemüse. Das dritte und größte Haus steht etwas weiter entfernt, in einer Senke am Fuß des Berges, wo die Tannen ganz dicht stehen. Das Haus Der Älteren.
Oftmals kann man am Abend einen Wanderfalken im Gleitflug über dem Fjäll kreisen sehen, als würde der Raubvogel über allem wachen, und manchmal, vor allem im Sommer, klingt aus einer der Holzhütten Musik. Das sind wir: ich an der Schlüsselharfe und Ingar am Cello.
Heute Abend verstummt die Musik jedoch plötzlich. Ingar hört auf zu spielen, und ich tue es ihm gleich.
Ingar ist es sehr wichtig, wie das Cello klingt, er dreht an den Schrauben und lässt den Bogen über die Saiten gleiten, während er die Augen schließt, den Kopf schief legt und lauscht. Unsere Instrumente sind bisweilen verstimmt, wegen der Feuchtigkeit, die zwischen die Balken in die Holzhütte dringt und die nicht einmal das Kaminfeuer vertreiben kann.
Es ist August in meinem sechzehnten Sommer, und noch nie war er so verregnet und streng wie dieser. Ingar kann das bezeugen, denn wir sind gleich alt und haben unser gesamtes Leben in Vitvattnet verbracht. Diese Unzeit scheint kein Ende zu nehmen, und es ist ein Glück, dass wir uns haben, denn es ist leichter, den Hunger zu vergessen, wenn man zu zweit ist und etwas zu tun hat.
Ich betrachte seine Hände im schwachen Licht der Dämmerung vor dem Fenster. Zarte, sanfte Hände, und ich muss daran denken, wo sie in der Nacht gewesen sind.
Ingar sieht wie ein Engel aus. Blonde Locken und der tiefe Blick aus seinen Augen, als wären sie das Tor zu einer anderen Welt. Es ist die reinste Verschwendung, wenn er die Augen schließt so wie jetzt. Er hat auch ein gutes Herz, und er hat Vidar sehr gern, meinen kleinen Bruder, was mich freut, denn Vidar gibt es noch nicht so lange auf dieser Welt, er ist erst sieben.
Ich prüfe die Saiten. Die Schlüsselharfe ist ein Instrument, für das noch nie bedeutende Musik geschrieben wurde. Die Violine ist weitaus wichtiger, und alle Noten, die ich habe, verlangen, die Schlüsselharfe so zu stimmen, dass ihr Klang dem einer Geige ähnelt.
Ingar macht die Augen wieder auf, sieht mich an und zupft das Cello wie eine Antwort auf das trockene Knacken der Holzscheite im Kamin. Ich erwidere sein Lächeln, scheinbar unberührt von seinem Blick.
Das Stück, das wir gerade gespielt haben, stammt aus einem Land namens Österreich, obwohl es nicht im Osten liegt, sondern weit im Süden. Die schöne Melodie hat ein gewisser Franz Schubert geschrieben, und ein Klavier ist auch Teil seiner Komposition. Ich weiß nicht so genau, was ein Klavier ist, aber die Notenblätter sind übersät mit kurzen Schlägen, und manchmal klingt es richtig gut, wenn ich das imitiere, indem ich meine Saiten zupfe.
Ingar nickt mir zu, und wir fangen noch mal von vorn an.
Besonders mag ich es, wenn wir die Kontrolle verlieren und die Noten einfach vergessen. Es kommt vor, dass er unbeabsichtigt zu schnell spielt, aber das fällt ihm erst auf, wenn ich ihn wieder eingeholt habe. Dann funkeln seine Augen, und er spielt noch schneller und achtet absichtlich nicht mehr auf das Tempo. Die Sehnen seiner Hände treten hervor, und der Bogen wird übel malträtiert, aber ich kann mithalten und spiele, dass es im ganzen Körper schrinnt, und am Schluss sind wir durchgeschwitzt und glücklich, obwohl wir die Regeln missachtet haben. Obgleich die Melodie einfach ist, ein paar Töne hinauf und herab, hin und her, entstehen in meinem Kopf düstere Fantasien.
Es ist auf verbotene Weise irgendwie immer am schönsten, wenn wir nicht nach Noten spielen. Wenn neue Klänge entstehen, neue Rhythmen, die wir beide zusammen erschaffen. Wir haben uns alte Melodien aus fernen Ländern zu eigen gemacht, wie es nur spontan und aus dem Augenblick geschehen kann. Durch uns beide, ihn und mich.
Wir spielen im dunkelblauen Licht der Sommernacht, während ich den Gedanken freien Lauf und sie zu meinem Vater wandern lasse. Er ist auf einer langen Reise, von der er schon bald wieder nach Hause zurückkehren wird. Pe, der mich mag und Ingar auch, anders als meine Mutter, die nur noch den kleinen Vidar liebt und sonst nichts. Darüber hinaus ist sie einzig darauf bedacht, ihre Strafen im Namen Gottes zu vollziehen. Vielleicht hat sie also auch den Gott gern, wie er in den Schriften des Alten Testaments geschildert wird, vor Jesus.
So gehen meine Gedanken, während ich, Stina aus Vitvattnet, gemeinsam mit Ingar das Stück in einem durchspiele. Danach lacht er laut, erleichtert, lehnt sein Cello an die Schulter und streckt seine Hand nach mir aus.
Seine Zeigefingerkuppe blutet, und ich wische das Blut mit dem Daumen ab, führe seinen Finger an meinen Mund und schmecke die eisenhaltige Flüssigkeit. Dann schiebe ich meine Finger zwischen seine, und wir sitzen lange so da, erschöpft und mit verflochtenen Händen.
»Was glaubst du, ist hinter dem Berg?«, frage ich.
Ingar antwortet nicht, aber er lächelt mich an.
Manche Worte sind wie das Schweigen der Steine im Fjäll, denke ich. Andere Worte sind wie das Flüstern … Ich suche nach einem Vergleich. Andere Worte sind wie das Flüstern im Wald … oder wie das Donnern des Tobels im Frühling. Das will ich später aufschreiben, in mein Tagebuch.
Es ist pechschwarz, als ich und Ingar über den Trampelpfad zum Weiher gehen, auf dem wir jede krumme Wurzel und Unebenheit kennen, als wären sie Teil unseres Körpers. Die Füße kennen ihren Weg, und auf halber Strecke halte ich inne und ziehe die Schuhe aus. Es ist ein ganzes Jahr her, seit ich zuletzt draußen barfuß gelaufen bin.
Ich denke an den Jungen, von dem meine Mutter erzählt hat. Er war zu früh auf die Welt gekommen, war zu schwach und verstarb gleich nach seiner Geburt. Genau so ist dieser Sommer. Er wird rasch sterben, ungelebt, erbärmlich und sinnlos.
Wir gehen weiter Richtung See, die Erde fühlt sich kühl an unter meinen Fußsohlen. Bald wird der Weg von silbrigem, krispelndem Reif bedeckt sein. Langsam gewöhnen sich die Augen an die Dunkelheit, und ich sehe Ingar an. Er ist so mager geworden in diesem Sommer, seine Wangen und Schläfen sind eingefallen, sein Hals ist sehnig und dürr unter dem langen Haar.
Der Einzige, der den Sommer gut überstanden hat, ist mein Vater, der bei der Rückkehr von seiner Reise richtige Pausbacken gehabt hat. Er war in einem großen Dorf, das heißt Särna. Offensichtlich ist der Hunger im Süden nicht so groß, aber dennoch hatte Pe nicht viel zu essen dabei: einen kleinen Sack mit Brot und ein paar Beutel mit großen, steinförmigen Samen, die mehrere Stunden lang gekocht werden mussten, bevor man sie essen konnte, und da schmeckten sie mehlig und beinahe wie Erde. Ein anderes Mal, als Pe lange fort gewesen war, in Norwegen, hat er mir einen neuen Bogen mitgebracht.
Wir bleiben am Ufer stehen, und ich stelle die Schuhe ab. Der Wind ist frisch, und als ich mein Kleid abstreife, bekomme ich eine Gänsehaut.
Wir baden hier seit unserer Kindheit. Und jetzt sind wir fast erwachsen.
Hinterher liegen wir in Ufernähe nackt auf dem Rücken im Gras. Die Zeit ist ein Sieb, das Sekunden und Minuten in Sinnesfreuden und Zeitlosigkeit filtert, als hätten wir beide eine kleine gemeinsame Kammer, in der nur die Regeln unserer Körper gelten und der Welt kein Einlass gewährt wird.
Ich fahre mit den Fingern über meinen Bauch und drücke auf die kleine Erhebung unterhalb des Nabels. »Bis hier oben warst du drinnen«, sage ich. »Das hat fast ein bisschen wehgetan.«
Ingar schiebt seinen Kopf weiter nach unten, und ich sehe in den Nachthimmel hinauf. Ein Lichtpunkt bewegt sich dort oben, vielleicht ein Komet oder ein Meteor, der verglüht, und ich folge dem Licht mit dem Blick, bis es hinter den Umrissen des Tannenwaldes verschwindet.
Ich schließe die Augen, als ich seinen Mund da unten spüre, greife mit den Händen in sein Haar, das noch nass ist vom Baden. Dann lege ich meine Beine behutsam über seinen Rücken.
Seine Hände liegen auf meinen Hüften, und ich fange an, sie zu bewegen. Erst langsam, dann schneller.
Aber dann fühle ich mich gestört, ich erstarre und horche.
Durch das Rauschen der Bäume hindurch höre ich entfernte Stimmen wie hinter einer Wand. Sie klingen wie eine Männer- und eine Frauenstimme.
Ich mache die Augen wieder auf und stütze mich auf die Ellenbogen, während Ingar mich mustert.
»Wie lange sind wir schon von zu Hause fort?«, flüstere ich.
Er schmunzelt und zuckt mit den Schultern.
»Sie suchen uns«, sage ich. »Dein Vater und meine Mutter … Wir müssen uns anziehen.«
Ingar hat oft blaue Flecken. Sein Vater ist strenger als meine Mutter, vielleicht sogar noch seltsamer als Em. So dürfen sie uns nicht finden.
Wir schlüpfen schweigend in unsere Kleider, und ich denke daran, wie trügerisch das Glück doch ist und dass es oft der Sorge weichen muss. Als würde die Vernunft den Körper strafen, weil er zu viel Lust empfunden hat.
Wir gehen zurück, und ich spüre Übelkeit in mir aufsteigen, je näher wir den Blockhütten kommen.
Plötzlich hält Ingar inne und dreht sich zu mir um. Seine Augen glänzen in dem schwachen Licht, er breitet die Arme aus, und ich schmiege mich an ihn, den Kopf an seine Brust gedrückt, und lausche unserem Herzschlag, dem doppelherzigen Trommeln.
Mit einem Mal strömt alles Böse aus mir hinaus, in die Erde und in den Berg hinein.
Zu Hause werde ich in mein Tagebuch schreiben, dass Ingar mir gezeigt hat, wie das wahre Leben sein kann, wie es sich anfühlt. Das Blut hat ein neues, unbekanntes Element, werde ich schreiben, wodurch es schneller durch die Adern rauscht, die Schläfen pulsieren und den Brustkorb beben lässt. Nie – nie – nie haben die Farben der Waldblumen kräftiger geleuchtet, hat der Sauerampfer frischer geschmeckt, der Wald übermächtiger geduftet.
Zwei Wochen später liegt glitzernder Reif auf dem Trampelpfad zwischen den Häusern und dem Weiher.
Kvarnholmen
Stockholm ist wie ein Körper auf einem Operationstisch. Wenn keine abgenutzten Gelenke, verstopften Venen oder diversen Altersflecke beseitigt werden müssen, dann muss etwas amputiert oder zusammengenäht werden. Die Halbinsel zwischen Saltsjön und Svindersviken hat im Laufe der Geschichte schon mehrmals unter dem Messer gelegen. Vor einem halben Jahrhundert war Kvarnholmen noch eine Insel, bevor der Sund mit Aushubmasse gefüllt und die Insel so zur Halbinsel wurde. Den Plänen zufolge wird sie in ein paar Jahren wieder zur Insel werden, wenn der Beton weggerissen wird, um einem Kanal Platz zu machen. Parallel wird der ganze Bereich umfangreichen Schönheitsoperationen unterzogen, weshalb das von der Polizei abgesperrte Gelände unter der Brücke nach Kvarnholmen von Baustellen umgeben ist.
Die Leiche lag dort, wo der zukünftige Kanal verlaufen wird, unterhalb der Brücke auf einer asphaltierten Fläche, etwa hundert mal hundert Meter. Jeanette konnte feststellen, dass der Tote eine Schussverletzung aufwies. Auch nach neun Uhr abends flimmerte die Hitze noch über dem Teerbelag, während der Schatten eines Helikopters in Richtung Norden vorbeiglitt, zum Kai in der Saltsjöbucht. Die Kriminaltechniker waren soeben eingetroffen und bereiteten in Absprache mit einigen uniformierten Beamten ihren Einsatz vor.
Jeanette entfernte sich von den anderen und trat an die Absperrung. Ihre Schuhe steckten in Einwegschützern, und sie telefonierte.
»Ja, ein pistolenähnlicher Gegenstand«, sagte sie. »Eine Zeugin hat den Täter von der Kvarnholmsbron aus gefilmt, und wir haben eine gute Personenbeschreibung. Schwarz ist auch hier. Ich melde mich wieder, wenn es was Neues gibt«, beendete sie das Gespräch und schob das Telefon in die Hosentasche.
Die Streife parkte im Schatten eines Brückenpfeilers, und die Zeugin, ein Mädchen mit Studentenmütze und weißem Kleid, saß auf der Rückbank.
Obwohl sie stark angetrunken war, war sie trotzdem geistesgegenwärtig genug gewesen, den Verdächtigen zu filmen. Sie hatte einen Schuss gehört, als sie über die Brücke gegangen war, sich dann an das Geländer gestellt, in einer Hand ein Bier, in der anderen ihr Telefon. Vielleicht hätte sie sich nicht getraut zu filmen, wenn sie keinen Alkohol getrunken hätte, überlegte Jeanette, als sie zum Auto zurückging.
Die Qualität des Clips war perfekt. Der Mann war in den Dreißigern, mittelgroß und leicht übergewichtig, mit hellen Bartstoppeln und kahl rasiertem Schädel. Er trug ein weites weißes Unterhemd und blaue, über den Knien abgeschnittene Jeans sowie graue Sneakers. Vermutlich war er noch irgendwo auf Kvarnholmen, da die Bereitschaftspolizei rasch vor Ort gewesen war und die Svindersvikenbron abgesperrt hatte, ebenso wie die Passage zwischen Finnboda und der Senke hier unten. Der Mann war bewaffnet, vermutlich relativ gestresst und, der Filmaufnahme nach zu urteilen, nicht nüchtern.
Jeanette wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und wog die Alternativen des Täters gegeneinander ab.
Wenn er sich seinen Fluchtweg nicht freischießen wollte, blieb ihm eigentlich nur, aufzugeben oder in den Saltsjön zu springen, dachte sie.
Kriminalhauptkommissarin Jeanette Kihlberg begleitete die Karriere ihres jüngeren Kollegen Jimmy Schwarz seit seiner Zeit als Polizeimeisteranwärter. Sie war dabei gewesen, als Schwarz frisch von der Polizeischule seine erste Leiche gesehen hatte, und hatte ihm mit anerkennendem Schulterklopfen zu seinem ersten gelösten Fall gratuliert. Als Schwarz Einsatzleiter wurde, hatte sie ihn auf ein paar Bier in die Kneipe eingeladen.
Jeanette und Schwarz gingen schnellen Schrittes an der Mundharmonika vorbei, einem alten Bürokomplex, der seinem Namen alle Ehre machte, lang und schmal und mit einer Fensterreihe, die an die Luftkanäle des Instruments erinnerte. »Mehr New York als das hier gibt’s in Stockholm nicht«, bemerkte sie und deutete mit dem Kinn auf das alte Industriegebiet, das inzwischen zu Wohnraum aufgeputzt und umgebaut worden war, in mit schwedischem Maß gemessen so hohen und dichten Häuserreihen, dass die Sonnenstrahlen nicht mehr bis auf den Boden reichten. Gelegentlich waren Sirenen zu hören, darüber knatterten die Rotorblätter eines Helikopters. Sie zerhackten das Sonnenlicht, das auf den Fassaden flimmerte.
Sie glaubte, Schwarz’ Adrenalin riechen zu können. Oder war sie das selbst? Der Schweißgeruch war ausgesprochen penetrant, und ihr fiel wieder ein, dass jemand mal gesagt hatte, das läge am Stresshormonüberschuss. Sowohl sie als auch Schwarz waren Adrenalinjunkies, allerdings mit unterschiedlichen Reaktionsweisen. Er redete wie ein Wasserfall, während sie wortkarger und beharrlicher wurde.
Die Jahre bei der Polizei hatten Schwarz’ äußere Erscheinung weiter geprägt, er sah aus wie der Archetyp eines Streifenpolizisten. Breites Kreuz wie ein Schrank, das Gesicht eines Boxers. Innen war er hart wie Stein, immer schon, und Jeanette fragte sich, ob das damit zusammenhing, dass er in der Vorstadt in einer Familie mit Drogenproblemen groß geworden war. Die Erfahrungen mit Trunkenheit und Schlägereien hatten seinen Charakter in gleichem Maße geformt wie der Beruf des Polizisten sein Äußeres. Er hatte eine kleine Narbe auf der Wange, ein paar Zentimeter unterhalb des Auges, die ein bisschen wie eine Träne aussah.
»Da ist es«, sagte Jeanette und ging schneller.
Am Ende der Straße schimmerte ein weißer Betonzaun. Dahinter lag eine Baustelle, und laut den letzten Informationen des Helikopterpiloten befand sich der Mann, den sie suchten, vermutlich dort. In dem Zaun war ein Metalltor eingebaut, und der Abstand zwischen Erdboden und Torgitter war groß genug, dass man unten durchkriechen konnte. Von der Baustelle war kein Laut zu hören, und zwischen dem Schrotthaufen und den Baumaschinen hing Staub in der Luft.
»Warte kurz«, sagte Schwarz und nahm seinen Funk zur Hand.
Während er mit dem Piloten sprach, ließ Jeanette den Blick über das Gelände schweifen. Auf dem scheinbar riesigen Areal standen übereinandergestapelte Baracken, Container mit Bauschutt, und neben dem Rohbau von zukünftigen sechsstöckigen Wohnblocks ragte ein Kran in den Himmel.
Schwarz lief der Schweiß von der Stirn.
»Die Baustelle ist also stillgelegt?«
Das Funkgerät knackte. »Ja«, gab der Flugpilot am anderen Ende zurück, »uns liegen Daten vor, denen zufolge dort seit zwei Wochen keine Arbeiten mehr stattgefunden haben, also ist mit Sicherheit niemand da. Aber ich schaue schnell, ob wir bessere Aufnahmen von der Überwachungskamera und genauere Informationen bekommen können. Bleiben Sie bitte dran …«
Jeanette warf Schwarz einen Blick zu und stellte fest, dass der Adrenalinkick allmählich abebbte und er darum rang, ihn nicht ganz zu verlieren. Sie wusste, dass er im Rausch des Kicks Fehler machte, sich in Dinge hineinsteigerte und in Situationen begab, ohne über die Konsequenzen nachzudenken.
Aber vielleicht änderte sich das bald. Jeanette hatte ihn für ein Psychologie-Seminar im Herbst angemeldet und ihm ans Herz gelegt, das Boxtraining wieder aufzunehmen. Jeanette wusste, dass Boxen ein guter Weg war, um die Wirkung von Adrenalin kontrollieren zu lernen. Als junger Mann war Schwarz unter den schwedischen Top Five im Weltergewicht gewesen, aber mit siebzehn Jahren hatte er alles hingeschmissen, weil er es leid war, immer und immer wieder gesperrt zu werden. Stattdessen hatte er seine Aggressionen mit Akkordeonspiel beherrscht. Und das tat er jetzt, mit vierzig, noch immer.
»Die Wärmebildkamera zeigt mehrere Wärmequellen an«, fuhr die Stimme über Funk fort. »Weiter östlich liegt noch ein weiterer Bauplatz, ein kleines Areal, das der Baufirma W&W Bygg gehört. Dort halten sich rund zehn Personen auf. Und dort steht die ehemalige Disponentenvilla, in der mal ein Kulturzentrum für Kinder untergebracht war … Ich schicke Ihnen den Link der Wärmebildkamera.«
Während sie die Baustelle umrundeten, forderte Jeanette Verstärkung an. Zwei Mannschaftswagen der Bereitschaftspolizei befanden sich bereits auf Kvarnholmen, und sie bat ihre Kollegen, sich möglichst unauffällig dem Baugelände zu nähern.
Ein hoher Bretterzaun zur Linken, der die Bergseite säumte, versperrte jegliche Sicht. Ein Kiesweg führte hinauf, und als sie auf gleicher Höhe mit dem Zaun angelangt waren, meldete Schwarz’ Mobiltelefon eine eingegangene Nachricht.
Jeanette schloss zu ihm auf, und gemeinsam sahen sie sich die Fotos der Wärmebildkamera an. Wie zum Henker kann die Kamera bei dieser Hitze die Körperwärme eines Menschen registrieren?, dachte Jeanette, revidierte ihre Überlegung jedoch, als sie bemerkte, wie stark Schwarz ins Schwitzen geraten war.
Sie zählte elf Wärmepunkte auf der Aufnahme.
»Nimmst du mich mal auf die Schultern?«, fragte Jeanette in einem Tonfall, der klarstellte, dass es sich eher um eine Anweisung als um eine Frage handelte. Schwarz ging in die Hocke, sie schob einen Fuß auf seine Schulter und zog sich nach oben. Er umfasste ihre Fußknöchel, und sie stellte sich aufrecht hin.
»Siehst du was?«, wollte Schwarz wissen, doch sie signalisierte ihm, still zu sein.
Nach einer Weile raunte Jeanette, dass er sie wieder absteigen lassen könne. In dem Moment rückte hinter ihnen bereits die Verstärkung an.
Sie berichtete den vermummten Kollegen knapp, was sie hinter dem Bretterzaun gesehen hatte. »Ein zweistöckiges Haus in etwa dreißig Metern Entfernung, verfallen und zugewuchert.«
Sie bewegten sich auf die Nordseite der Umzäunung zu, und als sie ein Schild mit dem Hinweis passierten, dass das Privatgrundstück videoüberwacht war, hörte Jeanette ein Geräusch, das für den nächsten Adrenalinkick sorgte.
Auf der anderen Seite des Zauns weinte ein Kind.
Routiniert beobachtete der Pilot das Geschehen auf dem Gelände. Eine der dunkelgelben Wärmequellen bewegte sich schnell von dem Gebäude fort Richtung Bretterzaun. Gleich darauf registrierte die Kamera eine weitere Person, die bisher nicht sichtbar gewesen war, der Größe nach zu urteilen ein Kind.
Er verfolgte die Maßnahmen der Polizeibeamten, die sich in vier Dreiergruppen um den Zaun postierten, als die Zielperson mit dem Kind wieder ins Haus lief. Nun musste Kihlberg entscheiden, wie der nächste Schritt aussehen sollte.
»Alle Personen befinden sich im Haus. Das Kind ist in einem Zimmer im Südflügel, zusammen mit der Zielperson.«
Auf dem Fahrrad den Tornberget in Haninge hinunterzusausen hatte früher in Jeanette eine wunderbare innere Ruhe ausgelöst. Aber ihr Psychotherapeut hatte ihr erklärt, dass der Preis zu hoch war für den ersehnten Adrenalinkick. Anstatt sich die Arme zu ritzen, bis sie bluteten, sollte sie versuchen, auf andere Weise ihren Seelenfrieden finden. Doch nachdem sie Jogging, Krafttraining und Klettern ausprobiert hatte, ohne den gewünschten Effekt zu erzielen, war sie wieder zum Tornberget zurückgekehrt, mit seinen 111 Metern der höchstgelegene Punkt im Stockholmer Umfeld.
Das Mountainbike auf den Schultern war sie bis zur Spitze gestapft und hatte auf dem Aussichtsturm kurz Rast gemacht. Als sie dann besonnen und systematisch mit dem Bike den Hang hinuntergefahren war, war ihr klar geworden, dass es einzig und allein darum ging, die Angst zu kontrollieren, sie zu respektieren und zu überwinden.
Vierzig Jahre später stand Kriminalhauptkommissarin Jeanette Kihlberg vor einem verfallenen Haus, die Hand an der Pistole. In einem Zimmer im Erdgeschoss hielt sich zusammen mit einem Kind die unter Mordverdacht stehende Zielperson auf. An einer Tür im Bretterzaun war ein modernes Codeschloss angebracht, außerdem waren Jeanette drei Überwachungskameras aufgefallen.
Hinter der offenen Tür eines Schuppens, in dem normalerweise Gartengeräte untergebracht waren, standen ein kleines Etagenbett, ein paar Stühle sowie ein Klapptisch. Daneben ein großer Container, etwa sechs Meter lang und zweieinhalb Meter breit mit dem gleichen Bett wie im Schuppen. Auf einem umgestülpten Bierkasten lag ein Laptop. Im dunklen Containerinnern lag alles mögliche Zeug, und der Geruch nach altem Kleiderschrank zeugte davon, dass es sich hauptsächlich um Klamotten handeln musste.
Der Verdächtige war von den Polizeibeamten der Kommunikationszentrale identifiziert worden, es handelte sich um Rikard Stridh, 28 Jahre, mit einer Handvoll Vorstrafen wegen Körperverletzung und Drogendelikten im Gepäck.
Der Einsatzleiter, der mit einem Megafon in der Hand neben Jeanette stand, hatte dem Verdächtigen soeben mitgeteilt, dass sein Aufenthaltsort lokalisiert worden war und die Polizei wusste, dass er ein Kind bei sich hatte.
»Rikard Stridh, Sie kommen als Erster raus. Keine Waffen. Dann kommen die anderen, langsam und mit erhobenen Händen.«
Mehrere Fensterscheiben waren gesplittert, fehlten ganz oder waren durch Plastikfolie ersetzt worden. Nichts rührte sich. Das Efeu schien hingegen umso lebendiger zu sein, Jeanette sah es förmlich im Takt mit ihrem ruhigen, regelmäßigen Puls in den Schläfen wachsen. Das war die Ruhe des Adrenalins, vierzig Herzschläge pro Minute, ein Zustand, der einst eine Talfahrt mit dem Rad vom Berg hinab verlangt hatte; Sekunden, die nicht mehr unkontrolliert davonticken und stattdessen überschaubarer und verständlicher erscheinen.
Für einen Sekundenbruchteil huschte ein Schatten hinter den zugezogenen Vorhängen vorbei.
»Sie kommen jetzt raus«, sagte Jeanette.
Kurz darauf wurde die Haustür einen Spaltbreit aufgeschoben, und ein etwa dreijähriges Mädchen machte ein paar vorsichtige Schritte auf die Steintreppe. Es schleifte einen Teddybären hinter sich her und schien eher neugierig als ängstlich zu sein.
Jeanette hatte mit einem verwahrlosten Kind gerechnet, aber anders als die Umgebung, in der alles verfallen, überwuchert oder ganz allgemein vernachlässigt wirkte, sah das Mädchen zufrieden aus, und ihr knallgelber Pyjama war weder schmutzig noch verschlissen. Das Mädchen stieg die Treppe herunter, während Rikard Stridh mit erhobenen Händen hinter ihr erschien.
Sein weißes Unterhemd war durchgeschwitzt, sein kahler Schädel glänzte.
»Ich habe Johnny nicht erschossen«, nuschelte er. »Die Pistole ist da drinnen, sie gehört mir gar nicht … Sie gehört Johnny.« Er nickte in Richtung des Mädchens. »Ihr Vater, also … Sie heißt Klara.«
Oft teilte die Chemie in Jeanettes Körper ihr mit, wenn eine Situation nicht länger bedrohlich war. Ein bisschen wie der Kater nach einem vorzeitig beendeten Fest, ehe es sich richtig entfalten konnte; eine verschmerzbare, von Dankbarkeit überlagerte Enttäuschung, weil das Ganze nicht aus dem Ruder gelaufen war.
Sie wollte eben einen älteren Beamten anweisen, sich um das Mädchen zu kümmern, als Schwarz ihr zu ihrer Überraschung zuvorkam. Er trat auf das kleine Mädchen zu, ging in die Hocke und nahm ihre Hand.
Während der Puls auf Jeanettes Durchschnittswert von fünfundfünfzig Schlägen pro Minute anstieg, traten die anderen, die sich im Haus aufgehalten hatten, nach und nach auf die Steintreppe. Unterdessen wurde Rikard Stridh zu einem der Mannschaftswagen geführt, um ihn von den anderen abzusondern, bis der Haftbefehl erlassen war. Jeanette würde ihn später vernehmen.
Die Personen, die aus dem Haus kamen, waren verwahrlost, manche mehr, manche weniger. Alle, bis auf das Mädchen im gelben Pyjama.
Schwarz sprach leise mit ihr. Was immer er sagte, es beruhigte das Mädchen, und Jeanette versuchte, den Kloß in ihrem Hals hinunterzuschlucken. Johnny, dachte sie. Der Tote unter der Brücke. Klaras Vater. Schwarz in allen Ehren, aber es musste jemand herkommen, der sich professionell um das Mädchen kümmerte. Sie war grottenschlecht, wenn es darum ging, mit Kindern zu reden.
Jeanette informierte den Piloten, dass sein Einsatz beendet sei, und während das Flappen der Rotorblätter am Himmel allmählich verebbte, beobachtete sie die Gestalten, die auf dem verdorrten, von der Sonne gebleichten Rasen vor dem Haus saßen. Einer der Beamten ging herum und bat sie, sich auszuweisen. Ohne Widerspruch, nur mit kollektivem Gemurmel, folgten sie der Aufforderung. Sie alle waren vermutlich jünger als Jeanette, auch wenn die Jahre ihnen härter mitgespielt hatten. Sieben Männer und drei Frauen, wie viele von ihnen schwedische Staatsbürger waren, würde sich bald herausstellen, aber es war sonnenklar, dass das Grüppchen einen Cocktail von diversen Substanzen verkörperte. Sie waren Junkies, keine gewöhnlichen Hausbesetzer und definitiv keine Schwarzarbeiter vom Bau.
Mieter?, dachte sie, griff nach ihrem Mobiltelefon und gab W&W Bygg in die Suchmaske ein. Eine Firma, die in Salem ansässig war, mit zwei Geschäftsführern, Leif und Margareta Wettergren.
»Hier draußen sind jetzt elf Personen, es fehlt also noch eine«, stellte der Einsatzleiter fest und kam auf Jeanette zu. »Es gibt noch eine zwölfte, die sich in einem Campingwagen aufhält, der steht neben der Wand unter einem Wellblechdach.«
»Ein Wohnwagen?«
Er nickte. »Die Tür ist von innen abgeschlossen, aber nichts rührt sich. Ein paar meiner Leute sind bereit und warten auf das Zugriffskommando.«
Der kleine Wohnwagen aus den Siebzigern stand hinter hohen Büschen unter einem an der Hausfassade befestigten Wellblechdach, das offenbar als Regenschutz diente, da das Dach des Wagens mit Brettern und Sperrholzplatten geflickt war.
»Junge Frau, nicht ansprechbar«, sagte der Beamte, der die Tür aufgebrochen hatte. »Dehydriert, nehme ich an«, fügte er hinzu und scheuchte eine Fliege fort.
Jeanette ging mit zwei Sanitätern der Bereitschaft hinein und hielt sich hinter den resoluten Burschen, die zu Beginn des Einsatzes als Kommandosoldaten agiert und nun eine andere Rolle übernommen hatten. Im Halbdunkel lag auf einer Pritsche eine Frau auf dem Bauch, nackt bis auf ein Paar Frotteesocken.
Im Innern des Wohnwagens war es mindestens zehn Grad wärmer als draußen, und die Sanitäter zogen zuerst die Gardinen auf und öffneten ein Fenster, um Licht und frische Luft hereinzulassen.
Ein Sonnenstrahl fiel auf den Frauenkörper, die knochigen Schultern und Rippen warfen Schatten. Die Pritsche war mit dunklen Flecken übersät, als hätten die Laken sämtliche Körperflüssigkeiten aus ihr gesogen.
»Puls?«
Die Männer beugten sich von beiden Seiten über die Frau, und Jeanette bemerkte, dass ihre Bewegungen und Stimmen bedächtiger geworden waren, ohne dass sie dabei an Effektivität eingebüßt hätten.
»Schwacher Puls … Atmung?«
»Schwach.«
»Adrenalin aufziehen«, sagte einer der Sanitäter gefasst, strich der Frau behutsam das schwarze Haar aus dem Gesicht und schob mit Daumen und Zeigefinger ein Augenlid hoch.
Ihre Augäpfel hatten eine ungesunde gelbliche Farbe.
Kvarnholmen
Es war fast Mitternacht, die zunehmende Abenddämmerung hüllte den Essraum der Disponentenvilla in gräuliche Schleier. Kriminaloberkommissar Jimmy Schwarz saß mit seiner Vorgesetzten Jeanette Kihlberg und einem der Bewohner, oder wie man sie nun nennen sollte, an einem der vier Tische. Alle behaupteten, nicht das Geringste gesehen und nicht die geringste Ahnung zu haben, was passiert war.
Der Mann vor ihnen zeigte sich jedoch ein wenig gesprächiger als die übrigen. Gebürtiger Stockholmer, 39 Jahre und der Älteste im Haus. Er wurde Jeppe genannt, war den eigenen Angaben zufolge obdachlos und seit Jahren auf Methadon, was nicht zu übersehen war. Er sah keinen Tag jünger aus als 55.
Schwarz hatte Probleme, sich zu konzentrieren. Er dachte an Klara, das Mädchen, das vor wenigen Stunden seinen Vater verloren hatte. In diesem Augenblick saß eine Kollegin mit entsprechender Ausbildung in einer verfallenen Holzhütte und redete mit ihr. Die Frau wollte das Mädchen in einer Umgebung befragen, in der es sich sicher fühlte.
So was Bescheuertes, dachte Schwarz. Hatte das Mädchen sich mit ihm etwa nicht sicher gefühlt? Er hatte das richtige Gesprächsthema getroffen, Fußball, und sie hatte gesagt, sie fände Ronaldo toll, worauf er geantwortet hatte, dass Mbappé auch sympathisch und als Idol viel besser wäre. Da hatte sie gelächelt und zustimmend genickt. Bevor sie ihr Gespräch weiter vertiefen konnten, hatten die Kollegen sie mitgenommen.
Die junge Frau, die sie bewusstlos angetroffen hatten, war ins Krankenhaus gebracht worden. Dem Pass in ihrer Handtasche zufolge hieß sie Besa Undin, war schwedische Staatsbürgerin und 18 Jahre alt.
Jeanette warf Jeppe einen Blick zu.
»Kennen Sie Besa?«
»Nein«, gab Jeppe zurück. »Das würde ich jetzt nicht behaupten.«
»Wissen Sie, ob sie Johnny Bondesson, den Verstorbenen, kannte?«
Jeppe zog die Schultern hoch. »Sie wohnt nicht hier, aber sie schaut immer wieder mal im Wohnwagen vorbei. Ist aus einer Klinik getürmt, hab ich gehört. Sitzt halbnackt vor der Tür und raucht. Sie war wohl seine Hure.«
Schwarz bemerkte, dass sich Jeanettes Blick kurz verfinsterte.
»Okay, er hat sie also für Sex bezahlt«, stellte sie überflüssigerweise fest. »Zahlt er mit Drogen?«
»None of my business.«
Es war bereits bekannt, dass Johnny Bondesson ein erfahrener Häftling war. Die Zentrale hatte eine solide Akte herausgesucht. Vor drei Jahren hatte er eine Haftstrafe verbüßt, weil er seine damalige Freundin, Klaras Mutter, misshandelt hatte und sie an den Verletzungen gestorben war. Doch mangels Beweisen war er freigesprochen worden. Und jetzt hat das Mädchen keine Eltern mehr, dachte Schwarz.
»Johnny hat hier ein paar Monate lang gewohnt«, sagte Jeppe. »Und ich weiß, dass er im Mai dreißig geworden ist, denn da gab es im Wohnwagen eine krasse Fete … Und dann natürlich das, was in der alten Abendzeitung gestanden hat.«
»Welche Zeitung?«
»Die liegt in seinem Wohnwagen. Er hat mit einem Artikel angegeben und ihn überall herumgezeigt. Ob das, was in dem Blatt steht, stimmt oder nicht, ist ja wieder eine andere Geschichte.«
Jeanette nickte Schwarz zu. »Schau mal, ob du die Zeitung finden kannst.«
Schwarz erhob sich, trat nach draußen und umrundete das Haus. Er kam sich wie ein Laufbursche vor, Jeanette hätte sich ihre Aufforderung sparen können, er wäre auch von selbst gegangen.
Die Kollegen in den Schutzanzügen waren angerückt, und er begrüßte die leitende Kriminaltechnikerin, eine alte Häsin, und fragte nach der Zeitung.
»Die liegt da drüben.« Sie zeigte auf einen kleinen Tisch mit eingetütetem Beweismaterial. »Zwei Jahre alt, und wie das bei alten Zeitungen so ist, mit jeder Menge Fingerabdrücken, du kannst also die Handschuhe weglassen.«
Schwarz blätterte sie beim Gehen durch und setzte sich auf die untere Stufe der Steintreppe.
Der Artikel über Johnny Bondesson ging über zwei Seiten und bestand nach Art der Boulevardpresse hauptsächlich aus Fotos. Auf mehreren war Bondesson mit seiner einjährigen Tochter zu sehen, er hatte sie auf dem Schoß und machte ein bedrücktes Gesicht. Es hatte Probleme wegen der Personennummer des Mädchens gegeben, weil die verstorbene Mutter polnische Staatsbürgerin gewesen und Klara durch alle Raster gefallen war, als Johnny bei der Sozialbehörde Hilfe erbeten hatte.
Abgesehen von der tragischen familiären Situation ging es in dem Artikel um die prekären Verhältnisse in den schwedischen Haftanstalten, die sogar von Amnesty kritisiert worden waren, sowie um Bondessons Schicksal, der vom rechten Weg abgekommen war, sich dann aber zusammengerissen hatte. Er war clean und hatte es geschafft, seine kriminelle Laufbahn hinter sich zu lassen. Kein einziges Wort stand dort über das, was Schwarz eben in der Akte gelesen hatte. Johnny Bondesson hatte zu keinem Zeitpunkt weder mit den Drogen noch mit den Straftaten aufgehört. Ansonsten berichtete der Artikel einseitig darüber, wie furchtbar es war, wegen Mordes an der Mutter seiner Tochter verhaftet zu werden. Schließlich hatte Johnny ein Alibi. Dass er wegen Körperverletzung seiner früheren Freundinnen vorbestraft und in diesem Fall nur um Schamhaaresbreite einer Verurteilung entgangen war, wurde in dem Text komplett ausgeblendet.
Schwarz faltete die Zeitung zusammen und ging zu Jeanette, die zurückgelehnt auf einem Stuhl saß und sich entspannt mit Jeppe unterhielt.
»Okay, mir ist klar, dass alle, die hier wohnen, sich in stillschweigender Übereinkunft um ihren eigenen Kram kümmern und die anderen in Frieden lassen. Aber vielleicht können Sie mir trotzdem etwas über diesen Ort hier erzählen? Früher oder später kriegen wir’s ja doch raus, und so ersparen Sie uns etwas Zeit. W&W Bygg? Wer ist das?«
»Weiß nicht«, entgegnete Jeppe. »Aber zweimal am Tag kommen eine Frau und ein Mann vorbei. Morgens vor sieben, bevor die Bauarbeiter anfangen, Lärm zu machen, und wieder um sieben Uhr abends, wenn die Arbeiter Feierabend haben. Sie heißen Leif und Maggan.«
Schwarz setzte sich und schob Jeanette die Zeitung hinüber. Sie schlug den Artikel auf und begann zu lesen.
»Und Leif und Maggan waren vor drei Stunden hier?«, fragte er an Jeppe gewandt.
»Am Abend sehen sie nur nach, ob alles in Ordnung ist, aber morgens füllen sie immer den Kessel da drüben auf«, sagte er mit einer Geste zum Herd in der kleinen Küchennische. »Jeden Tag schütten sie wieder was auf den alten, immer gleichen Pamps. Manchmal bringt Maggan ein paar Äpfel mit.«
Schwarz hatte beim Reingehen einen Blick in den Kessel geworfen. Der braungraue Inhalt hatte ihn an das erinnert, was man beim Saubermachen vom Duschabfluss zutage fördert, nur ohne den widerlichen Geruch. Es hatte eher süßlich gerochen, ein bisschen nach Pfeffer und richtig viel Knoblauch.
»Die Alte behauptet, da wäre alles drin, was man so braucht, und dass sie uns damit was Gutes tut, aber das ist Bullshit und nur eine Entschuldigung dafür, dass sie uns noch mehr Geld abknöpfen kann.« Jeppe verstummte und kratzte sich am Arm. »Aber sonst ist sie eigentlich ganz nett. Es ist okay, mit Pfandgut zu zahlen, und als ich einmal nicht genug für die Miete hatte, hat sie ein Auge zugedrückt.«
Es raschelte, als Jeanette die Zeitung umblätterte. »Und was zahlen Sie, um hier wohnen zu dürfen?«
Jeppe lachte hohl. »Kommt auf den Standard an … Im Moment einen Hunderter für die untere Koje im Schuppen. All inclusive. Kein Streit, zentrale Lage und trotzdem ruhig. Viel privater als das Junggesellenhotel, von den Wohnheimen gar nicht zu reden.«
»Wir kommen auf dreißig Schlafplätze«, sagte Jeanette. »Hier sind aber nur dreizehn Personen, mit Johnny. Wo sind die anderen?«
»Keine Ahnung. Manche kommen erst spät her, manche gar nicht.«
Schwarz sah sich im Haus um. Oben gab es sechs Zimmer, weitere sechs Schlafplätze lagen im Erdgeschoss, plus zwei im Keller, einer davon im Heizraum. Mit dem Schuppen, dem Container und dem Campingwagen machte das siebzehn Zimmer in dem übelsten Hotel, das man sich nur vorstellen konnte. W&W Bygg war ein kreatives Unternehmen, das eine Nische für sich entdeckt hatte, die noch nicht von der Konkurrenz ins Visier genommen worden war. Das Null-Sterne-Hotel, dachte Schwarz, warf Jeanette einen Blick zu und wartete auf ihren nächsten Schritt.
»Alles klar, Jeppe«, sagte Jeanette und legte die Abendzeitung aus der Hand. »Es ist völlig in Ordnung, Prostituierte hierherzubringen, zu kiffen und zu feiern. Bis die Wohnblocks auf der Baustelle nebenan fertig sind, stören Sie hier ja niemanden.«
Schwarz sah Jeppe an, der noch immer grinste.
»Nein, ganz genau«, pflichtete Jeppe bei. »Ich kaufe allerdings keine Bräute, kriege Methadon auf Rezept und trinke nichts Hartes, nur Bier. Ich wohne hier, weil ich keine bessere Alternative habe … Aber wenn hier jetzt die Bullen rumstiefeln, muss ich mir wohl was Neues suchen.«
Jeanette riss ein Blatt aus ihrem Notizbuch und schrieb eine Telefonnummer auf. Sie reichte Jeppe den Zettel. »Rufen Sie hier an, und richten Sie viele Grüße von Kihlberg von der Polizei Stockholm aus. Ich glaube, da könnte es noch ein freies Bett für Sie geben.«
Jeppe wirkte eher verwirrt als dankbar. Er nahm den Zettel, kratzte sich im Bart und murmelte ein leises Danke.
»Wie gut kennen Sie eigentlich Rikard Stridh?«, wollte Jeanette wissen, blickte in seine Richtung, aber fixierte einen Punkt hinter ihm.
Eine Vernehmung mit so wenig Augenkontakt wie möglich zu führen war eine Technik, der Jeanette Kihlberg sich bisweilen bediente. Es ist schnell passiert, dass man sich von einem Lächeln, von Gesten oder Gebärden manipulieren lässt, wenn man es mit einem geschickten Lügner zu tun hat. Und genau wie jemand, der erblindet, mit der Zeit ein feineres Gehör entwickelt, kann man trainieren, Nuancen in Tonlage und Tonfall einer Stimme wahrzunehmen.
Oftmals diente Jeanette ihr Notizbuch als Ausrede, um in eine andere Richtung zu blicken.
»Sie dürfen nicht sagen, dass sie das von mir haben«, bat Jeppe, »aber Rikard und Johnny dealen mit Kokain, Crack und Heroin.«
Jeanette beobachtete sein Mienenspiel. Feine Zuckungen um die Mundwinkel, manchmal blinzelte er mit einem Auge und mit dem anderen nicht, und er grinste unmotiviert und häufig. Insgesamt konnten das Anzeichen für eine Lüge sein, aber in Jeppes Fall handelte es sich vermutlich um die Folgen des langjährigen Missbrauchs von Drogen und Alkohol.
»Wann haben Sie Rikard und Johnny denn zuletzt gesehen?«, fragte sie.
»Im Essraum … Gegen sieben.«
»Gegen sieben? Sie meinen heute Abend?«
»Japp. Sie haben sich unterhalten, geraucht und Wodka getrunken. Ich bin nur reingekommen, um den Wasserkanister aufzufüllen, und als ich wieder raus bin, saßen sie immer noch da.«
Jeanette hatte bereits von ähnlichen sogenannten Hotels wie diesem gehört, von diesen Schattengeschäften in verschiedenen Ausprägungen. Und einer internen Pressemitteilung zufolge, die sie vor einer Weile überflogen hatte, wurden rund einhundert solcher Geschäftsmodelle in und um Stockholm vermutet, viele davon in der Innenstadt. Ein Researcher war gegenwärtig damit befasst, die Eigentümer zu ermitteln, und Jeanette hoffte, dass die Aufnahmen der Überwachungskameras nicht gelöscht worden waren.
»Danke, Jeppe. Ich denke, wir sind fertig. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, melden Sie sich bei uns, ja?«
Er grinste wieder. »Sie fahren einen schwarzen SUV.«
»Wer denn?«
»Leif und Maggan.«
Offenbar hatte es, als die Grünfläche neben der Disponentenvilla noch Zaubergarten geheißen hatte, rund zehn Baumhäuser dort gegeben; ein Projekt, das die Kulturpolitiker ins Leben gerufen hatten, das jedoch vor ein paar Jahren gescheitert war.
Die letzte übrig gebliebene Behausung bot Raum auf zwei Mal zwei Metern, mit roten Wänden und weißen Eckpfeilern, wie ein traditionelles schwedisches Holzhäuschen. Die ganze Konstruktion war schief, eine wacklige Leiter führte zum Eingang. Das Mädchen mit dem gelben Pyjama schlief in der Bude, den Teddybären im Arm. Die sogenannte Vernehmungsspezialistin, die Frau, die mit Klara gesprochen hatte, stand neben dem Baum und machte ein bedrücktes Gesicht.
»Wir brauchen einen Vormund, vorübergehend«, meinte sie, als sie Jeanette entdeckte. »Ich habe den Sozialdienst schon angerufen, sie wollen sich wieder melden. Aber es bleibt die Frage, wo Klara die Nacht verbringen soll.« Die Frau schüttelte den Kopf. »Sie sagt kaum etwas und scheint, abgesehen von dem Kuscheltier, körperliche Berührung zu vermeiden. Möglicherweise ist sie traumatisiert, leicht autistisch oder beides, das weiß ich leider noch nicht. Aber wie auch immer, momentan habe ich ihr Schlaf verordnet.«
Körperliche Berührung vermeiden?, dachte Jeanette verwundert. Sie hatte gesehen, wie Schwarz Klaras Hand genommen und das Mädchen nichts dagegen gehabt hatte.
Sie warf einen Blick zum Haus. Schwarz unterhielt sich mit den Technikern, und Jeanette konnte die hochgewachsene Gestalt der Chef-Kriminaltechnikerin ausmachen. Es musste unerträglich heiß sein in den Schutzoveralls. Das Thermometer zeigte noch immer gut über zwanzig Grad.
Die Tür im Bretterzaun stand offen, draußen stand der Bereitschaftswagen der Kollegen, Rikard Stridh hinter den getönten Scheiben. Allem Anschein nach war er frustriert, weil er schon seit Stunden warten musste, ohne dass jemand ihn befragt hatte. Vorsichtshalber hatte Jeanette die Kollegen gebeten, die Klimaanlage auf »Isländischer Sommer« hochzuregeln, und sie vermutete, dass Stridh inzwischen aufgehört hatte zu schwitzen. Er konnte gerne noch eine Weile dort warten.
»Und, was sagen die Kriminaltechniker?«, erkundigte sie sich, als Schwarz auf sie zukam.
»Die Todesursache war ein Schuss ins Gesicht. Sie haben Spuren von Gewalteinwirkung und Schuhabdrücke im Schotter um den Toten herum gefunden. Drei verschiedene Profile.«
»Drei? Warum nicht zwei?«
»Drei, und zwei davon stammen von Sneakers, die in die Blutlache getreten sind. Das dritte Paar sind Johnnys abgelatschte Converse.«
Allmählich nahm für Jeanette das Bild des Geschehens konkrete Formen an. Hatte sie bisher ein Puzzle aus fünfhundert Teilen mit strahlend blauem Himmel und weiteren fünfhundert Teilen mit einem ebenso blauen Meer vor sich gehabt, hatte sie nun die Teile für die Horizontlinie gefunden und musste nur noch den Rest zusammensetzen.
Sie sah ihren Kollegen Schwarz an.
»Schwarz … Du hattest doch einen guten Draht zu dem Mädchen. Weck sie doch bitte und frag sie, warum ihr Vater heute so schnell wieder wegwollte.«
»Hältst du das wirklich für eine gute Idee? Die Kinderexpertin steht da drüben doch praktisch Wache.«
»Und frag sie, warum ihr Vater mit seiner Pistole rumgefuchtelt hat.«
Schwarz nickte, aber es war offensichtlich, dass er Jeanettes Aufforderung nur sehr widerstrebend nachkam. Bisweilen schien er rein aus Prinzip zu protestieren und sie infrage zu stellen, gelegentlich regelrecht starrköpfig. Und starrköpfige Menschen lebten oft in dem Irrglauben, sie seien Freidenker und schwömmen gegen den Strom, wobei sie tatsächlich vollkommen fremdgesteuert waren von dem, was die anderen dachten und meinten, da sie immer genau das Gegenteil davon kundtaten. Und genau so einer war Schwarz.
Jeanette seufzte und sah ein, wie kindisch es war, sich so über ihn aufzuregen. Das lenkte sie nur vom Wesentlichen ab.
Sie rief den Researcher im Präsidium an und hoffte, er könne ihr schon etwas mehr sagen über W&W Bygg als das, was auf der Homepage der Firma zu lesen war.
»Hej Jeanette«, meldete er sich. »Ich stelle gerade ein paar Fakten zusammen. Warte kurz.«
Während sie das Geklapper der Tastatur in der Leitung hörte, warf sie einen Blick Richtung Baumhaus. Die extra angeforderte Fachkraft stand mit verschränkten Armen neben Schwarz, der sich in die Öffnung beugte. Klara war aufgewacht, setzte sich mit dem Teddy im Arm auf und rieb sich die Augen.
»Es gibt ein Postfach«, fuhr der Kollege fort. »Aber interessanter dürfte die Firmenadresse in Salem sein, ein Luxusbungalow, der demselben Ehepaar gehört, Leif und Margareta Wettergren …« Er lachte auf. »Und jetzt halt dich fest … unter der Adresse sind vier weitere Firmen registriert, mit anderen Geschäftsführern. Im Fahrzeugregister sind zweiundzwanzig PKW und sechs Transporter gemeldet sowie neunzig Privatpersonen unter der Adresse als c/o noch dazu.«
»Neunzig?«
»Neunzig, ganz genau. Einer pro Quadratmeter, scheinbar. Das ist keine Seltenheit, und ich kann mir vorstellen, dass neunzig Leute nicht mal die Obergrenze sind.«