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Wie viel Schreckliches kann ein Mensch verkraften, eher er selbst zum Monster wird?
Stockholm. Ein Junge wird tot in einem Park gefunden. Sein Körper zeigt Zeichen schwersten Missbrauchs. Und es bleibt nicht bei der einen Leiche ... Auf der Suche nach dem Täter bittet Kommissarin Jeanette Kihlberg die Psychologin Sofia Zetterlund um Hilfe, bei der eines der Opfer in Therapie war. Ihr Spezialgebiet sind Menschen mit multiplen Persönlichkeiten. Eine andere Patientin Sofias ist Victoria Bergman, die unter einem schweren Trauma leidet. Sofia lässt der Gedanke nicht los, bei ihr irgendetwas übersehen zu haben. Schließlich müssen sich Jeanette und Sofia fragen: Wie viel Leid kann ein Mensch verkraften, eher er selbst zum Monster wird?
"Krähenmädchen" (Band 1 der Victoria-Bergman-Trilogie) ist im Juli 2014 erschienen.
"Narbenkind" (Band 2 der Victoria-Bergman-Trilogie) ist im September 2014 erschienen.
"Schattenschrei" (Band 3 der Victoria-Bergman-Trilogie) ist im November 2014 erschienen.
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Seitenzahl: 546
Buch
Kommissarin Jeanette Kihlberg leitet die Ermittlungen bei einer grausamen Mordserie: Über mehrere Monate werden in Stockholm immer wieder Jungenleichen gefunden, die Zeichen schwerster Misshandlung zeigen. Auf der Suche nach dem Täter nimmt Jeanette Kontakt zu der Psychologin Sofia Zetterlund auf, bei der eines der Opfer in Therapie war, und bittet sie um Hilfe. Sofias Spezialgebiet sind traumatisierte Menschen mit multiplen Persönlichkeiten. Eine zweite Klientin Sofias ist Victoria Bergman, die aufgrund einer traumatischen Kindheit bei ihr in Behandlung ist. Und auch im Zusammenhang mit den Ermittlungen taucht der Name Victoria Bergman immer wieder auf. Alles sieht aus, als wäre sie ein Opfer, das an irgendeinem Punkt im Leben zur Täterin wurde. Um diesen Verdacht zu bestätigen, müsste man sie allerdings erst einmal finden – denn Victoria scheint seit etwa zwanzig Jahren spurlos verschwunden zu sein …
Autor
Erik Axl Sund ist das Pseudonym des schwedischen Autorenduos Jerker Eriksson und Håkan Axlander Sundquist. Håkan ist Tontechniker, Musiker und Künstler. Jerker ist der Producer von Håkans Elektropunkband »iloveyoubaby!« und arbeitet zurzeit als Bibliothekar in einem Gefängnis. Zusammen haben sie drei Romane geschrieben: die Victoria-Bergman-Trilogie, für die sie 2012 mit dem Special Award der Schwedischen Krimiakademie ausgezeichnet wurden.
Die Victoria-Bergman-Trilogie:
Krähenmädchen (Band 1)
Narbenkind (Band 2, erscheint Mitte September 2014)
Schattenschrei (Band 3, erscheint Mitte November 2014)
(alle auch als E-Book erhältlich)
Erik Axl Sund
Krähenmädchen
Psychothriller
Aus dem Schwedischenvon Wibke Kuhn
Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel »Kråkflickan«bei Ordupplaget, Stockholm.Zitat von Martinson, Harry: Die Nesseln blühen. Deutsch von Klaus Möllmann. HinstorffVerlag, Rostock 1967.
Zitat von Ishmael Beah: Rückkehr ins Leben. Ich war Kindersoldat. Deutsch von Conny Lösch. Campus Verlag, Frankfurt a.M. 2007.
Zitat von Lou Reed: Coney Island Baby, RCA [New York City] 1975.
Zitat von Archilochos aus: Griechische und Römische Lyrik[in klassischen und neuen Übersetzungen]. Hg. v. Hans Kleinstück, Dt. v. Manfred Hausmann. Standard-Verlag, Hamburg 1958.
Taschenbuchausgabe August 2014Copyright © der Originalausgabe 2010 by Erik Axl SundCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHPublished by agreement with Salomonsson AgencyUmschlaggestaltung: UNO Werbeagentur MünchenUmschlagmotiv: FinePic®, München und gettyimages/Chris CloseRedaktion: Leena FleglerAG · Herstellung: Str.Satz: DTP Service Apel, HannoverISBN 978-3-641-14166-0www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz
Zur Erinnerung an eine Schwester
Dunkel ist unser Leben. Groß unsere angeborene Enttäuschung – die bewirkt, dass überhaupt so viele Märchen in Skandinaviens Wäldern blühen. Düster verkohlt der Hungerbrand unseres Herzens. Viele werden zu Wächtern am Meiler ihres eigenen Herzens; legen im Siechtum ihrer Verträumtheit das Ohr heran und hören, wie ihr Herz rauschend verbrennt.
Harry Martinson: Die Nesseln blühen
Das Haus
war über hundert Jahre alt, und die massiven Steinwände waren meterdick, was bedeutete, dass sie sie wahrscheinlich gar nicht zu isolieren brauchte, aber sie wollte lieber auf Nummer sicher gehen.
Links vom Wohnzimmer lagen ein kleines Eckzimmer, das sie immer als kombiniertes Arbeits- und Gästezimmer benutzt hatte, die dazugehörige Toilette sowie ein kleines Ankleidezimmer.
Der Raum war absolut perfekt. Ein einziges Fenster und darüber der ungenutzte Dachboden.
Jetzt war endlich Schluss mit der Beiläufigkeit und damit, immer alles für selbstverständlich zu nehmen.
Nichts durfte mehr dem Zufall überlassen bleiben. Der Zufall war ein heimtückischer Begleiter. Manchmal ein Freund, aber genauso oft ein unberechenbarer Feind.
Die Esszimmermöbel
schob sie an die Wand, sodass in der Wohnzimmermitte eine große Fläche frei wurde.
Dann musste sie nur noch abwarten.
Wie vereinbart kam die erste Lieferung Styropor um zehn Uhr und wurde von vier Männern ins Haus getragen. Drei von ihnen waren über fünfzig, der vierte war knapp zwanzig. Er hatte einen kahl rasierten Schädel und trug ein schwarzes T-Shirt mit zwei gekreuzten schwedischen Flaggen auf der Brust, über denen der Schriftzug Mein Vaterland prangte. Auf die Ellbogen hatte er sich Spinnweben tätowieren lassen und auf die Handgelenke irgendein steinzeitliches Motiv.
Als sie wieder allein war, setzte sie sich aufs Sofa und begann mit der Planung. Sie beschloss, mit dem Boden anzufangen. Das war das Einzige, was möglicherweise bedeutsam werden konnte. Das alte Paar, das unter ihr wohnte, war zwar fast taub, und sie selbst hatte im Laufe der Jahre nie auch nur einen Ton von ihnen gehört, trotzdem war es ein wichtiges Detail.
Sie ging ins Schlafzimmer.
Der kleine Junge schlief immer noch tief und fest.
Es war eigenartig gewesen, wie sie ihn in dem Regionalzug getroffen hatte. Er hatte einfach ihre Hand ergriffen, war aufgestanden und mit ihr gegangen, ohne dass sie ein Wort hatte sagen müssen.
Es war wie vorherbestimmt gewesen, dass er es sein würde. Diese unmittelbare Selbstverständlichkeit – wie bei einer Frau, die ein Kind zur Welt bringt und weiß, dass es ihr eigenes ist.
Sie hatte den Schüler gefunden, den sie gesucht hatte, das Kind, das sie nie hatte bekommen können.
Sie legte ihm die Hand auf die Stirn, stellte fest, dass sein Fieber gesunken war, und fühlte seinen Puls.
Alles war, wie es sein sollte.
Sie hatte die richtige Dosis Morphium gewählt.
Das Arbeitszimmer
war mit dickem weißen Teppichboden ausgelegt, den sie immer für hässlich und unhygienisch gehalten hatte, obwohl er sich gut anfühlte, wenn man darüberging. Doch jetzt erwies er sich als geradezu ideal für ihr Vorhaben.
Mit einem scharfen Messer schnitt sie das Styropor zu und klebte die Stücke mit einer dicken Schicht Bodenkleber aneinander.
Es dauerte nicht lange, und ihr wurde übel von dem starken Geruch. Sie musste das Fenster zur Straße aufmachen, ein Dreifachfenster mit besonders schalldichtem Isolierglas an der Außenseite.
Der Zufall als Freund.
Sie musste lächeln.
Die Arbeit am Boden nahm den ganzen Tag in Anspruch. In regelmäßigen Abständen ging sie nach nebenan, um nach dem Jungen zu sehen.
Als der Boden fertig war, deckte sie sämtliche Fugen mit Bühnenklebeband ab.
An den folgenden drei Tagen waren die Wände dran. Am Freitag war nur noch die Decke übrig, die allerdings ein bisschen mehr Zeit beanspruchte, weil sie das Styropor erst verkleben und dann die ganze Platte mithilfe von Brettern hinaufstemmen musste.
Während der Kleber trocknete, nagelte sie ein paar alte Decken an die Türrahmen, aus denen sie zuvor die Türen ausgehängt hatte. Über die Wohnzimmertür klebte sie vier Schichten Styropor, die den fast einen halben Meter tiefen Türstock ausfüllen würden.
Dann nahm sie ein altes Laken und hängte damit das Fenster zu. Den Fensterstock füllte sie zur Sicherheit mit einer doppelten Isolierschicht. Als das Zimmer fertig war, verkleidete sie Boden und Wände mit einer wasserabweisenden Plane.
Die Arbeit hatte etwas Meditatives, und als sie sich schließlich hinsetzte und ihr Werk betrachtete, empfand sie Stolz.
Das Zimmer
wurde im Laufe der folgenden Woche zunehmend optimiert. Sie kaufte vier kleine Gummirädchen, einen Haken, zehn Meter Stromkabel, ein paar Meter Holzleisten, eine einfache Lampe und einen Karton Glühbirnen. Sie bestellte ein Hantelset, eine Stange mit Gewichten und einen einfachen Heimtrainer.
Sie räumte sämtliche Bücher aus einem der Regale im Wohnzimmer, legte das Regal auf den Boden und schraubte die Rädchen an die Unterseite, eines in jede Ecke. Unten an der Vorderseite befestigte sie eine Holzleiste, die die Räder verbarg. Anschließend rollte sie das Regal vor die Tür zu dem Zimmer, das jetzt perfekt versteckt war.
Sie schraubte das Bücherregal an der Tür fest und öffnete sie testweise. Auf den kleinen Rollen glitt sie lautlos auf. Einwandfrei. Sie montierte den Haken, verschloss damit die Tür und stellte noch eine Bodenlampe als Sichtschutz davor.
Zum Schluss räumte sie die Bücher wieder ein und holte dann eine dünne Matratze von einem der zwei Betten im Schlafzimmer.
Am Abend trug sie den schlafenden Jungen in sein neues Zuhause.
Gamla Enskede
Das Bemerkenswerte war nicht, dass der Junge tot war, sondern dass er überhaupt noch so lange gelebt hatte. Die Zahl seiner Verletzungen und deren Schwere legten nahe, dass er wesentlich früher als zu dem vorläufig angenommenen Todeszeitpunkt hätte sterben müssen. Doch irgendetwas hatte ihn am Leben gehalten zu einem Zeitpunkt, da ein normaler Mensch längst aufgegeben hätte.
Davon wusste Kriminalkommissarin Jeanette Kihlberg allerdings noch nichts, als sie rückwärts aus der Garage fuhr.
Außerdem war sie sich nicht darüber im Klaren, dass dieser Fall sich als das erste in einer ganzen Reihe von Ereignissen erweisen würde, die entscheidenden Einfluss auf ihr Leben nehmen sollten.
Sie sah Åke am Küchenfenster stehen und winkte, doch er telefonierte gerade und sah sie nicht. Am Vormittag würde er die übliche Ladung verschwitzter Pullis, dreckiger Strümpfe und schmutziger Unterwäsche waschen. Mit einer Frau und einem Sohn, die beide begeisterte Fußballspieler waren, war es gang und gäbe, die alte Waschmaschine mindestens fünfmal in der Woche bis an die Belastungsgrenze zu treiben.
Sobald die Maschine lief, würde er in sein kleines Atelier auf dem Dachboden gehen. Dort würde er weiter an einem seiner vielen unvollendeten Ölgemälde arbeiten, an denen er unablässig herumwerkelte. Er war ein Romantiker, ein Träumer, der sich schwertat, einmal Angefangenes auch abzuschließen, und Jeanette hatte ihn schon mehrmals bedrängt, mit einem der Galeristen Kontakt aufzunehmen, die tatsächlich Interesse an seiner Arbeit gezeigt hatten. Doch er winkte immer nur ab mit der Begründung, dass er noch nicht ganz fertig sei. Noch nicht ganz, aber bald.
Und dann würde alles anders werden. Dann würde er den großen Durchbruch erleben, das Geld würde nur so hereinströmen, und sie könnten endlich all ihre Träume verwirklichen. Von der Renovierung des Hauses bis zu ihren Traumreisen.
Nach fast zwanzig Jahren hatte sie allmählich begonnen, daran zu zweifeln, dass dies je geschehen würde.
Als sie auf den Nynäsvägen hinausfuhr, hörte sie ein besorgniserregendes Rattern vom linken Hinterrad. Obwohl ihr Sachverstand, wenn es um Autos ging, äußerst beschränkt war, wusste sie sofort, dass mit dem alten Audi irgendetwas nicht stimmte und dass sie ihn wohl wieder in die Werkstatt bringen musste. Und aus Erfahrung wusste sie auch, dass die Reparatur nicht billig werden würde, obwohl der Serbe am Bolidenplan ebenso tüchtig wie günstig war. Erst tags zuvor hatte sie ihr Sparkonto geplündert, um die anstehende Rate für ihr Haus zu begleichen, die mit geradezu sadistischer Pünktlichkeit einmal im Quartal fällig wurde, und sie hoffte, dass man ihr das Auto dieses Mal auf Kredit wieder flottmachen würde. Es wäre ja nicht das erste Mal.
Das energische Vibrieren in ihrer Jackentasche und die Klänge von Beethovens neunter Symphonie ließen sie fast von der Straße abkommen und über den Gehweg fahren.
»Jepp, Kihlberg?«
»Hallo, Janne, wir haben hier was am Thorildsplan.« Es war die Stimme ihres Kollegen Jens Hurtig. »Wir müssen sofort dorthin. Wo bist du gerade?«
Für einen Moment hatte sie einen unschönen Pfeifton im Ohr, und sie musste das Handy ein Stück weghalten, um sich keinen Gehörschaden einzuhandeln.
Sie hasste es wie die Pest, wenn irgendjemand sie Janne nannte, und ihre Gereiztheit stieg. Dieser Spitzname war vor drei Jahren als Witz auf einer Betriebsfeier aufgekommen, hatte sich dann aber mit der Zeit in der gesamten Polizeistation auf Kungsholmen eingebürgert.
»Ich bin auf der Höhe von Årsta und biege gerade auf den Essingeleden. Was ist passiert?«
»Im Gebüsch bei der U-Bahn in der Nähe der Pädagogischen Hochschule haben sie einen toten Jungen gefunden, und Billing möchte, dass du so schnell wie möglich hinfährst. Er klang furchtbar aufgeregt. Es deutet wohl alles auf Mord hin.«
Jeanette Kihlberg hörte, wie das Rattern lauter wurde, und überlegte kurz, ob sie am Straßenrand anhalten, einen Abschleppwagen für ihr Auto und dann eine Fahrgelegenheit für sich selbst rufen sollte.
»Wenn dieses verdammte Auto bis dahin nicht auseinandergefallen ist, bin ich in fünf bis zehn Minuten dort, und ich möchte, dass du auch hinkommst.«
Das Auto kam ins Schlingern, und Jeanette wechselte zur Sicherheit auf die rechte Spur.
»Selbstverständlich. Ich fahr sofort los, bin wahrscheinlich noch vor dir da.«
Ein toter Junge in einem Gebüsch – das klang für Jeanette eher nach einer Schlägerei, die aus dem Ruder gelaufen war und die eine Anzeige wegen Totschlags zur Folge haben würde.
Mord, dachte sie, als ihr Lenkrad zu ruckeln begann. Mord – das ist eine Frau, die in den eigenen vier Wänden von ihrem eifersüchtigen Mann erschlagen wird, nachdem sie ihm mitgeteilt hat, dass sie sich von ihm scheiden lassen will.
Normalerweise jedenfalls.
Andererseits hatten sich die Zeiten tatsächlich geändert, und was sie damals auf der Polizeihochschule gelernt hatte, war nicht mehr nur altmodisch, sondern mittlerweile in Teilen sogar falsch. Die Ermittlungsmethoden hatten sich verändert, und die Polizeiarbeit gestaltete sich heutzutage in vielerlei Hinsicht schwieriger als noch vor zwanzig Jahren.
Jeanette konnte sich noch gut an ihre erste Zeit im Streifenwagen erinnern. Die Nähe zu den ganz normalen Bürgern. Wie die Allgemeinheit noch mithalf und vor allem Vertrauen in die Polizei hatte. Heutzutage meldeten die Menschen Einbrüche nur noch, weil es die Versicherung von ihnen verlangte, dachte sie. Niemand tat es, weil er hoffte, dass das Verbrechen auch wirklich aufgeklärt würde.
Was hatte sie sich eigentlich erwartet, als sie ihre Ausbildung zur Sozialarbeiterin abbrach und beschloss, Polizistin zu werden? Dass sie irgendetwas würde verändern können? Helfen? Das hatte sie jedenfalls zu ihrem Vater gesagt, als sie ihm stolz die Zusage von der Polizeischule hingehalten hatte. Ja, das war es gewesen. Sie hatte sich zwischen jene stellen wollen, denen Schlimmes angetan wurde, und diejenigen, die Schlimmes taten.
Sie wollte ein wahrhafter Mensch sein.
Und das war man als Polizist.
In ihrer Kindheit hatte sie immer dagesessen und fast schon andächtig zugehört, wenn ihr Vater und ihr Großvater von ihrer Arbeit bei der Polizei erzählten. Egal ob am Mittsommerabend oder Karfreitag, die Gespräche am Abendbrottisch hatten immer von skrupellosen Bankräubern, gewitzten Gaunern und hinterhältigen Betrügern gehandelt. Anekdoten und Erinnerungen von der dunklen Seite des Lebens.
So wie der Duft des Weihnachtsschinkens Vorfreude wachrief, hatte ihr das Gemurmel der Männer im Wohnzimmer ein Gefühl von Geborgenheit eingeflößt.
Bei der Erinnerung an Großvaters Desinteresse oder vielmehr Skepsis gegenüber neuen technischen Hilfsmitteln musste sie lächeln. Einmal hatte er behauptet, dass dieser DNA-Test doch nur eine kurzlebige Modeerscheinung sei. Inzwischen setzte man Kabelbinder statt Handschellen ein, um die Arbeit zu vereinfachen.
Aber bei der Polizeiarbeit ging es darum, etwas zu bewirken, dachte sie, und nicht zu vereinfachen. Die Arbeit musste sich nun mal den veränderten gesellschaftlichen Umständen anpassen.
Ein Polizist musste helfen, sich wirklich um Dinge kümmern wollen. Nicht hinter getönten Scheiben in einem kugelsicheren Einsatzwagen sitzen und mutlos hinausstarren.
Thorildsplan
Ivo Andrić war auf ungeklärte gewaltsame Todesfälle spezialisiert. Ursprünglich stammte er aus Bosnien und war während der fast vierjährigen serbischen Belagerung Arzt in Sarajevo gewesen, wo er so viel Erfahrung mit toten Kindern gesammelt hatte, dass er sich manchmal wünschte, er wäre niemals Rechtsmediziner geworden.
In Sarajevo waren fast zweitausend Kinder unter vierzehn Jahren getötet worden. Zwei davon waren seine eigenen Töchter gewesen. Nicht selten dachte er darüber nach, wie sein Leben wohl verlaufen wäre, wenn er in seinem Heimatort in der Nähe von Prozor geblieben wäre. Aber für solche Überlegungen war es zu spät. Die Serben hatten den Hof niedergebrannt und seine Eltern und drei Brüder ermordet.
Die Polizei Stockholm hatte ihn frühmorgens angerufen, und da man den Bereich um die U-Bahn-Station nicht länger als notwendig absperren wollte, musste er so schnell wie möglich mit seiner Arbeit fertig werden.
Er trat näher an den toten Jungen heran und beugte sich über ihn. Er sah ausländisch aus. Araber, Palästinenser, vielleicht sogar Inder oder Pakistani.
Zweifelsohne war er schwer misshandelt worden, aber seltsamerweise fehlten die üblichen Anzeichen von Gegenwehr. Die blauen Flecke und Blutergüsse erinnerten eher an die Verletzungen eines Boxers – eines Boxers, der sich nicht hatte verteidigen können, der aber trotzdem zwölf Runden durchgestanden und so viel Prügel eingesteckt hatte, dass er am Ende bewusstlos zu Boden gegangen war.
Die Untersuchung des Tatorts wurde zusätzlich erschwert durch die Tatsache, dass der Tod offenkundig nicht am Leichenfundort eingetreten war, sondern irgendwo anders, und zwar schon vor geraumer Zeit. Der Körper lag nur wenige Meter entfernt von der Treppe zur U-Bahn am Thorildsplan auf Kungsholmen in einem Gebüsch und war so gut sichtbar, dass er nicht lange hatte unentdeckt bleiben können.
Der Flughafen
war genauso grau und kalt wie der Wintermorgen. Er kam mit Air China in ein Land, von dem er noch nie gehört hatte. Er wusste, dass schon mehrere Hundert Kinder vor ihm die gleiche Reise gemacht hatten, und genau wie sie hatte auch er eine gut einstudierte Geschichte parat, die er den Polizisten bei der Passkontrolle erzählen musste. Ohne zu stocken, rasselte er diese Geschichte herunter, die er monatelang immer wieder hatte aufsagen müssen, bis er sie in- und auswendig kannte.
Er hatte beim Bau einer der großen Olympia-Arenen mitgearbeitet und Ziegelsteine und Mörtel geschleppt. Sein Onkel, ein armer Arbeiter, hatte ihm die Wohnung gestellt, aber nachdem dieser sich schwer verletzt hatte und im Krankenhaus gelandet war, hatte es niemanden mehr gegeben, der sich um den Jungen hätte kümmern können. Seine Eltern waren tot, und er hatte weder Geschwister noch andere Verwandte, an die er sich wenden konnte.
Beim Verhör durch die Einwanderungsbeamten erzählte er, wie sein Onkel und er wie Sklaven behandelt worden seien, unter Verhältnissen, die man nur mit dem Apartheidsystem vergleichen konnte. Dass er fünf Monate auf dem Bau gearbeitet und doch nie damit habe rechnen dürfen, jemals vollwertiger Bürger der Stadt zu werden.
Nach dem alten Hukou-System sei er in seiner weit entfernten Heimatstadt registriert und daher so gut wie rechtlos dort, wo er nun wohnte und arbeitete. Aus diesem Grund habe er schließlich nach Schweden fliehen müssen, wo seine einzigen noch lebenden Verwandten wohnten. Wo genau, wisse er nicht, aber nach Angaben seines Onkels hatten sie versprochen, Kontakt mit ihm aufzunehmen, sobald er angekommen war.
Hier, in diesem neuen Land, besaß er nur die Kleider, die er am Leib trug, ein Handy und fünfzig US-Dollar. Auf dem Handy waren weder Nummern gespeichert noch irgendwelche SMS oder Fotos, die etwas über ihn hätten verraten können.
Tatsächlich war das Telefon brandneu und unbenutzt.
Wovon er den Polizisten allerdings nicht erzählte, war die Telefonnummer, die er auf einen Zettel geschrieben und in seinem linken Schuh versteckt hatte. Eine Nummer, die er wählen sollte, sobald es ihm gelungen war, aus dem Auffanglager zu fliehen.
Das Land,
in das er gekommen war, hatte keinerlei Ähnlichkeit mit China. Alles war so sauber und so leer. Als die Vernehmung vorbei war und er in Begleitung von zwei Polizisten durch die verlassenen Flure des Flugplatzes ging, fragte er sich, ob es wohl überall in Europa so aussah.
Der Mann, der ihn mit der Geschichte, der Telefonnummer sowie mit Geld und Handy versorgt hatte, hatte ihm erzählt, dass er in den vergangenen vier Jahren mehr als siebzig Kinder erfolgreich in verschiedene Teile Europas geschleust habe.
Er hatte gesagt, dass die meisten Kontakte zu einem Land namens Belgien vorhanden seien, wo man das ganz große Geld verdienen könne. Die Arbeit bestand darin, reiche Menschen zu bedienen, und wenn man nur pflichtbewusst und diskret war, konnte man dort auch selbst reich werden. Doch Belgien war riskant, dort musste man stets unsichtbar bleiben.
Sich niemals außerhalb des Hauses zeigen.
Schweden war da sicherer. Dort arbeitete man in der Regel in irgendeinem Restaurant und konnte sich viel freier bewegen. Dort wurde man zwar nicht so gut bezahlt, aber wenn man Glück hatte, konnte man auch dort viel Geld verdienen, je nachdem, welche Dienste gerade benötigt wurden.
Und es gab Menschen in Schweden, die das Gleiche wollten wie die Menschen in Belgien.
Das Lager
war nicht besonders weit entfernt vom Flughafen, und er wurde in einem Fahrzeug der Zivilpolizei dorthingefahren. Er blieb über Nacht und musste sich das Zimmer mit einem schwarzen Jungen teilen, der weder Chinesisch noch Englisch sprach.
Die Matratze, auf der er schlief, war sauber, auch wenn sie ein wenig muffig roch.
Gleich am nächsten Tag rief er die Nummer auf dem Zettel an, und eine Frauenstimme erklärte ihm, wie er zum Bahnhof kam, um dort den Zug nach Stockholm zu besteigen. Sobald er Stockholm erreicht habe, solle er noch einmal anrufen und bekomme dann weitere Anweisungen.
Der Zug
war warm und gemütlich. Schnell und nahezu geräuschlos fuhr er ihn durch eine Stadt, in der alles weiß vom Schnee war. Aber ob es nun Zufall war oder ob sein Schicksal es anders gewollt hatte: Er kam nie am Stockholmer Hauptbahnhof an.
Nach ein paar Haltestellen nahm eine schöne blonde Frau gegenüber von ihm Platz und schaute ihn lange an. Er ahnte, dass sie ihm ansah, dass er allein war. Nicht nur allein in diesem Zug, sondern allein auf der ganzen weiten Welt.
Bei der nächsten Haltestelle stand die blonde Frau auf und nahm ihn bei der Hand. Mit einem Nicken deutete sie auf den Ausgang. Er protestierte nicht. Es war, als hätte ein Engel ihn berührt, und er folgte ihr wie in Trance.
Sie nahmen ein Taxi und durchquerten die Stadt. Er sah, dass sie von Wasser umgeben war, und er fand sie schön. Es herrschte nicht annähernd so viel Verkehr wie zu Hause. Es war sauberer, und wahrscheinlich konnte man hier auch freier atmen.
Er dachte über sein Schicksal nach und über den Zufall und überlegte einen Augenblick, warum er mit ihr hier saß. Aber als sie sich zu ihm umwandte und ihn anlächelte, dachte er nicht weiter nach.
Zu Hause hatten ihn immer alle gefragt, was er gut konnte, und sie hatten seine Arme betastet, um zu fühlen, ob er kräftig genug war. Und sie hatten ihm Fragen gestellt, die er vorgegeben hatte zu verstehen.
Sie hatten immerzu gezweifelt. Um sich am Ende vielleicht doch für ihn zu entscheiden.
Aber sie hatte ihn ausgesucht, ohne dass er etwas für sie getan hatte, und so etwas war ihm noch mit keinem Menschen passiert.
Das Zimmer,
in das sie ihn brachte, war weiß, und es stand ein großes, breites Bett darin. Sie legte ihn hin und gab ihm etwas Warmes zu trinken. Es schmeckte fast wie der Tee zu Hause, und er schlief ein, noch ehe er die Tasse ganz geleert hatte.
Als er aufwachte, wusste er nicht, wie lange er geschlafen hatte, aber er sah, dass er jetzt in einem anderen Zimmer lag. Das neue Zimmer hatte kein Fenster und war ganz mit Plastik ausgekleidet.
Als er aufstand, um zur Tür zu gehen, entdeckte er, dass der Boden weich war und federte. Er fasste an die Klinke, aber die Tür war abgeschlossen. Seine Kleider und sein Telefon waren verschwunden.
Nackt legte er sich auf die Matratze und schlief wieder ein.
Dieses Zimmer würde also seine neue Welt werden.
Thorildsplan
Jeanette spürte, wie das Lenkrad nach rechts zog, und sie musste kräftig gegensteuern, um weiter geradeaus fahren zu können. Den letzten Kilometer legte sie mit Tempo sechzig zurück, und als sie an der U-Bahn-Station am Drottningholmsvägen einbog, ahnte sie, dass das fünfzehn Jahre alte Auto nun wohl endgültig den Geist aufgeben würde.
Sie stellte den Wagen ab und ging zu der Absperrung hinüber, wo sie Hurtig entdeckte: einen Kopf größer als alle anderen, skandinavisch blond, kräftig, aber nicht dick.
Nach fast vierjähriger Zusammenarbeit hatte Jeanette gelernt, seine Körpersprache zu deuten. Er sah beunruhigt aus, fast schon gequält. Doch als er sie sah, hellte sich seine Miene auf, er kam ihr entgegen und hielt das Absperrband hoch, damit sie darunter durchgehen konnte.
»Dein Auto hat es also noch geschafft, wie ich sehe.« Er grinste. »Ich verstehe nicht, wie du es immer noch mit dieser alten Schüssel aushältst.«
»Ich auch nicht. Verschaff mir eine Gehaltserhöhung, und ich kauf mir ein kleines Mercedes-Cabrio, in dem ich dann durch die Gegend kutschieren kann.«
Wenn Åke nur einen anständigen Job mit anständiger Bezahlung hätte, könnte sie sich auch ein anständiges Auto leisten, dachte sie, während sie Hurtig auf das abgesperrte Gelände folgte.
»Haben wir Reifenspuren?«, fragte sie eine der zwei Kriminaltechnikerinnen, die in der Hocke auf dem Kiesweg saßen.
»Ja, und zwar gleich mehrere verschiedene«, antwortete die eine und blickte auf. »Einige stammen vermutlich von den Reinigungsfahrzeugen, mit denen sie hier herumfahren, wenn sie die Papierkörbe leeren. Aber ein paar stammen auch von schmaleren Reifen.«
Mit ihrem Eintreffen am Tatort war Jeanette die ranghöchste Polizistin vor Ort und damit offiziell für die Untersuchung verantwortlich.
Am Abend würde sie ihrem Vorgesetzten, Polizeichef Dennis Billing, Bericht erstatten, und dieser wiederum würde Staatsanwalt von Kwist informieren. Gemeinsam würden die beiden Männer unabhängig von Jeanettes Meinung über das weitere Vorgehen entscheiden. So sah es die Hierarchie nun mal vor.
Jeanette wandte sich an Hurtig. »Okay, schieß los. Wer hat ihn gefunden?«
Hurtig zuckte mit den Schultern. »Das wissen wir nicht.«
»Wie – das wissen wir nicht?«
»Die Zentrale hat einen anonymen Anruf bekommen, vor …« – er warf einen Blick auf seine Armbanduhr – »vor knapp drei Stunden. Der Anrufer hat nur gesagt, dass hier am Eingang zur U-Bahn ein toter Junge liegt. Das war alles.«
»Aber das Gespräch wurde doch aufgezeichnet, oder?«
»Natürlich.«
»Und warum hat es so lange gedauert, bis wir benachrichtigt wurden?« Jeanette spürte erneut einen Anflug von Gereiztheit.
»In der Notrufzentrale dachten sie im ersten Moment, dass das Ganze ein Scherz wäre, weil der Anrufer betrunken klang. Er hatte eine undeutliche Aussprache, und … Wie haben sie es formuliert? Er klang nicht glaubwürdig.«
»Haben sie den Anruf zurückverfolgt?«
Hurtig verdrehte die Augen. »Eine nicht registrierte Prepaidkarte.«
»Scheiße.«
»Aber wir sollten bald Bescheid bekommen, von wo aus der Anruf kam.«
»Gut. Wenn wir zurück im Präsidium sind, hören wir uns die Aufnahme gleich an.«
Jeanette ging von einem Kollegen zum anderen, ließ sich über den Stand der Dinge informieren und darüber, ob jemand irgendetwas Interessantes gefunden hatte.
»Was ist mit Zeugen? Hat jemand was gehört oder gesehen?«
Sie sah sich auffordernd um, aber die rangniederen Polizisten schüttelten nur die Köpfe.
»Irgendjemand muss den Jungen doch hierhergefahren haben«, versuchte es Jeanette erneut. Sie wusste, dass ihre Arbeit wesentlich erschwert würde, wenn sie nicht in den nächsten Stunden zumindest ein paar Spuren fänden. »Mit einer Leiche nimmt man wohl kaum die U-Bahn. Ich will trotzdem Kopien von den Aufnahmen der Überwachungskameras.«
Hurtig stellte sich neben sie. »Ich hab schon jemanden damit beauftragt. Heute Abend sind die Aufnahmen da.«
»Gut. Da die Leiche wahrscheinlich mit einem Auto hierhertransportiert wurde, hätte ich gern eine Liste von allen, die in den letzten Tagen die Mautstellen passiert haben.«
»Selbstverständlich«, antwortete Hurtig, zückte sein Handy und trat ein Stückchen beiseite. »Ich sorge dafür, dass wir die so schnell wie möglich kriegen.«
»Sekunde, ich bin noch nicht fertig. Es besteht natürlich auch die Möglichkeit, dass der Körper getragen oder mit einem Lastenfahrrad oder so hierhertransportiert wurde. Frag mal bei der Hochschule nach, ob die dort Überwachungskameras haben.«
Hurtig nickte und stapfte davon.
Jeanette seufzte und wandte sich an die Kriminaltechnikerin, die den Boden um das Gebüsch absuchte. »Irgendwas Auffälliges?«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Es gibt natürlich Fußspuren, und wir sichern ein paar von den besten Abdrücken. Aber ich würde mir keine allzu großen Hoffnungen machen.«
Langsam näherte sich Jeanette dem Busch, unter dem man die Leiche in einem schwarzen Müllsack gefunden hatte. Der Junge war nackt. Sein Körper war in gehockter Position mit um die Knie geschlungenen Armen erstarrt. Seine Hände waren mit silberfarbenem Klebeband gefesselt. Seine Gesichtshaut hatte eine gelbbraune Tönung und eine ledrige Struktur angenommen, die an Pergament erinnerte. Seine Hände hingegen waren fast schwarz.
»Irgendwelche Anzeichen von sexueller Gewalt?« Sie wandte sich an Ivo Andrić, der vor ihr in die Hocke gegangen war.
»Das kann ich noch nicht sagen. Aber es ist nicht auszuschließen. Ich will keine voreiligen Schlüsse ziehen, aber es wäre ungewöhnlich bei dieser Art von schweren Verletzungen, wenn es nicht auch zu sexueller Gewalt gekommen wäre.«
Jeanette nickte.
Die Polizei hatte versucht, den Tatort mit Gittern und Planen abzusperren, so gut es ging, doch das Gelände war hügelig, sodass man es von oben einsehen konnte, wenn man nur ein Stückchen weiterging. Mehrere Fotografen mit langen Teleobjektiven liefen außerhalb der Absperrung herum, und Jeanette hatte fast schon Mitleid mit ihnen. Sie lebten vierundzwanzig Stunden am Tag mit dem Polizeifunk, lauerten und warteten nur darauf, dass irgendetwas Spektakuläres passierte.
Journalisten sah sie jedoch nicht. Die Zeitungen konnten es sich wohl nicht mehr leisten, für derlei Vorkommnisse Leute abzustellen.
»Himmel, Andrić«, sagte einer der Polizisten und schüttelte den Kopf. »Wie ist denn so was möglich?«
Die Leiche war größtenteils mumifiziert, woraus Ivo Andrić den Schluss zog, dass sie lange an einem sehr trockenen Ort aufbewahrt worden sein musste und daher nicht im matschigen Stockholmer Winter im Freien gelegen haben konnte.
»Tja, Schwarz«, antwortete er und blickte auf. »Wir werden versuchen, genau das herauszufinden.«
»Verdammt, Mann, der Junge ist doch mumifiziert! Wie so’n Scheißpharao! So was passiert doch nicht während der Kaffeepause! Auf Discovery hab ich mal gesehen, wie sie diesen Kerl untersucht haben, der in den Alpen gefunden wurde, Ötzi oder wie immer der hieß.«
Ivo Andrić nickte zustimmend.
»Und den, den sie irgendwo im Süden im Sumpf gefunden haben.«
»Den Bockstensmann meinst du.« Allmählich ging ihm Schwarz’ Geschwätz auf die Nerven. »Aber jetzt musst du mich ein bisschen arbeiten lassen, sonst kommen wir hier nicht weiter«, sagte er, bereute es aber bereits im nächsten Moment, den Kollegen so abgefertigt zu haben.
»Könnte schwierig werden«, fuhr Schwarz fort. »Du weißt ja selbst, so eine Rabatte ist voll Hundescheiße und Müll. Und selbst wenn ein Teil der Abfälle vom Täter stammen sollte – woher sollen wir denn wissen, welche das sind? Genau wie bei den Fußabdrücken.« Nachdenklich schüttelte er den Kopf. Er sah besorgt aus.
Ivo Andrić war hart im Nehmen und hatte schon viele schreckliche Dinge mit ansehen müssen, aber so etwas hatte er in seiner ganzen langen, wechselvollen Karriere noch nicht zu Gesicht bekommen.
An den Armen und am Rumpf hatte der Junge Hunderte von Malen, die sich härter anfühlten als das umliegende Gewebe, was bedeutete, dass er zu Lebzeiten unzählige Schläge abbekommen haben musste. Nach den Knöcheln zu urteilen hatte er allerdings nicht nur eingesteckt, sondern auch ganz beachtlich ausgeteilt.
So weit war alles klar.
Doch auf dem Rücken des Jungen befand sich überdies eine Menge tiefer Wunden, die aussahen, als stammten sie von einer Peitsche.
Ivo Andrić versuchte, sich vorzustellen, was hier geschehen war. Ein Junge kämpft um sein Leben, und als er nicht mehr kämpfen will, peitscht ihn jemand aus. Er wusste, dass in den Stadtvierteln mit einer hohen Einwandererdichte illegale Hundekämpfe veranstaltet wurden. Hierbei mochte es sich um etwas Vergleichbares gehandelt haben – mit dem entscheidenden Unterschied, dass dabei keine Hunde um ihr Leben kämpften, sondern kleine Jungs.
Zumindest einer von ihnen war ein kleiner Junge gewesen.
Darüber, wer sein Gegner gewesen sein mochte, ließ sich lediglich spekulieren.
Und dann die Tatsache, dass er nicht gestorben war, als er eigentlich längst hätte tot sein müssen. Die Obduktion würde hoffentlich weitere Aufschlüsse über Rückstände von Drogen oder chemischen Substanzen liefern. Rohypnol, vielleicht Fencyklidin. Ivo Andrić wusste, dass seine eigentliche Arbeit erst beginnen konnte, wenn sich der Körper in der pathologischen Abteilung des Karolinska-Krankenhauses in Solna befand.
Jetzt wollte er erst einmal mittagessen gehen.
Gegen zwölf konnte der Körper endlich in einen grauen Plastiksack gelegt und im Leichenwagen nach Solna transportiert werden. Jeanette Kihlbergs Arbeit am Tatort war damit beendet, und sie wollte gleich weiterfahren. Als sie zu ihrem Wagen ging, begann es zu nieseln.
»Verdammt«, sagte sie halblaut, und Åhlund, ein jüngerer Kollege, drehte sich um und sah sie fragend an.
»Ach, mein Auto. Ich hatte es total vergessen, aber die Karre hat schon auf dem Weg hierher den Geist aufgegeben, und jetzt steh ich hier. Ich sollte wohl einen Abschleppwagen rufen.«
»Wo steht er denn?«, fragte der Kollege.
»Dahinten.« Sie zeigte auf den roten, rostigen, schmutzigen Audi in zwanzig Metern Entfernung. »Wieso? Kennen Sie sich mit Autos aus?«
»Ist nur ein Hobby von mir. Es gibt kein Auto, das ich nicht wieder flottkriegen würde. Geben Sie mir mal die Schlüssel, dann sehe ich nach, ob ich herausfinden kann, was ihm fehlt.«
Åhlund ließ den Motor an und fuhr auf die Straße. Das Rattern und Knirschen klang von draußen noch viel lauter, und Jeanette nahm an, dass sie wohl mal wieder ihren Vater anrufen und ihn um einen kleinen Kredit würde bitten müssen. Erst würde er Nein sagen, weil sie ihm schon viel zu viel Geld schuldete, und dann würde er noch mal mit ihrer Mutter reden, die schließlich Ja sagen würde.
Und dann würde er wieder fragen, ob Åke sich endlich eine Arbeit gesucht habe, und sie würde ihm erklären, dass dies für einen arbeitslosen Künstler nicht unbedingt leicht sei. Dass sich die Dinge aber bald ändern würden.
Jedes Mal das Gleiche. Sie musste zu Kreuze kriechen und Åke in Schutz nehmen.
Es könnte alles so einfach sein, dachte sie, wenn er endlich seinen Stolz hinunterschlucken und irgendeinen Gelegenheitsjob annehmen würde. Und sei es nur, um ihr zu beweisen, dass er bemerkt hatte, wie sie manchmal nächtelang wach lag, bis alle fälligen Rechnungen bezahlt waren.
Nach einer Runde um den Block sprang der junge Kollege aus dem Wagen und grinste triumphierend.
»Es ist entweder die Nockenwelle oder die Lenksäule oder beides. Wenn ich ihn mitnehmen darf, nehm ich ihn gleich heute Abend auseinander. In ein paar Tagen haben Sie ihn wieder. Sie übernehmen die Ersatzteile und eine Flasche Whiskey. Einverstanden?«
»Åhlund, Sie sind ein Engel! Nehmen Sie ihn, und machen Sie damit, was immer Sie wollen. Wenn Sie die Karre wieder zusammenflicken können, bekommen Sie zwei Flaschen, und wenn Ihre nächste Beförderung ansteht, lege ich ein gutes Wort für Sie ein.«
Jeanette Kihlberg ging zum Einsatzwagen.
Das nennt man Kameradschaft, dachte sie.
Kronoberg
Bei der ersten Ermittlungsbesprechung verteilte Jeanette die Aufgaben.
Eine Gruppe junger Polizisten, die gerade erst die Ausbildung abgeschlossen hatten, sollte am Nachmittag die Anwohner in der näheren Umgebung befragen. Jeanette versprach sich einiges davon.
Schwarz bekam die undankbare Aufgabe, die Listen der Mautstellen durchzugehen. Fast achthunderttausend Wagen hatten die Mautstellen passiert. Åhlund sollte sich indes die Filme aus den Überwachungskameras ansehen, die sie von der Pädagogischen Hochschule und der U-Bahn-Station bekommen hatten.
Die Monotonie dieser Art von Ermittlungsarbeit, die meist den unerfahreneren Polizisten zugewiesen wurde, fehlte Jeanette nicht sonderlich.
Oberste Priorität hatte die Identifizierung des Jungen, und Hurtig bekam den Auftrag, Kontakt mit den Flüchtlingsheimen im Großraum Stockholm aufzunehmen. Jeanette selbst wollte sich mit Ivo Andrić unterhalten.
Nach der Besprechung eilte sie zurück in ihr Büro und rief zu Hause an. Es war schon nach sechs, und heute war sie mit dem Kochen an der Reihe.
»Hallo! Na, wie war’s heute bei dir?« Sie bemühte sich, fröhlich zu klingen, obwohl sie gestresst und müde war.
In vielerlei Hinsicht waren sie gleichberechtigt. Sie hatten sich die alltäglichen Aufgaben so untereinander aufgeteilt, dass er die Wäsche erledigte und sie Staub saugte. Gekocht wurde im Wechsel, und auch Johan kam ab und zu dran. Doch sobald es ums Geld ging, war sie diejenige, die die Hauptlast zu tragen hatte.
»Ich bin erst vor einer Stunde mit der Wäsche fertig geworden. Ansonsten alles prima. Johan ist gerade heimgekommen und behauptet, du hättest ihm versprochen, ihn heute Abend zu seinem Spiel zu fahren. Schaffst du das?«
»Nein, geht leider nicht«, entgegnete Jeanette und seufze. »Das Auto ist auf dem Weg in die Stadt kaputt gegangen. Johan muss das Rad nehmen, so weit ist es ja nicht.« Jeanettes Blick blieb an dem Familienfoto hängen, das sie an ihre Pinnwand gehängt hatte. Johan sah so klein aus auf dem Bild. Sich selbst mochte sie kaum anschauen.
»Ich muss noch ein bisschen hierbleiben, und wenn ich dann niemanden finde, der mich mitnimmt, komme ich mit der U-Bahn nach Hause. Du musst wohl den Pizzaservice rufen. Hast du Geld?«
»Ja, ja.« Åke seufzte. »Sonst ist ja sicher noch was in der Dose.«
Jeanette dachte kurz nach. »Ja, da müsste eigentlich noch was drin sein. Ich hab gestern erst einen Fünfhunderter reingelegt. Also dann, wir sehen uns später.«
Åke antwortete nicht. Sie legte auf und lehnte sich zurück.
Fünf Minuten ausruhen.
Sie schloss die Augen.
Rechtsmedizinisches Institut
Der tote Junge lag auf einem Obduktionstisch aus rostfreiem Stahl. Ivo Andrić sah, dass die Arme des Jungen neben Hunderten kleinerer Verhärtungen auch noch zahllose Einstiche von einer Injektionsnadel aufwiesen. Hätten sich die Einstiche in der Armbeuge befunden, hätte er angenommen, dass der Junge trotz seines zarten Alters womöglich rauschgiftsüchtig gewesen sei. Doch die Einstiche waren über beide Arme und zudem scheinbar vollkommen willkürlich verteilt, als hätte der Junge Widerstand geleistet – eine Vermutung, die dadurch gestützt wurde, dass in seiner linken Hand eine abgebrochene Nadel steckte.
Doch das Auffallendste war, dass die Genitalien des Jungen entfernt worden waren.
Wie Ivo Andrić feststellen konnte, waren sie mit einem sehr scharfen Messer abgetrennt worden. Mit einem Skalpell oder einer Rasierklinge vielleicht.
Nach der ersten Untersuchung im Rechtsmedizinischen Institut in Solna stand für Ivo Andrić ganz eindeutig fest, dass er Hilfe von den Kollegen aus dem SLFC benötigte, dem Staatlichen Labor für Forensische Chemie. Der Körper steckte vermutlich voller chemischer Substanzen, und Andrić ahnte, dass ihm heute eine lange Nacht bevorstand.
Kronoberg
Hurtig kam mit der Aufzeichnung des morgendlichen anonymen Notrufs in Jeanettes Büro. Er reichte ihr die CD und setzte sich.
Jeanette rieb sich verschlafen die Augen. »Hast du mit den Polizisten gesprochen, die den Jungen gefunden haben?«
»Ja. Es waren zwei Kollegen. Laut Bericht waren sie erst ein paar Stunden nach dem Anruf bei der Notrufzentrale vor Ort. Wie gesagt, die Zentrale hat die Sache nicht sofort weitergegeben, weil sie das Ganze für einen Scherz gehalten hatte.«
Jeanette nahm die CD aus der Hülle und schob sie ins Laufwerks ihres Computers.
Das Gespräch dauerte zwanzig Sekunden.
»Hier 112, was kann ich für Sie tun?«
Es knisterte, aber eine Stimme war nicht zu hören.
»Hallo? Hier 112, was kann ich für Sie tun?«
Als die Telefonistin verstummte, konnte man jemanden angestrengt schnaufen hören. »Ich wollte nur Bescheid sagen, dass in den Büschen am Thorildsplan ein Toter liegt.«
Der Mann sprach schleppend. Jeanette fand, dass er betrunken klang. Betrunken oder high.
»Wie heißen Sie?«, fragte die Telefonistin.
»Ist doch egal. Haben Sie verstanden, was ich gesagt hab?«
»Natürlich. Sie haben gesagt, dass ein toter Mann am Bolidenplan liegt.«
»Am Thorildsplan, hab ich gesagt.« Der Mann klang gereizt. »Ein Toter in der Rabatte am U-Bahn-Eingang Thorildsplan.«
Dann wurde es still.
Von der Telefonistin kam nur noch ein zögerliches: »Hallo?«
Jeanette runzelte die Stirn. »Man muss nicht unbedingt Einstein sein, um darauf zu kommen, dass der Anrufer sich irgendwo in der Nähe der U-Bahn befand, oder?«
»Stimmt. Aber falls …«
»Falls was?« Sie hörte selbst, wie gereizt sie klang, aber sie hatte gehofft, dass die Aufnahme des Notrufs zumindest ein paar Fragen hätte beantworten können. Ihr irgendetwas an die Hand gäbe, was sie dem Polizeichef und dem Staatsanwalt zum Fraß würde vorwerfen können.
»Entschuldige bitte«, sagte sie, doch Hurtig zuckte nur mit den Schultern.
»Wir machen einfach morgen weiter.« Er stand auf und ging zur Tür. »Fahr lieber heim zu Johan und Åke.«
Jeanette lächelte dankbar. »Gute Nacht. Wir sehen uns morgen.«
Nachdem Hurtig die Tür hinter sich zugemacht hatte, wählte sie die Nummer ihres Vorgesetzten, Polizeichef Dennis Billing. Der Leiter der Ermittlungsabteilung nahm nach dem vierten Klingeln ab.
Jeanette erzählte ihm von dem mumifizierten Jungen, von dem anonymen Anruf und den weiteren Erkenntnissen des Nachmittags und Abends.
Mit anderen Worten: Sie hatte nichts Wesentliches vorzubringen.
»Wir müssen sehen, was bei der Befragung der Nachbarschaft herauskommt, und dann warte ich noch auf die Ergebnisse von Ivo Andrićs Untersuchungen. Hurtig spricht mit dem Morddezernat und, na ja, Sie wissen schon, das Übliche.«
»Ihnen ist hoffentlich klar, dass es das Beste ist, wenn wir diesen Fall so schnell wie möglich lösen. Das Beste für mich, aber auch für Sie.«
Jeanette hatte ihre Schwierigkeiten mit Billings herablassender Art, und sie wusste, dass er sich nur deswegen so verhielt, weil sie eine Frau war. Billing hatte damals zu denjenigen gehört, die sich gegen Jeanette als Kommissarin ausgesprochen hatten. Mit der heimlichen Unterstützung von Staatsanwalt von Kwist hatte er einen anderen Namen ins Spiel gebracht – einen Mann selbstverständlich.
Am Ende hatte sie die Stelle trotz seines ausdrücklichen Widerstands bekommen, doch ihr Verhältnis war seitdem von seiner Feindseligkeit geprägt.
»Wir tun natürlich alles, was wir können. Ich melde mich morgen, sobald wir mehr wissen.«
Dennis Billing räusperte sich. »Ach, da gibt es übrigens noch eine Sache, die ich mit Ihnen besprechen muss.«
»Und zwar?«
»Na ja, es ist eigentlich vertraulich, aber ich glaube, ich kann die Regeln in diesem Kontext ein bisschen großzügiger auslegen. Ich muss mir Ihre Truppe ausleihen.«
»Nein. Das ist gerade unmöglich. Das muss Ihnen doch klar sein.«
»Ab morgen Abend für vierundzwanzig Stunden. Dann bekommen Sie Ihre Leute zurück. Leider ist es trotz der Situation absolut unumgänglich.«
Jeanette fühlte sich machtlos und ohnehin viel zu müde, um zu protestieren.
»Mikkelsen braucht Unterstützung«, fuhr Dennis Billing fort. »Übermorgen stehen Hausdurchsuchungen bei einer ganzen Reihe von Leuten an, die im Verdacht stehen, kinderpornografisches Material zu besitzen beziehungsweise zu vertreiben, und er braucht Verstärkung. Ich habe schon mit Hurtig, Åhlund und Schwarz gesprochen. Sie arbeiten morgen für Sie und wechseln dann zu Mikkelsen. Nur dass Sie Bescheid wissen.«
Jeanette war sich darüber im Klaren, dass jede weitere Diskussion zwecklos war. Gegen Billing konnte sie nichts ausrichten.
Sie legten auf.
Um halb zehn verließ Jeanette das Polizeigebäude und machte sich auf den Weg zur U-Bahn. Am Fridhelmsplan warf sie einen Blick zum DN-Hochhaus, und ihr wurde klar, dass die Person, die sie suchte, ganz in ihrer Nähe sein konnte.
Was war das für ein Mensch, der fähig war zu tun, was sie heute zu Gesicht bekommen hatte?
Am Sockenplan stieg sie aus und legte das letzte Stück zu Fuß zurück. Als das gelbe Haus in Sicht kam, spürte sie den ersten Regentropfen auf der Stirn.
Tvålpalatset
Gegen Ende des blutigen achtzehnten Jahrhunderts hatte König Adolf Fredrik dem Platz, der heute Mariatorget heißt, seinen Namen verliehen, und zwar unter der Bedingung, dass er nicht länger für Hinrichtungen genutzt würde. Trotzdem hatten dort seither nicht weniger als einhundertvierundachtzig Menschen ihr Leben unter Umständen gelassen, die einer Hinrichtung gleichkamen, und ob der Platz nun Adolf Fredriks torg oder Mariatorget hieß, hatte dabei keine Rolle gespielt.
Mehrere dieser einhundertvierundachtzig Morde waren in weniger als zwanzig Metern Entfernung von dem Gebäude verübt worden, in dem die Privatpraxis der Psychotherapeutin Sofia Zetterlund lag – im obersten Stockwerk eines älteren Hauses in der Sankt Paulsgatan, direkt neben dem Tvålpalatset. Die drei Wohnungen im obersten Geschoss waren zu sechs Büros umgebaut und an zwei Zahnärzte, einen plastischen Chirurgen, einen Rechtsanwalt und noch einen weiteren Psychotherapeuten vermietet worden.
Die Einrichtung ihres Wartezimmers war kühl und modern. Man hatte einen Innenarchitekten engagiert, der ein paar große Bilder von Adam Diesel-Frank gekauft hatte, die in den gleichen Grautönen gehalten waren wie das Sofa und die beiden Sessel.
In einer Ecke stand eine Bronzeskulptur der in Deutschland geborenen Künstlerin Nadja Ushakova. Sie stellte eine große Vase mit Rosen dar, von denen einige kurz davor waren zu welken. An einem Stängel hing ein kleiner gegossener Zettel mit der Aufschrift: DIE MYTHEN SIND GREIFBAR.
Bei der Einweihung hatten sie über die Bedeutung des Zitats diskutiert, ohne dass jemand eine brauchbare Erklärung dafür hätte abgeben können.
Die Mythen waren materiell, stofflich.
Durch die hellen Wände, den teuren Teppich und die exklusiven Kunstwerke strahlte die Praxis Diskretion und Wohlstand aus.
Nach mehreren Bewerbungsgesprächen hatte man die ehemalige Arzthelferin Ann-Britt Eriksson als eine Art gemeinsame Empfangsdame angestellt. Sie sollte neben der Terminvergabe auch noch gewisse andere administrative Aufgaben übernehmen.
»Ist irgendwas passiert, worüber ich Bescheid wissen müsste?«, fragte Sofia Zetterlund, als sie am Morgen wie immer um Punkt acht die Praxis betrat.
Ann-Britt sah von ihrer Zeitung auf. »Huddinge hat angerufen und wollte den Termin mit Tyra Mäkelä auf elf Uhr vorverlegen. Ich hab gesagt, du rufst zurück.«
»Gut, ich rufe dort gleich an. Sonst noch was?«
»Ja«, antwortete Ann-Britt. »Mikael hat angerufen. Wahrscheinlich schafft er den Flug heute Nachmittag nicht und kommt erst morgen früh in Arlanda an. Er lässt ausrichten, er fände es schön, wenn du heute in seiner Wohnung übernachten würdest. Damit ihr euch morgen früh noch kurz seht.«
Sofia blieb stehen und legte die Hand an den Türrahmen.
»Hm. Wann hab ich heute den ersten Patienten?«
Dass sie ihre Pläne ändern musste, ärgerte sie. Eigentlich hatte sie Mikael mit einem Abendessen im Gondolen überraschen wollen, dem schicken Restaurant, das in luftiger Höhe über dem Wasser schwebte, aber er hatte ihr wie üblich einen Strich durch die Rechnung gemacht.
»Um neun, und am Nachmittag kommen noch mal zwei.«
»Wer kommt als Erstes?«
»Carolina Glanz. In der Zeitung steht, dass sie einen Job als Moderatorin bekommen hat und demnächst in der Welt herumreisen und Promis interviewen soll. Komisch, oder?« Ann-Britt schüttelte den Kopf und seufzte tief.
Carolina Glanz hatte mit Glanz und Gloria eine der vielen Fernseh-Talentshows gewonnen, die über den Bildschirm flimmerten. Sie hatte zwar keine besonders gute Singstimme, aber die Jury hatte ihr den nötigen Starappeal bescheinigt. Im Winter und Frühjahr war sie durch ein paar kleinere Nachtclubs getingelt und hatte die Lippen zu einem Song bewegt, den – wie sich herausstellte – ein weniger schönes, aber umso stimmgewaltigeres Mädchen eingesungen hatte. Carolina war in sämtlichen Zeitungen bloßgestellt worden, und ein Skandal hatte den anderen gejagt.
Erst als sich die Medien auf ein neues Ziel eingeschossen hatten, hatte sie begonnen, sich selbst und ihre Berufswahl infrage zu stellen.
Sofia hatte kein gesteigertes Interesse daran, Pseudopromis zu coachen. Daher konnte sie nur mit Mühe die Motivation für diese Gespräche aufbringen, auch wenn sie rein finanziell natürlich wichtig für sie waren. Trotzdem hatte sie dabei immer das Gefühl, ihre Zeit auf etwas Falsches zu verwenden. Sie wusste, dass ihre Kompetenz anderen Patienten, die wirklich Hilfe benötigten, viel mehr zugutekommen würde.
Sie wollte mit richtigen Menschen zu tun haben.
Sofia setzte sich an den Schreibtisch und rief sofort in Huddinge an. Durch die Terminverschiebung würde sie nur noch eine knappe Stunde Zeit haben, um sich vorzubereiten. Nach dem Telefonat nahm sie sich umgehend das Material vor, das ihr über Tyra Mäkelä vorlag.
Sie schlug die Akte auf. Ärztliche Gutachten, Vernehmungsprotokolle und der Befund aus der Rechtspsychiatrie, den sie mit ihrem eigenen Gutachten komplettieren sollte. Insgesamt fast fünfhundert Seiten – ein Stapel, der mindestens auf das Doppelte anwachsen würde, bevor die Angelegenheit erledigt war, das wusste sie schon jetzt.
Sie hatte die Ermittlungsakte schon zweimal durchgelesen und konzentrierte sich jetzt auf die wichtigsten Abschnitte.
Tyra Mäkeläs psychische Verfassung.
Die Experten waren geteilter Meinung. Der Psychiater, der die Untersuchung leitete, votierte für eine Gefängnisstrafe, genau wie die Sozialarbeiter und einer der Psychologen. Zwei weitere Psychologen allerdings forderten stattdessen eine Sicherungsverwahrung mit psychiatrischer Betreuung.
Sofias Auftrag bestand darin, das Expertenteam zu einem endgültigen, einstimmigen Beschluss anzuleiten, doch ihr war jetzt schon klar, dass dies nicht einfach werden würde.
Tyra Mäkelä und ihr Mann waren wegen Mordes an ihrem elfjährigen Adoptivsohn verurteilt worden, einem Jungen mit Fragiles-X-Syndrom. Diese Entwicklungsstörung äußerte sich mitunter sowohl in physischen als auch in psychischen Defiziten. Der Junge war ein hilfloses Opfer gewesen, und Sofia wurde richtiggehend traurig, wenn sie nur an den Fall dachte.
Die Familie hatte ein isoliertes Leben in einem Haus auf dem Land geführt. Die technischen Beweise hatten eine deutliche Sprache gesprochen und verraten, welchen Grausamkeiten der Junge ausgesetzt gewesen war. Spuren von Kot in Lunge und Magen, Brandwunden von Zigaretten, Misshandlungen mit dem Staubsaugerschlauch.
Die Leiche war in einem Waldstück nicht weit vom Haus der Mäkeläs entfernt gefunden worden.
Der Fall hatte in den Medien großes Aufsehen erregt, nicht zuletzt weil die Mutter sich an der Tat beteiligt hatte. Die breite Öffentlichkeit, angeführt von ein paar laut polternden, einflussreichen Politikern und Journalisten, hatte die härteste Strafe gefordert, die das Gesetz vorsah. Tyra Mäkelä sollte so lange wie nur irgend möglich in Hinseberg eingesperrt werden.
Wie Sofia wusste, bedeutete Sicherungsverwahrung, dass der Verurteilte oft noch länger isoliert blieb als bei einer normalen Gefängnisstrafe.
Doch war Tyra Mäkelä in der Zeit jener gewalttätigen Übergriffe psychisch zurechnungsfähig gewesen? In dem vorliegenden Material war von mindestens drei Jahren Folter die Rede.
Das sind richtige Probleme, dachte Sofia.
Sie begann damit, eine Liste von Fragen zu erstellen, über die sie mit der wegen Mordes verurteilten Frau sprechen wollte, und wurde erst aus ihren Überlegungen gerissen, als Carolina Glanz mit roten Overknee-Stiefeln, einem kurzen roten Lackrock und schwarzer Lederjacke den Raum betrat.
Krankenhaus Huddinge
Sofia kam kurz nach halb elf in Huddinge an und stellte das Auto vor dem großen Gebäudekomplex ab.
Im Gegensatz zu den Häusern in der direkten Nachbarschaft, die in allen möglichen Farben gestrichen waren, war das Gebäude mit grauen und blauen Platten verschalt. Sofia hatte einmal gehört, dass man durch diese Farbgebung während des Zweiten Weltkriegs einen potenziellen Bombenangriff auf Krankenhäuser hatte verhindern wollen. Aus der Luft sollte es so aussehen, als wäre das Krankenhaus ein See, während die Häuser in der Umgebung die Illusion von Äckern und Wiesen erzeugen sollten.
Sie machte einen kurzen Abstecher in die Cafeteria, wo sie sich einen Kaffee, ein belegtes Brötchen und ein paar Tageszeitungen kaufte, bevor sie zum Empfang weiterging.
Sie schloss ihre Wertsachen in einen der Spinde am Eingang, ging durch den Metalldetektor und setzte ihren Weg durch den langen Flur fort. Zuerst kam sie an Abteilung 113 vorbei, und wie immer hörte sie, wie dort drinnen lautstark gestritten und aufeinander eingedroschen wurde. Dort saßen die Problempatienten, die starke Medikamente verabreicht bekamen, während sie auf ihre Überstellung nach Säter, Karsudden, Skogome oder irgendeine andere Einrichtung warteten.
Sie ging geradeaus weiter, bog dann zu Station 112 ab und steuerte das Gesprächszimmer der Psychologen an. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie eine Viertelstunde zu früh war.
Sie schloss die Tür, setzte sich an den Tisch und verglich die Titelseiten der Zeitungen.
MAKABRER FUND IM STOCKHOLMER STADTZENTRUM beziehungsweise DIE MUMIE AUS DEM GEBÜSCH.
Sie biss von ihrem Brötchen ab und nippte an dem heißen Kaffee. Am Thorildsplan war die mumifizierte Leiche eines Jungen gefunden worden.
Tote Kinder, dachte sie.
Im Artikel wurden Parallelen zum Fall Mäkelä gezogen, und Sofia spürte den Druck in ihrer Brust anwachsen.
Sie hatte ihr Brötchen aufgegessen und den Kaffee gerade ausgetrunken, als es klopfte. »Herein«, sagte sie, und die Tür wurde von einem groß gewachsenen Psychiatriepfleger geöffnet.
»Hallo, Sofia.«
»Hej, KG. Alles klar?«
»Ja. Abgesehen davon, dass im Raucherzimmer der Alarm losgegangen ist und wir einen Typen fixieren mussten, der mit Stühlen um sich geworfen hat. Ein ekelhafter Kerl, der genauso viel Scheiße im Blut hat wie auf seinem Gewissen.«
»Ja, ich bin an 113 vorbeigekommen und hab gehört, dass dort drinnen die Hölle los war.«
»Ich hab hier draußen eine, mit der du wahrscheinlich reden musst.« Er deutete hinter sich.
Der Tonfall der Pfleger gefiel ihr nicht. Auch wenn sie es hier mit Schwerverbrechern zu tun hatten, gab es keinen Grund, sich abfällig und herablassend auszudrücken.
»Bring sie rein, dann kannst du uns allein lassen.«
Tvålpalatset