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Wanda erlebt als junges Mädchen die erste große Liebe fernab, von zu Hause. Sie wird schwanger, wodurch sich ihr Leben in eine unvorhergesehene Richtung verändert. Der Kontakt zum Vater ihres Kindes geht durch die enorme Entfernung verloren. Durch verzwickte Umstände wird ihr das Baby genommen. Ohne Mann und Kind, verloren und verzweifelt, wird eine Freundin zum Rettungsanker. Mit ihrer Hilfe findet sie langsam zurück ins Leben. Nach vielen Jahren und einer glücklichen Ehe mit Jacob, führt ihr Weg zu einer unerwarteten Begegnung mit dem Mann von damals, ihrer ersten Liebe, die sie nie vergessen hatte. Doch will Wendelin überhaupt noch etwas von ihr wissen, nachdem er erfahren hat, was damals geschehen ist? Eingebunden in Reiseerlebnisse durch das Naturparadies Süd Afrika erfährt Wanda eine bisher unbekannte Intensität der Liebe. Eigentlich hatte sich Wanda ihren Aufenthalt im Seniorenheim geruhsam und entspannend gedacht. Doch dann wird wieder alles anders, wie es immer in ihrem Leben geschehen ist. - Gerti Gabelt ist Psychologin und hatte über viele Jahre ihre eigene Praxis. Mehrere Jahre lebte sie in Australien und war später bei UNHCR in Bonn beschäftigt. Als freie Mitarbeiterin beim Katholischen Bildungswerk leitete sie Seminare und Entspannungskurse und Diskussionen über Lebensthemen. Nachdem sie den Wellen des Tsunami entkommen war, schrieb sie ihr Erlebnis und ihre Rettung in »Tsunami erlebt - überlebt«.
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Seitenzahl: 367
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Gerti Gabelt
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2016
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
Titelfoto Elephant fight © 2630ben
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
www.engelsdorfer-verlag.de
Dieses Buch widme ich allen, die sich ihre Neugier auf das Leben bewahrt haben. Vor allem denen, die ein Alter erreicht haben, in dem sie um die Endlichkeit des Lebens wissen, wenn der Weg wichtiger geworden ist als das Ziel, wenn Liebe eine neue Intensität erleben lässt.
Für meine Kinder,
für meine Enkelkinder
Anna, Lara Tabea, Eva und Lenni
Danken möchte ich Iris Bleeck für ihre hilfreichen Anmerkungen, Günter, für seine Geduld.
Ungeachtet dessen, ob ich glücklich oder traurig bin, habe ich gelernt, mich in beiden Situationen lebendig zu fühlen.
Ich habe mein inneres Glück gefunden Sergio Bambaren
Eine neue Erkenntnis gesellt sich zu vielen anderen Erfahrungen und wird zur Realität. Die Attribute des Älterwerdens zeichnen ihre unverkennbare Form und Farbe auf die Leinwand Körper, formen eine Collage daraus und lassen sich nicht mehr rückgängig machen. Unebenheiten und Farbenflecke, die früher nicht da waren, werden sichtbar. An Oberarmen und Händen besonders auffallend. Nun muss ich lernen, mit dem Entdeckten umzugehen, es als Teil meines Selbst betrachten und selbstbewusst annehmen. Es kommt nicht urplötzlich, nein. Aber heute, in der Dusche, tangierte es mir besonders oder besser gesagt, es ist mir deutlich bewusst geworden. Da wünschte ich mich ehrlich, dass der Spiegel doch, wie so oft, beschlagen wäre.
Wie sagte meine Mutter, ‚wenn die Haut nicht mehr so jugendlich rosig ist, brauche sie einen feinen Fummel’.
Damals, als Kind, habe ich nur halb hingehört. Meine Mutter war schon älter, Anfang Vierzig, als ich geboren wurde. Sie war einfach schön, wie sie war. Sie hat sich für mich, während meiner Kindheit, nie sonderlich verändert, vielleicht, weil sie ihre Oberarme immer bedeckt hatte, eben unter einem feinen Fummel versteckt.
Aber nicht nur die Haut zeigt die Uhr des ‚Fortschritts’. Auch die Sehfähigkeit hat sich verändert – aber nicht bei mir – sagt so mancher Mann. „Dafür hört sie aber schlechter“ – meldet er nach kurzer Pause und gibt ein Geheimnis seiner Frau preis.
Kann Frau oder Mann trotzt dieser und zusätzlicher Zimperleins noch begehrenswert sein? Älterwerden ist nicht einfach, kann aber in gegenseitiger Liebe wunderschön sein. Und das Alter hat einen eigenen Bonus, den muss man nur herausfinden.
Wanda und Wendelin
Wanda und Wendelin gehören dazu. Sie bilden mit den Anderen eine Gruppe. Aber eigentlich fallen sie ständig auf, so dass sie doch nicht dazu gehören. Sie fallen durch das Raster, sie sprengen die Gesetze.
In Wanda erzeugt es ein heimliches Lächeln, nicht zu „gehorchen“, nicht angepasst zu sein.
‚Ich bin anders. Mich könnt ihr nicht zähmen. Auch wenn ihr denkt, die Alte ist sonderlich, vielleicht schon leicht dement? Glaubt es nur. Aber wundert euch nicht, wenn ihr eines Tages feststellen müsst, dass ihr es seid, die sich fragen müssen, wer war denn nun wunderlich, wer war im Irrtum? Diese Dame – ja ihr hört ganz recht – ich bin eine nicht mehr ganz junge Dame, fordert euch heraus. Zumindest eure Anerkennung, vielleicht auch eure Bewunderung. Dieses liegt wiederum an eurer geistigen Beweglichkeit. Es liegt an eurer Intelligenz, euch diesem Reichtum an Einfällen und Spiritualität zu öffnen. Aber es geht noch ein Stück weiter. Ihr werdet sehen. Na, das alles überlasse ich euch.’
Ein bekannter Psychologe schrieb, hütet euch vor den Normalen! Sorgt euch also nicht um mich, ich bin anders.
Natürlich erfordert das Leben in einer Gemeinschaft eine bestimmte Strategie, ein strukturelles Vorgehen, um ein harmonisches – wie die Direktorin meint – Miteinander zu gewährleisten. Da bleibt für das Individuum in seinem Handeln und Sein wenig Raum. Die Grenzen sind gesteckt. Kommen und Gehen, Schlafen und Wachsein, Essen und Schlafen, alles bewegt sich innerhalb dieser vorgegebenen Grenzen.
Die Menschen würden hier in einer langweiligen Eintönigkeit zur Passivität verdammt sein, wenn es nicht einzelne Bewohner gäbe, die aus dem Rahmen fallen – wer hat sie eigentlich in den Rahmen gestellt? – und somit die Lebendigkeit in der Enge des Tagesablaufs noch wahrnehmen.
Wanda hat sich Spiritualität bewahrt. Mit wachem Geist gestaltet sie ihren Alltag und so sagt sie sich:
‚Sicher gebe ich häufig Anlass zur Kuriosität. Und ich lebe von dem Echo meiner Kuriosität. Meine Heiterkeit beflügelt mich zu immer neuen Taten. Das heißt nicht, dass ich auch die Gegenseite dieser Tugend, nämlich Aggressivität kenne und lebe. Früher war es für meine Umgebung direkt anstrengend – nur früher? – meine Unausgeglichenheit zu ertragen. Aber wir alle leben in der Polarität. Eine interessante Frau ist keine langweilige Frau. Und für einen Mann ist es gut, nie ganz sicher zu sein, was wohl als nächstes geschehen mag. Ein kleines Geheimnis gehört zur Diplomatie der Frau und hält überdies die Spannung in der Partnerschaft.’
Wanda war über dreißig Jahre verheiratet gewesen, genau 35 Jahre und 9 Monate. Dann starb Jacob. In ihrer Ehe war es im Anfang ganz schön turbulent zugegangen. Bis jeder von ihnen die Persönlichkeit des anderen anzunehmen gelernt hatte. Dann war Respekt die Basis, die Säule des Zusammenlebens geworden. Das Band ihrer Ehe hieß gegenseitiges Verständnis und Liebe. Später, als der Job als „semi-tired“ bezeichnet wurde, war es zwischen den beiden ruhiger geworden. Sie reisten viel, konnten kulturelle Veranstaltungen gemeinsam wahrnehmen. Das Interesse im geistigen und kulturellen Bereich bekam nun eine neue Bedeutung und hatte ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl stabilisiert. So war es durchaus nicht selten, dass Wanda am Samstagvormittag meinte, man könne doch mal eben nach Zürich fahren. Oder ein Wochenende am Genfer See verbringen. Brüssel bezaubert durch sein kulturelles Angebot und war nur eine Tagesreise entfernt. Und Brügge mit dem alten Markt, den hübschen Fachwerkhäusern, deren Giebeln ihr Gesicht dem alten Marktplatz zuwenden und an eine zeitüberdauernde Geschichte erinnern, die eine heimelige Atmosphäre verbreitet. Die Kathedrale bildet den Mittelpunkt des Marktes. In hübschen Boutiquen kann man hin und wieder ein Unikat entdecken. Bis zum Meer nach Knogge ist es nicht mehr weit.
Ob Jacob wohl diese Kurzreisen ebenso gemocht hatte wie sie? Ganz plötzlich kommen ihr diese Gedanken. Nie zuvor hat sie sich diese Frage gestellt. Sicher ist es unrealistisch, heute dieser Frage nachzugehen. Es bringt ihr kein gutes Gefühl.
Wanda steht auf. Sie will die Gedanken beenden. Sie geht zum Schrank und holt einen bunten Geschenkkarton heraus. Genau gesagt, handelt es sich um einen roten Schuhkarton. Edle, silberfarbene Satinschuhe hatte sie lange darin aufbewahrt. Als sie Königin gewesen war, im langen silberschimmernden Seidenkleid – dessen Rockweite sieben Meter betrug – hatte sie diese Schuhe getragen. Damals hatte Jacob bei der Schützenbruderschaft von 1545 die Königswürde erschossen. Eine Bruderschaft, die sich mit Stolz ihrer langjährigen Tradition bewusst war, deren Regeln minutiös und diszipliniert befolgt und gewissenhaft pflegend präsentierte. Mit vierunddreißig Jahren war sie für zwei Jahre Jacobs Königin, eine für die Männerbruderschaft ungewöhnlich junge Königin, geworden.
Mit allen Pflichten und Rechten, die eine historische Bruderschaft pflegte, war sie eine Majestät gewesen. Eine wunderbare Zeit hatten sie gemeinsam erlebt.
Also, nachdem Jacob seinen Weg gegangen war, und sie nun ihren Weg gehen muss, hat sie nun beim Räumen den Schuhkarton gefunden. Die Satinschuhe hatte ihre Nichte bekommen. Sie fand sie „echt geil“ und toll passend zu schwarzen Jeans.
Schon wieder abgerutscht in die Vergangenheit. Dabei hatte die „red box“, wie Wanda den Schuhkarton genannt und auch beschriftet hatte, eine ganz neue, wichtige Funktion.
Also, nun zur red box. Wanda räumt den Karton leer und breitet die Sachen auf eine weiße Decke auf den Tisch. Sie zündet eine Kerze und ein Räucherstäbchen an. Der „Indische Duft“ erfüllt den Raum. Wanda verliert sich ein wenig in mystischen Empfindungen. Dann nimmt sie einen bunten Seidenschal aus Indien und einen ungeschliffenen Rosenquarzstein. Sie entkorkt einen Medòc 2011 und lässt den dunklen Rotwein in das bauchige Glas fließen. Gerüche, gedämpftes Kerzenlicht, das Schattengebilde an der Zimmerdecke hüpfen lässt, und der Rotwein, vermitteln eine entspannende Gelassenheit, ja, etwas Vertrautes. Der Raum ist erfüllt mit positiver Energie.
Wanda öffnet den roten Deckel des Kartons und sagte: „Ich gebe dir den Namen Red Box. Du hütest nun meine Geheimnisse, alle Erinnerungen und Geschehnisse, die der Vergangenheit angehören. Es hat dies alles gegeben für mich und es ist ein Teil von mir, durch das ich zu dem geworden bin, was ich heute sein kann. Das ist gut so. Mein Leben war so reich. Ich habe geliebt, habe getrauert, habe unendlich gelitten, habe die Grenzen der Endlichkeit gespürt, habe Unendlichkeit berührt. Ich habe unentschlossen an Wegkreuzungen gestanden. Habe mich, der Lehre Mahatma Ghandi folgend, für den Umweg entschieden. Ich bin Menschen begegnet, die Freunde wurden und habe sie später aus den Augen verloren. Sie waren sehr wichtig und haben immer noch eine große Bedeutung für mich. Ich habe das Leben gespürt.
Bevor Teile der Vergangenheit zum Ballast werden könnten, lege ich sie ab. Ich übergebe meine Schätze dir, Red Box und du, red box, hütest diese meine Vergangenheit. Denn ich will heute bewusst im Hier und Jetzt leben. Vergangenes kann nun nicht verloren gehen, aber auch nicht belastend werden.“
Am Tisch sitzend, den Kopf von den Händen tragend, spürt sie Stärken in sich aufkommend, die sie nie geordnet, nie hinterfragt, ja bewusst nie wahrgenommen hat. Wanda denkt zurück, erlebt sich in völlig neuem Licht, Abläufe aus ihrem Leben, genau gesagt, „Meilensteine“ in Granit gemeißelt. Langsam, sehr langsam, kommt Erlebtes zurück in ihr Bewusstsein.
So hat Wanda in einer Feierstunde der Red box ihre Aufgabe übertragen. Ein Bild von Jacob. In einer kleinen Fototasche gibt es noch Bilder von Menschen, die ihr sehr nahe gestanden hatten. Ein älterer Herr mit weißen Haaren und blauen, lustigen Augen, einem gütigen Blick. „Mein Kind“, so hatte er Wanda genannt.
Dann ein Herr mit Glatze und tiefbraunen, sehr lebendigen Augen, die sie immer noch voller Leidenschaft anschauen. – Wanda, das ist deine eigene Impression – Eine Vaterposition hatte er für Wanda bedeutet und für einige Zeit auch mehr.
Zu unters ein fast in Vergessenheit geratenes Foto. Pechschwarzes Haar umrahmt ein sonnengebräuntes, jungenhaftes Gesicht. Verträumt schaut Wanda in diese dunklen Augen, die die Unbeschwertheit, die Lebenslust und Sorglosigkeit der Jugend widerspiegeln.
Daneben ein Babyfoto, das einzige, was ihr blieb. Linus, der Australier.
Ihre unvergessene, erste Liebe, damals in Florida. So lange ist es her und immer noch so lebendig.
Ein kleines Kreuz aus Metall und ein weißer Engel.
Ein Seidentuch aus Indien, Kerze und Räucherstäbchen und ein kleiner Spiegel finden nun einen Platz in der Red Box. Sie symbolisieren alles was gewesen ist.
Wandas Augen füllen sich mit Tränen. Beim Blick in den Spiegel sieht ihr ein Gesicht voller Zweifel und Unentschlossenheit entgegen. Beim Lachen zeigen sich kleine Grübchen.
Wie kann ein Mensch nur so viele Gesichter haben? Ein Geschenk des Schöpfers an den Menschen. Die Möglichkeit der unterschiedlichen Gesichter ist in der Schöpfung angelegt.
Dann holt sie die Red Box. Ihre rechte Hand umschließt ganz fest den Rosenquarzstein, der eine beruhigende Wirkung vermittelt. Es sind ihre kreativen Zeiten in denen etwas Neues entsteht. Man könnte es mit einer Geburt vergleichen. Aus dem Suchen ergeben sich neue Gedanken, entstehen klare Formen. Sie hat den Rosenquarzstein noch immer in ihrer Hand, die sich nun leicht öffnete. Sie ist im Reinen mit sich selbst. Plötzlich ist alles ganz einfach.
In ihrem Kleiderschrank hat sie nach einigem Suchen das bunte Etwas gefunden. Ein fließendes Gewand ohne Ärmel, das seitlich durch kurze Nähte unter den Armen zusammengehalten wird. Vor vielen Jahren hatte sie diesen Kaftan in einem indischen Shop in Neuseeland gefunden. Kleine cent-große, eingenähte Spiegelchen bildeten den Saum, lassen die schillernden Farben glitzern. In diesem Kleid wird sie heute Nachmittag eine Märchenfee sein. Märchenfee oder weiße Hexe mit magischen Kräften.
Im Aufenthaltsraum breitet sie eine rote Decke auf dem Boden aus. Darauf stellt sie eine flache Schale aus Keramik. Das Innere der Schale ist in glänzendem Blau gehalten. Im Wasser schwimmende Duftlichter geben Wärme und ein gedämpftes Licht. Hinter einem Paravent sieht man einen Lichtkegel, der dem Raum etwas Mystisches verleiht. Welch ein Leuchten in den Augen der älteren Leute, die heute ihr Publikum sind. Diese Augen, die so oft ohne Glanz scheinen, zeigen heute eine ungewohnte Lebendigkeit. Oder scheint es nur so?
Damen und Herren, Männer und Frauen folgen mit ihren Augen jeder Bewegung von Wanda, während diese mit den Vorbereitungen für ihre Märchenstunde beschäftigt ist. Eine erwartungsvolle Spannung liegt in der Luft. Wanda glaubt, eine positive, ans Erotische grenzende Stimmung zu spüren.
Vor der Schale mit den Lichtern liegt ein großes, schwarzes Kissen, das ihr als Sitzplatz auf dem Boden dient. Von hier aus führt Wanda ihre Zuhörer in die zauberhafte Welt des Märchens.
„Die Erntezeit nahte und die Feldarbeiter brachten das Korn ein. Die ersten welken Blätter fielen von den Bäumen und unten am Fluss saß eine Entenmutter in ihrem Nest unter dem Schilfgras verborgen und brütete ihre Eier aus. Eines nach dem anderen schlüpften die Entenjungen aus ihren Eiern und watschelten unstet dem Ufer entgegen, wo sie in ihrem Element waren. Nur ein Ei blieb still wie ein Stein im Nest liegen und wollte nicht aufbrechen. Es war größer als die anderen. Manchmal kam es der Entenmutter vor, als hätte es einen ungewöhnlichen Farbton. Eine ältliche Entendame flatterte quakend herbei, um der Mutter zu ihrer frisch ausgeschlüpften Brut zu gratulieren, aber dann sah sie das übergroße Ei im Nest liegen, schüttelte den Kopf, dass die Wassertropfen flogen und verkündete:
„Man hat dir ein Putenei untergeschmuggelt, meine Liebe, das sehe ich sofort. Du darfst es auf keinen Fall ausbrüten, denn Puter können nicht schwimmen. Und überhaupt…“ Die alte Ente wusste wovon sie sprach. Auch sie hatte selbst einmal versucht, einen Truthahn auszubrüten.
Aber die Entenmutter hatte nun schon so lange auf dem Ei gesessen, dass es ihr nicht gefiel, all ihre Mühe sollte umsonst gewesen sein. Also blieb sie weiter auf dem Ei sitzen und brütete. Und siehe da, eines Tages erzitterte es und ein großes unansehnliches Geschöpf pickte sich den Weg ins Leben frei. Seine Haut war von rot/blauen Blutgefäßen durchzogen, seine Augen schimmerten rosarot und seine Füße hatten eine ungesunde blässliche, grauviolette Farbe.“ -
Später, es war Frühling geworden, kamen die Dorfkinder zum Teich. Sie sahen es zuerst. Sie schwenkten die Arme, liefen aufgeregt hin und her und riefen immer wieder, bis das ganze Dorf es wusste:
„Oh, schaut doch, schaut, ein Schwan! Ein neuer weißer Schwan ist zu uns gekommen.“
Nahezu eine Stunde dauerte das Märchen.
Nach einer Pause – es herrschte atemlose Stille – sagt Wanda: „Manchmal benötigt es einen langen Weg, zum Ziel zu kommen.“
Dann spricht Wanda noch das Anderssein an, das jeder Persönlichkeit anhaftet, ja, erst zur Persönlichkeit werden lässt: „Die Problematik des Ausgestossenseins steht im Mittelpunkt zahlreicher Märchen und Mythen. Die Helden solcher Geschichten müssen oft ohne eigenes Verschulden, unter den Folgen eines Ereignisses außerhalb ihrer Kontrolle leiden, meistens, weil ein wichtiges Detail aus Ignoranz, Naivität oder purer Bosheit von der Umwelt ausgehend, übersehen wird. In dem Märchen von Dornröschen wird die dreizehnte Fee vergessen und nicht zur Taufe des Königskindes eingeladen, woraufhin das Neugeborene mit einem Zauberspruch behaftet wird, der sämtliche Mitglieder des Königshauses in einen hundertjährigen Zustand symbolhafter „Eingeschlafenheit“ versetzt. Würdet ihr nun wollen, dass ich Euch – vorausgesetzt es wäre mir möglich – in junge Menschen verzaubern könnte?“
Diese Fragestellung ergibt eine lebhafte Diskussion verbunden mit der jeweils eigenen Rückblende, angestoßen vom soeben gehörten Märchen. Selbst die älteren Menschen, deren Geist zeitweise verwirrt scheint, haben in diesem Augenblick ein klares Erinnerungsvermögen, Gelebtes wird lebendig.
Umständlich, aber zielsicher, rückt Wendelin seinen Stuhl in die Nähe von Wanda.
„Vielleicht könnte ich Sie in eine junge Frau verzaubern, wie wäre es dann mit Ihrer Antwort?“
„Ich brauche keine Verwandlung, ich bin jung. Hier, ganz tief drinnen“, bei diesen Worten zeigt Wanda auf ihr Herz und lacht.
„Ja, Sie sind wirklich erfrischend jung. Eine zauberhafte Märchenfee, in die man sich verlieben könnte.“ Leise fügte er hinzu: „Das habe ich vielleicht schon getan.“
Wanda sieht ihn schelmisch lachend an. Sie hat etwas von verlieben gehört, aber genau verstanden hatte sie es nicht.
Egal, es geht ihr gut und sie freut sich, dass sie die Menschen hier mit dem Märchen ein wenig hatte entführen können, aus dem Alltag und der Eintönigkeit des Seniorenhauses in eine Zauberwelt, die den Kindern ebenso gehört wie den Erwachsenen. Und ganz sicher auch den älteren Menschen zum Verweilen einlädt.
Die lebhafte Diskussion wird durch das Klingelzeichen, dass das Abendessen ankündigt, beendet. Wanda träg ihr Kissen in ihr Zimmer. Dann räumt sie die Kerzen weg. Gerade will sie den Paravent in ihr Zimmer bringen, da steht Wendelin neben ihr. Galant bittet er, das Wegräumen des Paravents ihm zu überlassen. Sie antwortet nicht, wobei sie ein Lächeln unterdrückt.
Er hat einige Mühe, den Paravent zu tragen ohne ihn zusammen zu klappen. Wanda hilft ihm, indem sie den Paravent mit einigen geschickten Handgriffen verkleinert.
Dann legt sie ihre Hände auf den Rücken und überlässt Wendelin den Rest des Aufräumens.
Als Kind hatte sie immer ihre Hände auf dem Rücken gefaltet, um eine Situation diszipliniert zu überstehen. Es war beim Einkaufen im Supermarkt, wenn es um Spielsachen oder Süßigkeiten ging, die verführerisch an jeder Ecke greifbar angeboten wurden.
Zuletzt noch einmal an der Kasse. Wenn man dann in einer Schlange warten musste, wurde die Versuchung, doch noch Kaugummi oder Schokolade in den Korb zu legen, besonders groß. Bis zum letzten Moment im Supermarkt musste man die Hände auf dem Rücken halten, wollte man mit der Mutter keine Probleme bekommen.
Oder beim höflichen Hände schütteln, was sie hasste und später auch für sich immer bewusst entschied, ob sie nun ‚shake hands’ machen wollte oder nicht. Bei ihren Auslandsaufenthalten hatte sie es als sehr wohltuend empfunden, ohne dieses shake hands sich zu begrüßen und zu verabschieden.
Heute nun hat sie erneut die Situation für sich entschieden, indem sie ihre Hände auf dem Rücken hält und sich der männlichen Hilfe anvertraut. Oh, war das schmeichelhaft, hier im Seniorenhaus ganz plötzlich wieder als Frau wahrgenommen zu werden.
‚Eigentlich denke ich, dass ich das auch noch mit Siebzig, Achtzig oder Neunzig erleben werde. Nun glaube ich ganz fest daran. Denn ich werde mich ja nun nicht mehr sehr verändern. Aus dem Seniorenhaus werde ich nicht mehr auf die Penne gehen, werde keinen Tanzkurs mehr besuchen oder gar in der Disco steppen. Tanzkurs, wer weiß? Also, es geht weiter. Angemessen, aber eben doch anders, vielleicht etwas besonnener. Aber letztlich behalten die Urkräfte im Menschen, die eigentlich nur der Fortpflanzung dienen sollten, will man der Lehre der Kirche folgen, ihre uneingeschränkte Gültigkeit.
Ich denke an die unverminderte Anziehungskraft zwischen den Geschlechtern. Sie endet nicht mit einem bestimmten Alter.
‚Leben, lernen und lieben werden wir bis zum letzten Atemzuge.’
So hat Sheldon Kopp, ein Psychotherapeut aus Amerika, es formuliert.
‚Einkaufstag! Ich brauche Rotwein und etwas Obst. Der Rotwein gehört zu meinem abendlichen Ritual, bevor ich zu Bett gehe. Und eben dieser Rotwein ist mir ausgegangen. Das heißt, ich habe eine Reserve von zwei Flaschen. Aber nur für den Notfall. Wenn ich einmal krank sein sollte.’
Wanda mag es, Frau Wind einfach mal zuzuhören, was Frau Wind natürlich sehr begrüßt.
Frau Bach, sie wohnt Wanda gegenüber, bittet häufig, Schokolade für sie zu besorgen.
Aber nur Noisette Schokolade. Manchmal bringe ich eine kleine Packung edler Pralinen mit, Feodora oder Lind bevorzugt die Dame. Ein kleines Schwätz’chen wird von Frau Bach ebenfalls geschätzt – vielleicht hat es sogar einen größeren Wert als die Süßigkeiten.
Nie zuvor im Leben ist es so schwierig, Zeit – die Zeit, die übrig bleibt – sinnvoll zu füllen. Wanda hatte immer zu wenig Zeit. Und nun erfährt sie, dass alte Menschen zu viel Zeit haben. Sie wissen alleine oft nichts mit der noch verbleibenden Zeit anzufangen.
Zeit ist kostbar, so war es ein ganzes Leben lang, und nun?
Herr Knopf braucht immer Tabak. Er dreht sich seine Zigaretten selber. Dann sei er beschäftigt und rauche weniger. Ein gütiger, älterer Herr, ganz Kavalier der alten Schule. Wenn Wanda bei ihm klingelt, begrüßt er sie immer mit einem Handkuss, dezent, galant.
Sicher gab es früher nicht wenige Damen, die sich für ihn interessierten. Hier nun lebt er sehr zurückgezogen.
Für Ms Wighton bringe ich eine Zeitung in englischer Sprache mit. Die bekomme ich am Bahnhof. Nur ein kleiner Umweg.
Zu ihr werde ich zum Tee gehen. Wir beide plaudern gerne etwas miteinander. Für Ms Wighton ist es erholsam, und für mich ist es ein Vergnügen, in ihrer Sprache zu kommunizieren.
Ms. Wigthon kommt aus Schottland. Für sie ist es ungeheuer wichtig, dass sie Schottin ist, nicht Engländerin, nicht irischer Herkunft, nein, sie ist eine echte Schottin. Sie leidet darunter, von ihrer Familie getrennt zu sein.
Vor Jahren kam sie mit ihrem Mann nach Deutschland, aus beruflichen Gründen. Sie sei nicht mehr zurückgegangen, da sie zwei Herzen in der Brust habe. Das würde sich auch nicht ändern, wenn sie in ihrer Heimat leben würde. Immer würde ihr das fehlen, was sie gerade nicht hat. Außerdem liebt sie den Süden, Italien und Frankreich. Von hier aus sind diese sonnigen Ziele näher als von Schottland aus. Diese kürzere Distanz zum Süden war einer der Gründe für sie und ihren Mann, sich hier in Deutschland niederzulassen.
Ihre Kinder waren in Schottland geboren und zur Schule gegangen. Den Schulabschluss machten sie in Deutschland. Später dann ging Ihre älteste Tochter zurück nach Schottland und heiratete dort. Sie kam nur zu Besuchen nach Deutschland. Ihr Sohn blieb hier. Dann geschah das Unfassbare. An seinem 18. Geburtstag hatte er einen Autounfall und konnte nur noch tot geborgen werden. Er wurde in der Morgendämmerung gefunden. Jede Hilfe kam zu spät. Ms Wighton hat den Verlust ihres Sohnes nie überwunden. Nachdem auch ihr Mann gestorben war, kam sie ins Seniorenhaus. Hier, so sagt sie, sei sie gedanklich ihren beiden Männern sehr nahe. Sehr häufig rede sie mit den beiden. Dabei ist keine Traurigkeit bei ihr zu spüren. Sie trifft ihre Vorbereitung auf ein Wiedersehen mit ihrem Mann und ihrem Sohn. Nein, sie ist nicht verschroben. Sie hat eine Möglichkeit gefunden, ihr Schicksal anzunehmen.’
Herr Mehl spricht sehr laut. Man hört ihn über den ganzen Flur hinweg. Wanda mag ihn nicht. Vielleicht stört sie deshalb seine laute Stimme. Sein Hörvermögen ist eingeschränkt. Er gehört zu den Menschen, die von der Basis her unzufrieden und humorlos sind. Nichts für Wanda.
Und dann ist da noch Frau Busch. Eine kultivierte, gebildete Dame. In fünf Sprachen kann sie lesen und schreiben. Sie muss durch eine längere Phase von Einsamkeit und Schmerz gegangen sein. Dabei wurde der Alkohol ihr einziger, ständiger Begleiter, der zeitweise ihren Geist verwirrt. Sie muss wohl einmal sehr verletzt worden sein, Sie hat ein Misstrauen den Menschen gegenüber entwickelt, das ihrer verletzten Seele Schutz vor weiteren Verletzungen und Enttäuschungen bietet. Wenn man jedoch ihr Vertrauen gewonnen hat, so hat man für kurze Zeit eine interessante Gesprächspartnerin gefunden. Wenn sie Zuwendung erlebt, und das Misstrauen überwunden ist, entspannt sie sich. Ihre Erinnerungen kehren zurück. Sie erzählt von Reisen nach Italien. In Florenz hat sie einige Semester Kunst studiert. Ihre Schilderung von der ewigen Stadt Rom ist geradezu so, als würde man mit ihr gemeinsam auf der Spanischen Treppe sitzen und augenblicklich die Atmosphäre spüren. Während des Erzählens erinnert sie sich plötzlich an ihre Tochter, die in Rom lebt. Sie schweigt. Ihr Körper nimmt eine leicht starre Haltung an. Sie scheint müde zu sein. Ihre Augen verändern sich. Der Blick wird leer. Es ist, als wäre die Türe zu dem Gestern nun wieder verschlossen.
Wanda verabschiedet sich.
‚Heute Abend werde ich ihr den Wein bringen, den ich für sie in der Stadt kaufen werde. Ich habe mit ihrem Arzt und mit ihrer Tochter vereinbart, dass sie abends ihr Glas Wein trinken kann. Es wird ihr helfen, einen ruhigen Schlaf zu finden.’
Frau Hubertus hat eine taubstumme Tochter. Bis vor kurzem lebten die beiden Damen zusammen. Nun wollte die Tochter, die durch die Gehörlosensprache, die sie schon als junges Mädchen gelernt hat und dadurch unabhängig wurde, ein eigenes Leben führen. Eine immense Überzeugungsarbeit war erforderlich gewesen, Frau Hubertus Zustimmung zur neuen Lebensform der Tochter zu bekommen. Für Frau Hubertus war die Eingewöhnungszeit sehr schwierig. Aber nun ist sie glücklich, hier zu sein.
„Ein neues Leben hat begonnen. Und wissen Sie, ich glaube, ich habe mich sogar noch einmal ein bisschen verliebt.
Herr Schneider, Sie kennen ihn doch. Der mit dem Hund.
Meine Katze und sein Hund, sie mochten sich vom ersten Augenblick an. Ist das nicht Zeichen von oben?“
Ein verträumtes Lächeln umspielt ihre Mundwinkel.
Jeden Tag führt Herr Schneider seinen Hund spazieren. Dabei lernt er andere Menschen kennen. Hundebesitzer finden leicht Kontakt. Bei Gleichgesinnten gibt es dann einen kleinen Plausch. Die Katze von Frau Hubertus trägt nun auch ein Halsband beim Spazierengehen. Seit Herr Schneider mit Frau Hubertus und Hund und Katze kommen, hat sich die Schar der Damen um Herrn Schneider bis auf einige wenige, vermindert.
Wanda findet es schön, dass sich zwei Menschen im Alter noch einmal verlieben können.
Frau Barossa war Schauspielerin am Wiener Theater. In ihrer Wohnung hängen an den Wänden ihre Fotos aus „der guten alten Zeit.“ Sie war wohl in Theaterkreisen zu ihrer Zeit, in den 50ziger und 60ziger Jahren, erfolgreich und sehr bekannt. In Zeitschriften, die sie aufgehoben hat, finden sich Fotos von ihr und eine positive Kritik.
Einmal schmückte sie sogar als Hauptdarstellerin das Cover einer österreichischen Frauenzeitschrift.
„Das ist Vergangenheit. Dieser Glanz verblasst sehr schnell und zurück bleibt nur die Erinnerung.“
„Und ein außergewöhnliches, ein erfülltes Leben.“
„Ja, und Einsamkeit.“
„Haben Sie sich nicht ein wenig mit Frau Feterowski angefreundet? Sie kommt auch aus Österreich, ich glaube aus Linz?“
„Sie haben Recht, wir beide verstehen uns und es fühlt sich gut an, in der Heimatsprache miteinander zu reden. Sie ist eine Dame, feinsinnig und mit Humor. Ein Zufall, dass wir uns hier im fremden Land begegnen. Finden Sie nicht?“
„Wunderbar.“
Frau Barossa bittet mich, ihr Champagner mitzubringen, etwas Salzgebäck und Käsewürfel.
„Wenn Frau Feterowski abends kommt, trinken wir manchmal ein Gläschen, nicht immer nur Wasser.“
Frau Barossa ist gehbehindert, aber mit ihrer Freundin geht sie mit Hilfe ihres Rollators bei gutem Wetter in den Garten. Weiter schafft sie es nicht. In einen Rollstuhl mag sie sich nicht setzten „Noch nicht“ wie sie immer wieder bemerkt.
Herr Fiedler ist gehbehindert. „Zum Einkaufen reicht es nicht mehr.“ Daher ist er dankbar, dass Wanda ihm Zeitschriften, fünf Zigarren und „etwas für die Seele“, damit meint er einen guten Cognac und Feodora Pralinen, mitbringt.
Er war Banker, liest „Das Capital“, den „Spiegel“ und manchmal auch den „Stern“.
Diese Besuche sind zu einem Ritual geworden. Zweimal in der Woche geht Wanda in die City um die Einkäufe zu erledigen. Es ist ein relativ kleiner Laden. Hier kaufen die älteren Leute aus dem Ort ein, die sich seit Jahren kennen und so werden dann hier alle Neuigkeiten ausgetauscht.
Wanda kennt hier kaum jemanden und außer einem höflichen Wortwechsel mit der Kassiererin redet sie mit niemandem. Mit ihrem langen Rock, der gelben Bluse und dem dunkelblauen Rucksack auf dem Rücken, zieht sie teils verwunderte, teils fragende Blicke auf sich. So sorgt sie heute wieder mal für ein Gesprächsthema im Ort.
Als sie mit prall gefülltem Rucksack und einer Tasche die Treppe zu ihrem Appartement heraufsteigt, glaubt sie, eine Gestalt vor ihrer Eingangstüre gesehen zu haben. Aber ihre Türe ist abgeschlossen und sie schenkt dieser vermeintlichen Täuschung keinen weiteren Gedanken.
Ganz fest drückt sich Wendelin in die dunkle Nische der gegenüberliegenden Wand. Er hatte so lange gewartet, hier an Wandas Türe, er wollte sie unbedingt sehen und dann einfach ansprechen.
Als er nun ihre Schritte auf der Treppe hört, verlässt ihn der Mut. Alles, was er ihr hatte sagen wollen, ist weg.
Er kommt sich wie ein Dieb vor oder etwas ähnliches. Was ist mit ihm passiert? Mein Gott, das ist aber doch verrückt. Ja, es ist eine verrückte Situation.
Vergessen wir es. Selbstbewusst geht er den Flur entlang zu seinem Appartement. Als er an Wandas Türe vorbei kommt, wird sein Schritt ein wenig unsicher. Das ignoriert er. Dabei hat er heute den ganzen Tag an nichts anderes als an sie, Wanda, denken müssen. Er hatte so gehofft, dass er sie beim Mittagessen sehen würde. Verzweifelt überlegt er, wie er es wohl einrichten könnte, an ihrem Tisch zu sitzen? Jeder hat hier seinen festen Platz beim Essen. Und er hätte es schon überzeugend begründen müssen, seinen Platz zu wechseln. Das Problem ist, dass es nur über einen Tausch möglich ist, an dem begehrten Tisch zu kommen. Denn gerade an diesem Tisch sind alle Plätze besetzt. Erschwerend kommt noch hinzu, dass es ein ausgesprochener Damentisch ist. Es sitzt kein Herr an diesem Tisch. Angestrengt sucht er nach einem überzeugend wirkenden Vorwand, diesen von ihm so begehrten Platz an Wandas Tisch zu ergattern.
Dabei muss dieses Vorgehen sehr behutsam eingeleitet werden. Denn er will keinesfalls Anlass zu Spekulationen geben. Da aber der Alltag hier ziemlich eintönig ist, ist jeder Anlass zu einer Diskussion höchst willkommen. Einen Platzwechsel würde man im ganzen Restaurant sofort bemerken. Ja, es könnte zu einem brisanten Thema werden. Das würde sich niemand entgehen lassen.
Im Augenblick sieht er keine Möglichkeit, in dieser Angelegenheit weiterzukommen. Also nimmt er seinen bisherigen Platz wieder ein. Hin und wieder schaut er zu Wanda. Dabei gelingt es ihm sogar einen Augenkontakt herzustellen. Nun gut. Wenigstens etwas. Nach dem Mittagtisch verlässt er wie zufällig neben Wanda das Restaurant. Sie nimmt die Treppe, wobei alle anderen mit dem Aufzug hochfahren. Er nimmt auch die Treppe. So sind sie für wenige Minuten alleine. Diese Zeit muss er für ein Gespräch nutzen.
„Hat es Ihnen geschmeckt?“, sogleich findet er, dass seine Worte so banal sind wie Wetterfloskeln.
„Ach ja, danke, ich bin ziemlich anspruchslos, was das Essens betrifft. Ich lebe nahezu vegetarisch. Ganz wenig Fleisch, lieber Gemüse und Salat. Zum Dessert nehme ich Obst, wenn es nicht gerade Moussè áu Chocolate gibt. Aber das ist ja eher selten.“
„Wann verwöhnen Sie uns denn noch einmal mit einer Märchenstunde?“, will er wissen. Er möchte eine Unterhaltung so lange wie möglich fortsetzten.
„Ich bin dabei, etwas anderes zu planen. Ich denke an eine Gesprächsrunde. Vielleicht wäre das eine Möglichkeit für alle Bewohner, eigene Ideen oder Wünsche einzubringen. Es bedarf sicher mehrerer Gespräche, um das Vertrauen der Teilnehmer zu gewinnen und sie zum Diskutieren zu bewegen. Aber es könnte eine lohnende Sache werden, wenn Kommunikation und Kreativität geweckt werden. Damit erhöht sich die Lebensqualität. Die Themen müssen so gewählt sein, dass sie ein breites Interessengebiet abdecken.“
Nach einer kurzen Pause, sie sind an der Eingangstüre zu Wandas Zimmer angelangt, sagt Wanda: „Was halten sie davon, mir bei dabei zu helfen? Ich könnte mir vorstellen, dass es eine gute gemeinsame Sache werden könnte, Teamwork sozusagen.“
Wendelin kann zuerst nicht antworten. Ihre Frage kommt so unerwartet für ihn. „Oh, ja, ich … ich weiß nicht, ich muss darüber nachdenken.“ Dabei hätte er am liebsten jubelnd zugestimmt. Aber, es war einfach doch sehr überraschend für ihn.
Später, in seinem Sessel sitzend, glaubt er, als Mann sehr klug gehandelt zu haben, indem er seine Antwort offen gelassen hatte.
So machen es die Damen ja auch. Sie lassen die Herren ja auch ganz gerne zuerst einmal in Unsicherheit. Oder sind das alte Kamellen? Überholtes Verhalten, das heute keine Gültigkeit mehr hat? In einem Hochgefühl, das er seit sehr langer Zeit nicht mehr erlebt hat, schläft er auf seinem Sessel ein.
‚Anpassen’ so schwirrt es durch Wandas Kopf, ist ein Wort, mit dem sie schon als kleines Mädchen Probleme hatte. Sätze wie:
Sich altersangemessen verhalten! Das tut man nicht! Es ist zum Besten für dich! Das machen gut erzogene Mädchen nicht. Das schickt sich nicht!
Buh, noch heute kann sie sich geradezu aufregen, wenn sie diese Sätze hört. Woher nur dieses ‚Anpassen’ jetzt?
Morgens um 7:30 Uhr beginnt das Frühstück im Speiseraum. Restaurant, das wäre ein viel besseres Wort. Dann hätte man das Gefühl im Hotel zu wohnen. Obwohl, man kann am Frühstücksbuffet wählen. Ein Vorteil, den Wanda ganz bewusst bei der Entscheidung, hier ihren Wohnsitz zu nehmen, berücksichtigt hat. Die Redewendung, letztes Zuhause, letzter Lebensabschnitt, das hasst sie genauso wie angepasst zu sein. Sie hat nämlich ganz heimlich beschlossen, noch etwas ganz anderes zu erleben. Das Letzte ist dieses hier für Wanda nicht. Mögen alle anderen das auch glauben. Wanda spürt wieder neue Energie, die sie voran treibt. Sie erlebt dieses hier als eine Übergangszeit, die sie dazu nutzt, ihre vielen Ideen wahrzunehmen und auszuwerten. Es hilft ihr, Realisierbares von Illusionen zu unterscheiden. Ruhezeit, zum Auffüllen von neuer Energie, nennt Wanda es. Morgens, wenn sie aufwacht, beginnt sie ihren Tag mit einer Gymnastik.
Die Übungen der fünf Tibeter basieren darauf, durch gezielte Bewegungen die Energie im Körper in einen harmonischen Fluss zu bringen. Das geschieht über das Ansprechen der Chakren, die über die Meridiane aktiviert werden. Es sind Übungen, bei der die Atmung angesprochen wird, der Geist und die Psyche mit dem Körper ins Gleichgewicht gebracht werden. Wir hier im Westen haben diese Form der Gymnastik von den Tibetern übernommen. Menschen in den Fünfzigern beginnen mit diesen Übungen und werden häufig Anhänger dieser Form der Gymnastik. Die Beweglichkeit des Körpers so lange wie möglich zu erhalten und darüber hinaus die Harmonie zwischen Körper, Seele und Geist zu fördern und zu festigen. Wanda strebt einem Ziel entgegen, dessen Umrisse noch unklar sind. Sie muss feststellen, was sie nicht will. Aus dem Schemenhaften entstehen Konturen und ergeben langsam das Wesentliche, das Ziel. Mit zunehmender Klarheit formt sich das Bild.
Etwa so: In Gedanken entsteht etwas Plastisches, etwas zum Anfassen. Aber jede gute Idee basiert auf einer Illusion und daraus entwickelt sich die Realität.
Wanda muss und will weg von hier.
‚Schiebe es nicht auf die lange Bank’, so hört sie ihre innere Stimme.
‚Wohin soll es diesmal gehen?’
Ich beginne heute mit einer kleinen Reise.
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Prolog
Seniorenresidenz
Die Ehe mit Jacob
Märchenstunde
Das Märchen von dem hässlichen Entlein
Senioren Flirt – späte Werbung
Einkaufstag
Ein Date
Christian
Wiedersehen
Marcel
Annehmen ohne Warum
Süd Afrika
Bluebergstrand
Missionshaus
Vergangenheit trifft Zukunft
Weiterreise
Plettenberg
Damals
Die Zeit danach
Süd-Afrika
Die Drakensberge
Krüger Park
Pretoria – das Innere von Süd Afrika
Die Kalahari
Namibia
Die erste Liebe
Eine Farm in Namibia
Etosha Pan
Lindas Rückblick
Amerika
Ferien in Windhok
Ein kurzer Weg, nur um die Ecke …
Ein neues Aufgabengebiet
Letzte Tage in der Etosha
Kalk Bay
Waisenhaus
Eine andere Geschichte?
Was nun?
Vergangenheit trifft Gegenwart
Lilli und Valery
Max
Das Ergebnis von Wandas Geständnis
Zwei Wochen später
Cape Town
Lillis Plan
Max und Linda
Windhok
Eifersucht nagt negativ
Ende und Anfang sind eins
Zurück bei den Kindern
Abschiedsbrief
Drei Wochen später
Wanda und Wendelin – Lina und Linus