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Wandern ist heute wieder modern geworden. Viele nehmen sich einen ganzen Tag oder länger Zeit, um draußen unterwegs zu sein. Aber was treibt die Menschen heute an? Welche Sehnsucht steckt dahinter? Anselm Grün zeigt in diesem Buch: Es geht beim Wandern nicht ums Ankommen wie beim Reisen. Denn man wandert, um unterwegs zu sein. So sehen viele Menschen das Wandern als Sinnbild für ihr Leben: Schritt für Schritt geht jeder in seinem Rhythmus, trägt seine Lasten, nimmt Umwege und kommt auf Irrwege. Beim Wandern wie im Leben gehen wir also auf Routen, die andere schon vor uns gegangen sind, und machen dabei doch auch unsere ganz eigenen Erfahrungen. Zudem hilft das Unterwegssein, den Kopf freizubekommen, einmal aus dem Hamsterrad auszusteigen und sich leicht zu fühlen. Und plötzlich spürt man, wie wenig man eigentlich wirklich braucht, um glücklich zu sein.
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Seitenzahl: 96
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie. Detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Printausgabe
© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2024
ISBN 978-3-7365-0561-2
E-Book-Ausgabe
© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2018
ISBN 978-3-7365-0569-8
Alle Rechte vorbehalten
E-Book-Erstellung: Sarah Östreicher
Lektorat: Marlene Fritsch
Covergestaltung: wunderlichundweigand
Coverfoto: Tobias Kreissl, München
www.vier-tuerme-verlag.de
Anselm Grün
Wandern
Vier-Türme-Verlag
Einleitung
Wandern ist heute wieder modern geworden. Viele nehmen sich einen ganzen Tag Zeit, um draußen unterwegs zu sein. Zahlreiche Menschen und Vereinigungen werben für das Wandern als sinnvolle, erholsame und gesunde Freizeitbeschäftigung. Allerorten sieht man Wanderer mit Rucksack und Stiefel durch die Lande ziehen. Was treibt sie alle auf den Weg? Ist es nur das Bedürfnis nach Bewegung, nach einem gesunden Gegengewicht zur bewegungsarmen Arbeit am Schreibtisch? Ist es das neue Gespür für die Natur? Kehrt die Romantik wieder zurück mit ihrer Verherrlichung des wandernden Gesellen? Oder entsteht eine neue »Wandervogelbewegung«, wie sie um 1900 die deutsche Jugendbewegung hervorgebracht hat? Vielleicht trifft von all dem etwas zu. Sie alle wollen sich freigehen von ihren alltäglichen Problemen und haben das Gefühl, dass ihr Kopf dabei wieder frei und aufnahmefähig wird. Auch Pilgern ist wieder modern geworden. Der Pilgerweg nach Santiago de Compostela ist auch heute noch oft überlaufen. Seit Hape Kerkeling im Jahr 2006 sein Buch »Ich bin dann mal weg« über seinen Pilgerweg nach Santiago de Compostela veröffentlicht hat, entstand ein regelrechter Run auf diesen Weg. Das Buch hat sich inzwischen einige Millionen Mal verkauft. Das zeigt, dass die Sehnsucht nach einer längeren Wanderung viele bewegt. Doch wie können wir diese Sehnsucht verstehen? Wonach sehnen sich die Menschen, wenn sie sich ein paar Tage frei nehmen, um in der Natur zu sein?
Da ist einmal die Sehnsucht nach einer Auszeit, die man sich vom alltäglichen Leben gönnt. Man möchte aus dem Hamsterrad aussteigen und etwas ganz anderes tun, einfach nur wandern, ohne dass man dabei eine Leistung vollbringen müsste.
Eine andere Sehnsucht zielt auf das einfache Leben. Auf eine Wanderung kann man nicht viel mitnehmen. Da muss man sich bewusst einschränken, damit der Rucksack nicht zu schwer wird. Auf einmal spürt man, mit wie wenig man auskommt.
Wieder eine andere Sehnsucht bezieht sich auf die Erfahrung der Natur. Wir wandern hindurch, nehmen ihre Schönheit wahr. Wir genießen es, durch schöne Landschaften zu spazieren. Aber wir erleben auch die Hitze des Tages, wenn die Sonne auf uns brennt, heftige Regenschauer und Wind, die uns nur schwer vorankommen lassen. Wir kommen der Natur näher und erfahren, dass wir selbst ein Teil davon sind. Die Natur bewertet nicht, sie lässt uns einfach sein, wie wir sind.
Wir begegnen uns selbst, wenn wir länger wandern. Wir wandern uns frei von den alltäglichen Sorgen und Problemen. Und wir sind in dieser Zeit »offline«, nicht erreichbar, dafür aber im Hier und Jetzt anwesend. Indem wir einfach gehen, spüren wir uns selbst, begegnen wir uns selbst, kommen wir zu uns selbst.
Dabei wählen wir bewusst einen Weg. Der Weg hat in allen Kulturen und Religionen eine tiefere Bedeutung. Das chinesische Wort »Tao« heißt Weg. Der Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung meint, eigentlich könne man es gar nicht übersetzen: »Das chinesische Zeichen für Tao ist zusammengesetzt aus dem Zeichen für ›Kopf‹ und dem Zeichen für ›Gehen‹. [...] ›Kopf‹ dürfte auf das Bewusstsein deuten, das ›Gehen‹ auf ›Weg zurücklegen‹. Die Idee wäre demnach ›bewusst gehen‹ oder ›bewusster Weg‹.«1 Taoismus heißt also eigentlich: Lehre des Weges.
Aber auch in der Bibel ist ständig vom Weg die Rede: Im Alten Testament sollen die Israeliten auf dem Weg gehen, den der Herr, ihr Gott, ihnen vorgeschrieben hat (vgl. Deuteronomium 5,33). Die Psalmbeter bitten Gott immer wieder, dass er ihnen den rechten Weg zeige (Psalm 25,4), damit ihr Herz nicht in die Irre gehe (Psalm 95,10). Dabei sind sie voller Vertrauen, dass Gott sie auf ihren Wegen schützt: »Denn er befiehlt seinen Engeln, dich zu behüten auf all deinen Wegen« (Psalm 91,11). Im Neuen Testament nennen die Christen zu Beginn ihre Lehre abgrenzend zum jüdischen Glauben den »neuen Weg« (Apostelgeschichte 22,4 in der Übersetzung der Einheitsübersetzung 1980).
Auch in der spirituellen Tradition wird unser Leben oft als Pilgerweg oder als Aufstieg zum Berg Karmel (Johannes vom Kreuz) bezeichnet. Indem wir wandern, erahnen wir etwas vom Geheimnis unseres Lebensweges. Die Philosophen sprechen auch von Denkwegen. Der Theologe Romano Guardini meinte einmal, dass er sich seine wichtigsten Gedanken ergangen hat. Im Umfeld der Burg Rothenfels, auf der Guardini tätig war, gibt es heute noch den Philosophenweg, den er gerne ging, wenn er dort Kurse für Jugendliche gab. Auf diesem Weg sind viele seiner Ideen geboren worden, die er dann später in seinen Büchern niederschrieb. Der Philosoph Friedrich Nietzsche hat wohl eine ähnliche Erfahrung gemacht, wenn er meint, wir sollten keinem Gedanken trauen, der uns im Sitzen kommt.2
Reisen ist jedoch etwas anderes als Wandern. Man reist, um an ein Ziel zu kommen – man wandert hingegen aber, um unterwegs zu sein, um auf dem Weg zu bleiben. So sehen viele Menschen das Wandern als Sinnbild für ihr Leben. Es ist ebenfalls ein Weg. Schritt für Schritt geht jeder seinen eigenen, trägt seine Lasten mit. Es gibt Umwege, Irrwege, Durststrecken, beschwerliche und leichte Wege. Man geht miteinander, wir gehen aufeinander zu. Wir gehen Wege, die andere schon vor uns gegangen sind, und machen auf dem Weg unsere eigenen Erfahrungen.
Wenn wir mit anderen gemeinsam wandern, spüren wir untereinander eine tiefe Verbundenheit, entsteht Gemeinschaft. Als ich noch in der Jugendarbeit aktiv war, bin ich zehn Jahre lang im Sommer jeweils eine Woche mit Jugendlichen durch den nahegelegennen Steigerwald gewandert. Zwischendrin haben wir bewusst eine Stunde lang geschwiegen. Die Woche, in der wir gemeinsam unterwegs waren, hat uns zusammengeschweißt. Einer war für den anderen verantwortlich. Wir nahmen Rücksicht, wenn manche Probleme mit ihren Füßen bekamen oder mal nicht so fit waren, um alle Wege mitzugehen. Und wir haben gemeinsam die Strapazen bewältigt. Das hat uns in einer tiefen Weise miteinander verbunden.
Beim Wandern wird die Gemeinschaft neu erfahrbar. Die körperliche Anstrengung verbindet miteinander, stärker, als das manchmal Gespräche vermögen. Menschen verschiedenster Prägung wachsen beim Wandern zusammen, sie werden solidarisch, Weggefährten. Wandern formt den Menschen mit Leib und Seele. Alle Sinne werden angesprochen. Der ganze Mensch ist einbezogen, er erfährt sich auf dem Weg, lebendig, noch einer Wandlung fähig. Er wird als ganzer erfahren, als ganzer gewandelt.3
Für viele hat das Wandern auch eine religiöse Seite. Daher machen sich heute nicht nur viele Menschen auf den Weg in die Natur, sondern es gibt auch ein neues Interesse für Pilgerwege und Wallfahrten. Religiöse Wanderkurse werden heute allerorten angeboten und ziehen viele Jugendliche an. Auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela sammeln sich Wegsucher aus der ganzen Welt, nicht nur junge Menschen, sondern gerade auch solche in der Lebensmitte und jene, die einen Weg aus einer Krise suchen.
In dieser Absicht ist auch Paulo Coelho diesen alten Pilgerweg gegangen. Mit seinem Buch »Auf dem Jakobsweg«4 hat er Millionen von Lesern erreicht und in ihnen die Neugier auf diesen Weg geweckt. Die vielen Menschen, die auf den alten oder neuen Pilgerstraßen wandern, erwarten sich davon eine innere Verwandlung. Die Christen unter ihnen erhoffen auf ihrem Pilgerweg eine intensivere Begegnung mit Christus. Sie wollen ein Stück Christus nachfolgen, ihm nachgehen, von ihm beim Wandern mehr erfahren als durch Bücher und Vorträge. Sie wollen seine Existenz begreifen – die eines Wanderpredigers, der drei Jahre lang sozusagen ohne festen Wohnsitz durch Palästina zog. Sie wollen etwas erahnen von der Kirche als einer Weggemeinschaft, vom pilgernden Volk Gottes.
Das Zweite Vatikanische Konzil hat die Kirche als das wandernde Gottesvolk bezeichnet. Wir gehen mit allen Menschen, ganz gleich, ob gläubig oder nicht, ganz gleich, welcher Religion sie angehören, den Weg durch diese Welt. Wir sprechen auf gleicher Augenhöhe mit ihnen und suchen gemeinsam wandernd nach dem Geheimnis unseres Lebens und nach dem Geheimnis, das uns alle umschließt, nach Gott.
In diesem Buch möchte ich auf der einen Seite die rein menschliche und weltliche Seite des Wanderns beschreiben, dann aber bewusst auch die spirituelle Seite. Daher werden in diesem Buch viele Texte aus der Heiligen Schrift und aus der monastischen Tradition herangezogen, die uns helfen sollen, das Wandern in seiner religiösen Dimension zu verstehen, als eine Weise leibhafter Meditation unserer christlichen Existenz, als Einübung unseres Glaubens, der seit Abraham wesentlich eine Wegstruktur hat: Ausziehen aus dem Vertrauten und sich aufmachen in das Land der Verheißung.
Man kann den Glauben auf verschiedene Weise einüben: Man kann darüber nachdenken und es sich bewusst machen, was es heißt, zu glauben, auf Gott in allen Situationen seines Lebens zu vertrauen. Man kann Texte aus der Bibel lesen, die einen den Glauben verstehen lassen. Man kann ein einzelnes Schriftwort meditieren und in sich hineinfallen lassen. Oder man kann einfach auf die Stille hören und schweigend meditieren.
Man kann den Glauben aber auch lernen, wenn man auf seinen Leib hört, sich im Leib einübt in das rechte Atmen, in die rechte Gebärde. Das Gehen gehört zu letzterer Form der Meditation. Es ist eine Meditation im Leib und mit dem Leib. Wenn der Glaube in der Bibel mit Begriffen wie »ausziehen, pilgern, unterwegssein« ausgedrückt wird, so kann man etwas von seinem Wesen verstehen, indem man sich auf den Weg macht. Unsere Begriffe für etwas wurzeln häufig in körperlichen Erfahrungen. Und man kann an den Kern der Begriffe nicht nur durch Reflexion herankommen, sondern auch, indem man die Erfahrungen wiederholt, aus denen sie gebildet werden.
In diesem Sinn ist das Gehen ein Versuch, den Glauben einzuüben, sich den Glauben zu ergehen. Dabei gibt es verschiedene Methoden:
Die erste ist, das Gehen selbst als Meditation zu nehmen. Man versucht, ganz bewusst zu gehen und im Gehen zu spüren, was man da eigentlich tut. Man braucht es nicht mit Inhalten zu befrachten, über die man währenddessen nachdenken will, sondern das Gehen selbst ist Meditation. Indem ich bewusst gehe, übe ich den Glauben ein, wie ihn die Heilige Schrift beschreibt: als ausziehen, unterwegssein, auf Gott hin pilgern. Diese Form der Meditation werden wir vor allem bei den ersten Mönchen finden.
Eine zweite Methode, die ebenfalls von den Mönchen praktiziert wurde, besteht darin, dass man mit einem Wort unterwegs ist. Gehend wiederholt man beständig das gleiche Wort, meistens einen Psalmvers, häufig einen, der mit dem Gehen zu tun hat und es uns tiefer verstehen lässt.
Die dritte Methode ist ähnlich. Doch man ist nun nicht mit einem Wort unterwegs, sondern mit einer Geschichte. Wir werden in der Heiligen Schrift viele Weggeschichten finden. Man kann sich mit einer solchen auf den Weg machen und wird sich gehend in die Geschichte hineinverwickeln, sich in die Rollen der Geschichte hineingehen und sich so den Sinn und die Erfahrung der Geschichte ergehen. Man nimmt selbst teil an der Geschichte, erfährt ihre heilende oder erhellende Wirkung an sich selbst.