Wandernde Himmel - Hao Jingfang - E-Book

Wandernde Himmel E-Book

Hao Jingfang

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Beschreibung

Zwei Gesellschaften und eine große Frage: Wie wollen wir leben? 2096: Die Erde hat eine Kolonie auf dem Mars gegründet, um neuen Lebensraum zu erschließen. Doch die will unabhängig sein: Während die Mars-Bewohner den Raubtierkapitalismus der Erde verdammen, halten die Erdenmenschen den Roten Planeten für ein System unkontrollierter Alleinherrschaft. Zur Verständigung zwischen den Völkern sendet der Mars hundert Jahre später einige Jugendliche auf die Erde – darunter auch die kürzlich verwaiste Luoying, eine Enkelin des Mars-Machthabers. Ihr Bruder bleibt zurück. Fünf lange Jahre dauert es, bis die nun erwachsene Frau den loyalen und erfolgreichen Rudy in der roten Heimat wiedersieht. Die Weltenwanderin Luoying muss sich entscheiden: für oder gegen das starre System – mit möglicherweise tödlichen Konsequenzen nicht nur für sie selbst. Zwei Welten und ein großer Roman: die preisgekrönte Autorin aus China

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Hao Jingfang

Wandernde Himmel

Roman

Aus dem Chinesischen von Marc Hermann

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Zwei Gesellschaften und eine große Frage: Wie wollen wir leben?

 

2096: Die Erde hat eine Kolonie auf dem Mars gegründet, um neuen Lebensraum zu erschließen. Doch die will unabhängig sein: Während die Mars-Bewohner den Raubtierkapitalismus der Erde verdammen, halten die Erdenmenschen den Roten Planeten für ein System unkontrollierter Alleinherrschaft. Zur Verständigung zwischen den Völkern sendet der Mars hundert Jahre später einige Jugendliche auf die Erde – darunter auch die kürzlich verwaiste Luoying, eine Enkelin des Mars-Machthabers. Ihr Bruder bleibt zurück. Fünf lange Jahre dauert es, bis die nun erwachsene Frau den loyalen und erfolgreichen Rudy in der roten Heimat wiedersieht. Die Weltenwanderin Luoying muss sich entscheiden: für oder gegen das starre System – mit möglicherweise tödlichen Konsequenzen nicht nur für sie selbst.

 

Zwei Welten und ein großer Roman: die preisgekrönte Autorin aus China

Über Hao Jingfang

Hao Jingfang, geboren 1984 in Tianjin, studierte Physik, machte ihren Ph.D. in Wirtschaftswissenschaften und arbeitet heute für die China Development Research Foundation in Beijing. Ihre Wissensbereiche kommen in ihren Texten aufs fruchtbarste zusammen: 2002 gewann sie ihren ersten Literaturpreis. Für ihre Erzählung «Peking falten» erhielt sie als erste chinesische Frau 2016 den Hugo Award, einen der wichtigsten Preise für Science-Fiction-Literatur – nach «Die drei Sonnen» von Bestsellerautor Cixin Liu erst der zweite Text aus China, dem das gelang. Hao Jingfangs Bücher verkauften sich in ihrem Heimatland über eine Million Mal. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Erstes Buch

Rückkehr auf den Mars

Prolog

Die jungen Leute waren in der einen Welt geboren und in der anderen Welt groß geworden.

Die eine Welt war ein Hochhaus, in dem strenge Regeln herrschten. Die andere Welt, in der sie erwachsen wurden, war ein verwilderter Garten. Hier ein erhabenes Projekt, das mit feierlichem Ernst betrieben wurde, dort ausschweifende Partys, auf denen alle ungeheuren Spaß hatten. Beide Welten waren über die jungen Leute hereingebrochen, ohne dass man sie um ihre Meinung gefragt oder auf ihre Gefühle Rücksicht genommen hätte. Das Rad des Schicksals war unaufhaltsam über sie hinweggerollt.

Was im Hochhaus erbaut wurde, wurde im Garten wieder zerstört, was bei den ausschweifenden Partys in Vergessenheit geriet, an das erinnerte man sich im Projekt. Wer nur im Hochhaus gelebt hatte, wusste nichts vom Krieg, wer nur gefeiert hatte, interessierte sich nicht für gesellschaftliche Visionen. Nur diese Gruppe junger Leute hatte den Wechsel zwischen beiden Welten bewusst erlebt. Nur sie hatte gesehen, wie mitten in der Wüste Regen fiel und über Nacht eine Wiese voll wundersamer Blumen erblühte.

Was das für junge Leute waren? Und warum das Los gerade auf sie gefallen war? Die Antwort auf diese Fragen lag irgendwo versteckt in zweihundert Jahren komplizierter Geschichte. Sie selbst hätten es nicht erklären können – und wohl auch sonst kaum jemand. Vielleicht waren sie die jüngsten Opfer in der jahrtausendealten Geschichte des Exils. In ihrem Alter hatten sie noch keine Vorstellung vom Schicksal, und doch wurden sie mitten in ihr Schicksal geschleudert. Sie wussten noch nichts von der anderen Welt, als man sie dorthin verschickte. Ihr Exil fing schon zu Hause an. Den Lauf des Schicksals konnten sie nicht ändern.

Unsere Geschichte beginnt mit der Heimkehr dieser jungen Leute. Ihre lange Reise nähert sich dem Ende, doch ihr wahres Exil beginnt erst jetzt.

Diese Geschichte handelt davon, wie die letzte Utopie zugrunde ging.

Das Schiff

Langsam wie ein Wassertropfen glitt das Schiff durch die dunklen Tiefen des Alls seinem Landeplatz entgegen. Es war ein altes Schiff, und es schimmerte in einem matten Silber wie eine Medaille, deren Prägung mit den Jahren unleserlich geworden war. In der schwarzen Leere wirkte es einsam und winzig. Es bildete eine Linie mit Sonne und Mars – die Sonne am fernen, der Mars am nahen Ende und dazwischen das Schiff. Sein Kurs war so gerade, als hätte ein unsichtbares Schwert ihn gezogen.

Das Schiff hieß Maerde, und es war die einzige Verbindung zwischen Mars und Erde.

Früher war dies eine vielbefahrene Route gewesen. Doch das Schiff wusste nichts von all den Transportschiffen, die einhundert Jahre vor seiner Geburt dicht an dicht auf dieser Strecke gefahren waren, ein breiter Strom, der sich auf den marsianischen Staub ergoss. Gegen Ende des 21. Jahrhunderts war das gewesen. Die Menschen hatten endlich die Grenzen durchbrochen, die ihnen die Schwerkraft, die Erdatmosphäre und ihr eigenes Bewusstsein gesetzt hatten. Ängstlich, nervös und manchmal auch voller Stolz hatten sie Waren und Rohstoffe zu jenem fernen Planeten ihrer Träume verfrachtet. Der wirtschaftliche Konkurrenzkampf erstreckte sich vom erdnahen Weltraum bis zur Oberfläche des Mars. Das Militär kontrollierte den Verkehr zum Mars, und eine internationale Riege von Offizieren setzte ihre jeweiligen nationalen Kolonisierungspläne durch. Die Transportschiffe waren damals plumpe Gebilde gewesen. Mit ihren graugrünen Blechhüllen sahen sie aus wie metallische Elefanten, die mit beharrlicher Schwerfälligkeit umherstampften. Ein Schiff nach dem anderen landete auf dem Mars, und wenn sich im aufwirbelnden rotgelben Sand die Türen öffneten, wurden Maschinen und Nahrungsmittel aus den Frachträumen entladen, und aus den Kabinen drängten euphorische Neusiedler an Land.

Das Schiff hatte das alles nicht gesehen. Es wusste auch nichts von den kommerziellen Handelsschiffen, die siebzig Jahre später die staatlichen Transportschiffe verdrängten, um den Mars zu kolonisieren. Dreißig Jahre nach der Gründung der ersten Marsbasis waren die Fühler der Geschäftsleute wie die Riesenbohnenranke im Märchen hinauf bis zum Himmel gewachsen. Viele Abenteurer kamen an dieser Ranke empor zum Mars geklettert, um die sandige Weite auszukundschaften. Sie alle hatten sorgsam kalkulierte Geschäftspläne im Gepäck. Anfangs ging es bei den Geschäften noch um materielle Güter: Geschäftsleute taten sich mit Politikern zusammen und sicherten sich Besitz- und Nutzungsrechte am Marsland, Handelsrechte für die natürlichen Ressourcen und Entwicklungsrechte für neue, außerirdische Produkte. Mit ergreifenden Worten priesen sie den Handel zwischen den Planeten. Doch mehr und mehr ging es in ihren Businessplänen um das Wissen selbst. Der historische Wandel, der sich auf der Erde innerhalb von zweihundert Jahren vollzogen hatte, fand so auf dem Mars komprimiert in nur zwanzig Jahren statt. Immaterielle Werte wurden zur Hauptsäule des Handels, die Unternehmer angelten sich die klügsten wissenschaftlichen Köpfe und errichteten virtuelle Barrieren zwischen den einzelnen Stützpunkten. Die Schiffe, die damals durch den Nachthimmel glitten, konnten mit ihren prachtvollen Drehrestaurants den irdischen Wolkenkratzern Konkurrenz machen. Üppige Bankette fanden auf ihnen statt, und dabei wurden immer auch lukrative Handelsverträge abgeschlossen.

Dann tauchten auf der Strecke zwischen Erde und Mars Kriegsschiffe auf. Auch von ihnen wusste das Schiff nichts. Der Marsianische Unabhängigkeitskrieg war vierzig Jahre vor seiner Geburt ausgebrochen. Auf den Marsstützpunkten hatten Forscher und Ingenieure ein Bündnis gegen das irdische Regime geschlossen. Sie nutzten ihre Raumfahrt- und Schürftechnologie, um gegen eine Politik Widerstand zu leisten, die nur auf Geld und Macht aus war. Ihre Kriegsschiffe bildeten eine lange Abwehrkette gegen die Angreifer. Wie eine mächtige Flutwelle wogten sie vorwärts, um sich im nächsten Moment lautlos wieder zurückzuziehen. Doch von ihren fernen Heimathäfen auf der Erde schossen kleine, flinke Schiffe herbei, die der Zorn auf die Verräter antrieb. Mit kühler Präzision, aber voll wilder Zerstörungswut warfen sie ihre Bomben ab. Im Wüstensand trieb das Blut seine stillen roten Blüten aus.

Von alldem wusste das Schiff nichts. Im Jahr, als das Schiff geboren wurde, erinnerte nichts mehr daran, dass hier noch vor zehn Jahren ein Krieg getobt hatte. Am nächtlichen Himmel war wieder Stille eingekehrt, und die Route durch das All war verwaist. Das Dunkel hatte alles ausgelöscht, und im Dunkel war das Schiff aus Metalltrümmern zusammengefügt worden. Allein befuhr es das Sternenmeer. Auf einer Route, die erst ausgedehnten Handel gesehen hatte und dann von Artilleriefeuer erschüttert worden war, verkehrte es als einsamer Pendler zwischen den Planeten.

Ruhig und still glitt es dahin. Kein anderer Reisender kreuzte seinen Weg. Wie ein einzelner Tropfen Silber überwand es den Raum und die Leere. Von der Vergangenheit, die die beiden Welten voneinander trennte, wusste es nichts.

Dreißig Jahre hatte das Schiff nun auf dem Buckel, und der Zahn der Zeit nagte an seiner Außenhaut.

 

Im Innern war es ein Labyrinth. Niemand außer dem Kapitän durchschaute seine Konstruktion.

Das Schiff war riesig. Seine Treppenfluchten führten nach allen Seiten, vorbei an endlosen Reihen von Kabinen und einem Gewirr von Gängen. Die imposanten Lagerhallen glichen verfallenen Palästen. Säulengänge liefen darin rings um die aufgetürmten Maschinen, und die Ecken waren mit Botschaften beschrieben, die niemand las. Lange, schmale Korridore, verwirrend wie eine Geschichte, die sich in zahllosen Handlungsfäden verliert, verbanden Wohnräume und Banketthallen miteinander. Das Schiff kannte kein Oben und Unten. Der Boden bestand aus der Innenfläche eines riesigen rotierenden Zylinders, in dem man dank der Fliehkraft umhergehen konnte. Die metallischen Säulen des Zylinders liefen wie Speichen im Zentrum zusammen. Das Schiff verströmte den Charme einer Antiquität: Die Säulen waren graviert, der Boden mit Mustern geschmückt, an den Wänden hingen altertümliche Spiegel und an den Decken Bilder. Auf diese Weise zollte das Schiff der Zeit seinen Respekt – zum Gedenken an eine Ära, als die Menschheit noch nicht gespalten war.

Auf dieser Fahrt waren drei Gruppen an Bord: eine fünfzigköpfige Delegation von der Erde, eine fünfzigköpfige Delegation vom Mars und eine Gruppe von zwanzig jungen Schülern und Schülerinnen.

Die Delegationen waren für eine gemeinsame interplanetarische Messe zuständig. Die erste Marsmesse auf der Erde war reibungslos über die Bühne gegangen, und nun stand die feierliche Eröffnung der ersten Erdmesse auf dem Mars bevor. Beide Seiten hatten dafür alle möglichen bahnbrechenden Produkte ausgewählt, um sich dem fremden Planeten zu präsentieren – und um die geteilte Menschheit daran zu erinnern, dass es die jeweils andere Seite überhaupt gab. Nach einer langen Phase der Isolation war die irdisch-marsianische Doppelmesse die erste größere Begegnung zwischen den Planeten.

Die Schülergruppe hieß «Merkur». Die jungen Leute – sie waren alle achtzehn Jahre alt – hatten die letzten fünf Jahre auf der Erde verbracht und kehrten nun heim. Der Name verwies nicht nur auf den Planeten Merkur, sondern auch auf den Götterboten der römischen Mythologie. In ihm drückte sich die Hoffnung auf Verständigung aus.

 

Vor vierzig Jahren war der Krieg zu Ende gegangen, und seit dreißig Jahren war das Schiff im Dienst, die einzige Verbindung zwischen Erde und Mars. Es hatte zwar etliche Verhandlungen gesehen, Geschäfte, Verträge und Streitigkeiten, aber ansonsten hatte es nicht viel erlebt. Eine lange Zeit hatte es untätig herumgelegen: Sein Inneres war gähnend leer gewesen, die Kabinen ohne Passagiere geblieben und die Lagerräume ohne Waren, in den Bankettsälen hatte keine Musik gespielt, und im Cockpit hatte niemand Befehle erteilt.

Der Kapitän und seine Frau waren ein altes Paar. Dreißig Jahre hatten sie auf dem Schiff ihren Dienst verrichtet, hatten hier gelebt und waren hier alt geworden. Das Schiff war ihr Zuhause, ihr Leben, ihre Welt.

«Und Sie sind nie von Bord gegangen?», fragte ein schönes junges Mädchen, das vor der Kapitänsunterkunft stand.

«In den ersten paar Jahren schon. Aber dann sind wir dafür zu alt geworden», antwortete ihr die Frau des Kapitäns mit einem liebenswürdigen Lächeln. Ihre Locken waren silbrig, und um ihre Mundwinkel hatten sich zwei mondsichelförmige Falten gebildet. Ihre Haltung strahlte die Eleganz eines verschneiten Baums im Winter aus.

«Wieso zu alt?»

«Wir hätten die Veränderung der Schwerkraft nicht mehr verkraftet. Wenn man alt ist, spielen die Knochen nicht mehr mit.»

«Warum gehen Sie dann nicht in Rente?»

«Garcia will nicht. Er möchte bis zu seinem Tod auf dem Schiff bleiben.»

«Arbeiten viele Leute auf dem Schiff?»

«Wenn wir im Einsatz sind, über zwanzig. Sonst nur wir beide.»

«Und wie oft sind Sie im Einsatz?»

«Schwer zu sagen. Manchmal alle vier Monate, manchmal erst nach über einem Jahr.»

«So selten? Ist Ihnen da nicht einsam zumute?»

«Nein, das sind wir gewohnt.»

Das Mädchen schwieg einen Moment, und sie schloss kurz die Augen mit den langen Wimpern. «Mein Großvater redet oft von Ihnen beiden. Er vermisst Sie.»

«Wir vermissen deinen Großvater auch. Garcia hat seit Jahren ein Foto auf dem Tisch stehen, das zeigt sie alle vier. Jeden Tag schaut er sich das Bild an. Grüß deinen Großvater von uns, wenn du zurück bist.»

Das Mädchen lächelte warm und ein wenig melancholisch. «Ellie, ich besuche Sie beide später auf jeden Fall einmal.» Sie hatte die alte Dame gern. Aber sie würde in nächster Zeit kaum wieder auf das Schiff kommen, und das stimmte sie traurig.

«Gut.» Die Frau des Kapitäns erwiderte ihr Lächeln und strich ihr sanft über das Haar. «Du bist hübsch geworden. Ganz wie deine Mutter.»

Die Kapitänsunterkunft lag vorn am Bug des Schiffs. Zwei Gänge trafen hier zusammen: Der eine führte zum Cockpit und Kontrollraum, der andere zu der Kugel, die zur Gleichgewichtsstabilisierung diente. Die meisten Leute gingen an der Unterkunft vorbei, ohne dass sie ihnen besonders auffiel. An der Tür hing eine runde blaue Leuchte. Ihr fahles Licht lag sanft wie Mondschein auf den Köpfen der alten Frau und des Mädchens. Die Lampe war die einzige Dekoration, die den Häusern auf dem Mars glich, und der bläuliche Lichtschein erinnerte alle Marsbewohner an ihr Zuhause. Die Tür war aus einem weißen Glas, das mit den Wänden ringsumher verschmolz. Nur die reliefartige Gravur darauf stach ein wenig hervor. Sie zeigte ein aufsteigendes Raumschiff, klein und silbern, an dessen Heck eine Reihe winziger Glöckchen hing. Unter dem Schiff prangten drei verschnörkelte Namen: Ellie, Garcia und Maerde. Die Tür zum Wohnbereich war geschlossen, und die langen, stillen Gänge schienen sich nach beiden Seiten im Unendlichen zu verlieren.

Kapitän Garcia und der Großvater des Mädchens waren alte Kriegskameraden. Als junge Männer waren sie im selben Geschwader gewesen. Sie waren im Krieg geboren und später ein gutes Dutzend Jahre immer wieder in die Schlacht geflogen. Danach waren sie zu Säulen der marsianischen Gesellschaft geworden: der eine auf dem Boden, der andere im All.

Nach dem Krieg durchlebten die Marsbewohner eine äußerst harte Zeit. Der unfruchtbare Boden, die dünne Luft, die unzureichenden Wasserreserven, die schädliche Strahlung – jeden Tag aufs Neue sahen sie sich mit tödlichen Bedrohungen konfrontiert. Vor dem Krieg waren sie mit Raumschiffen von der Erde versorgt worden, wie ein ungeborenes Kind, das auf die Ernährung durch die Mutter angewiesen ist. Mit der Unabhängigkeit nach dem Krieg mussten sie die Schmerzen einer Geburt ertragen: Die Nabelschnur zur Mutter Erde war nun abgeschnitten, und der Säugling musste lernen, auf eigenen Beinen zu stehen. Der Mars machte damals seine schwersten Jahre durch. Die Bewohner vermissten vieles, was es nur auf der Erde gab und was auch die klügsten Köpfe unmöglich aus dem Nichts hervorzaubern konnten – Tiere zum Beispiel, nützliche Bakterien oder die organischen Makromoleküle von Erdöl. Man konnte zwar auch ohne all das überleben, aber nur unter denkbar kargen Bedingungen. Also hatte Kapitän Garcia sein Raumschiff bestiegen.

Es war das zehnte Jahr nach dem Ende des Krieges. Viele Marsbewohner lehnten es ab, sich als Bittsteller an die Erde zu wenden, aber der Kapitän bestand darauf. Dieser erste Versuch einer marsianischen Diplomatie war noch beseelt vom Kampfgeist eines versprengten Trupps, den es an die irdische Peripherie verschlagen hatte. Besser als jeder andere verstand der Kapitän die Gefühle der Erdbewohner: ihren Hass und ihre Schadenfreude, nachdem sie durch die Niederlage im Krieg gedemütigt worden waren. Trotzdem gab es für ihn kein Zurück, denn das hätte bedeutet, dass seine neue Heimat auf ewig dazu verdammt gewesen wäre, eine kümmerliche Existenz zu fristen.

Ab diesem Zeitpunkt war Garcias Leben untrennbar mit dem Schiff verbunden. Dort lebte er, von dort schickte er seine Botschaften an die Erde. Er bat, drohte, lockte, und er bot marsianische Technologie zum Tausch gegen Rohstoffe von der Erde an, die sie zum Überleben auf dem Mars brauchten. Seit dreißig Jahren lebte er nun schon auf seinem Schiff, ohne dass er je wieder festen Boden unter den Füßen gehabt hätte. Kapitän Garcia stand für die marsianische Diplomatie. Während seiner endlos langen Reisen war es zum ersten Geschäftsabschluss zwischen Mars und Erde gekommen, zur ersten gegenseitigen Entsendung von Fachkräften, zur ersten interplanetaren Messe und zum ersten Schüleraustausch. Garcia war der Kapitän. Der Kapitän war Garcia. Sein Status und sein Name gehörten zusammen wie Fleisch und Blut. Und wie Ellie, Garcia und Maerde – die Namen, die in die Tür graviert waren.

Nach ein paar höflichen Worten zum Abschied wandte sich das Mädchen zum Gehen, da rief die Frau des Kapitäns sie noch einmal zurück. «Ach ja, eine Sache noch: Garcia hat eine Nachricht für deinen Großvater. Die hat er gerade eben vergessen.»

«Was für eine Nachricht?»

«Garcia sagt: Der Kampf um einen Schatz ist manchmal größer als der Schatz selbst.»

Das Mädchen dachte einen Moment darüber nach. Fast hätte sie nachgefragt, aber dann sagte sie doch nichts. Die Nachricht des Kapitäns musste etwas mit irgendwelchen diplomatischen Angelegenheiten zu tun haben, und sie wollte ihre Nase nicht ungefragt in Dinge stecken, die sie nichts angingen. Also nickte sie bloß, versprach, die Nachricht zu überbringen, und ging. Der Name des Mädchens war Luoying. Sie gehörte zur Merkur-Gruppe, war achtzehn Jahre alt und studierte Tanz. Die Haltung kerzengerade und doch entspannt, die Fußspitzen leicht nach außen gebogen, entfernte sie sich mit federleichtem Schritt. Sie entschwebte wie eine Libelle, die über das Wasser streicht, eine Brise Wind, die nicht ein Staubkorn mit sich führt.

Erst als das Mädchen aus ihrem Blickfeld entschwunden war, betrat die Frau des Kapitäns ihre Unterkunft. Die Glöckchen an der Tür klirrten zart in der Stille der Nacht. Die Frau blickte in das finstere Zimmer und stieß einen stummen Seufzer aus. Nichts rührte sich, ihr Mann lag schon in tiefem Schlaf. Er wurde immer schwächer – eben hatte er nicht einmal bis zum Ende ihrer Unterhaltung durchgehalten, sondern sich vor lauter Erschöpfung viel zu früh zur Ruhe gelegt. Sie wusste nicht, wie lange er noch auf seinem Posten ausharren konnte, und sie wusste auch nicht, wie lange sie ihm noch zur Seite stehen konnte. Nur eines war ihr immer klar gewesen, seit sie ihm auf das Schiff gefolgt war: Eines Tages würden ihre Kräfte sie verlassen. Längst hatte sie sich darauf eingestellt, bis ans Ende ihres Lebens mit ihrem Mann an Bord zu bleiben. Bis zum letzten Tag würden sie beide zwischen Mars und Erde durch das All kreuzen. Behutsam schloss sie die Kabinentür hinter sich.

 

Das Schiff hieß Maerde. Sein Name war zusammengesetzt aus Mars und Erde und so ein Sinnbild für die Mission des Schiffs. Schön war der Name nicht, aber er verkörperte eindrucksvoll die Bereitschaft zu Verhandlungen und Kompromissen.

Die Technologie des Schiffs war denkbar einfach. Seine Konstruktion und sein Triebwerk entsprachen noch ganz der Tradition der Vorkriegszeit. Mit dem Solarenergiespeicher und dem rotierenden Zylinder, der die Schwerkraft erzeugte, war das Schiff stabil und zuverlässig konstruiert, aber auch schwerfällig. Zu Kriegszeiten hatte man sowohl auf der Erde als auch auf dem Mars die technologische Entwicklung mit Hochdruck vorangetrieben. Man hätte wendigere Schiffe bauen können, die die Entfernung zwischen den Planeten schneller zurücklegen konnten. Trotzdem war die Maerde das einzige Schiff geblieben. Dreißig Jahre waren vergangen, ohne dass ein anderes sie ersetzt hätte. Unförmig wie ein Wal zog sie ihre einsamen Bahnen durch die kalte Leere des Alls. Langsam und riesig, wie sie war, taugte sie nicht zu einem Angriff. Genau deshalb wirkte sie bei den Verhandlungen so vertrauenswürdig. Ihre Plumpheit und ihre Trägheit waren nun ein Vorteil. Denn das größte Hindernis einer Annäherung von Mars und Erde war nicht die räumliche Distanz zwischen den Planeten, es waren die Zweifel und Ängste der ehemaligen Kriegsgegner. Darum war die Primitivität der Maerde vielleicht ihr größter Trumpf.

Der Zylinder im Inneren des Schiffes war in vier gleich große Zonen aufgeteilt. Frei zugängliche Korridore verbanden die Bereiche miteinander, aber die Entfernungen waren so groß und das Wegenetz so verwirrend, dass sich kaum jemand einmal in eine andere Zone vorwagte. Jeder Gruppe von Passagieren war eine Zone zugeteilt, und die Besatzung belegte die vierte Zone. Obwohl sie nun schon hundert Tage auf demselben Schiff reisten, hatten die Gruppen kaum Kontakt miteinander. Zwar waren sie bei einer Reihe von Festen zusammengekommen, hatten aber fast nur höfliche Floskeln ausgetauscht.

Jede Gruppe hatte ihre Eigenarten. Die Mars-Delegation hatte ihre Aufgaben erledigt, sie war auf dem Weg nach Hause und in bester Stimmung. Die Heimkehrer plauderten vergnügt über gutes Essen, ihre Kinder und die vielen Abenteuer auf der Erde. Während sie in der Kantine von dem heimatlichen Geschirr aßen, das sie so lange vermisst hatten, lachten und schwatzten sie und fühlten sich ausgesprochen wohl.

Für die zwanzig Austauschschüler vom Mars waren die hundert Reisetage ein einziges rauschendes Fest. Mit dreizehn Jahren hatten sie ihr Zuhause verlassen, und in den folgenden fünf Jahren hatten sie über die ganze Erde verstreut gelebt und einander kaum einmal sehen können. Deshalb freuten sie sich jetzt umso mehr über die gemeinsame Heimfahrt. Sie lachten und tranken, vergnügten sich in der Antigravitationskammer am Bug des Schiffs mit Ballspielen, machten Musik und sangen Nacht für Nacht.

Ein ganz anderes Bild gab die Delegation der Erde ab. Ihre Mitglieder kamen aus den unterschiedlichsten Ländern. Sie waren einander fremd und mussten sich erst noch kennenlernen. Sie unterhielten sich auf den offiziellen Empfängen, ansonsten trafen sie sich zu leisen Gesprächen an der Bar. Unter ihnen waren Regierungschefs, berühmte Wissenschaftler, Großindustrielle und Medientycoons. In mancherlei Hinsicht ähnelten sie einander: Gewohnt, im Mittelpunkt zu stehen, blieben sie innerlich auf Distanz. Sie kleideten sich schlicht, nur an den Ärmelaufschlägen blitzte Luxus auf. Im Gespräch gaben sie sich umgänglich und machten wenig Aufhebens um sich selbst, doch in den Blicken, die sie den anderen aus den Augenwinkeln zuwarfen, flackerte ihre Arroganz auf.

Gewöhnlich saßen sie grüppchenweise in ihren feinen Hemden mit den verzierten Säumen in der Bar der Erdzone und unterhielten sich. Die Bar war eingerichtet, wie es auf der Erde üblich war: schlicht und mit gedämpftem Licht. Auf dem Boden der dickrandigen Gläser schimmerte zwischen den Eiswürfeln eine dünne Schicht Whiskey.

«Also nun mal ehrlich: Hast du nicht gemerkt, dass zwischen Ivandonov und Wang dicke Luft herrscht?»

«Zwischen Ivandonov und Wang? Nein. Das glaube ich nicht.»

«Achte mal darauf. Gerade du solltest das im Auge haben.»

Der eine der beiden Männer war ein Glatzkopf mittleren Alters, der andere brünett und jung. Der Glatzkopf hatte die Frage gestellt. Ein breites Grinsen lag auf seinem Gesicht. Sein Kinn war glatt rasiert, und seine hellgrauen Augen glitzerten wie das Meer im Sommer. Der junge Mann redete nicht viel. Manchmal antwortete er nur mit einem Lächeln. Sein Gesichtsausdruck war schwer zu deuten, denn sein lockiges Haar fiel ihm in die Stirn, und seine dunkelbraunen Augen lagen unter dichten Brauen verborgen. Der Glatzkopf hieß Tynne. Auf der Erde war er der Erbe und Vorstandsvorsitzende der Taylors-Mediengruppe. Der junge Mann, Igor Lu, war Dokumentarfilmer. Im Auftrag der Taylors-Gruppe drehte er einen Film über die Reise der Delegation zum Mars.

Ivandonov und Wang – die beiden Delegierten, von denen Tynne gesprochen hatte – waren als Vertreter Russlands und Chinas mit an Bord. Ihr frostiges Verhältnis rührte von den Territorialstreitigkeiten der beiden Länder her. Überhaupt waren sich die Delegierten von der Erde nicht gerade freundlich gesonnen, denn viele Nationen waren aus historischen Gründen miteinander zerstritten. Man gab sich freundlich, doch unter der Oberfläche schwelten alle möglichen Feindseligkeiten.

Tynne fühlte sich keinem Staat zugehörig. Er besaß vier Pässe, lebte in fünf Ländern, liebte das Essen von sechs landestypischen Küchen und litt in sieben Ländern am Jetlag. Konflikte zwischen Staaten beobachtete er aus einer amüsierten Distanz – er verstand sie, aber sie interessierten ihn nicht. Seine Weltanschauung war typisch für das späte zweiundzwanzigste Jahrhundert: Er hatte nur Spott und Verachtung übrig für das Konzept der Nation und für die geschichtlichen Probleme, die daraus erwachsen waren und die Globalisierung überdauert hatten.

Igor waren all diese Streitfragen vertraut, aber für gewöhnlich kümmerte er sich nicht darum. Dass die Delegierten völlig unterschiedliche Ziele verfolgten, war für ihn die normalste Sache der Welt. Jeder, der zum Mars flog, wollte dort etwas für sich erreichen – bei ihm selbst war es auch nicht anders.

«Weißt du, was der beste Stoff für deinen Film wäre?», fragte Tynne.

«Na?»

«Ein Mädchen.»

«Ein Mädchen?»

«Aus der Merkur-Gruppe. Sie heißt Luoying.»

«Luoying? Welche ist denn das?»

«Die mit dem besonders langen schwarzen Haar und der blassen Haut. Sie studiert Tanz.»

«Ich glaube, ich weiß, wen du meinst. Und was ist mit ihr?»

«Wenn sie zurück auf dem Mars ist, hat sie einen Auftritt. Ein Solotanz. Das wird bestimmt interessant. Häng dich mit deiner Kamera an sie ran, auf so etwas fährt das Publikum ab.»

«Und weiter?»

«Wie weiter?»

«Was … steckt dahinter? Dein wirkliches Motiv.»

«Du stellst zu viele Fragen.» Tynne lächelte. «Aber ich kann es dir ruhig verraten: Ihr Großvater ist der Generalgouverneur vom Mars. Sie ist die einzige Enkeltochter des großen Diktators. Ich habe das auch gerade erst erfahren.»

«Sollten wir uns dann nicht erst mal sein Einverständnis einholen, bevor wir sie filmen?»

«Nein. Diese Sache muss unter uns bleiben. Ich will keinen Ärger.»

«Hast du keine Angst, dass wir Ärger bekommen, wenn wir wieder zurück sind?»

«Kommt Zeit, kommt Rat.»

Igor schwieg, und Tynne hakte auch nicht nach. Ein stummes Einverständnis war am besten. Wirklich ausgemacht oder beschlossen hatten sie nichts: Igor hatte nichts versprochen, und Tynne brauchte sich nicht vorwerfen zu lassen, er habe den Regisseur zu irgendetwas angestiftet. Mit einem Grinsen sah er Igor dabei zu, wie er wortlos das Glas in seiner Hand schwenkte.

Tynne hatte schon viele Filme produziert. Er wusste genau, worauf das Publikum ansprang und welchen Themen man lieber aus dem Weg ging. Igor dagegen war neu im Geschäft. Er war noch von der Filmhochschule geprägt, steckte voller Ideen und verachtete den Mainstream. Aber die Zeit würde ihn schon eines Besseren belehren, davon war Tynne überzeugt. Er hatte schon viele Anfänger kennengelernt, die sich über die materiellen Niederungen des Filmgeschäfts erhaben fühlten. Doch irgendwann dämmerte ihnen allen, dass sie Erfolge brauchten, und spätestens dann kamen sie herunter von ihrem hohen Ross.

Durch die Bar wogte Elektro-Jazz und umhüllte die Besprechungen und vertraulichen Gespräche an den Tischen. Es war warm, und die Männer lockerten unauffällig ihre Krawatten. Kellnerinnen oder Kellner gab es nicht, die Getränke wurden automatisch aus gläsernen Behältern an der Wand eingeschenkt. Von der Decke hing eine halbkugelförmige bunte Glaslampe. Ihr gedämpftes Licht schmeichelte den Gästen, die sich zumindest oberflächlich freundlich gaben. Ab und zu hörte man ein Lachen, das klang, als würde man sich schon verabschieden.

So unterschiedlich die Ziele der Delegierten auch waren, sie ließen sich alle auf einen gemeinsamen Nenner bringen: Technologie. Technologie bedeutete Geld. Im zweiundzwanzigsten Jahrhundert waren Wissen und Technik die Schlüsselwörter gewesen. Auf diesen Fundamenten war die gesamte Welt erbaut. Technologisches Knowhow war zur Leitwährung, zum neuen Goldstandard des Finanzsystems geworden und damit zum Garanten für dessen Stabilität. Nur die weltweite Abhängigkeit von neuen Technologien hielt das labile internationale Kräfteverhältnis im Gleichgewicht. Das Geschäft mit dem Wissen spielte eine zentrale Rolle im globalen Wirtschaftsleben. Die tiefen Risse nach dem Krieg waren deshalb überwunden worden, weil der Mars ein Ort war, der Wissenschaftler und Techniker hervorbrachte. Sein Wissen machte ihn unabhängig – und profitabel. Der Rote Planet war ökonomisch attraktiv geworden.

Die Musik, die lächelnden Gesichter und die cleveren Pläne, alles wogte in dem sanften Licht.

Im Halbdunkel der Bar hingen, von niemandem beachtet, ein paar alte Fotos an den Wänden. Die Gäste ahnten nichts von den Narben, die die Fotos verbargen. Ein Foto verdeckte ein zwanzig Jahre altes Einschussloch, ein anderes eine Verletzung, die vor zehn Jahren jemandem zugefügt worden war. Ein alter Mann mit einer blonden Löwenmähne hatte hier seine Wut hinausgebrüllt, und ein anderer alter Mann mit weißem Haar und Bart hatte einen Betrug entlarvt. Sie hießen Galeman und Ronning. Es waren die beiden anderen Männer auf dem Foto auf Kapitän Garcias Tisch, neben dem Kapitän selbst und dem Großvater des Mädchens namens Luoying.

Doch alle Konflikte waren beigelegt, alle Streitigkeiten dank der Akten als Missverständnisse aufgeklärt, alle Narben überdeckt. Die Fotos in ihren dunkelbraunen Rahmen waren geschmackvoll angeordnet. Die Bar hatte nichts von ihrer Eleganz eingebüßt.

 

Noch eine halbe Nacht bis zur Landung des Schiffs. Das Abschlussbankett der Reise würde bald zu Ende gehen. Die Bühne, die man für die Gäste errichtet hatte, würde man wieder abbauen, die Servietten und Blumen von den Tischen entfernen, die Kopfkissen und Schlafsäcke einsammeln, die Monitore ausschalten, den Staub wischen und die Lagerhallen leeren. In den Zimmern würde es wieder still werden. Zurückbleiben würden nur die glatten Böden, die Tische, Stühle und Bänke aus farblosem Glas und der leere Schiffsrumpf.

Das Schiff war schon tausendmal beladen und gelöscht worden. Seine Tische waren mit Tüchern aus verschiedenen Zeitaltern bedeckt gewesen, auf seinen Teppichen waren die Machtproben unterschiedlicher Epochen ausgetragen worden. Das Schiff war den Wechsel von Fülle und Leere, von trostlosem Grau und farbiger Pracht gewohnt.

An den Wänden der Korridore hingen zahlreiche Fotos: alte Schwarzweißfotos aus einer Zeit, als noch niemand daran gedacht hatte, in den Weltraum auszuwandern. Hologramme aus der Nachkriegsära, als Erde und Mars voller Stolz getrennte Wege gingen. Wer die gewundenen Gänge entlangschlenderte und mit der Hand den Relieflinien in den grauen Wänden folgte, der konnte die Zeit durchwandern. Die Fotos gehorchten keiner chronologischen Ordnung: Die Vorkriegszeit folgte der Nachkriegszeit, das Jahr 1905 dem Jahr 2096. In diesem Durcheinander ging der Krieg fast unter: An den Wänden lebten Mars und Erde in friedlicher Koexistenz.

Vor jeder Landung des Schiffes wurden sämtliche Gebrauchsgegenstände und Dekorationen in Schränken verstaut. Nur die Fotos blieben an den Wänden hängen. Niemand ahnte, dass der Kapitän in seinen Mußestunden allein die Gänge abschritt und sorgsam jedes Foto sauber wischte.

 

Während der gesamten Reise hatte Luoying sich nie in der labyrinthischen Konstruktion des Schiffs zurechtgefunden. Die Antigravitationskammer war der einzige verlässliche Orientierungspunkt für sie. Es handelte sich dabei um eine riesige Kugelkammer am Heck des Schiffes, die in entgegengesetzter Richtung zum Zylinder rotierte. Sie war von einer ringförmigen Aussichtsplattform umgeben – Luoyings Lieblingsplatz, wenn sie ihre Ruhe haben wollte. Durch die runden Panoramafenster blickte man direkt in die unendlichen Weiten des Weltalls.

Luoying kam vom Kapitänsquartier und eilte durch die Gänge. Die Plattform lag verwaist da, und vor den Fenstern erstreckte sich der schwarze Nachthimmel. Sie hatte die Plattform noch nicht erreicht, da hörte sie, wie in der Kugelkammer Jubel aufbrandete – das Spiel im Innern musste gerade zu Ende gegangen sein. Sie lief schneller, rannte zur Kammer und stieß die Tür auf.

Im Innern erwartete sie eine chaotische, bunte Menschenmenge.

«Wer hat gewonnen?», fragte sie den Zuschauer, der ihr am nächsten stand.

Noch bevor der antworten konnte, schlang jemand die Arme um sie. Luoying zuckte zusammen. Aber es war Ryan.

«Das war das letzte Spiel», sagte er. Seine Stimme war kaum zu verstehen.

Kingsley kam durch die Menge, und Ryan ließ sie los und umarmte ihn. Die beiden schlugen einander heftig auf die Schultern. Ankka schob sich durch die Menge auf Luoying zu, aber noch bevor er etwas sagen konnte, packte Sorin ihn von hinten am Arm. Shania glitt an ihnen vorbei. In ihren Augen sah Luoying Tränen schimmern.

Miller entkorkte zwei Flaschen Sekt, und der überschäumende Inhalt spritzte zur Mitte der Kammer, wo er in unzähligen funkelnden Goldkügelchen umherschwebte. Prompt stießen sich alle von den Seitenwänden ab und kreisten durch die Luft. Dabei versuchten sie, die Sektkügelchen mit offenem Mund aufzufangen.

«Auf unseren Sieg!», schrie Ankka so laut, dass das Echo von den Wänden dröhnte. «Und auf unsere morgige Landung», hörte Luoying ihn leise hinzufügen.

Sie lehnte den Kopf zurück und ließ sich mit geschlossenen Augen rückwärtstreiben. Es war, als würde eine unsichtbare Hand sie in den unermesslichen Sternenhimmel tragen.

Es war ihre letzte Nacht an Bord.

 

Um sechs Uhr morgens marsianischer Zeit näherte sich die Maerde im ersten Sonnenschein dem schlafenden Planeten. Pünktlich schwenkte sie auf die Umlaufbahn der Transferstation ein und begann mit dem Andocken. Die Station war ringförmig; auf der einen Seite legte die Maerde an, auf der anderen Seite waren fünfzehn Raumfähren angedockt für den Transport der Passagiere hinunter zum Planeten. Mit den linken Flügeln hatten sie an der Station angelegt, die rechten Flügel zeigten zum Mars, von dessen roter Oberfläche staubige Winde aufstiegen.

Das Ankopplungsmanöver der Maerde dauerte volle drei Stunden, die schlafenden Passagiere an Bord hatten also noch genügend Zeit zum Träumen. Zentimeter um Zentimeter näherte sich die Maerde der Mitte des Rings. Er sah aus wie das Tor eines prachtvollen Tempels, und das Schiff glitt, die Sonne im Rücken, gemächlich darauf zu. Das Rund der Station glitzerte golden im Sonnenschein. Auf der anderen Seite reihten sich die Raumfähren aneinander wie Tempelwächter. Ihre Flügel waren wie Fächer ausgebreitet.

Von den einhundertzwanzig Passagieren an Bord waren in diesem Augenblick fünfunddreißig wach. Manche hielten sich in ihren Zimmern auf, andere standen in verwaisten Ecken, während sie dem Schiff beim Andocken zuschauten. Sobald das Schiff vollkommen zum Stillstand kam, huschten sie unbemerkt in ihre Betten zurück. Das Schiff war nie so still gewesen wie in diesem Moment. Eine halbe Stunde später ertönte eine sanfte Musik, und die Passagiere rieben sich die Augen und wünschten einander noch in ihren Schlafanzügen einen guten Morgen. Rasch packten sie ihre Sachen zusammen und trafen sich vor den Kabinen. Die Stimmung war freundlich und gelöst. Nachdem sie sich höflich verabschiedet hatten, trennten sie sich und bestiegen unterschiedliche Raumfähren.

Nach irdischer Zeitrechnung war es das Jahr 2190, nach marsianischer Zeitrechnung das Jahr 40.

Das Hotel

Igor stand am Fenster und starrte lange hinaus. Beim Anblick des Mars kam ihm der Klang einer Flöte in den Sinn.

Das Hotelzimmer war sehr hell. Die Glaswände reichten von der Decke bis zum Boden und boten freie Sicht bis zum Horizont. Still und urtümlich erstreckte sich die grenzenlose rote Wüste wie ein Gedicht ohne Anfang und Ende.

Ist das der Ort, an dem du begraben sein willst?, fragte sich Igor.

Er war noch nie auf dem Mars gewesen, und doch war ihm die Landschaft vertraut. Mit fünfzehn Jahren hatte er zum ersten Mal seinen Lehrer zu Hause besucht, und dort hatte er dieses immergleiche Rot als Projektion an der Wand gesehen. Ängstlich und scheu hatte er an der Tür gestanden, den Blick auf die Gerölllandschaft gerichtet. Er hatte sich nicht getraut, das Zimmer zu betreten. Sein Lehrer saß mit dem Rücken zu ihm in einem Samtsessel mit einer hohen Lehne, das Gesicht zur Wand gedreht. Hinter der Lehne lugte sein blondes Haar hervor, glänzend im Licht der Abendsonne. Eine Melodie erklang, jemand spielte Flöte. Die Akustik war so gut, dass der Klang von allen Seiten zu kommen schien. Die gleichförmige Wüstenlandschaft wirkte auf den ersten Blick wie erstarrt, aber als Igor genau hinsah, erkannte er, dass sie sich ungeheuer schnell bewegte, so als würde sie von einem tief über dem Boden gleitenden Raumschiff gefilmt. Das Raumschiff fuhr langsam, aber unter ihm schoss das Geröll vorbei. In der Ferne bildete der schwarze Sternenhimmel die Kulisse.

Er war an der Tür stehen geblieben und hatte gebannt die Projektion verfolgt, bis der Bildausschnitt ohne jede Vorwarnung in einen tiefen Graben hinabtauchte. Vor Schreck hatte Igor leise aufgeschrien und sich dabei den Kopf an der Türschnitzerei gestoßen. Hastig suchte er Halt, und als er wieder aufsah, hatte ihn sein Lehrer schon an der Schulter gepackt. «Igor, du bist es! Komm rein und setz dich.» Die rote Wüstenprojektion an der Wand war verschwunden. Stattdessen zeichnete sich dort nur noch vage das weiße Streifenmuster der Tapete ab. Die Flötenmelodie kreiste einsam im Raum. Eine jähe Enttäuschung machte sich in ihm breit.

Igor erzählte niemandem von diesem Erlebnis. Selbst mit seinem Lehrer sprach er in den zehn Jahren ihrer Bekanntschaft nur selten darüber. Aber sie hatten ein Geheimnis: Sie lebten in zwei Welten, auch wenn sein Lehrer den Mars nur selten erwähnte. Er lehrte ihn die Kunst des Filmens, aber er zeigte ihm nie wieder ein Video des fremden Planeten.

Nun, nach zehn Jahren, hatte Igor endlich wirklichen Marsboden betreten. Und in diesem Moment hatte die Flöte wie von selbst in seinem Kopf zu spielen begonnen. Er blieb noch lange am Fenster stehen und starrte hinaus.

 

Nachdem Igor ein heißes Bad genommen hatte, ließ er sich in einen Sessel fallen und streckte die Beine aus. Das Hotel war so gemütlich, dass man sich rasch entspannte.

Igor war gern allein. Für gewöhnlich kam er mit aller Welt gut aus, er erfüllte seine gesellschaftlichen Verpflichtungen bei Filmveranstaltungen souverän, und wenn er seine Filme drehte, arbeitete er mit den unterschiedlichsten Leuten zusammen. Aber am liebsten war er doch allein. In Gesellschaft anderer ging sein Atem flach, und er war ständig auf der Hut. Erst wenn er wieder allein war, atmete er aus dem Bauch heraus. Alle Anspannung fiel dann von ihm ab, und er spürte wieder sich selbst.

Er ließ sich tief in den Sessel sinken und blickte zur Decke hinauf. Ihn interessierte alles hier, er brannte vor Neugier auf den Mars. Vor seiner Ankunft hatte er sich alles Mögliche vorgestellt, und vielleicht war der Mars in seiner Phantasie sogar spannender als der reale Mars – Igor hätte es nicht sagen können. Aber eines wurde ihm jetzt klar: Die Wirklichkeit war vollkommen anders. Seit er fünfzehn war, hatte er sich ausgemalt, was für ein Ort der Mars wohl sein mochte, dass sein Lehrer acht Jahre lang dort gelebt hatte und nicht ein einziges Mal zurück zur Erde gekommen war.

Für seinen Lehrer war der Mars das letzte Utopia der Menschheit gewesen, ein Reich von erhabener Weisheit jenseits der gewöhnlichen Welt. Ihm war durchaus bewusst gewesen, dass die meisten Menschen auf der Erde ein ziemlich anderes Bild vom Mars hatten, aber das hatte ihn nicht weiter bekümmert.

Igor schaute sich im Hotelzimmer um. Es ähnelte den Kabinen auf der Maerde: Schreibtisch, Kleiderschrank und Bettpfosten bestanden aus einem durchsichtigen Material und waren mal in dunkleren, mal in helleren Blautönen gehalten. Auch der Sessel war durchsichtig; er schien aus Glasfasern zu bestehen, die mit Luft gefüllt waren. Seine Enden schwangen in einem Bogen nach oben, und er passte sich Igors Körperform an. Die Außenwand des Hotels war ebenfalls durchsichtig, sodass Igor von seinem Sessel aus einen weiten Panoramablick genoss. Nur zum Gang hin waren die Wände aus einem undurchlässigen Milchweiß, um den Bewohner vor den Zimmernachbarn und den übrigen Gästen abzuschirmen. Der ganze Raum ähnelte einem Kristallkästchen. Selbst die Decke war halb durchsichtig: Sie sah aus wie himmelblaues Mattglas, und über ihr schimmerte verschwommen die Sonne. Es wirkte, als hinge dort eine weiße Lampe.

Igor saß in seinem Sessel und dachte darüber nach, was so viel Transparenz wohl bedeuten könnte. In gewisser Hinsicht war Transparenz ein heikler Begriff. Ein Haus sollte dem Einzelnen einen Rückzugsraum bieten, doch wenn die Wände durchsichtig waren, war das eher ein Hinweis auf Bespitzelung. Und wenn alle Häuser durchsichtig waren, wurde aus der Bespitzelung eine kollektive Observierung. Was das bedeutete, war ihm klar. In seinem Film könnte er es als Ausdruck einer politischen Ideologie nutzen, als Symbol für die Unterwerfung der Privatsphäre durch die Gemeinschaft.

Eine solche Sichtweise entsprach den klassischen Vorurteilen auf der Erde. Seinem Film wäre damit die Aufmerksamkeit des Publikums sicher. Die individualistischen Denker der Erde warteten bloß darauf, dass ein Augenzeuge, einer der wenigen, die wirklich in der «Hölle im Himmel» gewesen waren, ihnen bestätigte, was sie schon immer geahnt hatten. Igor würde ihnen ein nützliches Argument für ihre verbalen Attacken auf den Mars liefern. Aber das ging ihm gegen den Strich: So leichtfertig wollte er seine offene Einstellung nicht aufgeben. Er hatte sich seine Neugier bewahrt. Er konnte nicht glauben, dass sein Lehrer so lange – immerhin volle acht Jahre – an einem Ort geblieben wäre, der einen so massiven psychologischen Druck auf seine Bewohner ausübte.

Igor hatte niemandem erzählt, was er eigentlich auf dem Mars vorhatte. Vielleicht könnte es jemand erraten, sicher war er sich da nicht. Alle wussten, wessen Schüler er war, das war nie ein Geheimnis gewesen. Dass er für die Delegation ausgewählt worden war, lag nur vordergründig an dem Preis, den er im letzten Jahr gewonnen hatte. In Wahrheit – da gab er sich keinen Illusionen hin – profitierte er von Tynnes Empfehlung, und diese Empfehlung verdankte er zum Großteil seinem Lehrer. Er hatte den Auftrag, die Delegation als Dokumentarfilmer zu begleiten, angenommen, ohne nach irgendwelchen Hintergründen zu fragen. Auch Tynne hatte ihm nichts erklärt. Aber er wusste, dass eine tiefe Freundschaft seinen Lehrer und Tynne verbunden hatte. Auf der Beerdigung seines Lehrers hatte Igor den Glatzkopf von Tynne in der Menge gesehen – die ganze Zeit hatte er seine Augen hinter einer Sonnenbrille versteckt.

Vorsichtig zog Igor einen winzigen Chip aus seiner Tasche und musterte ihn. Angeblich waren die Erinnerungen seines Lehrers kurz vor seinem Tod darauf gespeichert – seine Gehirnwellen, umgewandelt in einen binären Code aus Nullen und Einsen. Igor glaubte nicht, dass so etwas funktionieren könnte, aber er wünschte es sich. Wenn die Erinnerungen eines Menschen so überleben könnten, dann verlor der Tod seinen Schrecken.

Weil er hungrig geworden war, stand er auf und suchte an der Wand den Monitor, mit dem man Essen bestellen konnte. Auf der Speisekarte entdeckte er einige seltsame Bezeichnungen. Ohne viel Nachdenken wählte er ein paar Gerichte. Schon nach sechs oder sieben Minuten traf das Essen ein: Ein Lämpchen an der Wand leuchtete auf, und aus einem schwarzen Glasschacht kam wie mit einem winzigen Lift ein Tablett hochgefahren. Als es stillstand, öffnete sich die Klappe.

Igor holte das Tablett heraus und musterte die Speisen eingehend. Dies war seine erste direkte Begegnung mit marsianischem Essen. Auf der Maerde hatte die Delegation von der Erde nur Nahrungsmittel gegessen, die das Schiff von ihrem Heimatplaneten mitführt hatte. Die ganze Reise über waren sie mit nichts Marsianischem in Berührung gekommen. Dafür hatte er alle möglichen Gerüchte gehört: Die Marsianer, so hieß es, würden Schlangen essen, die sie im Sandboden erbeuteten. Sie würden Plastikmüll oder Metallschrott zu Delikatessen verarbeiten, behaupteten andere. Es kursierten unzählige solcher Geschichten. Irgendwelche Leute fanden sich immer, die sich gern über Dinge ausließen, von denen sie keine Ahnung hatten. Die Erde war der kulturell überlegene Planet – das meinten solche Schwätzer eigentlich, wenn sie den Mars als primitiv darstellten.

Beim Anblick des Tabletts in seiner Hand überlegte Igor, ob er nicht einige Aufnahmen der marsianischen Gerichte machen sollte – stimmungsvolle Bilder, die mysteriös und stylish wirkten. Er könnte sie an Modemedien verkaufen und so vielleicht die Angst vor dem primitiven Mars in eine Sehnsucht nach einem fernen, exotischen Planeten verwandeln. Es wäre ein Kinderspiel, da war er sich sicher – die Medien machten so etwas oft genug.

Auf einmal erinnerte er sich an die Worte, die sein Lehrer kurz vor seinem Tod gesagt hatte: Wenn es interessant sein soll, benutz deinen Kopf. Wenn es glaubwürdig sein soll, benutz deine Augen und dein Herz. Nur wusste Igor nicht, ob sein Film interessant oder glaubwürdig werden sollte. Er sah die Gestalt seines Lehrers vor sich: Sein Haar war schütter geworden, und er saß zusammengekrümmt in dem Samtsessel mit der hohen Lehne. Das Sprechen bereitete ihm Mühe, aber er gestikulierte angestrengt und schwerfällig mit zitternden Händen.

«Wenn es interessant sein soll, benutz das. Wenn es glaubwürdig sein soll, benutz das und das», hauchte er kaum hörbar.

Beim ersten «das» deutete er auf seinen Kopf, beim zweiten und dritten mit der einen Hand auf seine Augen und mit der anderen auf sein Herz.

Igor hatte damals nur mit einem Ohr zugehört. Er hatte die dürren Finger seines Lehrers angestarrt, als wären es Windräder, die sich nicht mehr drehen konnten. Eigentlich war sein Lehrer mit fünfundfünfzig noch in den besten Jahren, aber er kauerte unter seiner dicken Decke wie ein schwächliches Kind. All der unerschütterliche Mut, den er sein Leben lang bewiesen hatte, half ihm nun nichts mehr. Bei der Erinnerung daran fühlte Igor sich leer.

«Die Sprache ist der Spiegel des Lichts», flüsterte sein Lehrer schleppend.

Igor nickte, ohne die Worte zu verstehen.

«Vergiss über dem Spiegel nicht das Licht.»

«Ja. Ich werde es mir merken.»

«Hör zu. Ganz ruhig.»

«Was denn?»

Der Lehrer gab keine Antwort. Er starrte in die Luft, als hätte er seine Sprache verloren, und sein Blick trübte sich. Igor wartete, und dabei packte ihn die Angst, dass sein Lehrer gerade jetzt gestorben sein könnte. Zum Glück bewegte er nach einer Weile wieder die Finger.

«Wenn du zum Mars kannst, nimm … das mit.»

Sein Lehrer zeigte auf den kleinen Tisch. Igor konnte darauf einen knopfartigen Chip erkennen. Ein Schauder lief ihm über den Rücken. Sein Lehrer hatte sich über den Tod hinaus konserviert. Mit dem Finger deutete er auf sein wahres Selbst. Sein Körper nahm von seinem Gedächtnis Abschied. Und mit einem Mal empfand Igor nur noch Trauer bei den Worten seines Lehrers, die so wirr klangen und die er doch mit so großer Ruhe äußerte.

An jenem Abend war sein Lehrer ins Koma gefallen. Zwei Tage später war er gestorben. Einmal war er vorher noch zu sich gekommen und hatte seinem Schüler etwas aufschreiben wollen, aber er kam nur bis zu einem «B», ehe er zu zittern begann und erneut das Bewusstsein verlor. Danach hatte Igor ständig an seinem Bett gesessen, aber sein Lehrer war nicht noch einmal aufgewacht.

 

Mechanisch schluckte Igor sein Essen hinunter, ohne auf den Geschmack zu achten. Als er endlich aus seinen Erinnerungen in die Gegenwart zurückfand, war sein Tablett schon fast leer. Nur zwei kleine Pfannkuchen und ein paar Beilagen, die wie Kartoffelmus aussahen, waren noch übrig. Mit der Gabel spießte er einen Pfannkuchen auf. Als er daran kaute, kam es ihm vor, als hätte er seinen Geschmackssinn verloren – der Pfannkuchen schmeckte nach nichts.

Igor dachte wieder an seinen geplanten Film. Vielleicht sollte er ein visuelles Festmahl drehen, einen schwelgerischen Reigen – schließlich wirkte alles hier wie aus einem barocken Guss. Er strich mit der Hand über den Tisch und empfand dessen Wölbungen als tröstlich. Vieles hier übersah man zuerst, aber je genauer Igor seine Umgebung betrachtete, desto eigentümlicher und interessanter kam sie ihm vor. Die gläsernen Verzierungen an den Tischkanten zeigten Springbrunnenmuster, der Rahmen des Spiegels an der Wand hatte die Form aufzüngelnder Flammen, und das Tablett war an den Rändern mit Blumenschnitzereien geschmückt. All diese dekorativen Elemente stachen nicht ins Auge, aber zusammen schufen sie doch eine erstaunlich kunstvolle Atmosphäre. Sie weckten in ihm ein Gefühl fließender Übergänge und himmlischer Aufschwünge, verborgen im Kleinen. Viele Möbel gingen nahtlos in die Wände über, Tisch, Bett und Kleiderschrank bildeten ein harmonisches Ganzes und wanden sich wie ein Wasserfall zwischen Felsen. Die Tischecken mit ihren Wölbungen glichen einer sanft wogenden Gischt.

Igor hatte immer geglaubt, auf dem Mars würde man eine Ästhetik von strenger, maschinenhafter Präzision hochhalten. Umso überraschter war er nun von der sanften, natürlichen Anmut um ihn herum. Es war, als hätte es ihn weitab der normalen Welt in ein einsames Tal verschlagen, in dem ein Bach vor sich hinmurmelte.

Er setzte seine Videobrille auf, ließ seinen Blick erneut im Zimmer umhergleiten und speicherte die Aufnahme. Dann holte er seine Ausrüstung aus dem Koffer und baute sie um sich herum auf: einen Temperaturschreiber, ein Luftmessgerät und einen Sonnennachlaufmesser. Die Kügelchen wackelten wie Dinosauriereier, aus denen die Küken schlüpfen wollten.

Der Film würde ein Erfolg werden, wenn er die exotische Schönheit des Mars in den Fokus rückte, das war Igor klar. Die dekorativen, fremdartigen Details würden dem Publikum auf der Erde einen geheimnisvollen, fernen Zauber vermitteln. Gleichzeitig würde er damit seine Drehorte in eine sichere psychologische Distanz rücken; die Zuschauer konnten den Mars dann so gleichmütig betrachten wie ein Gemälde und alles Problematische verdrängen.

Aber er wollte diesen Stil keineswegs im gesamten Film durchhalten. Sonst hätte er in erster Linie die marsianischen Beamten zufriedengestellt. Seit seiner Ankunft überschütteten sie ihn mit ihren freundlichen Floskeln und versicherten ihm beflissen, wie sehr sie sein Kommen begrüßten. In ihrer Behördensprache äußerten sie die Hoffnung, er werde der Erde das wahre Gesicht ihres Planeten zeigen und so zum Erstarken von Freundschaft und Vertrauen auf beiden Seiten beitragen. Igor hatte immer nur gelächelt und genickt. Ja, hatte er erklärt, er sei überzeugt, dass der Mars ein schöner Ort sei. In einem Flughafenkorridor hatten sie einander betont herzlich die Hände geschüttelt, und Igor hatte diese theatralische Szene mit seiner Kameradrohne festgehalten.

Seine Freundlichkeit war nicht geheuchelt, aber er hütete sich vor naiver Begeisterung. Solange er sich kein eigenes Bild von der neuen Welt gemacht hatte, wollte er nicht vorschnell Position beziehen. Und Beamten hatte er noch nie über den Weg getraut. Nur bei einer Sache war er sich sicher: Überzeugungen waren nicht dazu da, dass man sie bei der erstbesten Gelegenheit hinausposaunte. Weil er berufsbedingt viel reiste, wusste er, dass man nur dann öffentlich auf der eigenen Überzeugung beharren sollte, wenn es unbedingt nötig war. Ansonsten war es wichtiger, genau hinzusehen, als zu reden.

Die Mitglieder der Delegation hatten mit ihren Ansichten zu seinem Filmprojekt nicht hinter dem Berg gehalten. Der amerikanische Professor Chack hatte wohlmeinend angedeutet, dass das totalitäre Regime auf dem Mars wohl eine wahrheitsgetreue Darstellung nicht zulassen werde. Und der deutsche Kapitän Hoppmann hatte Igor sogar ganz unverblümt gesagt, er sei noch jung und solle seine Nase nicht in Dinge stecken, von denen er nichts verstehe. Hoppmann meinte die Politik, und die Warnung leuchtete Igor sogar ein. Er war nur ein Regisseur und nicht in der Position, sich in politische Angelegenheiten einzumischen. Selbst eine rein filmische Stellungnahme wäre heikel genug gewesen, denn jeder Film war ein Beweisstück für die Zukunft, das es schwieriger machte, historische Gegebenheiten phantasievoll auszulegen oder zu leugnen. Wirklich brauchbare Ideen für den Film aber hatte ihm niemand geliefert. Die Besucher der kleinen Bar auf der Maerde hatten ihm nur aufmunternd auf die Schulter geklopft, bevor sie sich um zwei Dezibel leiser wieder ihren Gesprächen zuwandten.

Tynne hatte als Einziger das Filmprojekt lebhaft mit ihm diskutiert und ihm eine ganze Reihe von konstruktiven Vorschlägen gemacht. Denn er betrachtete ihre Reise zum Mars als eine außerordentliche Geschäftsgelegenheit.

«Ein Drama! Du musst ein Drama daraus machen, das ist das Entscheidende.»

Diese Worte hatte Tynne mit entsprechend dramatischer Miene untermalt. Auch wenn er gern wie ein surfender Strandurlauber auftrat, war er vor allem ein gewiefter Geschäftsmann. In seinen Augen war das Entscheidende, den Zuschauer emotional zu packen. Eine spannende Handlung war für ihn das A und O – und Fragen wie die von Freiheit oder Diktatur waren ihm völlig gleichgültig. Es wäre ihm egal gewesen, wenn er Spott für den Film kassierte, Hauptsache, beim zahlenden Publikum kam er gut an.

Igor hatte sich oft gefühlt, als säße er auf einer Verkehrsinsel, und die Autos rasten an ihm vorbei. Die Ansichten und Ratschläge der anderen beeinflussten ihn kaum, denn ihm kam es auf etwas anderes an. Er hörte nur deshalb jedem seiner Gesprächspartner bereitwillig zu, weil er das Ziel, auf das er selbst hinauswollte, noch nicht gefunden hatte. Hatte er es erst einmal, würde er auch daran festhalten, davon war er überzeugt.

Er war nicht neunzig Millionen Kilometer durch das schwarze All geflogen, um einen kitschigen Besinnungsaufsatz in Form eines Films zu verfassen. Er suchte ein unverbrauchtes, neues Heilmittel für die chronische Krankheit, an der die Erde in seinen Augen litt.

Er wollte keine voreiligen Schlüsse ziehen. Erst brauchte er mehr Informationen. Er wollte ein Schauspiel verfilmen, das sich erst noch ereignen musste. Die Zukunft sollte über die Gegenwart entscheiden. Solange er das Ende noch nicht kannte, konnte er seinem Drama auch noch keinen Namen geben.

 

Nach dem Frühstück wurde Igor schläfrig. Auf der Maerde war er ständig mit den anderen Mitgliedern der Delegation zusammen gewesen, und nun, da diese Anspannung von ihm abfiel, überkam ihn die Müdigkeit.

Er legte sich aufs Bett, streckte sich genüsslich, und schon bald schlief er tief und fest. Er träumte einen Traum, den er immer wieder träumte: Sein Lehrer saß in dem Samtstuhl mit der hohen Lehne und las mit leiser Stimme etwas vor, das Igor nicht verstand. Er selbst stand hinter dem Stuhl und wollte auf die andere Seite treten, um seinem Lehrer ins Gesicht zu blicken und seine Worte zu verstehen, aber es gelang ihm nicht. Jedes Mal war es, als würde er eine weite, beschwerliche Reise antreten, die ihn vollkommen erschöpfte, und er kam nie an sein Ziel.

Als Igor aufwachte, war es schon vier Uhr nachmittags. Draußen zeichneten sich die langen Schatten scharf gegen das Licht der Abendsonne ab. Die Tageszeiten hier auf dem Mars ähnelten denen auf der Erde. Das Willkommensbankett begann sicher bald. Träge blieb er auf dem Bett liegen, und als er die Augen wieder schloss, kamen ihm Bruchstücke seines Traums ins Bewusstsein.

Ob ich wohl wie mein Lehrer hierbleibe?, schoss es ihm durch den Kopf. Er hatte keinen Grund, auf dem Mars zu bleiben – aber den hatte sein Lehrer damals auch nicht gehabt. Achtzehn Jahre war das jetzt her: Zwischen dem Mars und der Erde hatten die ersten gegenseitigen Besuche stattgefunden, und sein Lehrer war als Vertreter der Filmwelt mitgereist, um auf dem Mars neue Bilddarstellungsverfahren kennenzulernen. Aber er kehrte nicht wieder zurück, sondern ließ nur die nötige Hard- und Software samt den Bedienungsanleitungen mit der Maerde zur Erde bringen. Die Nachricht sorgte für Schlagzeilen daheim, denn niemand konnte sich vorstellen, warum er auf dem Mars bleiben wollte. Damals war er siebenunddreißig Jahre alt gewesen, ein äußerst erfolgreicher Filmemacher, der einen Preis nach dem anderen abräumte. Er war auf dem besten Weg, zu einer neuen Koryphäe seines Fachs zu werden. Mit seinen Kollegen verstand er sich ausgezeichnet. Es war schlicht unvorstellbar, warum er die Seiten gewechselt haben sollte. Manche Berichte mutmaßten, er habe von marsianischen Staatsgeheimnissen erfahren und sei deshalb verhaftet worden, andere spekulierten, er wolle sich mehr Zeit nehmen, um sich mit den neuen Technologien auf dem Mars vertraut zu machen.

Igor war damals erst sieben Jahre alt gewesen und noch naiv und ahnungslos. Aber die Flut von Kommentaren und Analysen im Internet war ihm im Gedächtnis geblieben. Die Gerüchte rissen nicht ab, bis sein Lehrer mit seiner Rückkehr auf die Erde die Sensation perfekt machte. Eine Hintergrundreportage jagte die nächste, doch sein Lehrer gab keine Interviews. Er hüllte sich bis an sein Lebensende in Schweigen und verriet nichts über seine sieben Jahre auf dem Mars.

Weil Igor das alles aus nächster Nähe miterlebte, hielt er sich von da an mit seinem Urteil zurück, statt wild draufloszuspekulieren. Ein Außenstehender, so viel war ihm bewusst geworden, durfte alles wissen – nur nicht die tieferen Beweggründe, warum man etwas tat. Er redete nicht einmal mehr über seine eigene Zukunft, denn er hatte eines begriffen: Was er später einmal tun oder lassen würde, hing von Umständen ab, die er noch nicht kannte und über die er deshalb auch nichts sagen konnte.

 

Wie eine Schildkröte kroch der Staubsauger die Wand entlang. Am Abend wirkte das Zimmer sehr friedlich. Das Licht der Abendsonne war nicht etwa orangerot, sondern fahlweiß wie am Nachmittag – nur dass es jetzt nicht mehr durch die Decke, sondern schräg durch die Glaswand hereinfiel und so jeden Gegenstand mit einem sanften Strahlenkranz umrandete.

Igor stand auf und setzte sich ans Fenster. An der Wand neben dem Bett hing ein Stillleben, aber als er es leicht berührte, verschwand das Bild. Der Monitor leuchtete auf, und seine Oberfläche kräuselte sich in sanften Wellen. Ein kleines Mädchen mit einem reizenden Lächeln – die virtuelle Servicekraft des Hotels – tauchte auf dem Bildschirm auf. Es trug ein rot kariertes Kleid, das von einem gemusterten weißen Gürtel zusammengehalten wurde. Auf seinem Kopf saß ein kleiner Strohhut.

«Guten Tag! Was für ein schöner Nachmittag! Ich heiße Vera. Was kann ich für Sie tun?»

«Hallo, ich bin Igor. Ich möchte nur fragen, wie der Verkehr hier auf dem Mars funktioniert. Ich meine: Wie kommt man irgendwohin? Wie kauft man Tickets, und wie ruft man einen Routenplaner auf?»

Mit einem Blinzeln verarbeitete das Mädchen seine Fragen. Die Animation war aufwendig und wirkte lebensecht. Nach ein paar Sekunden lächelte das Mädchen, wobei sich zwei Grübchen auf seinen Wangen zeigten. Es raffte das Kleid und verbeugte sich, sodass der Stoff hochschwang wie ein aufklappender Schirm.

«Guten Tag, Herr Lu. Das Hauptverkehrsmittel auf dem Mars sind Röhrenwagen. Sie brauchen dafür kein Ticket, die Fahrt ist umsonst. In der Nähe von jedem Gebäude liegt eine kleine Station, an der alle zehn Minuten ein Wagen vorbeikommt. Der Wagen bringt Sie zur nächsten großen Transitstation, dort können Sie sich auf einer Karte einen Wagen aussuchen, der zwischen den Distrikten verkehrt. Jede Station ist mit intelligenten Routenplanern ausgestattet. Eine Rundfahrt um Mars City dauert hundertfünfzig Minuten.»

«Ich verstehe. Danke.»

«Brauchen Sie sonst noch Hilfe? Wir bieten eine interaktive Stadtübersicht, ein Verzeichnis aller Museen und einen Einkaufsführer an.»

«Kannst … kannst du etwas für mich herausfinden?»

«Worum geht es?»

«Ich möchte mit jemandem Kontakt aufnehmen.»

«Ja, natürlich. Bitte nennen Sie mir den betreffenden Namen oder das Studio.»

«Brodie. Janet Brodie.»

«… Frau Janet Brodie, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Studio Drei des Tarkowski-Filmarchivs, wohnhaft: Russell-Distrikt, siebter Längengrad, sechzehnter Breitengrad, Nummer 1. Sie können Frau Brodie eine Nachricht auf ihrem persönlichen Account hinterlassen oder sich mit ihrem Studio verbinden lassen.»

«Okay. Danke.»

«Die genannten Informationen sind bereits auf Ihrer Gästeseite gespeichert. Soll ich Sie jetzt verbinden?»

«Nein», sagte Igor. «Im Moment nicht.»

«Haben Sie sonst noch Fragen?»

«Lass mich mal überlegen. Da gibt es noch eine Person – ich glaube, sie heißt Luoying Sloan. Eine Schülerin, die gerade von der Erde zurückgekehrt ist.»

«… Frau Luoying Sloan, Schülerin des Duncan-Ensembles, Tanzklasse Nummer 1, wohnhaft: Russell-Distrikt, elfter Längengrad, zweiter Breitengrad, Nummer 4. Frau Sloan hat ihren persönlichen Account derzeit noch nicht wieder aktiviert.»

«Alles klar, danke. Das war alles.»

«Vera steht Ihnen immer gern zu Diensten», zwitscherte das Mädchen mit zuckersüßer Stimme, wirbelte mit einer Verbeugung herum und hüpfte davon.

Igor notierte sich die Informationen in seinem Tablet. Allmählich wurde er aufgeregt – er hatte für die nächsten Tage ein Ziel gefunden, aber was für Menschen und Ereignisse ihn erwarteten, das wusste er nicht. Gleich traf sich die ganze Delegation, um am marsianischen Begrüßungsbankett teilzunehmen. Er zog sich um, kämmte sich die Haare und hängte sich die Tasche mit seiner Filmausrüstung um.

Bevor er das Hotelzimmer verließ, blieb er kurz an der Glaswand stehen. Draußen brach gerade die Dämmerung herein, und im aufleuchtenden elektrischen Licht glitzerten die schmalen Straßen, als wären sie aus durchsichtigem Glas. Voller Erstaunen hatte er am Morgen aus der Raumfähre auf die Stadt hinabgeblickt: Sie schien wie aus einem einzigen Kristall erschaffen, der von einem dichten Netzwerk feiner Adern durchzogen war. Graziöse Häuser aus Glas, keines wie das andere, lagen verstreut in der weiten Ebene. Mit ihren türkisblauen Dächern, die an schräg aufgestellte Surfbretter erinnerten, sahen sie von weitem aus wie Wasserflächen, die das Festland durchschneiden. Röhren verbanden die Häuser zu einem engmaschigen Netz, das sich wie ein komplexer Blutkreislauf auf der Oberfläche des Planeten abzeichnete. Von alldem fühlte Igor sich unwillkürlich angezogen. Nichts in der Welt, die er kannte, glich diesem Anblick, und das faszinierte ihn.

Zu Hause

Luoying trat aus dem Flughafen in das blendende Licht der Sonne.

Fünf Jahre lang hatte sie die marsianische Morgensonne nicht mehr erlebt. Sie hatte fast vergessen, wie es sich anfühlte. Über der Erde war der Himmel blau, und die Sonne schimmerte in einem milden Orange, aber hier auf dem Mars zeichnete sich alles in schonungsloser Schärfe im Sonnenlicht ab.

Die Flughafenhalle war erbaut worden, als Luoying schon fort war. Sie war groß und hell. Bei der Ankunft unterhielten sich Luoying und ihre Freunde kaum. Die Wände der Halle, das Kuppeldach und der Boden waren aus dem üblichen Glas, wobei der Boden wie Marmor gemustert war. An den blanken Wänden sah man zwischen dem Skelett aus Stahlträgern die zarten Farbtöne eines heißen Gases, das in dünnen Streifen in dem Hohlraum zwischen den beiden Glasscheiben zirkulierte. Die Reisenden wurden auf einem Transportband von der Raumfähre herab Richtung Flughafenausgang gebracht. Hinter einem Korridor, in dem ihre Identität kontrolliert wurde, öffnete sich die weitläufige Eingangshalle. Nun waren sie endlich angekommen.

Luoying ging neben Shania. Beim Anblick der Delegation von der Erde mussten beide grinsen. Die irdischen Abgesandten hatten sich hinter der Marsdelegation und vor den Schülern eingereiht. Ihre teuren Kleider und ihre Reiseausrüstung – viel gediegener als die der Marsianer – passten so gar nicht zu der Naivität, mit der sie die Empfangsprozedur über sich ergehen ließen.