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Aufgrund der sich verändernden Altersstruktur unserer Gesellschaft verändert sich auch die Perspektive auf den Begriff "Alter". Welchen Einfluss hat das Alter(n) auf die Darstellenden Künste? Welche Herausforderungen stellen sich den Künstlerinnen und Künstlern, egal ob sie am Anfang einer Karriere stehen oder etabliert sind? In welchem Verhältnis stehen Alter und Kunst zueinander? Wie wirkt sich das Alter eines Künstlers bzw. eines Werks auf die Akzeptanz im Kunstmarkt aus? Wie steht es um die sozioökonomische Realität und Alterssicherung? Welche strukturellen Hindernisse und Diskriminierungen gilt es zu überwinden und wie sehen generationengerechte Lösungen und Förderkonzepte aus? Aus Anlass des 25-jährigen Jubiläums ihres Projektes "x-mal Mensch Stuhl", das den alten Menschen in der Gesellschaft ins Zentrum stellt, entwickelte das Künstlerduo Angie Hiesl + Roland Kaiser die Idee, sich mit diesen Fragen in einer Interviewreihe und einem Symposium diskursiv zu befassen. Dieser Band greift die Themen des Symposiums auf und führt sie mit weiteren Fachbeiträgen fort. Mit freundlicher Unterstützung der Kunststiftung NRW
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Seitenzahl: 264
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Wir danken der Kunststiftung NRW und dem Kompetenzzentrum für Kulturelle Bildung im Alter und inklusive Kultur (kubia) für die freundliche Unterstützung dieser Publikation sowie dem Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen und dem Kulturamt der Stadt Köln für die langjährige Förderung der Angie Hiesl Produktion.
WAR SCHÖN. KANN WEG …
Alter(n) in der Darstellenden Kunst
Herausgegeben von Angie Hiesl + Roland Kaiser
in Zusammenarbeit mit Almuth Fricke
Recherchen 162
© Theater der Zeit 2022
Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien.
Verlag Theater der Zeit
Verlagsleiter Harald Müller
Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany
www.theaterderzeit.de
Redaktion: Almuth Fricke, Dr. Miriam Haller
Lektorat: Nicole Gronemeyer
Gestaltung: Tabea Feuerstein
Umschlagabbildung: Roland Kaiser, Bearbeitung: Steffen Missmahl
Grafische Konzeption und Gestaltung der Buchreihe: Agnes Wartner, kepler studio
Printed in Germany
ISBN 978-3-95749-406-1 (Paperback)
ISBN 978-3-95749-455-9 (ePDF)
ISBN 978-3-95749-456-6 (EPUB)
Recherchen 162
Herausgegeben von Angie Hiesl + Roland Kaiserin Zusammenarbeit mit Almuth Fricke
Angie Hiesl + Roland Kaiser
Vorwort
Die Un/Sichtbarkeit von Alter in der Kunst
Alexandra Kolb
Alternative(s) Sichten
Ambiguitäten des Alter(n)s am Beispiel von x-mal Mensch Stuhl
Miriam Haller und Susanne Martin
Ageing trouble tanzen!
Theoretische und tänzerische Erkundungen zur Performativität des Alter(n)s
Madeline Ritter
Wings of change
Alter ist kein Handicap – auch nicht im Tanz
»Was man im Alter so erlebt, kenne ich seit meiner Kindheit«
Ein Interview mit Gerda König
Im Spannungsfeld von Innovation und Kontinuität
Franziska Werner
Forever Young oder Stages of Ageing?
Das Thema Altern in der Freien Szene – eine Kurationsaufgabe
Kathrin Tiedemann
Wie kommt das Neue ins Theater?
Ein autofiktionales Gespräch
»Manchmal habe ich das Gefühl, Kunst von älteren Menschen ist unsichtbar«
Ein Interview mit Constantin Hochkeppel
Von wegen sicher: Sozioökonomische Realitäten
Cilgia Gadola
Systemcheck
Lebens- und Arbeitsrealitäten in den Darstellenden Künsten
Michael Freundt
Haltung, Erfahrung, Persönlichkeit
Alter(n) und zeitgemäße Förderstrukturen in den Darstellenden Künsten
»Solange es geht, will ich arbeiten«
Ein Interview mit Katharine Sehnert
Alter und Geschlecht
»Egal was kommt, wir bringen es auf die Bühne«
Ein Interview mit Fanni Halmburger und Lisa Lucassen
Dorothea Marcus
Neue Schönheit braucht das Land
Über alternde Frauen(bilder) auf und vor deutschen Bühnen
Hannah Zufall und Ariane Koch
Ich bin sicher, ich war schon einmal älter
Handschrift, Werk, Archiv
Helena Waldmann
Von einer, die auszog, sich neu zu erfinden
»Ein Gnadenbrot fände ich bitter«
Ein Interview mit Frank Heuel
Barbara Büscher
Archivprozesse
Über Logiken des Sammelns von Artefakten aus, über, von Performances
Herausgeber*innen und Autor*innen
WAR SCHÖN. KANN WEG … ist in der modernen Konsumgesellschaft eine treibende Maxime. Auch in der performativen Kunst, die ohnehin Flüchtiges und Vergängliches produziert, ist diese Haltung sehr gegenwärtig. Doch dem Hunger nach immer Neuem, Innovativem und Jungem steht die Unausweichlichkeit des Alterns gegenüber. Altwerden in den (Freien) Darstellenden Künsten war bis vor einigen Jahren noch keine Option. Das 25-jährige Jubiläum unseres Projekts x-mal Mensch Stuhl im Jahr 2020, das sich erfolgreich dem Trend des ständig Neuen widersetzt, bewegte uns dazu, das Alter(n) in der Darstellenden Kunst einmal genauer zu betrachten.
Der ältere Mensch in unserer Gesellschaft – im Spannungsfeld von Architektur und urbanem Alltag – steht im Fokus von x-mal Mensch Stuhl. Orte der Inszenierung sind Häuserfassaden im urbanen Raum. In einer Höhe zwischen vier und sieben Metern sind weiße Stahlstühle montiert. Auf ihnen sitzen, hoch über den Köpfen der Passant*innen, Menschen im Alter zwischen sechzig und achtzig Jahren. Sie führen auf zurückhaltende Weise inszenierte, ganz alltägliche Handlungen aus: das Lesen einer Zeitung, das Schneiden von Gemüse, das Hören des Radios – Tätigkeiten, die mit ihrem persönlichen Leben in Verbindung stehen. x-mal Mensch Stuhl wurde bisher in 38 Städten in 17 Ländern Europas sowie Nord- und Südamerikas gezeigt.
Die thematische Ebene des Projekts sowie seine Nachhaltigkeit – 25 Jahre lang präsentiert und immer noch aktuell und gefragt – waren für uns Impulsgeber, den Bereich der Darstellenden Künste auf den Umgang mit dem Faktor Alter(n) zu untersuchen und in einem größeren Rahmen in Form eines Symposiums zu diskutieren.
Ziel dieser Publikation ist es, einerseits die zentralen Ergebnisse und Positionen der Gespräche und des Symposiums zu dokumentieren, andererseits den Diskurs über Kunst und Alter(n) noch weiter anzuregen. Diese Motivation teilen wir mit kubia, dem Kompetenzzentrum für Kulturelle Bildung im Alter und inklusive Kultur, das uns auf diesem Weg begleitet und unterstützt hat.
Startpunkt unserer Recherche war die Einladung von PACT Zollverein, die uns – gefördert durch den Fonds Darstellende Künste – im Herbst 2020 die Möglichkeit bot, uns dem Thema zunächst einmal aus eigener Perspektive und aus Sicht von Kolleg*innen anzunähern. In sechs Video-Interviews befragten wir im Zuge unserer Recherche Vertreter*innen der Freien Szene aus den Bereichen Theater, Tanz und Performance. Im Februar 2021 veranstalteten wir dann ein Online-Symposium unter dem Titel WAR SCHÖN. KANN WEG … Alter(n) in der Darstellenden Kunst, das auf sehr positive Resonanz bei Künstler*innen, aber auch Vertreter*innen von Fachverbänden, Förderinstitutionen sowie Kulturpolitik und Verwaltung im gesamten deutschsprachigen Raum stieß.1
Vor welchen Herausforderungen stehen Künstler*innen, egal ob sie am Anfang einer Karriere stehen oder etabliert sind? Wie wirkt sich das Alter eines Künstlers, einer Künstlerin bzw. eines Werks auf die Akzeptanz am Kunstmarkt aus? Wie steht es um die sozioökonomische Realität und Alterssicherung? Welche strukturellen Hindernisse und Diskriminierungen gilt es zu überwinden und wie sehen generationensowie gendergerechte Lösungen und Förderkonzepte aus?
Mit unserem aktuellen Lebensalter von 63 bzw. 67 Jahren ist für uns das Thema Alter präsenter geworden. Lange Zeit stand das kreative Arbeiten so im Mittelpunkt, dass der Blick auf die eigene Endlichkeit weitgehend im Hintergrund stand. Mit zunehmendem Alter verändert sich die Perspektive auf das eigene Schaffen und Leben. Neue Fragen treten an die Oberfläche. Wie gestalte ich das letzte Drittel oder Viertel meiner Arbeits-/Lebenszeit? Wie gehe ich mit meinem Werk, meinem Archiv um? Wie lange kann bzw. darf ich noch arbeiten – gibt es überhaupt ein Ende des künstlerischen Schaffens vor dem Tod? Wie entwickelt sich die eigene sozioökonomische Situation? Es wird immer deutlicher, in welch prekärer Lage sich viele Künstler*innen, besonders im Alter, befinden. Nicht nur in der Kunst, sondern auch in anderen Arbeitsbereichen zeichnet sich zunehmende Altersarmut ab – ein Problem, das gesamtgesellschaftlich gelöst werden muss.
Der mit den Interviews und im Symposium begonnene Diskurs wird in dieser Publikation festgehalten und durch weitere Fachbeiträge fortgeführt, die das wichtige Thema aus künstlerischer, wissenschaftlicher, kuratorischer und kulturpolitischer Perspektive beleuchten.
Im Kapitel Die Un/Sichtbarkeit von Alter in der Kunst führt Alexandra Kolb in ihrem Beitrag über »Alternative(s) Sichten. Ambiguitäten des Alter(n)s am Beispiel von x-mal Mensch Stuhl« in die Problematik der strukturellen sozialen Nichtsichtbarkeit des Alters ein und zeigt auf, welche Sichten auf den alternden Körper die Performance-Kunst ermöglicht.
Es folgen mit »Ageing trouble tanzen!« theoretische und tänzerische Erkundungen zur Performativität des Alter(n)s und Möglichkeiten widerständiger Neu-Inszenierungen und Neu-Einschreibungen des Alter(n)s in den Künsten, die die Tanzwissenschaftlerin und Tänzerin Susanne Martin und die Kulturgerontologin und Bildungswissenschaftlerin Miriam Haller gemeinsam unternommen haben.
Im Tanz ist in der Regel mit vierzig Jahren Schluss. Mit ihrer Initiative zur Gründung des Dance On Ensembles für ältere Tänzer*innen ist es der Kulturmanagerin Madeline Ritter gelungen, sichtbar zu machen, was die Tanzkunst – und die Gesellschaft – durch Ausstrahlung, Souveränität und eindrückliche Darstellungskraft gewinnt, die sich aus gelebter Erfahrung speist. In ihrem Beitrag »Wings of change« plädiert sie für neue Alter(n)sbilder auf unseren Bühnen und in unseren Köpfen.
Das Kapitel schließt mit Auszügen aus unserem Interview mit Gerda König, der Choreografin, Tänzerin und Gründerin sowie Leiterin der DIN A 13 tanzcompany, die weltweit zu den führenden mixed-abled-Tanzensembles zählt. In ihrer künstlerischen Auseinandersetzung geht es um die differenzierte und diverse Bewegungsäußerung unterschiedlicher Körper – Alter ist davon nur eine Facette.
Das zweite Kapitel fragt nach dem Spannungsfeld von Innovation und Kontinuität in der Freien Szene. Aus Sicht von Franziska Werner, künstlerische Leiterin der Sophiensæle Berlin, bedarf es einer neuen Generationensolidarität: Traditionell richtet die Freie Szene ihren Fokus auf Newcomer und Innovation. Aber was passiert, wenn die Jungen älter werden, wie kann ein sinnvolles Miteinander, eine Programm-Mischung zwischen den Älteren und Jüngeren aussehen und was bedeutet dies für die Kuration?
Kathrin Tiedemann, künstlerische Leiterin und Geschäftsführerin des FFT Düsseldorf, ergründet das Generationenverhältnis in Form eines autofiktionalen Gesprächs. Für sie geht es nicht so sehr um einen Generationswechsel, als vielmehr um die Frage, wie sich das Theater den Dynamiken und Konflikten stellt, entlang derer heute die Neuverteilung der Macht verhandelt wird.
Auch Constantin Hochkeppel, Physical-Theatre-Performer, Theatermacher und Choreograf und mit Anfang dreißig unser jüngster Gesprächspartner, wünscht sich eine Gesellschaft, in der das Klima so ist, dass ein konstruktiver Austausch stattfindet und Jung und Alt gemeinsam zu neuen Einsichten gelangen. Er plädiert für Begegnungsplattformen sowie generationengerechte Förderung. Für seine Alterssicherung betreibt er schon in jungen Jahren Vorsorge. Dass dies angesichts der prekären Situation vieler Künstler*innen dringend nötig ist, thematisiert das Kapitel Von wegen sicher: Sozioökonomische Realitäten.
Cilgia Gadola, Leiterin des Forschungsprojekts Systemcheck vom Bundesverband Freie Darstellende Künste, beschäftigt sich mit der sozialen Situation Solo-Selbstständiger und Hybridbeschäftiger in der Freien Szene. Nicht zuletzt ausgelöst durch die Erfahrungen der Coronapandemie sucht Systemcheck nach Wegen, um die soziale Absicherung für Künstler*innen zukunftsfester und fairer zu gestalten.
Michael Freundt, Geschäftsführer des Dachverbands Tanz, fordert dazu auf, die Kunstlandschaft als Mehrgenerationenhaus zu begreifen, und macht Vorschläge, wie Kunst- und Kulturfördersysteme für alle Altersgruppen gerechter werden könnten.
Die Tänzerin und Choreografin Katharine Sehnert konnte nie durchgehend in die Rentenkasse einzahlen. Mit 85 Jahren muss und will sie weiterhin für ihren Lebensunterhalt arbeiten, denn sie möchte ihre Erfahrungen weitergeben – solange es geht.
Das Kapitel Alter und Geschlecht eröffnen Fanni Halmburger und Lisa Lucassen, Mitglieder des Performance-Kollektivs She She Pop. Sie reflektieren im Interview ihren künstlerischen Umgang mit biografischen Erfahrungen wie der des Alter(n)s als Frau: »Egal was kommt, wir bringen es auf die Bühne« – das Einbeziehen der eigenen Biografie ist bei She She Pop Methode.
Als Theaterkritikerin und Mitglied diverser Theaterjurys fordert Dorothea Marcus Neue Schönheit braucht das Land und kritisiert das veraltete Bild der älteren Frau auf und vor deutschen Bühnen.
Der Vorhang dieses Kapitels fällt mit dem Dramolett »Ich bin sicher, ich war schon einmal älter« der Theaterautorinnen Hannah Zufall und Ariane Koch, die kürzlich mit The Golden Age eine Initiative für mehr ältere Frauen* auf deutschen Bühnen begründet haben.
Im letzten Kapitel Handschrift, Werk, Archiv geht es um das, was bleibt. Für die Choreografin Helena Waldmann, deren Produktionen und Tourneen sie um die Welt geführt haben, ist ihr Archiv im Gedächtnis ihres Publikums in Europa, Asien, Afrika, Nord- und Südamerika verteilt. Dieses mobile und ganz persönliche Erinnerungsarchiv gibt ihr den Spielraum, sich immer wieder neu zu erfinden.
Frank Heuel, künstlerischer Leiter des fringe ensemble, verortet seine künstlerische Handschrift zwischen den Polen, sich selbst treu zu bleiben und dennoch immer wieder Neues zu entdecken. Zu vererben wären für ihn Werte wie Loyalität, Achtsamkeit und Kontinuität, die er als Geist seines Ensembles weitergetragen wissen möchte – Werte der Beständigkeit, die vor einigen Jahren niemand mit der Freien Szene assoziiert hätte.
Aus wissenschaftlicher und forschender Perspektive beschäftigt Barbara Büscher, Professorin für Medientheorie/-geschichte und Intermedialität an der Hochschule für Musik und Theater Leipzig, die Frage, welche Prozesse zu Archivbildung in den Performance-based-Arts führen, wenn es dafür keinen stabilen Ort mit den herkömmlichen Ordnungen des Sammelns, Dokumentierens und Archivierens gibt. Sie erforscht, ob und wie ephemere oder performative Kunstformen archivarisch repräsentiert werden können.
Unser herzlicher Dank gilt unseren Förderern: der Kunststiftung NRW, dem Ministerium für Kultur und Wissenschaft NRW, dem Förderfonds Kultur & Alter des Landes NRW sowie dem Kulturamt der Stadt Köln. Dem Kompetenzzentrum für Kulturelle Bildung im Alter und inklusive Kultur (kubia) danken wir für die umfangreiche Unterstützung in Form von Rat und Tat, mit der es sowohl das Symposium als auch diese Publikation begleitet hat. Besonders danken wir Almuth Fricke, der Leiterin von kubia, die maßgeblich bei der Herausgabe dieses Buches mitgewirkt hat. Ebenso danken wir dem Verlag Theater der Zeit für die Realisierung dieses Buchprojekts.
Unser herzlicher Dank gilt darüber hinaus allen an der vorliegenden Publikation und dem Symposium beteiligten Personen. Wir danken den Referent*innen des Symposiums, den Interviewpartner*innen und Autor*innen dieses Buchs, die durch ihren sehr persönlichen Blick das Thema greifbarer gemacht haben. Silvia Werner danken wir für die umsichtige Projektleitung sowie Dr. Barbara Kruse und Andreas Giesen für die fachkundige Prozessbegleitung und Moderation des Symposiums. Dr. Miriam Haller, Ruth Suermann und Pascale Rudolph haben zum Entstehen dieser Publikation redaktionell und organisatorisch mit großer Sorgfalt beigetragen.
Ausblick: Das Thema Alter(n) in all seinen Facetten ist in vielen Köpfen und Institutionen angekommen und wird bereits lebhaft diskutiert. Wir hoffen, mit dieser Publikation die Diskussion weiter zu befeuern. Ein großer Schritt in Sachen Systemwandel wäre die zeitnahe Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens in angemessener Höhe, das die sozioökonomische Lage vieler Künstler*innen, ob jung oder alt, bedeutend verbessern würde. Wir hoffen diesbezüglich auf ein baldiges Handeln seitens der Politik.
ANGIE HIESL + ROLAND KAISER, Mai 2022
1Eine ausführliche Dokumentation zum Symposium findet sich unter www.angiehiesl-rolandkaiser.de.
x-mal Mensch Stuhl, Bordeaux 2004, Akteurin: Edith Höltenschmidt, © Roland Kaiser
Alexandra Kolb
Dieses Buch beginnt mit dem Kapitel Die Un/Sichtbarkeit von Alter in der Kunst. Wie also wird der alternde Körper diskutiert, dargestellt und choreografiert? Was ist sichtbar und was fehlt in der Darstellung des Alters in der Darstellenden Kunst? In diesem einleitenden Kapitel geht es um die Verortung und Sichtung alternder Körper. Obwohl der Schwerpunkt auf der Performance liegt, insbesondere auf Angie Hiesls Performance-Installation x-mal Mensch Stuhl, ist es wichtig, das umfassendere soziale Phänomen zu betrachten, bei dem der Prozess des Alterns zu einer Unsichtbarmachung älterer Menschen führt. Wie Menezes et al., neben anderen Autoren, schreiben: »Many older adults reported that becoming older had rendered them invisible to other community members, adopting separate, parallel lives with little day-to-day recognition when moving around public spaces.«1 Dieser Mangel an Anerkennung spiegelt sich auch in ihrer Abwesenheit in der kulturellen Bildsprache wider.
Fragen der Ausgrenzung sind eng mit der Körperlichkeit verbunden, denn wie der Gesundheitswissenschaftler Christopher Faircloth in seinem Buch Aging Bodies: Images and Everyday Experience feststellt, ist es der physische Körper, der «visibly marks us as ageing«.2 Doch wie Miriam Haller und Susanne Martin im nächsten Artikel treffend feststellen, werden die körperlichen Realitäten des Alters oft hinter Statistiken und Zahlen versteckt. Während sich in letzter Zeit eine ganze Reihe akademischer und journalistischer Texte Fragen des Alterns gewidmet haben, etwa den Barrieren, denen sich ältere Menschen im öffentlichen Raum gegenübersehen, oder finanziellen Herausforderungen wie der Rente, steht dies in deutlichem Kontrast zur relativen Unsichtbarkeit des älteren Körpers in Kunst und Kultur. Und selbst in der Sozialtheorie ist die fleischliche Materialität der alternden Physis trotz der Fülle theoretischer Diskussionen über Körperlichkeit oft ein merkwürdiges Versäumnis.3
Um diese Lücke zu schließen, weist Faircloth auf die Notwendigkeit hin, sich auf den gelebten Körper in seinem alltäglichen Umfeld zu konzentrieren und das Bewusstsein für die persönlichen und sozialen Auswirkungen der in kulturellen Kontexten dargestellten Bilder des Alterns zu schärfen. Denn, wie er argumentiert, haben kulturelle Darstellungen erheblichen »impact on self-conceptualization both in the present and in the future«4 und können somit entscheidend bestimmen, wie ältere Menschen sich selbst sehen und identifizieren. (Natürlich ist es ebenso aufschlussreich, was ihre Auslassung über das Altern bedeutet und aussagt). Verkörperte Kunstformen wie das Theater und insbesondere der Tanz haben angesichts der zentralen Bedeutung, die sie dem Körper beimessen, potenziell viel über das Altern zu sagen. Ihre Werke tragen durch die Art und Weise, wie das Alter visuell dargestellt wird, zu Diskursen über das Alter bei, und in den letzten zehn Jahren haben sich eine Reihe von Texten, insbesondere über Tanz5, mit diesem Thema befasst. Viele dieser Texte betonen, wie wichtig es ist, zu untersuchen, wie Inhalt und Besetzung künstlerischer Werke die Erfahrung und Körperlichkeit älterer Menschen zum Ausdruck bringen können, während andere insbesondere das Alter(n) unter einem geschlechtsspezifischen Gesichtspunkt untersuchen – ein Thema, das in einem späteren Abschnitt dieses Buches ausführlicher behandelt wird.
Ältere Menschen bleiben im traditionellen westlichen Tanztheater weitgehend unsichtbar, abgesehen von einigen Charakterrollen, die oft eher unheimlich sind (wie Hexen, Coppelius usw.). Der Bühnentanz ist eng mit einem kulturell verstandenen »idealen« Tanzkörper verbunden: jung, stark und schlank.6 In dem Bestreben, die altersfeindliche Denkweise innerhalb des Berufsstandes zu bekämpfen, und im Zuge der sich erweiternden Auftrittsmöglichkeiten für ältere Tänzer*innen im postmodernen Tanz wurden in jüngster Zeit Fragen des Alters stärker in den Blick genommen. Dazu gehörten in den letzten Jahrzehnten die Gründung von Kompanien, die auch ältere Tänzerinnen und Tänzer einbeziehen,7 Choreograf*innen, die sich mit Fragen des Alters, des Alterns oder der Altersdiskriminierung auseinandergesetzt haben, und die Schaffung von (oft interdisziplinären) Werken, die weniger auf technischem Können und Ausdauer beruhen, sondern alternative Körperdarstellungen bieten und auf unterschiedliche Körperlichkeiten eingehen.
x-mal Mensch Stuhl von Angie Hiesl ist ein interdisziplinäres Kunstwerk, das die Grenzen zwischen Tanz (im weitesten Sinne) und bildender Kunst überschreitet, um komplexe und vielschichtige Bilder des alternden Körpers zu vermitteln, die nicht offensichtlich theoretische Positionen widerspiegeln oder abgrenzen, sondern vielmehr eine nuancierte Reflexion hervorrufen. Zur Veranschaulichung meiner Argumentation werde ich mich auf die 2017 gefilmte Wiedergabe (Kamera: Roland Kaiser)8 dieser einstündigen Performance-Installation konzentrieren, die 2020 ihr 25-jähriges Jubiläum feierte. Sie wurde im Zentrum von Graz in Österreich gezeigt – einer Stadt mit fast 300000 Einwohner*innen, die für ihre Mischung aus Gebäuden im Stil des Barocks und der Renaissance sowie der Moderne bekannt ist. Das Ensemble besteht aus elf älteren Amateurdarsteller*innen aus Deutschland und Österreich, die einzeln und ausgesetzt auf minimalistischen weißen Stühlen sitzen, die hoch über dem Boden an verschiedenen Hausfassaden befestigt sind. Interessanterweise verlangt die Produktion vom Publikum, diese älteren Körper buchstäblich zu orten: Selbst den »offiziellen« Zuschauer*innen wird der genaue Standort der Performance-Installationen nicht mitgeteilt, so dass sie gezwungen sind, sich in der Gegend umzusehen und ständig den Blick vom Boden zu heben, um herauszufinden, wo sich die einzelnen Darsteller*innen befinden. Die Darsteller*innen sind zwar beiden Geschlechts, aber ich habe diese spezielle Grazer Version ausgewählt, weil sie auf stereotype Bilder von Weiblichkeit anspielt, auf die ich später zurückkommen werde.
Das Stück bietet Momentaufnahmen alltäglicher Tätigkeiten aus dem Leben der Darsteller*innen, die wir bei der Ausführung einfacher, alltäglicher Handlungen sehen, die durch ihre Lebensgeschichte und -umstände inspiriert sind. Wir beobachten zum Beispiel ältere Menschen beim Schminken, Lesen, Würfeln, Waschen und Schnitzen von Gemüse. Hiesl erzählte mir, dass die Inspiration für diese Handlungen aus den eigenen Geschichten der Darsteller*innen stammt. Für das erste Casting sollten die potenziellen Teilnehmenden »etwas aus ihrem Leben«9 mitbringen, etwa einen vertrauten Gegenstand, und während der Proben wurden sie ausführlicher über ihr Leben und ihre Interessen befragt. Die einzelnen Vignetten sind also locker autobiografisch.
Ich argumentiere, dass die besondere Bedeutung von Hiesls Arbeit darin liegt, dass sie die Komplexität des Alterns überzeugend erfasst, indem sie sich sowohl den Stereotypen (wie sie häufig in kulturellen Darstellungen und Bildern, einschließlich Tanzwerken, vermittelt werden) als auch den typischerweise binären Theorien in der Gerontologie und verwandten (z. B. medizinischen und soziologischen) Disziplinen entzieht. Die in den 1960er Jahren entwickelte Disengagement-Theorie besagt, dass das Altern unweigerlich zu einer Verringerung der Interaktionen zwischen dem Einzelnen und seinen persönlichen Beziehungen und sozialen Systemen und zu einem Rückzug führt. Die im selben Jahrzehnt entwickelte, aber diesem Modell entgegengesetzte Aktivitäts-Theorie besagt, dass ein optimales Altern eintritt, wenn die Menschen sozial engagiert und aktiv bleiben, was zu einer größeren Lebenszufriedenheit führt. Auch die Debatte zwischen biologischen und kulturellen Theorien des Alterns beruht auf zwei gegensätzlichen Sichtweisen: Die eine betrachtet das Altern als natürliche oder biologische Tatsache und betont die körperlichen Veränderungen, die mit diesem Prozess einhergehen (z. B. Falten, graues Haar); die andere sieht das Altern als sozial konstruiert an. In der letztgenannten Perspektive werden zwar die biologischen Gegebenheiten nicht unbedingt geleugnet, aber das chronologische Alter einer Person wird durch soziale Normen bestimmt, die mit Altersgruppen verbunden sind, was dazu führt, dass die Menschen bewusst oder unbewusst eine Performance des Alter(n)s entwickeln, um den Erwartungen altersgerecht zu entsprechen.10 Die Maske-des-Alterns-Theorie schließlich besagt, dass eine Diskrepanz zwischen dem äußeren Erscheinungsbild und dem eigenen Selbstbild bestehen kann. So kann man sich beispielsweise viel jünger fühlen, als man aussieht11, was ein jüngeres, jugendliches Selbst voraussetzt, das in einem älteren Körper gefangen ist. Dies kann als diametral entgegengesetzt zu einer Vorstellung vom Altern im Sinne einer kontinuierlichen Lebensgeschichte gesehen werden, die nicht auf eine vergangene, verschüttete Identität zurückgreift, sondern vielmehr die Kontinuität einer Person betont.
Die Besonderheit von x-mal Mensch Stuhl besteht meiner Meinung nach darin, dass es sich einer eindeutigen Kategorisierung älterer Menschen in einem dieser theoretischen Modelle verweigert und sich somit den gängigen Diskursen und etablierten Theorien des Alterns entzieht. Trotz der scheinbaren Einfachheit des Werks bleibt seine Darstellung des Alterns mehrdeutig und fließend und vermeidet die Falle, ältere Darsteller*innen zur reinen Markierung theoretischer oder ideologischer Positionen zu benutzen, statt sie mit ihrer eigenen Stimme sprechen zu lassen. Nehmen wir zum Beispiel die Bedeutung der Stühle. Im eigentlichen Sinne könnten sie den oft sitzenden Lebensstil älterer Menschen symbolisieren: Schließlich ist das Sitzen auf Stühlen, wie Hiesl betont, das, was viele (nicht nur) alte Menschen tatsächlich tun.12 In dieser Hinsicht repräsentieren die Performer*innen ihr eigenes häusliches Leben. Allerdings werden ihre privaten Wohnräume hinter den Fassaden um 180 Grad nach außen in den Stadtraum gedreht. Durch die öffentliche Inszenierung weicht die Produktion von der üblichen Beschränkung der alten Menschen auf die private Wohnung (oder das Pflegeheim im Falle der Hochbetagten) ab, indem sie sie zum Teil des städtischen Lebens macht.
Aber auch die einzelnen Stühle, die in beträchtlichen Abständen an Hausfassaden bis zu sieben Meter über dem Straßenniveau angeschraubt sind, könnten auf die physische Isolierung der älteren Menschen vom Rest der Gesellschaft hinweisen: Dies entspräche der Disengagement-Theorie des Rückzugs. Man könnte dies sogar religiös deuten als Beginn des Abschieds von der irdischen Existenz und des Aufstiegs zum Himmel. (Tatsächlich wurde bei einer früheren Aufführung der Tod selbst mit dem Stück verwoben, als einer der Teilnehmer vor der Aufführung verstarb: Sein Stuhl wurde umgekippt und leer gelassen, aber als Zeichen des Gedenkens ausgestellt.) Die Position der Stühle könnte auch als Fixierung der älteren Menschen auf einen bestimmten Ort gesehen werden, was Faircloths Einsicht widerspiegelt, dass »in our society, we place the aged in a single place; ignoring the various places of life they might actually place themselves«.13 Faircloth bezieht sich hier auf eine verbreitete einseitige Sichtweise, bei der ältere Menschen allein auf ihr Alter reduziert werden, als ob sie alle eine gemeinsame Identität hätten, anstatt ihre unterschiedlichen Charaktere, Aktivitäten und Einstellungen anzuerkennen. Wie er weiter ausführt: »They are not just old; they are many things.«14
Wie können wir also alternde Körper besser würdigen, wenn ihnen so oft wenig kulturelle Bedeutung beigemessen wird? Selbst jetzt, fast zwanzig Jahre nach Faircloths Veröffentlichung, bleibt diese Frage relevant. x-mal Mensch Stuhl versucht eine Antwort darauf zu geben; es zeigt »the actual practices, structures of thoughts and habits that we came to know as old age«15, die aber oft nicht anerkannt bzw. die übersehen werden. Es präsentiert somit eine alternative Konzeption des gelebten älteren Körpers in einer alltäglichen Umgebung. Indem wir den Darsteller*innen bei konkreten Freizeitbeschäftigungen oder Aktivitäten zusehen und Ausschnitte aus ihrem Leben für ein breiteres Publikum sichtbar werden, erfahren wir etwas über die sozialen Kontexte, in die ältere Körper eingebettet sind, jenseits von Narrativen über den körperlichen Verfall, medizinische Behandlungen oder politische Anstrengungen, die ihre Mobilität erleichtern sollen. So sitzen sie nicht »nur« auf Stühlen, um sich scheinbar aus der aktiven Gesellschaft zurückzuziehen, sondern sind intensiv mit einer Vielzahl von Aufgaben beschäftigt. Ein männlicher Darsteller (Walter Cadek) repariert ein Transistorradio, da er gerne Dinge repariert und dies sein Lieblingsgerät ist. Eine Frau (Birgitta Altermann) spielt eine winzige Konzertina – sie ist Musikerin und Kabarettistin und spielt das Instrument immer noch auf der Bühne – und ein anderer Mann (Josef Geiser) besaitet einen Badmintonschläger und verweist damit auf seine Freizeitbeschäftigung, das Ausüben dieser Sportart. Diese Praktiken beziehen sich auf das gegenwärtige Leben der Teilnehmenden und implizieren, dass sie auch im Alter aktiv bleiben (eine Anspielung auf die so genannte Aktivitäts-Theorie des Alterns). In einigen früheren Versionen beinhalten die Handlungen der Darsteller*innen jedoch auch Erinnerungen an die Vergangenheit und beziehen sich auf die Erinnerungskultur. In jedem Fall steht das, was sie tun, in direktem Zusammenhang mit ihnen als Individuen.
Es handelt sich eindeutig um eine Performance, aber die Teilnehmenden scheinen nicht aufzutreten – wir haben vielmehr den Eindruck, sie (halb Rolle, halb sich selbst verkörpernd) in ihrer häuslichen Umgebung zu beobachten, als säßen sie in einer Vitrine. Das Fehlen einer Interaktion zwischen den älteren Performer*innen und den Zuschauer*innen verleiht der Produktion einen entschieden ausstellungsähnlichen Charakter, der das Visuell-künstlerische unterstreicht und betont, dass wir in erster Linie zur Beobachtung der »Besitzer*innen« der Stühle eingeladen sind und nicht zum direkten Austausch mit ihnen. Die Performer*innen sind zwar in die Unwägbarkeiten des städtischen Geschehens eingebunden, die eine wichtige Rolle bei der Rezeption des Stücks spielen, doch sind sie vollkommen in ihre Aktivitäten vertieft und ausdrücklich angewiesen, nicht auf die Ansprache der Zuschauer*innen zu reagieren. Die wiederholte Frage eines zufälligen Passanten: »Was machen Sie da oben?«, bleibt unbeantwortet. Indem Hiesl die »corporeality of mundane practice [which] has been ignored for all too long«16 hervorhebt und den Alltag älterer Menschen inmitten des Trubels des städtischen Geschehens platziert, entzieht sich ihre Arbeit dem konventionellen, idealisierten Format vieler Bühnenstücke und verzichtet auf szenische Elemente wie Bühnenbeleuchtung, Kostüme und Musik. In vielen kulturellen Kontexten oder kritischen Diskursen würden solche Akteure und Handlungen als zu unbedeutend oder unwichtig angesehen, um überhaupt wahrgenommen zu werden. Hier werden sie zur Kunst gemacht und ziehen die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich. Gleichzeitig scheint die erhöhte Position der Performer*innen den alltäglichen Beschränkungen zu trotzen, nicht ganz unähnlich dem Schweben im Ballett oder der Verwendung von Seilzügen, die es Bühnenkünstler*innen ermöglichen zu »fliegen«. Die beträchtliche Höhe der Stühle hat in x-mal Mensch Stuhl aber einen besonderen Effekt, da älteren Leuten die physische Leistung, dort hinaufzukommen und gar so exponiert zu sitzen, meist nicht zugetraut wird.
Da sie in ihrer Position ihre Beine und ihren Unterkörper kaum benutzen können, ist der Bewegungsradius der Darsteller*innen auf ihre Arme und Hände beschränkt. Auch dies ist interpretativ mehrdeutig und lässt somit alternative Sichtweisen zu. Einerseits können wir darin die Hauptaktivitäten älterer Menschen sehen, die nicht mehr so gut gehen können – die Einschränkung der körperlichen Fähigkeiten entspricht also einer Sichtweise des Alterns als Prozess des unvermeidlichen körperlichen Verfalls. Es sind jedoch auch andere Lesarten möglich. Wie Mark Franko mit Blick auf ältere professionelle Tänzer*innen – konkret eine Performance von Ruth St. Denis aus dem Jahr 1963, als sie 85 Jahre alt war – aufschlussreich argumentiert, »age was not necessarily the death of dance, but possibly the moment of its greatest gestures«.17 Die Hände sind oft der letzte Teil des Körpers, der die technischen und motorischen Fähigkeiten beibehält und als solcher für die Erfahrung der Körperlichkeit des (älteren) Menschen stehen kann: »The hands maintain a total mobility as if they were, in themselves, the body.«18 Ihre potenzielle Bedeutung ist also vielfältig. Erstens sind sie in der Lage, Erinnerungen einzukapseln, die in den Händen konzentriert sind und die Besonderheit der Bewegung eines Körpers verraten. Zweitens verlagern sie die Frage, wer tanzen (oder sich auf assoziierte künstlerische Weise ausdrücken) kann, jenseits von Parametern der Virtuosität und Athletik des gesamten Körpers. Und drittens weisen sie (im wörtlichen wie im übertragenen Sinne) darauf hin, wie der ältere tanzende Körper »concepts of labour and productivity« entkommen kann,19 was uns dazu veranlasst, über Vorstellungen von Nützlichkeit und Produktivität sowohl in Bezug auf das Alter als auch auf den künstlerischen Bereich nachzudenken. In der Tat könnte man sagen, dass alle Performer*innen von Hiesl produktiv sind, wenn auch nicht im Sinne einer wirtschaftlichen Leistung, sondern eher in der Ausführung nützlicher (Reparaturen, Gemüseschneiden, Stricken) oder künstlerisch orientierter Tätigkeiten (Lesen oder Instrumentalspiel).
Schließlich lohnt es sich, die Praktiken der Performer*innen mit der städtischen Umgebung, in die sie eingebettet sind, in Beziehung zu setzen. Die Wechselbeziehung zwischen ihren Handlungen und den Details der Stadtlandschaft dient meiner Meinung nach dazu, die Doppelmoral des Alterns hervorzuheben, der zufolge die Attraktivität von Frauen mit zunehmendem Alter schneller abnimmt als die von Männern. Diese Idee wurde erstmals von Susan Sontag vorgebracht20 und gab den Anstoß zu einer intersektionalen Analyse kultureller Normen, die sich auf Merkmale wie Alter, Geschlecht und Klasse beziehen. Auch wenn x-mal Mensch Stuhl geschlechtsspezifische Altersnormen und damit zusammenhängende Formen der Ungleichheit oder des Machtungleichgewichts nicht direkt thematisiert, spielt die Performance durch ihre kulturelle Bildsprache indirekt auf sie an.
Um zu verdeutlichen, was ich meine, betrachte ich zwei Vignetten, die im Film in unmittelbarer Nähe zueinander gezeigt werden und die den alternden weiblichen Körper in der Ausführung einfacher Alltagshandlungen mit stereotypen Bildern von Weiblichkeit kontrastieren. Im ersten Beispiel strickt eine weißhaarige Dame (Elfi Schalk) mit Hut, Brille und scheinbar österreichischer Tracht einen orange-roten Pullover auf ihrem Stuhl. Wenn die Kamera auf das Nachbargebäude schwenkt, liest man auf einem gelben Schild in fetten blauen Buchstaben »St. Pauli Laufhaus«, eine Art Bordell. Das blau-gelbe Farbmuster ähnelt dem des Rocks, den Frau Schalk trägt. In der zweiten Szene hält eine elegant fast ganz in Weiß gekleidete Dame mit langen weißen Haaren (in langer Hose und Oberteil, weißen Ballerinas und mit einem hellen Hut) ein rot besticktes Kissen auf dem Schoß und nimmt einen Schluck aus einer goldenen Tasse, die sie anschließend wieder auf die Untertasse stellt. Die Darstellerin (Hedwig Marie Ahn) trinkt gerne Tee und wählt ihre Kleidung und Accessoires mit Sorgfalt aus.21 Ihr Stuhl steht neben einer Statue, die an der Fassade des Hauses angebracht ist und die Jungfrau Maria darstellt, die das Jesuskind in ihren Armen hält. Ahns Kleidung hat eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit der Statue, sowohl was die Farbe als auch die Falten der jeweiligen Kleidungsstücke betrifft.
Beide Szenen beziehen sich auf seit Langem etablierte und weit verbreitete Stereotypen der Frau: auf der einen Seite die Prostituierte (eine Art »femme fatale«), auf der anderen das idealisierte Bild der jungfräulichen Mutter (nach christlichem Glauben vom Heiligen Geist geschwängert). Obwohl diese Bilder in vielerlei Hinsicht diametral entgegengesetzt sind – die Heilige und die Sünderin – haben sie Gemeinsamkeiten. Beide sind Teil einer reichen Genealogie von Weiblichkeitsklischees, die in der westlichen Kultur propagiert werden und herrschende Ideologien oder unerreichbare Ideale widerspiegeln: Beide besitzen »Schönheit« (ob rein körperlich oder ethisch) und stellen Projektionsflächen männlicher Fantasien dar; und vor allem werden beide mit Jugend und einer außergewöhnlichen Vorstellung von Weiblichkeit assoziiert. Durch die Gegenüberstellung realer (älterer) Frauen mit diesen Merkmalen der städtischen Infrastruktur und die Herstellung von Assoziationen zwischen ihnen kontrastiert x-mal Mensch Stuhl auf witzige Weise die jugendlichen Stereotypen der keuschen Magd Gottes und der hypersexuellen Kurtisane mit dem tatsächlichen Erscheinungsbild und den Alltagspraktiken von Frauen im Alterungsprozess. Auf diese Weise wird die Aufmerksamkeit auf Formen und Aspekte der Weiblichkeit gelenkt, die in der Regel im kulturellen Rahmen unsichtbar sind. Im Fazit zeigt x-mal Mensch Stuhl, dass es durchaus möglich ist, ältere Körper zu finden: Wir müssen nur unseren Blick neu ausrichten.
1Menezes, Deborah, Woolrych, Ryan, & Sixsmith, Judith: »›You really do become invisible‹: examining older adults’ right to the city in the United Kingdom«, in Ageing and Society (2021), S. 1 – 20.
2Faircloth, Christopher: »Introduction: Different Bodies and the paradox of aging: Locating aging bodies in images and everyday experience«, in Faircloth, Christopher (ed.): Aging Bodies: Images and Everyday Experience, Walnut Creek, Cal. 2003, S. 1 – 26. Zitat auf S. 16.
3Ebd., S. 14.
4Ebd., S. 16.
5Siehe zum Beispiel Schwaiger, Elisabeth: Ageing, Gender, Embodiment and Dance. Finding a Balance, Houndsmill, Basingstoke 2012; Martin, Susanne, Dancing Age(ing): Rethinking Age(ing) in and through Improvisation Practice and Performance, Bielefeld 2017; Nakajima, Nanako/Brandstetter, Gabriele (eds.): The Aging Body in Dance: A Cross-Cultural Perspective, London, New York 2017.
6Siehe Schwaiger: Ageing, Gender, S. 30 – 31.
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