Warum Hasen flüchten - Martin M. Lindner - E-Book

Warum Hasen flüchten E-Book

Martin M. Lindner

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Beschreibung

Ein Mädchen mit Hasenohren sucht ihre Seele, doch sie muss sich beeilen: Menschen ohne Seele verwandeln sich langsam in Tiere. Ein Schüler begleitet sie, doch durch seine große Unbewusstheit verkompliziert er das Vorhaben. Natalia und ein Mitschüler schreiben währenddessen an einer Geschichte, die sie als Manga zeichnen wollen, doch eine Prüfung und ein unvorhergesehenes Ereignis bringen Unruhe in eine ansonsten gefestigte Freundschaft.

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Inhaltsverzeichnis

Epilog

Warum Hasen flüchten

Geschmack von Lebkuchen

Wünsch dir was

Salz in die Wunde

Wie kommt das Wasser auf den Berg?

Reise ins Zauberland

Flip - Flop

Spinnenbiss

Hasenpfoten bringen Glück

Ein hübscher Junge

Verschiebung, Auflösung

Alles mal null ist null

Natalias Katzen

Der Mystiker

Die Kraft der Zerstreutheit

Illusion

Schere – Stein – Papier

EPILOG

Ein mild-süßlicher Geruch durchzog den Waldabschnitt, und ob er dem immergrünen Geißblatt, oder vielleicht den blühenden Linden geschuldet war, konnte man nicht ausmachen. Ein Specht sagte die Zeit an, mitunter verging sie langsamer, wenn er kurz innehielt und nach einer Bewegung spähte, die er im Winkel seines Auges wahrgenommen hatte. Wofür pochte er ein Loch in den Baum?

Larven einer Blattwespe sonnten sich in der zarten Morgensonne, während die Buchdrucker (eine Art des Borkenkäfers) sich genüsslich über einen zu Boden gestürzten Baum hermachten.

Hauswinkelspinnen und Baldachinspinnen präsentieren sich stolz zentriert in der Pracht ihres schimmernden Palastes, oder warten beobachtend am Rand des ausgebreiteten Fangnetzes auf Besucher. Der Wind spielt auf einem seiner Lieblingsinstrumente, den satten Blättern des Waldes, eine Variation aus seiner gewaltigen Sammlung an Meisterwerken. Kurz: Ein friedlicher, ruhiger Tag in einem unbestimmten Waldabschnitt nördlich des Äquators.

Doch was ist das?

Die Zeit bleibt stehen, der Specht positioniert sich auf einen anderen Stamm, um einen besseren Überblick über das Geschehen zu erhaschen.

Rasche Bewegung.

Auch die Musik hat ausgesetzt, als ob sie selbst lauschen wollte, was geschieht. Das Gebein des Waldes bricht, das Knacksen der entzweiten Äste hallt durch die Baumstammkorridore.

Blutunterlaufene Augen.

Rote Pupillen.

Ein weißer Hase prescht durch das bezaubernde Idyll, als wäre es ein Kriegsfeld. Seine Brust bebt von rasanter Todesflucht, seine Muskeln spannen sich unter dem weißen Fell an, um in einem Bruchteil einer Sekunde erneut zu expandieren. Er hechtet im Zick-Zack, rechts – links – rechts – links, so wirft er sich durch Sträucher und Astwerk, ohne Rücksicht auf seinen zarten Körper, der geschunden wird von lauernden Dornen und scharfkantigen Gesteinsbrocken, selbst vor den Spinnweben nimmt er keine Rücksicht, die als silbrige Fäden an ihm haften und seine Flucht nachzeichnen wie ein geisterhafter Schatten, immer seinen Bewegungen folgend und nur abgeschüttelt werden, wenn sie haften bleiben an einem Blumenstrang oder abstehendem Astwerk.

Stille!

Abrupt kommt er zum Stehen, bremst den Höllenlauf mit Entgegenstemmen seiner Pfoten in den Waldboden. Aber es ist kein Innehalten, es ist ein Verstecken. In einer unscheinbaren Mulde unterhalb eines entwurzelten Baumes kauert er sich zusammen, nimmt Deckung, sein Herz hämmert, der Atem schneidend. Alles Nachwirkungen der durchmachten Tortur und gleichsam Mahnung vor zu viel Erleichterung. Aus angsterfülltem Blick sucht er die Umgebung nach Feinden ab, die er zwar noch nicht erspäht, aber von denen er weiß, dass sie im Schatten lauern.

Warum und wovor er flieht, weiß er vermutlich selbst nicht, ein gewaltiger Instinkt treibt das Verhalten an, und würde man ihn fragen, warum er so traurig ist, könnte er es nicht beantworten und sagen, dass es ein undefiniertes, fernes Gefühl der Einsamkeit ist, das Schuld sei.

Nur selten, in Momenten einer tiefen Verbundenheit mit seiner Umgebung, wird ihm eine Erinnerung zuteil, der er kurzzeitig nachgeht und abwesend in die Ferne blickt, als würde er nach etwas suchen müssen.

WARUM HASEN FLÜCHTEN

In der Schule würden sie mir diese Geschichte nie glauben. Ausgerechnet ich half einem Mädchen dabei, ihre Seele zu suchen!

Was würde wohl die Belohnung sein, wenn ich sie finde? Ich rechnete zumindest mit einem Kuss.

Und das Mädchen! So niedlich, und dann noch diese Hasenohren! Nun, es wäre niedlich, wäre es nicht traurig. Langsam verwandeln sich Leute ohne Seele in Tiere.

«Wenn man Eltern hat, wird man …», aber ich brach meinen Einwand ab, viel mehr interessierte mich der Umstand, dass das Hasenohrmädchen sich aufmachte zu fliehen.

«He, warte! Du weißt doch gar nicht, wohin du musst!»

Warum hatte ich das gerufen? Ich kannte das Mädchen nicht. Ich wusste nicht, wohin sie musste. Warum hatte sie Hasenohren? Sie schrie aus dem Dickicht: «Erinnere dich, worüber wir gesprochen haben!»

Ah, tatsächlich, sie hatte mir gesagt, dass sie das Wort muss nicht mehr verwenden will, sondern stattdessen die Worte darf, will, kann. Also anstelle von: Ich muss heute länger arbeiten – ich darf heute länger arbeiten. Oder anstatt: Ich muss meine Wunde verarzten lassen, ansonsten sterbe ich in Höllenqualen – ich darf meine Wunde verarzten lassen, ansonsten sterbe ich in Höllenqualen. Nun, aus einer unüblichen Spontanität heraus hatte ich geschworen, von nun an auch auf das Wort muss zu verzichten.

Das war vor drei Minuten. Also: Wohin sie darf.

Meine große Vergesslichkeit führe ich auf mein großes Unbewusstsein zurück, wie kann man sich schließlich etwas merken, wenn man es nicht wahrnimmt? Warum mir das Mädchen mit den Hasenohren so vertraut war, ich es aber noch nie gesehen hatte, konnte nur bedeuten, dass ich ein unbewusstes Leben führte.

«Es gibt kein Vergessen, sondern nur ein nicht-Erinnern. Wir wissen alles, aber wissen es nur nicht.»

Sie hatte den Weg vergessen.

Sie hatte ihn sich auf ihrer Handfläche markiert.

Die Zeichnung war verschwunden.

«Sokrates», fügte sie hinzu. Solch ein Mädchen war sie also, welches nicht bei sich die Schuld suchte, sondern stattdessen lieber einen Spruch erfand und ihn einer verstorbenen Person zuordnete.

Sokrates konnte sich nicht mehr wehren.

Wir stapften durch den Wald.

«Wir dürfen dort hin», deutete sie in das Dickicht hinein.

«Da gibt es kein Durchkommen», sagte ich.

«Versuch es! Sei kein Angsthase, sondern ein Versuchskaninchen!»

Sie deutete auf ein Gestrüpp, das uns den Weg versperrte.

«Omae wa mo shindeiru!», schrie sie mit ihrer tiefsten Stimme. Ich sah ihren geschwungenen Körper in die Bäume eintauchen – es gab doch ein Durchkommen.

GESCHMACK VON LEBKUCHEN

«Meine Seele. Es ist so, wie wenn eine Mutter ihr verschollenes Kind sucht.»

Das war es also? Hatte sie nicht gesagt, sie sei eine Waise? Nein, sie hatte gesagt, sie habe keine Eltern.

Oder meinte sie, sie sei eine Weise?

Hmm …

Aber wie kann man keine Eltern haben?

«Man kann einfach entstehen.»

Konnte sie Gedanken lesen?

Unmöglich.

Ich sah sie nicht mehr.

Bloß schnalzende Sträucher, die ihr auf dem Weg nachwinkten.

Mir gaben sie bloß Schläge.

«Ich glaube, wir sind hier falsch.»

Um uns herum nichts als Sträucher und Bäume.

«Komm, die Tür ist offen.»

Durch meine große Unbewusstheit hatte ich das Lebkuchenhaus übersehen.

«Ein Haus aus Lebkuchen gibt es nicht. Was für ein Unsinn. Und außerdem: Wenn es regnet, dann stürzt es zusammen. Niemand würde so etwas bauen.»

Nun, es regnete nicht. Und ich stand darinnen. Ich verstand, warum man sagte: Wie im Märchen.

Es roch im ganzen Haus nach Lebkuchen.

Das Hasenohrmädchen war erneut verschwunden.

Eine Falle? Hatte man damals Hänsel und Gretel auch so erwischt? Ich bereute es zutiefst, keine Brotkrümel gelegt zu haben.

Aus dem Nebenzimmer kamen Essensgeräusche, jemand kaute mit offenem Mund und viel zu laut – durch meine große Unbewusstheit hatte ich übersehen, dass es meine eigenen Kaugeräusche waren, und ich schloss den Mund beschämt.

Eine Tafel.

Nicht wie in der Schule.

Neben mir saß eine alte Hexe Frau, die sich unüblich weit zu mir gelehnt hatte. Das Hasenohrmädchen saß am anderen Ende des Tisches, an dem fünfzig Personen Platz gehabt hätten.

Wir waren zu dritt.

Ich saß an einem Ende, sie am anderen.

Siebenundvierzig Stühle waren frei.

Leer.

«Tante Petunia ist ein Medium.»

«Ah».

«Sie sieht Dinge, die sonst niemand sieht, aber leider sieht sie viele Dinge nicht, die sonst alle sehen.»