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Endlich ist der große Bestseller aus den USA auch auf Deutsch erhältlich – das Buch, das schon so vielen den Weg heraus aus Jo-Jo-Effekten und nicht funktionierenden Diäten gezeigt hat. Gary Taubes Werk ist viel mehr als ein Diätratgeber. Es geht dem Wissenschaftsjournalisten vor allem darum, das kleine Einmaleins der Fettleibigkeit zu verstehen und somit langfristig eine wirkliche Veränderung bewirken zu können. Der eindringlichste Tipp von Gary Taubes lautet: Finger weg von raffinierten, leicht verdaulichen Kohlehydraten und Zucker! Warum? Weil sie eine süchtig-machende Wirkung haben und Körperprozesse einleiten, die wir kaum rückgängig machen können. Eine Schlüsselrolle spielt dabei unter anderem das Hormon Insulin, das im Zusammenhang mit kohlenhydratreicher Nahrung eine Art Teufelskreis bei der Fettproduktion auslöst. Anhand von zahlreichen wissenschaftlichen Studien gelingt es Taubes, logisch und tiefgehend zu beweisen, dass Fettleibigkeit primär durch einfache Kohlenhydrate (Zucker) und komplexe Kohlenhydrate (Stärke) verursacht wird. Dies erklärt, warum sich das Gewicht auch mit der strengsten Hungerkur und dem härtesten Work-out nicht sinnvoll kontrollieren lässt. Die Gleichung „Weniger essen + mehr Sport treiben = Abnehmen“ geht nicht auf. Jeder kann Taubes revolutionäre These mit seinem ganz konkreten Speiseplan umsetzen, der detailliert im Buch erläutert wird. Dabei sind alle Öle und Fette erlaubt, außer solchen, die Transfette enthalten. Er liefert zudem eine Liste der proteinhaltigen Nahrungsmittel wie Fleisch, Fisch und Eier, die wir zu uns nehmen müssen, und der Lebensmittel, die in eingeschränkten Mengen erlaubt sind. „Taubes stellt alle herkömmlichen Überzeugungen zu Ernährung und Sport auf den Kopf.” — The New York Times
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Seitenzahl: 455
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Gary Taubes
WARUM WIR DICK WERDEN
Und was wir dagegen tun können
Gary Taubes
Warum wir dick werden
Und was wir dagegen tun können
1. deutsche Auflage 2018
ISBN: 978-3-96257-023-1
© 2018, Narayana Verlag GmbH
Titel der Originalausgabe:
Why We Get Fat
and What to Do About It
Copyright © 2010, 2011 by Gary Taubes
Published in the United States by Anchor Books, a division of Random House, Inc., New York.
Übersetzung aus dem Englischen: Bärbel und Velten Arnold
Coverlayout: Joachim Laufer
Coverabbildung: Hintergrund © ilolab, Maßband © Drawbot
Herausgeber:
Unimedica im Narayana Verlag GmbH, Blumenplatz 2, 79400 Kandern
Tel.: +49 7626 974 970-0
E-Mail: [email protected]
www.unimedica.de
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Für Nicholas Norman Taubes
Hinweis des Autors
Einführung – Die Ursünde
BUCH 1: BIOLOGIE, NICHT PHYSIK
1 Warum waren Sie dick?
2 Die kaum zu registrierenden Vorzüge einer Essensreduktion
3 Die kaum zu registrierenden Vorzüge von körperlicher Betätigung
4 Die Bedeutung von zwanzig Kalorien am Tag
5 Warum ich? Warum an dieser Stelle? Warum gerade zu diesem Zeitpunkt?
6 Thermodynamik für Dummies – Teil 1
7 Thermodynamik für Dummies – Teil 2
8 Labilität
BUCH 2: DAS EINMALEINS DER FETTLEIBIGKEIT
9 Die Hauptsätze der Fettleibigkeit
10 Ein historischer Exkurs über „Lipophilie“
11 Ein Leitfaden über die Regulierung von Fettspeicherung und -abbau
12 Warum ich dick werde und du nicht (oder umgekehrt)
13 Was wir tun können
14 Gesammelte Ungerechtigkeiten
15 Warum Diäten erfolgreich sind und scheitern
16 Ein historischer Exkurs über die dick machenden Kohlenhydrate
17 Fleisch oder pflanzliche Nahrung?
18 Die Beschaffenheit einer gesunden Ernährung
19 Umsetzung
NACHWORT ZU DIESER AUSGABE
Antworten auf häufig gestellte Fragen
ANHANG
Die „Keine-Zucker-keine-Stärke“-Diät
Danksagungen
Referenzen
Index
Über den Autor
Dieses Buch war mehr als zehn Jahre lang in Arbeit. Alles begann mit einer Serie von Wissenschaftsartikeln für die Zeitschrift Science und das New York Times Magazine über den überraschend trostlosen Zustand der Forschung im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen Ernährung und chronischen Erkrankungen. In diesem Buch fasse ich zum einen die Quintessenz meiner fünfjährigen Recherchen zu dem Thema zusammen, aus denen mein vorheriges Buch Good Calories, Bad Calories (2007 – auf Englisch) hervorgegangen ist, zum anderen stellt es eine Erweiterung dar. Die in jenem Buch angeführten Argumente wurden in Lehrveranstaltungen an medizinischen Fakultäten, Universitäten und Forschungseinrichtungen in den gesamten USA und in Kanada verfeinert.
In Good Calories, Bad Calories habe ich darzulegen versucht, dass die Forschung im Hinblick auf Ernährung und Fettleibigkeit im Zuge der während des Zweiten Weltkriegs erfolgten Auslöschung der europäischen Wissenschaftsgemeinschaft von Forschern und Ärzten, die auf diesem Gebiet Pionierleistungen erbracht haben, nach dem Krieg vom Weg abgekommen ist. Der seitdem eingeschlagene Irrweg ließ sich trotz intensiver Versuche nicht korrigieren. Infolgedessen haben die Wissenschaftler, die sich der Forschung auf diesem Gebiet widmen, nicht nur jahrzehntelang Zeit, Anstrengungen und Geld verschwendet, sondern zugleich auch einen unkalkulierbaren Schaden angerichtet. Ihre Überzeugungen und Glaubensgrundsätze haben einer ständig wachsenden Sammlung von Beweisen, die ihre Annahmen widerlegen, hartnäckig getrotzt, während diese zugleich von Autoritäten des öffentlichen Gesundheitswesens hochgehalten wurden und zu geradewegs falschen Ratschlägen hinsichtlich dessen geführt haben, was wir essen sollen und, noch wichtiger, was wir nicht essen sollen, wenn wir ein unserer Gesundheit zuträgliches Gewicht beibehalten und ein langes gesundes Leben leben wollen.
Ich habe vor allem aufgrund von zwei verbreiteten Reaktionen auf mein Buch Good Calories, Bad Calories beschlossen, Warum wir dick werden zu schreiben.
Die erste Reaktion stammte von jenen Wissenschaftlern, die versucht haben, die von mir in Good Calories, Bad Calories angeführten Argumente zu verstehen, die das Buch gelesen, einen meiner Vorträge gehört oder meine Überlegungen direkt mit mir diskutiert haben. Diese Leute haben mir oft gesagt, dass meine Ausführungen über die Ursachen unseres Dickwerdens und über die ernährungsbedingten Ursachen von Herzerkrankungen, Diabetes und anderen chronischen Erkrankungen unbedingt Sinn ergeben. Es könnte ganz gewiss stimmen, sagen sie, und bringen damit unausgesprochen zum Ausdruck, dass das, was uns während des zurückliegenden halben Jahrhunderts erzählt wurde, genauso gewiss falsch sein könnte. Wir stimmen alle darin überein, dass diese miteinander konkurrierenden Konzepte daraufhin überprüft werden sollten, welches zutreffend ist.
Ich glaube allerdings sehr wohl, dass das Thema, um das es hier geht, eine dringliche Angelegenheit ist. Wenn so viele Menschen vor allem deshalb dick werden und an Diabetes erkranken, weil wir die falschen Ratschläge erhalten, sollten wir nicht herumtrödeln, um Gewissheit zu erlangen. Die Krankheitslasten von Fettleibigkeit und Diabetes machen inzwischen nicht nur Hunderten Millionen Menschen zu schaffen, sondern auch unserem Gesundheitssystem.
Selbst wenn diese Wissenschaftler die Notwendigkeit erkennen, das Problem sofort anzugehen, haben sie anderweitige Verpflichtungen und legitime Interessen, unter anderem das Interesse, für andere Forschungen Gelder zu erhalten. Mit Glück werden die in Good Calories, Bad Calories dargelegten Argumente in den kommenden zwanzig Jahren einer rigorosen Überprüfung unterzogen. Wenn sich herausstellt, dass sie richtig sind, wird es anschließend noch einmal zehn Jahre dauern, bis die Autoritäten unseres öffentlichen Gesundheitssystems ihre offizielle Erklärung dafür ändern, warum wir dick werden, wie dies zu Krankheiten führt und was wir tun müssen, um diese Schicksale zu meiden oder zu lindern und rückgängig zu machen, wenn wir von ihnen betroffen sind. Ein Ernährungsprofessor der New York University sagte mir nach einem meiner Vorträge, dass es ein ganzes Menschenalter dauern könne, bis so eine Veränderung, wie ich sie vertrete, allgemein akzeptiert wird.
So lange kann man schlicht und einfach nicht warten, um die richtigen Antworten auf diese wichtigen Fragen zu bekommen. Deshalb habe ich dieses Buch unter anderem geschrieben, um diesen Prozess zu beschleunigen. Ich lege in diesem Buch die Argumente dar, die gegen die gängige Meinung sprechen, und zwar auf das Wesentliche konzentriert. Wenn sie ganz gewiss richtig sein könnten, sollten wir sie überprüfen, und zwar lieber heute als morgen.
Die anderen Reaktionen, die ich häufig erhalte, stammen von ganz gewöhnlichen Lesern sowie von einer ermutigenden Anzahl von Ärzten, Ernährungsberatern und Menschen mit Funktionen in Gesundheitseinrichtungen, die sagen, dass sie Good Calories, Bad Calories gelesen haben, die in dem Buch dargelegte Logik und die angeführten Beweise überzeugend fanden und die Botschaft befolgt haben. Sie erzählen mir, dass ihr Leben und ihr gesundheitlicher Zustand sich in einer Weise verändert haben, wie sie es nicht für möglich gehalten hätten. Sie haben beinahe mühelos abgenommen und ihr neues Gewicht gehalten. Ihre Risikofaktoren für Herzerkrankungen haben sich entscheidend verbessert. Einige sagen, dass sie ihre Blutdrucksenker und ihre Diabetesmedikamente nicht mehr benötigen. Sie fühlen sich besser und haben mehr Energie. Einfach ausgedrückt, fühlen sie sich zum ersten Mal seit viel zu langer Zeit gesund. Sie können diese Kommentare auf der Webseite von Amazon unter dem Buch Good Calories, Bad Calories sehen, wo sie einen großen Anteil der mehreren Hundert persönlichen Besprechungen ausmachen, die auf der Seite zu finden sind.
Die Kommentare, E-Mails und Briefe werden oft von einer Bitte begleitet. Good Calories, Bad Calories ist ein dickes Buch (es umfasst beinahe fünfhundert Seiten), sehr wissenschaftlich und angereichert mit historischem Kontext und mit jeder Menge Fußnoten und Anmerkungen, was ich alles für erforderlich gehalten habe, um in einen sinnvollen Dialog mit den Experten einzutreten und sicherzustellen, dass sie (wie auch jeder andere Leser) mir nichts von dem, was ich sage, allein aufgrund von Vertrauen glauben müssen. Das Buch verlangt dem Leser ab, sehr viel Zeit und Aufmerksamkeit zu investieren, um den dargelegten Beweisen und Argumenten folgen und diese nachvollziehen zu können. Aus diesem Grund haben mich viele, die es gelesen haben, gebeten, ein weiteres Buch zu schreiben, eins, das ihre Ehemänner oder -frauen, ihre alt werdenden Eltern oder ihre Freunde und Geschwister ohne Schwierigkeiten lesen können. Viele Ärzte haben mich gebeten, ein Buch zu schreiben, das sie ihren Patienten oder sogar ihren Arztkollegen empfehlen können, ein Buch, das einem nicht abverlangt, so viel Zeit und Mühe zu investieren.
Das ist also der zweite Grund, aus dem ich Warum wir dick werden geschrieben habe. Ich hoffe, dass Sie, wenn Sie es lesen, vielleicht zum ersten Mal verstehen, warum wir dick werden und was wir dagegen tun können.
Ich habe eine Bitte: Lesen Sie das Buch mit kritischen Augen. Ich möchte, dass Sie sich beim Lesen immer wieder fragen, ob das, was ich sage, wirklich Sinn ergibt. Um es mit einer Wendung von Michael Pollan zu sagen – dieses Buch soll ein Denk-Manifest sein. Ihm liegt die Absicht zugrunde, einige der irrigen Vorstellungen zu widerlegen, die in diesem Land und auf der ganzen Welt als medizinische Ratschläge und Empfehlungen der Institutionen des öffentlichen Gesundheitswesens durchgehen, und Ihnen die erforderlichen Informationen und die Logik zur Verfügung zu stellen, damit Sie Ihre Gesundheit und Ihr Wohlbefinden in die eigenen Hände nehmen können.
Doch ich muss Ihnen einen warnenden Hinweis geben: Wenn Sie meine Argumentation für richtig befinden und Ihre Ernährungsweise entsprechend ändern, handeln Sie möglicherweise gegen den Rat Ihres Arztes und ganz gewiss gegen die Empfehlungen der Gesundheitsorganisationen und die Einrichtungen der Regierung, die die allgemein gültigen Ansichten darüber hochhalten und vorschreiben, wie eine gesunde Ernährungsweise auszusehen hat. In diesem Sinne handeln Sie auf eigene Gefahr, wenn Sie dieses Buch lesen und Ihre Ernährung entsprechend der in ihm dargelegten Argumentation umstellen. Sie können diese Situation, gegen den Rat Ihres Arztes oder Ihrer Ärztin zu handeln, jedoch korrigieren, indem Sie es ihm oder ihr geben, nachdem Sie es gelesen haben, sodass er oder sie entscheiden kann, wem und was er oder sie glaubt. Und Sie können es auch den Abgeordneten Ihres Wahlkreises geben, weil die wachsende Flut an Fettleibigkeit und Diabetes in den USA und auf der ganzen Welt in der Tat ein gewaltiges Problem für die allgemeine Gesundheit und die Einrichtungen des öffentlichen Gesundheitswesens darstellt. Es handelt sich nicht nur um eine individuelle Last, die wir zu tragen haben. Es würde helfen, wenn unsere gewählten Vertreter tatsächlich verstehen würden, wie wir in diese Situation gekommen sind, damit sie letzten Endes entsprechend handeln können, um das Problem zu lösen anstatt dafür zu sorgen, dass es fortbesteht.
– Gary Taubes, September 2010
Im Jahr 1934 zog eine junge deutsche Kinderärztin namens Hilde Bruch in die USA, ließ sich in New York City nieder und war, wie sie später schrieb, „erschrocken“ darüber, wie viele dicke Kinder sie sah – „wirklich dicke Kinder, nicht nur in den Sprechstunden, auch auf den Straßen, in den U-Bahnen und in den Schulen“. Die hohe Anzahl an fettleibigen Kindern in New York war so auffallend, dass andere europäische Einwanderer Hilde Bruch darauf ansprachen, weil sie davon ausgingen, dass sie wissen würde, woran das lag. Was ist denn mit den US-amerikanischen Kindern los, fragten sie. Warum sind sie so aufgedunsen und aufgebläht? Viele sagten, dass sie noch nie so viele dicke Kinder gesehen hätten.
Heute, da wir ständig daran erinnert werden, dass sich das Problem der Fettleibigkeit – wie überall in der entwickelten Welt – epidemieartig ausbreitet, hören wir ständig solche Fragen oder stellen sie uns selbst. Die gleiche Frage wird über dicke Erwachsene gestellt. Warum sind sie so aufgedunsen und aufgebläht? Oder vielleicht fragen Sie sich auch selber: Warum bin ich so dick?
Aber Hilde Bruch machte ihre Beobachtung Mitte der 1930er-Jahre in New York, zwei Jahrzehnte bevor die ersten Kentucky-Fried-Chicken- und McDonald’s-Filialen eröffneten und das Fast Food, wie wir es heute kennen, geboren wurde. Es war ein halbes Jahrhundert vor den Supersize-Portionen und der Verwendung von Maissirup mit hohem Fruchtzuckergehalt. Wichtiger noch: 1934 war ein Jahr mitten während der Großen Depression, einer Zeit, die geprägt war von noch nie dagewesener Arbeitslosigkeit, von Suppenküchen und Schlangen von Bedürftigen, an die Nahrungsmittel verteilt wurden. Jeder vierte US-Amerikaner war arbeitslos. 60 % der US-Amerikaner lebten in Armut. In New York City, wo Hilde Bruch und die mit ihr gekommenen Einwanderer so erstaunt über die vielen dicken Kinder waren, galt jedes vierte Kind als mangelernährt. Wie konnte das sein?
Ein Jahr nach ihrer Ankunft in New York richtete Hilde Bruch am Columbia University College of Physicians and Surgeons eine Sprechstunde zur Behandlung übergewichtiger Kinder ein. 1939 veröffentlichte sie den ersten von zahlreichen Berichten über ihre intensiven Studien an den vielen übergewichtigen Kindern, die sie behandelt hatte, wenn auch nahezu ausnahmslos ohne Erfolg. Durch Interviews mit ihren Patienten und deren Familien hatte sie erfahren, dass die betroffenen Kinder tatsächlich zu viel aßen, so sehr sie selber oder ihre Eltern dies auch anfänglich bestritten haben mochten. Doch der Rat, weniger zu essen, bewirkte nichts, und egal wie viele Anweisungen, Ratschläge oder Ermahnungen sie auch erteilte und egal wie viel Mitleid sie aufbrachte – nichts schien zu helfen.
Laut Hilde Bruch war die schlichte Tatsache nicht zu übersehen, dass diese Kinder ihr ganzes Leben lang versucht hatten, weniger zu essen, um ihr Gewicht unter Kontrolle zu bringen, oder zumindest darüber nachgedacht hatten, weniger zu essen, und dennoch dick geblieben waren. Einige dieser Kinder, berichtete Bruch, „unternahmen gewaltige Anstrengungen, um abzunehmen und gaben praktisch ihr bisheriges Leben auf, um dieses Ziel zu erreichen.“ Doch ein niedrigeres Gewicht zu halten, bedeutete, „sich so zu ernähren, dass sie praktisch immer Hunger litten“, und das konnten sie schlicht und einfach nicht, obwohl ihre Fettleibigkeit sie unglücklich und zu sozialen Außenseitern machte.
Eine von Bruchs Patientinnen war ein zartes Mädchen im Teenageralter, das „im wahrsten Sinne des Wortes in Bergen von Fett verschwand“. Dieses Mädchen hatte sein ganzes Leben lang gegen sein Gewicht und die Bemühungen seiner Eltern angekämpft, es beim Abnehmen zu unterstützen. Es wusste, was es tun musste, oder glaubte zumindest, es zu wissen, genau wie seine Eltern, nämlich weniger essen. Der ständige Kampf darum bestimmte das Dasein dieses Mädchens. „Mir war immer klar, dass dein Leben davon bestimmt wird, was du für eine Figur hast“, stellte es Hilde Bruch gegenüber klar. „Ich war immer unglücklich und deprimiert, wenn ich zugenommen habe. Es gab nichts, wofür es sich zu leben lohnte … Ich habe mich regelrecht gehasst. Ich konnte es einfach nicht ertragen. Ich wollte mich nicht sehen. Ich hasste Spiegel. Sie zeigten mir, wie dick ich war … Ich habe mich nie dabei wohlgefühlt zu essen und dick zu werden – aber ich habe einfach keine Lösung für mein Problem gesehen, und deshalb bin ich immer dicker geworden.“
So wie das zarte Mädchen, von dem Bruch berichtet, verbringen viele von uns, die übergewichtig oder fettleibig sind, einen großen Teil ihres Lebens damit zu versuchen, weniger zu essen oder zumindest nicht zu viel zu essen. Manchmal gelingt uns das, manchmal scheitern wir, aber der Kampf geht immer weiter. Für einige beginnt der Kampf wie für die Patienten von Hilde Bruch in der Kindheit. Für andere beginnt er mit zwanzig als frischgebackene Studienanfänger, im ersten Jahr weg von zu Hause, wenn sich um die Taille und an den Hüften auf einmal diese Fettpolster bilden. Wieder andere werden sich zwischen dreißig und vierzig oder zwischen vierzig und fünfzig dessen bewusst, dass das Schlankbleiben auf einmal nicht mehr so mühelos ist, wie es einmal war.
Wenn wir dicker sein sollten, als die medizinischen Autoritäten dies für gut befinden, und wir aus irgendeinem Grund einen Arzt aufsuchen, wird dieser uns wahrscheinlich mehr oder weniger nachdrücklich nahelegen, dieses Problem anzugehen. Fettleibigkeit und Übergewicht, werden wir unterrichtet, erhöhen für nahezu jede chronische Krankheit, die einen ereilen kann, das Risiko, an einer oder mehrerer dieser Krankheiten zu erkranken – Herzleiden, Schlaganfall, Diabetes, Krebs, Demenz, Asthma. Wir werden ermahnt, regelmäßig Sport zu treiben, eine Diät zu machen und weniger zu essen, als ob der Gedanke oder der Wunsch, dies zu tun, uns noch nie durch den Kopf gegangen wäre. „Häufiger als bei jeder anderen Krankheit“, so Bruch über Fettleibigkeit, „gehen die Patienten nur zum Arzt, um sich von diesem zu einem ganz besonderen Trick ermuntern zu lassen, nämlich weniger zu essen, nachdem sie bereits selber die Erfahrung gemacht haben, dass dieser Trick nicht funktioniert.“
Die Ärzte, die zu der Zeit von Hilde Bruch praktiziert haben, waren nicht unbedacht, und die heutigen sind es auch nicht. Sie sind nur von einem mangelhaften Glaubenssatz überzeugt – einem Paradigma –, der sie davon ausgehen lässt, dass der Grund, aus dem wir dick werden, eindeutig und unbestreitbar ist und das Gleiche auch für die Abhilfe gelten muss. Wir werden dick, sagen uns unsere Ärzte, weil wir zu viel essen und/oder uns zu wenig bewegen, weshalb das Heilmittel darin bestehe, das Gegenteil zu tun. Zumindest sollten wir, wie Michael Pollan es so eingängig in seinem Bestseller In Defense of Food [deutsch: Lebens-Mittel: Eine Verteidigung gegen die industrielle Nahrung und den Diätenwahn] empfohlen hat, „nicht zu viel essen“, das würde schon reichen. Wenigstens würden wir dann nicht noch dicker werden. Diese Sichtweise hat Bruch 1957 als die „in den USA vorherrschende Ansicht“ beschrieben, „der zufolge das Problem der Fettleibigkeit einfach nur darauf zurückzuführen ist, dass die Betroffenen mehr essen, als der Körper benötigt.“ Inzwischen ist dies weltweit die vorherrschende Ansicht im Hinblick auf die Ursache von Fettleibigkeit.
Wir können dies als „Kalorienaufnahme-Kalorienverbrauch“-Paradigma oder als „Überernährungs“-Paradigma bezeichnen – oder auch als „Energiebilanz“-Paradigma, wenn wir es fachsprachlich ausdrücken wollen. Laut Weltgesundheitsorganisation „ist die grundlegende Ursache von Fettleibigkeit und Übergewicht eine unausgewogene Energiebilanz, ein Ungleichgewicht zwischen aufgenommenen Kalorien einerseits und verbrauchten Kalorien andererseits.“1 Wir werden dick, wenn wir mehr Energie aufnehmen, als wir verbrauchen (also, in wissenschaftlicher Terminologie, eine positive Energiebilanz aufweisen), und wir nehmen ab, wenn wir mehr Energie verbrauchen, als wir aufnehmen (also eine negative Energiebilanz aufweisen). Nahrung liefert Energie, und wir messen diese Energie in Kalorien. Wenn wir also mehr Kalorien aufnehmen, als wir verbrauchen, werden wir dicker. Wenn wir weniger Kalorien aufnehmen, als wir verbrauchen, nehmen wir ab.
Diese Denkweise über unser Gewicht ist so einleuchtend und so verbreitet, dass es heutzutage praktisch unmöglich ist, nicht zu glauben, dass es sich so verhält. Obwohl wir über jede Menge Beweise verfügen, die das Gegenteil belegen – und egal, wie viel Zeit unseres Lebens wir bewusst, jedoch erfolglos damit verbracht haben zu versuchen, weniger zu essen und uns mehr zu bewegen –, ist es wahrscheinlicher, dass wir unsere Urteilsfähigkeit und Willenskraft infrage stellen als diesen Glaubenssatz, der besagt, dass unser Gewicht dadurch bestimmt wird, wie viele Kalorien wir aufnehmen und verbrauchen.
Mein Lieblingsbeispiel, das diese Denkschule dokumentiert, stammt von einem renommierten Sportphysiologen und Koautor eines Leitfadens über sportliche Betätigung und Gesundheit, der im August 2007 von der American Heart Association und dem American College of Sports Medicine herausgegeben wurde. Dieser Physiologe erzählte mir, dass er „klein, dick und kahlköpfig“ gewesen sei, als er in den 1970er-Jahren angefangen habe, lange Strecken zu joggen, und jetzt, mit Ende sechzig, sei er „klein, kahlköpfig und noch dicker.“ In den Jahren dazwischen, erzählte er, habe er gut 15 Kilogramm zugenommen und sei vielleicht 130.000 Kilometer gejoggt – mehr oder weniger dreimal (am Äquator) um die ganze Erde. Er glaubte, dass es ein Limit gebe, inwiefern intensiver Sport ihm dabei helfen könne, sein Gewicht unter Kontrolle zu behalten, aber er glaubte auch, dass er noch dicker wäre, wenn er nicht gelaufen wäre.
Als ich ihn fragte, ob er wirklich glaube, dass er schlanker wäre, wenn er noch mehr gelaufen wäre und den Planeten zum Beispiel viermal umrundet hätte anstatt nur dreimal, sagte er: „Ich sehe nicht, wie ich noch mehr Sport hätte treiben sollen. Ich hatte schlicht und einfach keine Zeit, noch mehr zu laufen. Aber wenn ich in den vergangenen Jahrzehnten jeden Tag zwei oder drei Stunden hätte laufen können, hätte ich vielleicht nicht so viel zugenommen.“ Worauf ich hinauswill, ist, dass er vielleicht trotzdem zugenommen hätte, sich diese Möglichkeit aber einfach nicht vorstellen konnte. Wissenschaftssoziologen würden sagen, dass er in einem Paradigma gefangen war.
Dieses „Kalorienaufnahme-Kalorienverbrauch“-Paradigma hat sich im Laufe der Jahre allen Beweisen zum Trotz, die nahelegen, dass es nicht stimmt, äußerst hartnäckig gehalten. Stellen Sie sich einen Mordprozess vor, in dem ein glaubwürdiger Zeuge nach dem anderen in den Zeugenstand tritt und bezeugt, den Verdächtigen zum Zeitpunkt des Mordes an einem anderen Ort als am Tatort gesehen zu haben und dieser somit ein hieb- und stichfestes Alibi hat, die Geschworenen aber trotzdem darauf beharren, dass der Angeklagte schuldig ist, weil sie von Beginn des Prozesses an von seiner Schuld überzeugt waren.
Führen Sie sich das Übergewichtsproblem vor Augen. Wir US-Amerikaner werden dicker und dicker. Vor fünfzig Jahren wurde jeder achte oder neunte US-Amerikaner offiziell als fettleibig erachtet, heute ist es jeder dritte. Heute gelten zwei Drittel der US-Amerikaner als übergewichtig, was bedeutet, dass sie mehr Pfunde mit sich herumtragen, als es die öffentlichen Gesundheitsinstitutionen für gesund erachten. Nach Ergebnissen der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1) haben 23,9 % der Frauen und 23,3 % der Männer im Alter von 18 bis 79 Jahren Adipositas. Kinder sind dicker, Heranwachsende sind dicker, sogar Neugeborene kommen dicker aus dem Mutterleib. Während dieser Jahrzehnte, in denen sich das Übergewichtsproblem epidemieartig verbreitet hat, hat das „Kalorienaufnahme-Kalorienverbrauch“- beziehungsweise das Energiebilanz-Paradigma das Denken beherrscht, weshalb die Vertreter der offiziellen Gesundheitsinstitutionen davon ausgehen, dass wir ihre Ratschläge – weniger zu essen und mehr Sport zu treiben – entweder nicht befolgen, oder dass wir einfach nicht anders können.
Malcolm Gladwell hat dieses Paradox 1998 in der New York Times thematisiert. „Uns wurde erzählt, dass wir nicht mehr Kalorien zu uns nehmen sollen, als wir verbrennen, und dass wir nicht abnehmen können, wenn wir nicht regelmäßig Sport treiben“, schrieb er. „Dass nur wenige von uns imstande sind, diesen Rat zu befolgen, ist entweder unsere Schuld, oder der Rat ist falsch. Medizinische Überzeugungen tendieren dazu, an den bisher geltenden Ansichten festzuhalten. Diätratgeber tendieren dazu, sich an neueren Ansichten zu orientieren. Angesichts dessen, wie oft medizinische Überzeugungen sich in der Vergangenheit als falsch erwiesen haben, ist diese Orientierung am Neuen allem Anschein nach nicht einmal irrational. Es lohnt sich also herauszufinden, was von beidem richtig ist.“
Nach der erforderlichen Anzahl an Interviews mit Autoritäten auf diesem Gebiet kam Gladwell zu dem Schluss, dass es unsere Schuld ist, dass es uns schlicht und einfach „an Disziplin mangelt … oder an der Kraft“, um weniger zu essen und uns mehr zu bewegen, wobei er die Vermutung anstellte, dass schlechte Gene bei einigen von uns unsere Willensschwäche stärker mit zusätzlichen Pfunden bestrafen als bei anderen.
Ich werde in diesem Buch die These vertreten, dass einzig und allein die medizinische Überzeugung falsch ist, und zwar sowohl der Glaube, dass überschüssiges Fett von überschüssiger Kalorienaufnahme herrührt, als auch der Rat, der aus diesem Glauben folgt, nämlich der Rat, sich mehr zu bewegen. Ich werde darlegen, dass es unsinnig ist, die Ursache von Fettleibigkeit mithilfe des Kalorienaufnahme-Kalorienverbrauch-Paradigmas zu erklären. Dass wir nicht dick werden, weil wir zu viel essen und uns zu wenig bewegen und das Problem infolgedessen nicht lösen können, in dem wir bewusst das Gegenteil tun. Dieser Glaube ist sozusagen die Ursünde, und wir werden unsere Gewichtsprobleme nie in den Griff bekommen – ganz zu schweigen von den durch die verbreitete Fettleibigkeit verursachten gesellschaftlichen Problemen wie Diabetes und anderen Krankheiten, die mit Übergewichtigkeit einhergehen –, solange wir das nicht verstehen und korrigieren.
Ich will damit jedoch keinesfalls andeuten, dass es ein magisches Rezept gibt, um abzunehmen, jedenfalls zumindest keins, das nicht mit Opfern verbunden ist. Die Frage ist: Was muss geopfert werden?
Im ersten Teil dieses Buches werde ich die Beweise darlegen, die gegen die Kalorienaufnahme-Kalorienverbrauch-Hypothese sprechen. Ich werde viele jener Beobachtungen und Tatsachen aus unserem Lebensalltag anführen, die sich mithilfe dieses Konzepts nicht erklären lassen, und ich werde darauf eingehen, warum wir trotzdem an die Richtigkeit dieser Hypothese glauben und was für Fehler wir daraufhin gemacht haben.
Im zweiten Teil des Buches werde ich darlegen, welche Annahmen die europäischen Gesundheitsforscher im Hinblick auf Übergewicht und überschüssiges Fett vor dem Zweiten Weltkrieg vertreten haben. Sie waren wie ich der Auffassung, dass es absurd ist zu denken, Fettleibigkeit werde dadurch verursacht, dass man zu viel isst, da alles, was Menschen wachsen oder zunehmen lasse – sei es an Größe oder an Gewicht, an Muskelmasse oder Fett – sie veranlasse, zu viel zu essen. Kinder wachsen zum Beispiel nicht in die Höhe, weil sie übermäßig viel essen und mehr Kalorien aufnehmen als sie verbrauchen. Sie essen so viel – überernähren sich –, weil sie wachsen. Sie müssen mehr Kalorien aufnehmen als sie verbrauchen. Kinder wachsen, weil sie ein Hormon bilden, das dafür sorgt, dass sie wachsen – in diesem Fall ein Wachstumshormon. Und es gibt allen Grund zu der Annahme, dass das Wachstum unseres Fettgewebes, das zu Übergewicht und Fettleibigkeit führt, ebenfalls von Hormonen ausgelöst und gesteuert wird.
Anstatt Fettleibigkeit auf ein Ungleichgewicht der Energiebilanz oder darauf zurückzuführen, dass man zu viel isst, wie es die Experten in den zurückliegenden fünfzig Jahren getan haben, gingen jene europäischen Gesundheitsforscher vor dem Zweiten Weltkrieg von der Annahme aus, dass Fettleibigkeit im Wesentlichen auf eine gestörte übermäßige Fettakkumulation zurückzuführen ist. Philosophen würden dies „erste Prinzipien“ nennen. Es ist so offensichtlich wahr, dass es beinahe sinnlos erscheint, es zu erwähnen. Aber wenn wir es tun, stellt sich automatisch die Frage: Was reguliert die Fettakkumulation? Die Hormone oder Enzyme, die dafür sorgen, die Fettakkumulation bei uns auf natürliche Weise zu erhöhen – so wie Wachstumshormone dafür sorgen, dass Kinder wachsen –, sind sehr wahrscheinlich die Verdächtigen, auf die wir unser Augenmerk richten sollten, um herauszufinden, warum einige von uns dick werden und andere nicht.
Leider hat die europäische Gesundheitsforschergemeinde den Zweiten Weltkrieg zu einem großen Teil nicht überlebt, und diese Ärzte und ihre Ansichten über Fettleibigkeit waren in den späten 1950er- und den späten 1960er-Jahren nicht mehr präsent, als die Frage, was die Fettakkumulation reguliert, beantwortet wurde. Wie sich herausstellte, beeinflussen im Wesentlichen zwei Faktoren, wie viel Fett wir anhäufen, und beide Faktoren haben mit dem Hormon Insulin zu tun.
Erstens: Wenn der Insulinspiegel erhöht ist, lagern wir Fett in unserem Fettgewebe ein, und wenn der Insulinspiegel sinkt, wird Fett aus dem Fettgewebe abgebaut und zur Energiegewinnung für unseren Körper verbrannt. Dies ist seit den frühen 1960er-Jahren bekannt und war nie umstritten. Zweitens: Unser Insulinspiegel wird im Wesentlichen durch die Kohlenhydrate bestimmt, die wir aufnehmen – nicht ausschließlich, aber so gut wie. Je mehr Kohlenhydrate wir zu uns nehmen und je einfacher sie zu verdauen und je süßer sie sind, desto mehr Insulin wird ausgeschüttet, was dazu führt, dass der Insulinspiegel in unserem Blut steigt und infolgedessen mehr Fett in unseren Fettzellen gespeichert wird. „Kohlenhydrate treiben den Insulinspiegel in die Höhe und fördern die Fetteinlagerung.“ So hat George Cahill, ein ehemaliger Professor an der Harvard Medical School, es mir vor Kurzem beschrieben. Cahill hat in den 1950er-Jahren einige der frühen Forschungen über die Regulierung der Fettakkumulation betrieben und ein achthundertseitiges Kompendium der American Physiological Society mit herausgegeben, das 1965 veröffentlicht wurde.
Mit anderen Worten: Die wissenschaftlichen Erkenntnisse stellen selbst klar, dass Hormone, Enzyme und Wachstumsfaktoren die Fettspeicherung und den Fettabbau in unserem Fettgewebe regulieren und wir nicht dick werden, weil wir zu viel essen. Wir werden dick, weil die Kohlenhydrate in unserer Nahrung uns dick machen. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse sagen uns, dass Fettleibigkeit letztendlich das Resultat eines hormonellen Ungleichgewichts ist und nicht eines Ungleichgewichts zwischen Kalorienaufnahme und -verbrauch. Insbesondere ist sie eine Folge der Stimulation der Insulinausschüttung, die durch den Verzehr von leicht verdaulichen, kohlenhydratreichen Lebensmitteln verursacht wird. Dazu zählen: raffinierte Kohlenhydrate, darunter Mehl und Getreidekörner, stärkehaltige Gemüsesorten wie Kartoffeln und Zucker wie Saccharose (Haushaltszucker) und Maissirup mit hohem Fruchtzuckergehalt. Diese Kohlenhydrate machen uns im wahrsten Sinne des Wortes fett, und indem sie dafür sorgen, die Fetteinlagerung zu fördern, machen sie uns hungriger und träger.
Dies ist eine grundlegende Tatsache und der eigentliche Grund dafür, dass wir dick werden, und wenn wir schlank werden und bleiben wollen, müssen wir dies verstehen und akzeptieren, und, was vielleicht noch wichtiger ist: Unsere Ärzte müssen es auch verstehen und akzeptieren.
Wenn Sie dieses Buch vor allem lesen, um eine Antwort auf die Frage zu erhalten, was Sie tun müssen, um schlank zu bleiben oder das überschüssige Fett loszuwerden, das Sie mit sich herumtragen, dann ist dies die Antwort: Verzichten Sie auf kohlenhydratreiche Lebensmittel, und je süßer sie sind oder je leichter sie zu konsumieren und zu verdauen sind – flüssige Kohlenhydrate wie Bier, Fruchtsäfte und Softdrinks sind wahrscheinlich die schlimmsten –, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie Sie dick machen, und umso dringender sollten Sie sie meiden.
Dies ist gewiss keine neue Botschaft. Wie ich später darlegen werde, war dies bis in die 1960er-Jahre eine allgemein verbreitete Erkenntnis. Kohlenhydratreiche Lebensmittel – Brot, Nudeln, Kartoffeln, Süßigkeiten oder Bier – wurden als besonders dick machend angesehen, und wenn man vermeiden wollte, dick zu werden, aß und trank man sie nicht. Zu jener Zeit war dies die Botschaft einer unendlichen Anzahl sich oft als Bestseller verkaufender Diät-Ratgeber. Doch diese essenzielle Tatsache wurde derart missbraucht, und die relevanten wissenschaftlichen Erkenntnisse wurden derart entstellt oder missverstanden – und zwar sowohl von den Verfechtern dieser „kohlenhydratreduzierten“ Ernährungsweisen als auch von jenen, die sie für eine gefährliche Modeerscheinung hielten (darunter die American Heart Association) –, dass ich sie noch einmal darlegen möchte. Wenn Sie die Argumentation nachvollziehbar genug finden, um Ihre Ernährungsweise entsprechend umzustellen, umso besser. Ich werde Ihnen ein paar Ratschläge geben, wie Sie dies tun können, wobei diese Ratschläge auf den Erkenntnissen von Klinikärzten basieren, die jahrelange Erfahrungen mit diesen Ernährungsweisen haben, mit deren Hilfe sie übergewichtige und oft auch unter Diabetes leidende Patienten behandeln.
Wann immer die Frage, was uns dick macht – Kalorien oder Kohlenhydrate – während der mehr als sechs Jahrzehnte, die seit dem Zweiten Weltkrieg vergangen sind, diskutiert wurde, geschah dies auf eine Weise, als handelte es sich eher um ein religiöses Thema als um eine wissenschaftliche Frage. Bei der Diskussion über die Frage, wie eine gesunde Ernährung aussieht, werden so viele unterschiedliche Glaubenssysteme eingebracht, dass die wissenschaftliche Frage „Warum werden wir dick?“ dabei auf der Strecke geblieben ist. Die Diskussion wird von ethischen, moralischen und soziologischen Erwägungen überschattet, die für sich genommen sicher allesamt berechtigt und es wert sind, diskutiert zu werden, sie haben jedoch nichts mit der wissenschaftlichen Frage zu tun, um die es geht, und haben bei einer wissenschaftlichen Betrachtung des Themas wohl eher nichts zu suchen.
Bei kohlenhydratreduzierten Ernährungsweisen werden die Kohlenhydrate typischerweise (wenn nicht vielleicht sogar idealerweise) durch große oder zumindest größere Portionen tierischer Produkte ersetzt – angefangen mit Eiern zum Frühstück und Fleisch, Fisch oder Geflügel zum Mittag und zum Abendessen. Die Implikationen, die damit einhergehen, sind eine eigene Debatte wert. Ist unsere Abhängigkeit von tierischen Produkten nicht jetzt schon schlecht für die Umwelt, und würde sich dies nicht noch verschlimmern, wenn wir noch stärker auf solche Produkte setzen würden? Leistet die Viehwirtschaft nicht schon jetzt einen großen Beitrag zur globalen Erwärmung, zur Wasserknappheit und zur Umweltverschmutzung? Wenn wir uns mit einer gesunden Ernährungsweise befassen, sollten wir uns dann nicht auch fragen, was gut für den Planeten ist, und nicht nur, was gut für uns ist? Haben wir das Recht, Tiere zu töten, um sie zu essen, oder sie zur Produktion unserer Nahrungsmittel einzusetzen? Ist nicht die einzige Ernährungsweise, die moralisch und ethisch vertretbar ist, eine vegetarische oder sogar vegane Ernährung?
Das sind alles wichtige Fragen, mit der sich sowohl der Einzelne als auch die Gesellschaft insgesamt befassen muss. Aber sie haben keinen Raum im Rahmen der medizinischen und wissenschaftlichen Diskussion über die Frage, warum wir dick werden. Und mit genau dieser Frage befasse ich mich in dem vorliegenden Buch – genauso wie Hilde Bruch vor über siebzig Jahren. Warum sind wir dick? Warum sind unsere Kinder dick? Was können wir dagegen tun?
1 Derartige offizielle Feststellungen werden allgemein verbreitet. Hier noch einige weitere Beispiele. Die Centers for Disease Control and Prevention der USA: „Gewichtskontrolle ist einzig und allein eine Frage des Gleichgewichts. Es geht darum, die Menge der Kalorien, die man aufnimmt, mit der Menge an Kalorien, die der Körper verbrennt, in Einklang zu bringen.“ Der Medical Research Council von Großbritannien: „Auch wenn die Zunahme von Fettleibigkeit nicht auf einen einzelnen Faktor zurückgeführt werden kann, ist der Grund schlicht und einfach in dem Ungleichgewicht zwischen aufgenommener Energie (durch die Nahrung, die wir zu uns nehmen) und verbrauchter Energie (vor allem durch körperliche Betätigung) zu finden.“ INSERM, das französische nationale Institut für Gesundheit und medizinische Forschung: „Überschüssiges Körpergewicht ist immer einer Folge eines Ungleichgewichts zwischen aufgenommener und verbrauchter Energie.“ Das deutsche Bundesministerium für Gesundheit: „Übergewicht ist die Folge einer zu hohen Energiezufuhr im Vergleich zum Energieverbrauch.“
Stellen Sie sich vor, sie wären Geschworener in einer Jury. Der Angeklagte wird eines abscheulichen Verbrechens beschuldigt. Der Staatsanwalt sagt, dass er Beweise habe, die den Angeklagten derart belasten, dass jeder Zweifel ausgeschlossen sei. Die Beweise seien so eindeutig, sagt er, dass Sie den Angeklagten für schuldig befinden müssen. Dieser Kriminelle müsse hinter Gitter, wird Ihnen gesagt, weil er eine Bedrohung für die Gesellschaft darstelle.
Der Verteidiger stellt in seinem Plädoyer genauso nachdrücklich klar, dass die Beweise keinesfalls so eindeutig seien. Der Angeklagte hat ein Alibi, wenn auch kein hieb- und stichfestes. Am Tatort wurden Fingerabdrücke gefunden, die nicht mit denen des Angeklagten übereinstimmen. Der Verteidiger behauptet, dass die Polizei bei der Sicherung und beim Abgleich der forensischen Beweise (der DNA und der Haarproben) womöglich Fehler gemacht hat. Die Verteidigung argumentiert, dass der Fall nicht annähernd so eindeutig sei, wie der Staatsanwalt Sie glauben machen will. Er sagt, wenn Sie begründete Zweifel haben, die Sie nach Lage der Dinge haben sollten, müssen Sie den Angeklagten freisprechen. Wenn Sie einen unschuldigen Mann ins Gefängnis bringen, wird Ihnen gesagt, tun Sie diesem Menschen nicht nur ein nicht zu ermessenes Unrecht an, sondern Sie lassen auch zu, dass der tatsächliche Schuldige weiter frei herumläuft und weitere Verbrechen begehen kann.
Im Geschworenenzimmer ist es Ihre Aufgabe, die Behauptungen und die Gegenbehauptungen abzuwägen und eine Entscheidung zu treffen, die einzig und allein auf den Beweisen basiert. Zu welcher Einschätzung Sie zu Beginn des Prozesses tendiert haben, spielt keine Rolle. Es darf Ihre Entscheidung nicht beeinflussen, ob Sie dachten, dass der Angeklagte schuldig aussah oder ob er in Ihren Augen nicht den Eindruck machte, ein Mensch zu sein, der so ein furchtbares Verbrechen begehen kann. Das Einzige, was zählt, sind die Beweise und die Frage, ob sie überzeugend sind oder nicht.
Eine Tatsache, die über die Strafjustiz bekannt ist, ist, dass oft Menschen für Verbrechen verurteilt werden, die sie nicht begangen haben – und das trotz eines Justizsystems, dessen Aufgabe es eigentlich ist, dafür zu sorgen, dass so etwas nicht passiert. Ein Punkt, auf den immer wieder hingewiesen wird, wenn die Mängel der Justiz beklagt werden, ist, dass es sich bei den zu Unrecht Verurteilten normalerweise um die offensichtlichen Verdächtigen handelt. Ihre Verurteilung fühle sich richtig an, Beweise, die sie entlasten könnten, würden somit leichter ignoriert. Komplizierte Fragen würden beiseitegeschoben, ebenso Beweise, die nach ihrer Verurteilung dazu beitragen könnten, dass sie freigesprochen werden.
Es wäre schön, wenn man davon ausgehen könnte, dass die Wissenschaft und die Wissenschaftler solche Fehler nicht machen, aber sie passieren ständig. Es liegt in der menschlichen Natur. Die Methoden der Wissenschaft sollen eigentlich verhindern, zu falschen Schlüssen zu kommen, doch diese Methoden werden nicht immer befolgt, und selbst wenn sie befolgt werden, ist es eine schwierige Angelegenheit, die Wahrheit über die Natur und das Universum zu ergründen. Der gesunde Menschenverstand kann eine gute Richtschnur bieten, aber wie Voltaire in seinem Dictionnaire philosophique dargelegt hat, ist gesunder Menschenverstand nicht so weit verbreitet, nicht einmal unter Wissenschaftlern, und oft sagt uns die Wissenschaft, dass Dinge, die sich scheinbar mit dem gesunden Menschenverstand erklären lassen, nicht so sind, wie sie scheinen. Die Sonne dreht sich zum Beispiel nicht um die Erde, auch wenn es, oberflächlich betrachtet, so aussieht.
In der Wissenschaft und der Justiz wird im Unterschied zur Religion nicht erwartet, irgendetwas einfach nur deshalb hinzunehmen, weil man es glaubt. Wir sind angehalten zu fragen, ob die Beweise wirklich stützen, was man uns erzählt und was wir glauben sollen – oder womit wir in dem Glauben groß geworden sind, dass es richtig ist –, und es ist uns gestattet zu fragen, ob uns wirklich alle Beweise vorgelegt wurden oder nur ein kleiner, einseitiger Teil. Wenn das, was wir glauben, nicht durch die Beweise gestützt wird, sind wir angehalten, etwas anderes zu glauben.
Es ist erstaunlich einfach, Beweise zu finden, die die Ansicht widerlegen, dass wir dick werden, weil wir mehr Kalorien aufnehmen, als wir verbrauchen – also weil wir zu viel essen. In den meisten wissenschaftlichen Betrachtungen gilt die kritische Überprüfung der Beweise als ein wesentliches Erfordernis, um Fortschritte zu machen. Auf dem Gebiet der Ernährung und der allgemeinen Gesundheit hingegen wird die kritische Überprüfung der Beweise als kontraproduktiv angesehen, weil sie Bemühungen untergräbt, bestimmte Verhaltensweisen zu fördern, von denen die zuständigen Institutionen fälschlicher- oder richtigerweise glauben, dass sie gut für uns sind.
Doch in diesem Punkt geht es um unsere Gesundheit (und um unser Gewicht). Nehmen wir uns die Beweise also vor, und sehen wir, wohin sie uns führen. Stellen wir uns vor, wir wären Geschworene in einer Jury und hätten die Aufgabe zu entscheiden, ob Überernährung – also mehr Kalorien aufzunehmen, als wir verbrauchen – für das „Verbrechen“ Fettleibigkeit und Übergewicht verantwortlich ist.
Ein guter Ausgangspunkt ist die Betrachtung der epidemieartigen Verbreitung der Fettleibigkeit. Seitdem die Centers for Disease Control and Prevention (CDC) Mitte der 1990er-Jahre die Nachricht verbreitet haben, dass wir unter dieser Epidemie leiden, haben die zuständigen Behörden dies darauf zurückgeführt, dass wir zu viel essen und sitzen, wofür sie wiederum den relativen Wohlstand moderner Gesellschaften verantwortlich gemacht haben.
„Gesteigerter Wohlstand“ habe die Epidemie verursacht, gefördert und befeuert von der Nahrungsmittel- und Unterhaltungsindustrie, erklärte die New Yorker Ernährungswissenschaftlerin Marion Nestle 2003 in der Zeitschrift Science. „Die Nahrungsmittel- und die Unterhaltungsindustrie verwandeln Menschen mit steigenden Einkommen in Konsumenten aggressiv vermarkteter Lebensmittel mit hohem Energiewert und niedrigem Nährwert und von Autos, Fernsehgeräten und Computern, die eine bewegungsarme Lebensweise fördern. Gewichtszunahme ist gut fürs Geschäft.“
Der an der Yale University forschende Psychologe Kelly Brownell hat den Begriff „giftige Umgebung“ geprägt, um das gleiche Phänomen zu beschreiben. So wie die Bewohner von Love Canal oder Tschernobyl in giftigen Umgebungen leben würden, die durch Chemikalien im Grundwasser oder Radioaktivität die Entstehung von Krebs begünstigen, würden wir in einer giftigen Umgebung leben, „die uns dazu animiert, zu viel zu essen und uns zu wenig zu bewegen“. Die natürliche Folge davon sei Fettleibigkeit. „Cheeseburger und Pommes Frites, Drive-in-Fast-Food-Restaurants, Softdrinks und Süßigkeiten, Kartoffelchips und Käseflips, die früher allesamt unüblich waren, gehören heute genauso zu unserem kulturellen Hintergrund wie Bäume, Gras und Wolken“, sagt er. „Nur wenige Kinder gehen zu Fuß zur Schule oder fahren mit dem Fahrrad. Es gibt nur wenig Sportunterricht. Computer, Videospiele und Fernseher halten die Kinder in den Häusern, und Eltern lassen Kinder nur ungern frei draußen umherstreifen und spielen.“
Mit anderen Worten, uns wird erzählt: Zu viel Geld, zu viele Lebensmittel, die zu leicht verfügbar sind, und zu viele Anreize zum Sitzen – oder zu wenig Notwendigkeit, sich körperlich zu betätigen – haben die Epidemie der Fettleibigkeit verursacht. Die Weltgesundheitsorganisation bedient sich der gleichen Logik, um die weltweite epidemieartige Ausbreitung der Fettleibigkeit zu erklären und sieht die Ursache dafür in wachsenden Einkommen, der Verstädterung, „Veränderungen hin zu immer weniger körperlich anstrengender Arbeit … und immer weniger körperlicher Aktivität … und eher passiven Freizeitbeschäftigungen.“ Fettleibigkeitsforscher verwenden inzwischen einen quasi wissenschaftlichen Terminus, um genau diesen Umstand zu beschreiben. Sie sprechen von einer „adipogenen“ Umgebung, in der wir heute leben, und meinen damit eine Umgebung, die dazu angetan ist, schlanke Menschen in dicke Menschen zu verwandeln.
Eine beweiskräftige Erkenntnis, die in diesem Kontext in Betracht gezogen werden muss, ist allerdings die gut dokumentierte Tatsache, dass Fettleibigkeit mit Armut assoziiert ist und nicht mit Wohlstand – ganz gewiss bei Frauen und oft auch bei Männern. Je ärmer wir sind, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass wir dick sind. Dies wurde zum ersten Mal in einer Anfang der 1960er-Jahre in New York durchgeführten Studie berichtet, bei der Bewohner Manhattans untersucht wurden. Bei dicken Frauen war die Wahrscheinlichkeit sechsmal höher, dass sie arm waren, als dass sie wohlhabend waren, bei dicken Männern war die Wahrscheinlichkeit doppelt so hoch. Dieser Befund wurde seitdem in nahezu jeder Studie bestätigt, und zwar sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern und auch in jenen Studien der Centers for Disease Control, die die Existenz der Fettleibigkeits-Epidemie überhaupt erst zutage gebracht haben.2
Kann es möglich sein, dass die Fettleibigkeitsepidemie durch Wohlstand verursacht wird, dass wir also, je wohlhabender wir sind, umso dicker werden, und dass Fettleibigkeit gleichzeitig mit Armut assoziiert ist, dass wir also mit umso größerer Wahrscheinlichkeit dick sind, je ärmer wir sind? Das ist keineswegs ausgeschlossen. Vielleicht sind arme Menschen nicht so einem starken sozialen Druck ausgesetzt, schlank zu bleiben, wie wohlhabende Menschen. Ob Sie es glauben oder nicht, dies war eine der akzeptierten Erklärungen für diesen scheinbar paradoxen Befund. Eine andere allgemein akzeptierte Erklärung für die Assoziation zwischen Armut und Fettleibigkeit lautete, dass dicke Frauen Männer aus sozial schwächeren Schichten heiraten und sich somit an den unteren Sprossen der sozialen Leiter sammeln, während dünnere Frauen sich hochheiraten. Eine dritte Erklärung lautet, dass arme Menschen nicht so viel Freizeit haben, um Sport zu treiben, wie wohlhabende. Dass sie nicht über das Geld verfügen, um in Fitnessclubs zu gehen und in Gegenden wohnen, in denen es keine Parks und keine Bürgersteige gibt, sodass ihre Kinder keine Gelegenheiten haben, Sport zu treiben und zu Fuß zu gehen. Diese Erklärungen mögen etwas Wahres haben, aber sie fordern einem ziemlich viel Fantasie ab, und je mehr wir uns mit diesem Widerspruch befassen, desto augenfälliger erscheint er.
Wenn wir uns die Literatur ansehen – was die Experten in diesem Fall nicht getan haben –, finden wir Berichte über zahlreiche Bevölkerungsgruppen, bei denen das Problem der Fettleibigkeit genauso verbreitet war wie heutzutage in den USA, Europa und anderswo, und die nicht in Wohlstand lebten und, wenn überhaupt, nur von wenigen der Dinge umgeben waren, die Brownells „giftige Umgebung“ kennzeichnen. Keine Cheeseburger, keine Softdrinks, keine Käseflips, keine Drive-in-Fastfood-Restaurants, keine Computer und keine Fernseher (manchmal, abgesehen von der Bibel vielleicht, nicht einmal Bücher) und keine überfürsorglichen Mütter, die ihre Kinder davon abhalten, draußen herumzustreifen.
Diese Bevölkerungsgruppen erfreuten sich nicht steigender Einkommen. Bei ihnen gab es keine arbeitssparenden Geräte und keine Veränderungen hin zu immer weniger körperlich anstrengender Arbeit und passiven Freizeitbeschäftigungen. Eher waren einige dieser Bevölkerungen so arm, dass wir es uns heute kaum mehr vorstellen können. Extrem arm. Nach der Hypothese, dass Fettleibigkeit durch zu viel Essen verursacht wird, müssten die Menschen, die diesen Bevölkerungsgruppen angehören, so schlank sein, wie es nur irgend geht, doch das waren sie nicht.
Erinnern Sie sich an Hilde Bruch, die sich darüber gewundert hat, ausgerechnet mitten während der großen Depression so viele extrem dicke Kinder zu sehen? Tja, diese Beobachtung ist gar nicht so ungewöhnlich, wie wir vielleicht denken. Da gibt es zum Beispiel einen Indianerstamm in Arizona, die Pima. Die Pima sind heute vielleicht die Bevölkerungsgruppe in den USA, in der es die meisten übergewichtigen Menschen und die meisten Diabetiker gibt. Ihr schlechter Gesundheitszustand wird häufig als ein Beispiel dafür angeführt, was passiert, wenn eine traditionelle Kultur mit der „giftigen Umgebung“ der modernen USA kollidiert. Die Pima waren mit den Händen arbeitende Bauern und Jäger, heißt es, und heute sind sie, wie wir alle, sitzende Tätigkeiten verrichtende Gehaltsempfänger, fahren in die gleichen Fastfood-Restaurants wie wir, essen die gleichen Schnellgerichte, sehen die gleichen Fernsehshows und werden genauso dick und zuckerkrank wie alle anderen, nur noch häufiger. „Als die typischen US-amerikanischen Nahrungsmittel im Reservat (der Pima am Gila River) nach dem (Zweiten) Weltkrieg leichter verfügbar waren“, so die National Institutes of Health, „wurden die Menschen noch übergewichtiger.“
Die Kursivschrift in dem Zitat habe ich gesetzt, um zu verdeutlichen, dass die Pima schon lange vor dem Zweiten Weltkrieg, ja sogar schon vor dem Ersten Weltkrieg, ein Übergewichtsproblem hatten, also zu einer Zeit, zu der sie mitnichten in einer „giftigen Umwelt“ gelebt haben, zumindest nicht in dem Sinne, wie Kelly Brownell den Begriff geprägt hat und wir ihn heute in diesem Zusammenhang verwenden würden. In den Jahren zwischen 1901 und 1905 haben zwei Anthropologen die Pima unabhängig voneinander studiert, und beiden war aufgefallen, wie dick sie waren, insbesondere die Frauen.
Der erste war Frank Russell, ein junger Anthropologe der Harvard University, dessen bahnbrechender Bericht über die Pima 1908 veröffentlicht wurde. Russell fiel auf, dass viele der älteren Pima „ungeheuer fettleibig sind, was in einem auffälligen Kontrast zu den verbreiteten Vorstellungen über die Indianer als ‚große, kräftige, sehnige’ Menschen steht.“ Er machte auch dieses Foto einer Pima-Frau, das er „Fat Louisa“ titulierte.
Die fettleibige Pima-Frau, die Frank Russell vor über hundert Jahren „Fat Louisa“ nannte, ist bestimmt nicht dick geworden, weil sie in Fastfood-Restaurants gegessen und zu viel ferngesehen hat.
Der zweite Anthropologe war Aleš Hrdliĉka, der zunächst eine medizinische Ausbildung absolvierte und später als Kurator der physischen Anthropologie im National Museum of Natural History der Smithsonian Institution arbeitete. Hrdliĉka besuchte die Pima im Jahr 1902 und noch einmal 1905 im Rahmen einer Reihe von Expeditionen, die er unternahm, um den Gesundheitszustand und das Wohlergehen der Indianerstämme in jener Gegend zu untersuchen. „Besonders wohlgenährte Individuen sind in jedem Stamm anzutreffen, sowohl Männer als auch Frauen in jedem Alter“, schrieb Hrdliĉka über die Pima und die in deren Nähe siedelnden Southern Utes, „doch wirklich Fettleibige findet man nur unter den Indianern in den Reservaten.“
Was diese Beobachtung so bemerkenswert macht, ist die Tatsache, dass die Pima zu jener Zeit gerade von einem der wohlhabendsten Indianerstämme zu einem der ärmsten geworden waren. Was auch immer die Pima dick gemacht hatte, Wohlstand und steigende Einkommen hatten nichts damit zu tun. Eher schien bei Ihnen das Gegenteil der Fall gewesen zu sein.
In den 1850er-Jahren waren die Pima außerordentlich erfolgreiche Jäger und Bauern gewesen. In der Gegend gab es sehr viel Wild, und die Pima waren besonders gut darin, es mithilfe von Fallen zu fangen oder mit Pfeil und Bogen zu erlegen. Sie aßen auch Fisch und Muscheln aus dem Gila River, der durch ihr Territorium floss. Auf Feldern, die sie mit dem Wasser des Gila River bewässerten, bauten sie Mais, Bohnen, Weizen, Melonen und Feigen an. Außerdem hielten sie Rinder und Hühner.
Als im Jahr 1846 ein Bataillon der U. S. Army das Land der Pima durchquerte, beschrieb John Griffin, der Bataillonsarzt, die Pima als „robust“ und „bei guter Gesundheit.“ Außerdem notierte er, dass sie „über gewaltige Lebensmittelvorräte“ verfügten – über prall gefüllte Speicher.3 Sie hatten so große Vorräte, dass die Regierung der USA die Pima drei Jahre später, als der kalifornische Goldrausch begann, bat, Lebensmittel zur Verfügung zu stellen, und das taten sie auch und versorgten in der folgenden Dekade Zehntausende von Reisenden, die auf dem Santa Fe Trail ihr Territorium durchquerten und nach Kalifornien zogen.
Mit dem kalifornischen Goldrausch war es mit dem relativen Paradies, in dem die Pima lebten, vorbei, und damit auch mit ihrem Wohlstand. Anglo-Amerikaner und Mexikaner begannen die Gegend in großer Anzahl zu besiedeln. Diese Neuankömmlinge – „einige der widerlichsten Exemplare der Menschheit, die die weiße Rasse hervorgebracht hat“, wie Russell schrieb – jagte das einheimische Wild, bis es nahezu ausgestorben war, und leitete den Gila River um, um die eigenen Felder zu bewässern, was natürlich zu Lasten der Pima ging.
In den 1870er-Jahren durchlebten die Pima eine Zeit, die sie die „Jahre des Hungers“ nannten. „Es ist ein Wunder, dass der Stamm den Hunger, die Verzweiflung und die Ausschweifungen, denen sich die Pima infolgedessen hingaben, überlebt hat“, schrieb Russell. Als Russell und Hrdliĉka den Stamm in den ersten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts aufsuchten, bauten die Pima immer noch auf ihren Felder an, was sie konnten, aber inzwischen waren sie auf Nahrungsmittellieferungen der Regierung angewiesen, um jeden Tag genug zu essen zu haben.
Warum waren sie also dick? In Jahren des Hungers würde man eigentlich annehmen, dass die Menschen abnehmen und nicht zunehmen oder ihr Gewicht, wie auch immer, halten. Und wenn die Essensrationen der Regierung schlicht und einfach zu groß gewesen sein und den Hunger zu einer Angelegenheit der Vergangenheit gemacht haben sollten – warum wurden die Pima dann von überreichlichen Essensrationen dick und nicht von den riesigen Lebensmittelvorräten, über die sie vor den Jahren des Hungers verfügten? Vielleicht ist die Antwort auf diese Frage in der Art der Nahrung zu finden, die sie zu sich genommen haben, und somit eher eine Frage der Qualität als der Quantität. Genau dies legte Russell nahe, als er schrieb, dass „gewisse Bestandteile ihrer Ernährung dazu zu führen scheinen, dass sie deutlich erkennbar Fett ansetzen.“
Auch Hrdliĉka dachte, dass die Pima angesichts der prekären Umstände, unter denen sie lebten, eigentlich hätten schlank sein müssen, weshalb er schrieb: „Offensichtlich spielt die Nahrung, die bei Indianern zur Fettleibigkeit führt, eine indirekte Rolle.“ Dies veranlasste ihn, Bewegungsmangel als mögliche Ursache für die verbreitete Übergewichtigkeit der Pima ins Auge zu fassen, oder zumindest den relativen Bewegungsmangel. Mit anderen Worten: Angesichts der harten Bedingungen, die in der vorindustriellen Landwirtschaft herrschten, mochten die Prima zwar körperlich anstrengendere Arbeit verrichtet haben als wir heute, aber im Vergleich zu dem, was sie früher gewohnt waren, waren sie zu einer bewegungsarmen Lebensweise übergegangen. Hrdliĉka nannte dies „den Wechsel von ihrer früheren aktiven Lebensweise zu ihrem gegenwärtigen Dasein, das von nicht wenig Trägheit geprägt ist.“ Doch damit konnte er nicht erklären, warum vor allem die Frauen so dick waren, obwohl es gerade die Frauen waren, die nahezu sämtliche körperlich anstrengenden Arbeiten in den Dörfern verrichteten: Sie brachten die Ernte ein, mahlten das Getreide und trugen sogar die schweren Lasten, wenn die Packtiere nicht verfügbar waren. Hrdliĉka hatte mit seinem Erklärungsansatz auch bei einem anderen in der Gegend siedelnden Stamm Schwierigkeiten, den Pueblo-Indianern, „die schon seit Ewigkeiten eine sitzende Lebensweise“ pflegten, jedoch nicht dick waren.
Also lag die Schuld für die Fettleibigkeit vielleicht tatsächlich an der Art der Nahrung. Wie Hrdliĉka feststellte, aßen die Pima bereits alles, „was im Ernährungsplan des weißen Mannes vorkommt“. Dies könnte die Erklärung gewesen sein. Die Ernährungsweise der Pima um 1900 war derjenigen sehr ähnlich, die für viele von uns heute typisch ist, allerdings nicht im Hinblick auf die Quantität, sondern auf die Qualität.
Nach 1850 war im Reservat der Pima ein halbes Dutzend Handelsposten errichtet worden. Dort erwarben die Pima, wie der Anthropologe Henry Dobyns berichtete, „Zucker, Kaffee und Konserven, die ihre traditionellen Lebensmittel ersetzten, die sie verloren hatten, seit die Weißen ihr Territorium besiedelt hatten.“ Dazu kam noch, dass ein Großteil der staatlichen Lebensmittellieferungen, die in den Reservaten verteilt wurden, aus weißem Mehl und jeder Menge Zucker bestand, zumindest waren es für die Pima vor hundert Jahren gewaltige Rationen. Dies waren wahrscheinlich die entscheidenden Faktoren, wie ich im Verlaufe dieses Buches darlegen werde.
Wenn die Pima das einzige Beispiel einer Bevölkerungsgruppe wären, die sehr arm und von Fettleibigkeit geplagt wäre, könnten wir sie als eine Ausnahme von der Regel abschreiben – oder, um im Bild des Strafprozesses zu bleiben, als den einzigen Augenzeugen, dessen Aussagen denen etlicher anderer widersprechen. Aber wie ich bereits sagte, gab es jede Menge Bevölkerungsgruppen, in denen trotz extremer Armut sehr viele Menschen fettleibig waren und die somit als Zeugen dafür herhalten können, dass Armut und verbreitete Fettleibigkeit miteinander einhergehen können. Die Pima waren sozusagen die Fahnenträger einer ganzen Parade von Zeugen, deren Aussage nie gehört wird und deren Existenz beweist, dass es möglich ist, dick zu werden, wenn man arm ist, harte körperliche Arbeit verrichtet und sogar unterernährt ist. Sehen wir uns zunächst an, was uns diese Zeugen mitzuteilen haben, bevor wir fortfahren.
Ein Vierteljahrhundert nachdem Russell und Hrdliĉka die Pima besucht hatten, studierten zwei Forscher der University of Chicago einen anderen Indianerstamm, die Sioux, die im Reservat Crow Creek in South Dakota lebten. Diese Sioux lebten in Hütten, „in denen man eigentlich nicht hausen konnte“, oft vier bis acht Familienmitglieder in einem Raum. Viele dieser Hütten hatten weder Sanitäreinrichtungen noch fließendes Wasser. 40 % der Kinder lebten in Behausungen ohne jede Art von Toilette. Fünfzehn Familien mit insgesamt zweiunddreißig Kindern lebten „überwiegend von Brot und Wasser“. Das war Armut, wie wir sie uns heutzutage kaum vorstellen können.
Doch die Fettleibigkeitsrate lag bei diesen Sioux in etwa genauso hoch wie heute bei uns inmitten der Fettleibigkeitsepidemie, unter der wir leiden. Dem Bericht der Forscher der University of Chicago zufolge waren 40 % der erwachsenen Frauen in dem Reservat, mehr als ein Viertel der Männer und 10 % der Kinder „als sehr dick zu bezeichnen“. Man könnte argumentieren, dass vielleicht die Lebensweise der Sioux in dem Reservat, die, wie Hrdliĉka es ausgedrückt hatte, „von nicht wenig Trägheit geprägt“ war, die Fettleibigkeit verursacht haben könnte, aber die Forscher hielten noch eine andere bemerkenswerte Tatsache über diese Sioux fest: Ein Fünftel der erwachsenen Frauen, ein Viertel der Männer und ein Viertel der Kinder waren „extrem dünn.“
Die Nahrungsmittel in dem Reservat, die wiederum zu einem Großteil aus staatlichen Lebensmittellieferungen bestanden, lieferten weder genug Kalorien noch ausreichend Protein oder genügend essenzielle Vitamine und Mineralien. Die Folgen dieser Mangelernährung waren augenfällig: „Auch wenn keine Zählung vorgenommen wurde, konnte selbst ein flüchtiger Beobachter die vielen verfaulten Zähne, O-Beine, entzündeten Augen und Fälle von Erblindung nicht übersehen, unter denen diese Familien litten.“
Autoritäten auf dem Gebiet der Ernährung reden heute über das gleichzeitige Auftreten von Fettleibigkeit und Mangelernährung oder Unterernährung (nicht ausreichende Zufuhr von Kalorien) bei bestimmten Bevölkerungsgruppen, als handele es sich um ein neues Phänomen, das es jedoch nicht ist. Der hier beschriebene Fall, bei dem Mangel- oder Unterernährung und Fettleibigkeit in der gleichen Bevölkerungsgruppe zu beobachten sind, liegt achtzig Jahre zurück. Es ist eine wichtige Beobachtung, und wir werden sie erneut antreffen, bevor wir dieses Thema abschließen.
Sehen wir uns ein paar weitere Beispiele an.
1951: Neapel, Italien
Ancel Keys, jener Ernährungswissenschaftler, der an der University of Minnesota lehrte und uns fast im Alleingang überzeugt hat, dass das Fett, das wir essen, und das Cholesterin in unserem Blut Ursache von Herzerkrankungen sind, besucht Neapel, um die Ernährungsweise und den Gesundheitszustand der Napolitaner zu studieren.
„Im Großen und Ganzen bietet sich ein eindeutiges Bild“, schrieb er später. „Sie aßen regelmäßig ein- oder zweimal in der Woche ein wenig mageres Fleisch, Butter war nahezu unbekannt, Milch wurde nie getrunken, außer im Kaffee oder von Kindern, das „colazione“ (Frühstück) bei der Arbeit bestand oft aus einem halben, dick mit blanchierten Salatblättern oder Spinat belegten Brotlaib. Nudeln wurden jeden Tag gegessen, normalerweise mit Brot (ohne Aufstrich), und ein Viertel der Kalorien wurden in Form von Olivenöl und Wein aufgenommen. Es gab keinen Hinweis auf Fehlernährung, aber die Frauen der Arbeiterklasse waren dick.“