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Was können wir über Gott wissen? Nach Auffassung des Autors, die dieser in seinem luziden Essay systematisch begründet: nichts. Diese Auffassung ist kein Atheismus, sondern ein religiöser Agnostizismus, der zwar auf eine reiche historische Tradition zurückblicken kann (angefangen vom frühen Christentum über mittelalterliche Denker wie R. Bacon, Duns Scotus und Ockham bis zu Hume und Kant), aber im gegenwärtigen religiösen Diskurs nur eine marginale Rolle spielt. Wolfgang Detel geht in seinem Essay von dem grundlegenden Gottesbegriff der führenden monotheistischen Religionen aus, die Gott als maximal große immaterielle Person, also als unendlichen Geist betrachten. Sein zentrales systematisches Argument ist, dass wir Gott nicht einmal denken und daher erst recht nichts über ihn wissen können. Zugleich arbeitet er heraus, dass Gott selbst kein Denker sein kann. Dabei stehen die beiden grundlegenden Merkmale Gottes im Mittelpunkt: Wenn Gott absolut perfekt ist, muss er aktual unendlich sein; aber aktuale Unendlichkeit können wir Menschen als endliche Wesen nicht denken. Und wenn Gott ein maximal großes und perfektes Wesen ist, dann muss er ein perfekter Geist sein und über optimale Denkfähigkeit verfügen; doch die Ideen eines perfekten Geistes und einer optimalen Denkfähigkeit sind inkonsistent, so dass wir Gott weder als Geist noch als Denker denken können. Das Besondere an Detels Vorgehensweise ist der Rückgriff auf moderne wissenschaftliche Theorien der Unendlichkeit und des Geistes. Sein Essay schließt mit einigen Reflexionen über eine zeitgemäße Religiosität ohne Gott – eine Religiosität, die tiefer ist als Gott, die auf infantiles und spekulatives religiöses Wunschdenken verzichten kann, die über Ambitionen auf politischen Einfluss und dogmatische Menschenführung erhaben ist und die uns gerade deswegen erfüllen und voranbringen kann.
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Seitenzahl: 174
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Wolfgang Detel
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische
Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar.
eISBN (PDF) 978-3-7873-4021-7
eISBN (ePub): 978-3-7873-4260-0
2., durchgesehene Auflage 2021
© Felix Meiner Verlag Hamburg 2018. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Konvertierung: Bookwire GmbH
Einleitung: Zum Denken und Wissen über Gott
Teil I: Historische Grundlagen der Religionstheorie
1Zur Tradition des religiösen Agnostizismus
2Gottesbegriffe
Teil II: Gott und die Unendlichkeit
3Der unendliche Gott in der Religion
4Gott als unendliches Wesen?
Teil III: Gott und Geist
5Der Begriff des Geistes – ein Umriss
6Gott als Geist und Denker?
Schlussbemerkung: Religiosität ohne Gott
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Ist denn wohl unser Begriff von Gott etwas weiter, als personifizierte Unbegreiflichkeit?(G. C. Lichtenberg: Sudelbücher)
In diesem Essay soll nachgewiesen werden, dass wir Gott nicht erkennen und nichts über ihn wissen können. Das entscheidende Argument wird jedoch sein, dass wir Gott nicht einmal problemlos denken und daher erst recht nichts über ihn wissen können. Und zugleich wird sich herausstellen, dass Gott selbst kein Denker sein und daher überhaupt nichts denken kann.1
Gott zu denken bedeutet, wie Holm Tetens kürzlich zu Recht betont hat, für einen rationalen Gläubigen (einen Theisten) weitaus mehr, als lediglich über eine widerspruchsfreie Idee von Gott zu verfügen.2 Es bedeutet zum Beispiel auch, das Dasein von Gott ernst zu nehmen, mit guten Gründen auf Gott zu hoffen und rational über Gott reden zu können.3 Dafür ist das Verfügen über eine widerspruchsfreie Idee von Gott lediglich eine notwendige Bedingung.
Dieser Essay soll plausibel machen, dass bereits diese notwendige Bedingung für einen akzeptablen Theismus nicht erfüllt ist. Als endlichen Wesen ist es uns Menschen nicht möglich, eine widerspruchsfreie Idee von Gott zu entwickeln. Wir können den Begriff von Gott nicht mit einem spezifischen Inhalt (einem semantischen Gehalt) ausstatten, der ohne unbegründete Spekulationen, vage Analogien und problematische Schlussfolgerungen auskommt. Und daher können wir weder rational über Gott reden noch mit guten Gründen auf Gott hoffen, noch das Dasein Gottes ernst nehmen.
Wenn wir die Frage nach dem spezifischen Inhalt, also dem semantischen Gehalt der Idee Gottes aufwerfen, so müssen wir allerdings offensichtlich berücksichtigen, dass es viele verschiedene Vorstellungen von Gott oder Göttern gibt.4 Ob Gott existiert, ob wir Gott erkennen können, ob wir auf Gott hoffen oder vernünftig über Gott reden können, hängt von dem spezifischen Gottesbegriff ab, von dem wir ausgehen. Jeanine Diller hat kürzlich eine hilfreiche Unterscheidung zwischen einem lokalen und einem globalen Atheismus vorgeschlagen. Der lokale Atheismus versucht zu zeigen, dass Gott in einem genau spezifizierten Sinn von »Gott« nicht existiert. Der globale Atheismus versucht zu zeigen, dass Gott in jedem bisher spezifizierten Sinn von »Gott« nicht existiert.5 Eine entsprechende Unterscheidung lässt sich offenbar für alle Behauptungen und Theorien über Gott treffen. Viele religionstheoretische Untersuchungen berücksichtigen dieses Problem nicht, sondern legen ohne weitere Begründung implizit irgendeinen bestimmten Gottesbegriff zugrunde. Religionstheoretische Untersuchungen sollten jedoch den Gottesbegriff, auf den sie zurückgreifen, genau und ausdrücklich spezifizieren. Diese Spezifikation muss darin bestehen, die grundlegenden Merkmale Gottes anzugeben.
Diese Forderungen gelten offensichtlich auch für einen Essay, der zeigen möchte, dass wir Gott nicht denken und daher auch nichts über ihn wissen können. Aber scheint es nicht in diesem besonderen Fall geradezu widersprüchlich zu sein, einerseits zeigen zu wollen, dass wir Gott nicht denken können, andererseits jedoch zugleich genau dafür von einer bestimmten Idee von Gott auszugehen und somit Gott denken zu müssen? Näher besehen liegt hier kein schwieriges Problem vor. Wir werden im Folgenden einen Gottesbegriff zugrunde legen, der in einflussreichen religiösen Traditionen verbreitet ist – insbesondere in den monotheistischen abrahamitischen Religionen des Judentums, Christentums und Islams. Der Essay macht geltend, dass die zentralen Merkmale, die Gott diesem Gottesbegriff zufolge besitzen soll, Gott nicht sinnvollerweise zugeschrieben werden können und dass dieser Gottesbegriff daher inhaltlich leer ist. Und daraus folgt, dass wir Gott nicht denken können. Diese Folgerung ist kulturell und politisch umso wichtiger, als die abrahamitischen Religionen weltweit den weitaus größten Einfluss besitzen und zugleich, wie neuerdings vor allem Jan Assmann im Rahmen seiner orientalistischen Studien eindrucksvoll gezeigt hat, aufgrund ihres Monotheismus zu einer Strategie der Ausgrenzung und Gewalt gegenüber Ungläubigen neigen.6 Die folgenden Überlegungen können hoffentlich dazu beitragen, diese aus historischer Einsicht gewonnenen Vorbehalte gegenüber dem abrahamitischen Monotheismus durch systematische Argumente zu ergänzen, zu unterstützen und zu verstärken.
Diese Argumentationsstrategie ist nicht neu. So wurde zum Beispiel behauptet, dass Aussagen über Gott, die ihm bestimmte Eigenschaften zusprechen, nicht überprüfbar sind – dass es keine Belege gibt, anhand derer wir Aussagen über Gott bestätigen oder widerlegen könnten. In der klassischen analytischen Philosophie (dem sogenannten logischen Empirismus) wurde behauptet, dass derartige Aussagen keinen kognitiven Sinn haben. Und folglich sind Aussagen über Gott weder wahr noch falsch.7
Ferner wurde darauf hingewiesen, dass einige der Eigenschaften, die Gott zugeschrieben werden, inkonsistent sind, das heißt nicht zugleich wahr sein können. So werden Gott zum Beispiel meist Allmacht, Allwissenheit und perfekte Güte attestiert. Bereits die antiken Sophisten und der antike Philosoph Epikur haben zu bedenken gegeben: Wenn Gott allwissend ist, so weiß er auch von den Übeln der Welt. Wenn Gott außerdem allmächtig ist, so könnte er die Übel der Welt beseitigen. Wenn er auch perfekt gut ist, so würde er die Übel der Welt beseitigen. Die Übel der Welt sind aber nicht beseitigt. Also kann Gott, wenn er allwissend ist, nicht zugleich allmächtig und perfekt gut sein.8
Und schließlich wurde darauf verwiesen, dass Gott, was immer er sonst sein mag, ein transzendentes Wesen ist. Gott ist metaphysisch transzendent, insofern er nicht der raumzeitlichen Welt angehört; er ist erkenntnistheoretisch transzendent, insofern er von Menschen mit ihren beschränkten Erkenntnisfähigkeiten nicht erkannt werden kann; er ist ethisch transzendent, insofern er nicht mit menschlichen Wertestandards beurteilt werden kann; und er ist handlungstheoretisch transzendent, insofern er absolut frei ist und den Gesetzen unserer Welt nicht unterworfen ist. Aus dieser Transzendenz ergibt sich das Problem des Anthropomorphismus: Welche Eigenschaften wir Gott auch immer zuschreiben, es wird sich um – gegebenenfalls idealisierte – menschliche Eigenschaften handeln müssen, und das bedeutet, ein transzendentes Wesen auf höchst unangemessene, ja hybride Weise in menschlicher Form zu denken. Dieses Problem hat vor allem David Hume in seinen Dialogen über natürliche Religion detailliert ausdiskutiert und gegen die traditionelle Theologie in Anschlag gebracht.9
Kurz zusammengefasst hat es bisher drei Vorbehalte gegenüber dem theistischen Versuch gegeben, Gott bestimmte Merkmale zuzuschreiben und den Begriff Gottes dadurch mit Inhalt zu füllen: Diese Zuschreibung kann erstens nicht überprüft oder getestet werden, erweist sich zweitens als inkonsistent und entspringt drittens einer Idealisierung menschlicher Eigenschaften, die einem transzendenten Wesen wie Gott nicht angemessen ist.
Der vorliegende Essay entwickelt zwar ähnliche Vorbehalte, gibt diesen Argumenten aber eine neue Wendung. Dies gilt zunächst für den zugrunde gelegten Gottesbegriff und die Auswahl seiner grundlegenden Merkmale. Der traditionelle monotheistische Gottesbegriff, von dem wir, wie bereits angedeutet, in diesem Essay ausgehen werden, wird meist in der folgenden Weise beschrieben:
»Es gibt nun verschiedene theistische Gottesbegriffe. Nach allen ist ein Gott eine Person, die unkörperlich, ewig, allwissend, allmächtig, vollkommen gut und Schöpfer der Welt ist.«10
»The object of attitudes valorized in the major religious traditions is typically regarded as maximally great. Conceptions of maximal greatness differ but theists believe that a maximally great reality must be a maximally great person or God. Theists largely agree that a maximally great person would be omnipresent, omnipotent, omniscient, and all good.«11
Die Attribute Gottes, die im Folgenden im Mittelpunkt stehen, werden in diesen Kennzeichnungen nicht explizit genannt, doch sie sind implizit in ihnen enthalten. Gott soll zum Beispiel perfekt gut sein – aber genauer soll er ein in jeder Hinsicht perfektes Wesen sein. Gott soll allwissend sein – aber dafür muss er zunächst einmal ein Denker sein und denken können. Gott soll eine Person sein – aber dafür muss Gott zunächst einmal einen Geist haben oder ein immaterieller Geist sein. Und Gott soll maximal groß sein – aber das bedeutet, dass er unendlich sein muss. Absolute Perfektion, Unendlichkeit, Geistigkeit und Denkfähigkeit sind gegenüber den zitierten traditionellen Kennzeichnungen die grundlegenderen Eigenschaften, die Gott zugeschrieben werden können – mehr noch, es sind die grundlegendsten und wichtigsten Eigenschaften, die Gott in den abrahamitischen Religionen implizit zugeschrieben werden, weil sie notwendige Bedingungen für die offiziell genannten Merkmale Gottes sind.12 Auf diese Eigenschaften wird sich der vorliegende Essay konzentrieren.
Im Blick auf diese Eigenschaften werden im vorliegenden Essay im Wesentlichen zwei Argumente entwickelt:
(A)Das Unendlichkeitsargument: Wenn Gott absolut perfekt ist, muss er aktual unendlich sein; aber aktuale Unendlichkeit ist paradox, und daher können wir Menschen sie nicht denken.
(B)Das Geist-Argument: Wenn Gott aktual unendlich und maximal groß ist, dann werden die Zuschreibungen von Geist und Denkfähigkeit inkonsistent, so dass wir Gott weder als Geist noch als Denker denken können.
Diese Art der Argumentation deutet bereits an, dass der vorliegende Essay nicht einfach einem oder mehreren der drei – oben skizzierten – verschiedenen Einwände gegen die Idee Gottes folgt, sondern sie vielmehr in einer bestimmten Weise kombiniert und neu begründet.
Nach Argument (A) wird zum Beispiel aus einem der grundlegenden Merkmale Gottes gefolgert, dass ein weiteres dieser grundlegenden Merkmale spezifiziert werden muss, und dann wird gezeigt, dass dieses Merkmal von endlichen Wesen nicht gedacht werden kann. Dieser Nachweis stützt sich seinerseits auf Beweise und Einsichten der modernen Mathematik.
Ähnlich wird in Argument (B) aus zwei Merkmalen Gottes die Schlussfolgerung gezogen, dass zwei weitere dieser grundlegenden Merkmale spezifiziert werden müssen, nämlich dass Gott ein perfekt funktionierender Geist sein muss und nur Wahres denken kann. Und dann wird gezeigt, dass diese Merkmale mit den elementarsten Eigenschaften des Geistes und des Denkens unvereinbar sind, so dass wir auch diese Merkmale nicht denken können. Dieser Nachweis stützt sich seinerseits ebenfalls auf eine bestimmte moderne Theorie – in diesem Fall auf die moderne Theorie des Geistes.13 Die Einwände gegenüber dem Theismus werden demnach im Folgenden auf solide und anerkannte Theorien gestützt, die nicht der Religionstheorie oder der Lehnstuhl-Philosophie angehören. Darin besteht im Kern die neue Antwort auf die Frage, warum wir nichts über Gott wissen können, die in diesem Essay präsentiert wird.
Kürzlich konnte man in Spiegel-Online die Schlagzeile lesen: »Gläubige oder Atheisten. Wer den Tod am meisten fürchtet … Atheisten scheinen genauso furchtlos zu sein wie Tiefgläubige.«14 Und im Focus wurde ein Artikel veröffentlicht unter dem Titel »Würden Atheisten oder Gläubige eher einen Mord begehen? … Will M. Gervais von der University of Kentucky und seine Kollegen befragten 3256 Menschen in 13 Ländern.«15 Derartige Zitate erwecken den Eindruck, dass die Alternative Theismus versus Atheismus der Erörterung vieler religiöser Fragen implizit zugrunde liegt.16 Das ist nicht weiter verwunderlich, denn die Frage nach der Existenz Gottes stand schon immer im Zentrum rationaler Theologie, und
»to one of the most important metaphysical questions in philosophy of religion, namely, »Is there a God?« there are only two possible direct answers…: »yes«, which is theism, and »no«, which is atheism. Answers like »I don’t know«, »no one knows«, »I don’t care«…, or »the question ist meaningless« are not direct answers to this question.«17
Doch sollte sich herausstellen, dass unsere Idee von Gott logisch widersprüchlich ist, so kann diese Idee keinen spezifischen Inhalt haben. Der Grund dafür ist, dass wir aus einem logischen Widerspruch Beliebiges logisch ableiten können. Wir könnten einem widersprüchlich charakterisierten Gott also beliebige Eigenschaften und somit nichts Spezifisches zuschreiben. In diesem Fall wären weder der Theismus noch der Atheismus akzeptabel. Denn beide Positionen müssen implizit einen Gottesbegriff mit deutlichem und vertretbarem Inhalt voraussetzen. Andernfalls kann man weder annehmen oder gar beweisen, dass Gott existiert, wie der Theismus behauptet, noch annehmen oder gar beweisen, dass Gott nicht existiert, wie der Atheismus geltend macht.18 Vielmehr wäre die Konsequenz, dass wir nichts über Gott wissen können. Diese These ist eine Version des religiösen Agnostizismus – eine Position jenseits von Theismus und Atheismus.19
Der religiöse Agnostizismus wird heute meist in einer der folgenden Formen dargestellt:
(1)Die Behauptung, dass Gott existiert, ist weder wahr noch falsch.
(2)Weder die Behauptung, dass Gott existiert, noch die Behauptung, dass Gott nicht existiert, kann rational begründet oder durch empirische Evidenz bestätigt werden.
(3)Weder der Theismus (der behauptet, dass Gott existiert) noch der Atheismus (der behauptet, dass Gott nicht existiert) kann rational begründet oder durch empirische Evidenz bestätigt werden.
(4)Die Behauptung, dass Gott bestimmte Eigenschaften hat, ist weder wahr noch falsch.
(5)Die Behauptung, dass Gott bestimmte Eigenschaften hat, kann weder rational begründet noch durch empirische Evidenz bestätigt werden.
(6)Wir können über Gott oder Götter nichts wissen, das heißt keine wahre begründete Meinung über Gott oder Götter entwickeln.20
Der vorliegende Essay versteht sich als Beitrag zum religiösen Agnostizismus,21 allerdings in der oben skizzierten Form in Gestalt der Argumente (A) und (B).
Aus methodologischer Sicht operiert dieser Essay im Geiste der rationalen Theologie. Das heißt im Wesentlichen, dass von fünf Prinzipien ausgegangen wird:
(P1)
Rationalismus: Religiöse Thesen müssen als begründungspflichtig betrachtet werden. Die Berufung auf Autoritäten oder sogenannte Offenbarungsschriften zählt nicht als Begründung, es sei denn, diese Personen oder Autoritäten haben sich der Begründungspflicht gestellt.
(P2)
Wissenschaftskompatibilismus: Religiöse und theologische Annahmen sollten den jeweils besten wissenschaftlichen Theorien nicht widersprechen.
(P3)
Erkenntnistheoretischer Minimalismus: Religiöse Annahmen sollten die Grenzen der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten nicht überschreiten. Diese Grenzen sind im Falle von Aussagen über die Welt und ihre Teile unter anderem durch Wahrnehmungen und empirische Erfahrungen bestimmt.
(P4)
Anti-Dogmatismus: Religiöse und theologische Annahmen stehen ebenso wie wissenschaftliche Theorien grundsätzlich unter einem fallibilistischen Vorbehalt, d. h. so gut sie zu irgendeinem Zeitpunkt auch begründet zu sein scheinen, es kann nie ausgeschlossen werden, dass sie sich doch noch als falsch erweisen.
(P5)
Terminologische Klarheit: Die religionstheoretische Sprache sollte so klar, explizit und transparent wie möglich sein. Vage Analogien oder Metaphern reichen nicht aus.22
Die Position des Empirismus, die in (P3) als Teil der rationalen Theologie betrachtet wird, ist bis heute umstritten. Allerdings wurde der Empirismus von den beiden einflussreichsten religiösen Agnostikern, David Hume und Immanuel Kant, ebenfalls für die rationale Theologie vorausgesetzt (wenn auch in unterschiedlichen Versionen).23 Gegner des Empirismus haben stets auf apriorische Erkenntnisse hingewiesen und dabei vorzugsweise auf Logik, Mathematik und begriffliches Wissen verwiesen. Diese Erkenntnisform beruht jedoch letztlich auf semantischem und insbesondere begrifflichem Wissen. Zu den wichtigsten Dogmen der klassischen analytischen Philosophie, die bis heute einflussreich geblieben ist, gehörte zum Beispiel die Auffassung, dass Philosophie, Logik und Mathematik nicht empirisch, sondern begrifflich arbeiten.
In den letzten Jahrzehnten ist jedoch unter anderem von Donald Davidson, Ruth Millikan und Hilary Putnam, aber auch in der kognitiven Psychologie, eine externalistische Semantik entwickelt worden, die heute als die avancierteste wissenschaftliche Semantik gelten kann. Dieser Semantik zufolge formieren sich die semantischen Gehalte unserer Gedanken und Äußerungen stets im Rahmen einer Interaktion von geistigen Wesen mit ihrer Umwelt und der entsprechenden evolutionären Lerngeschichte, die im heute vielbeschworenen Kreislauf von Wahrnehmung, Bewertung und adaptiver Reaktion ihre elementarste und offenbar empirische Grundlage hat. Die moderne externalistische Semantik ist daher eine zentrale neue Stütze des Empirismus.24
Der religiöse Agnostizismus hat außer unter Spezialisten im gegenwärtigen religiösen Diskurs kaum noch eine wahrnehmbare Stimme. Daher ist es wichtig und hilfreich, darauf hinzuweisen, dass diese Position im Sinne der Thesen (1) – (6) auf eine reiche historische Tradition zurückblicken kann, die von einigen der einflussreichsten europäischen Denker getragen wurde (Kapitel 1). Außerdem muss, wie bereits bemerkt, genauer bestimmt werden, von welchem Gottesbegriff der religiösen Tradition die folgende Argumentation ausgeht (Kapitel 2). Damit sind die wichtigsten religionshistorischen Grundlagen für die systematische Argumentation der folgenden Kapitel gelegt.
Wissen über Gott ist mehr als eine Meinung über Gott, aber auch mehr als eine wahre Meinung über Gott. Vielleicht können wir niemals endgültig wissen, ob wir etwas wissen, doch in jedem Fall setzt das Wissen einer Sache voraus, dass wir unsere Meinung über diese Sache begründen und rechtfertigen können. Die Bemühung um Wissen erfordert unsere Bereitschaft, in das diskursive Spiel des Einforderns und Gebens von Gründen einzusteigen, das heißt im logischen Raum der Gründe zu operieren.1 Begründen und Rechtfertigen sind primär rationale Aktivitäten und nehmen oft die Form begründeter Argumente an. Unsere Bemühung um Wissen setzt daher auch die Bereitschaft voraus, sich auf anerkannte Standards von Rationalität einzulassen.2 Die höchste Form dieser Bemühung um Wissen ist die Wissenschaft. Die rationale Theologie bemüht sich genau in diesem Sinn um Wissen und beansprucht daher, eine Wissenschaft zu sein.
Diese Konzeption von Wissen und Wissenschaft scheint allerdings auf Beobachtungssätze (mit denen wir Wahrnehmungen beschreiben) und auf Wahrnehmungen nicht zuzutreffen, weil sich weder Wahrnehmungen noch Beobachtungssätze aus irgendwelchen Prämissen rational begründen lassen. Zur Lösung dieses Problem lässt sich jedoch die Verlässlichkeitstheorie einsetzen: Wahrnehmungen sind dann gerechtfertigt, wenn sie verlässlich sind, das heißt wenn sie auf richtige Art und Weise zustande gekommen sind, also auf eine Art und Weise, die in der Evolution unseres Wahrnehmungsapparates millionenfach positiv getestet worden ist.3
Der religiöse Agnostizismus ist folglich die Auffassung, dass Gott kein Gegenstand des Wissens im Sinne wahrer gerechtfertigter oder als verlässlich erwiesener Wahrnehmungen sein kann. Wenn man aus dieser Perspektive auf die Geschichte der abrahamitischen Theologie und der Religionsphilosophie schaut, dann lässt sich entdecken, dass der religiöse Agnostizismus auf eine lange und reiche Tradition zurückblicken kann.
Die frühen Christen im Zeitraum bis ca. 300 n. Chr. haben meist nicht explizit die These vertreten, dass es kein Wissen über Gott geben kann. Doch als sich die ersten antiken Philosophen, namentlich Kelsos, Porphyrios und Kaiser Julian Apostata, ernsthaft mit dem Christentum beschäftigten, stellten sie schockiert fest, dass die Christen den Glauben befahlen sowie unbedingten Gehorsam gegenüber dem Glauben verlangten, ohne sich um die besten Argumente zu kümmern. Die frühen Christen propagierten einen vernunftlosen, irrationalen, ungeprüften Glauben. Sie verboten sogar eine argumentative Prüfung des Glaubens und ächteten jeden Zweifel. Und sie hielten jeden, der dem christlichen Glauben nicht ungeprüft zustimmte, für schuldig und sündig. Die antiken Kommentatoren haben ferner darauf hingewiesen, dass auch Jesus im Neuen Testament an keiner Stelle argumentiert, sondern lediglich droht, schimpft und lockt. Und das soll, so fragen sie, ein Sohn Gottes sein, des allervernünftigsten Wesens?4 Die frühen Christen haben also im Rahmen ihres Glaubens nicht im logischen Raum der Gründe operiert. Sie hielten es zumindest nicht für nötig, sondern im Gegenteil für kontraproduktiv, Gott zum Gegenstand des Wissens zu machen. Diese Auffassung wurde später Fideismus genannt.5
Rund tausend Jahre später hatten die Christen jedoch die Herausforderungen der rationalen Theologie weitgehend angenommen, wie zum Beispiel die zahlreichen Gottesbeweise zeigen. Hier sind die drei wichtigsten Varianten (P1, P2 etc.: Prämissen; K: Konklusion):
Kausaler Beweis:
P1
Es gibt verursachte Dinge.
P2
Nichts ist Ursache seiner selbst.
P3
Es gibt keine unendliche Reihe von Ursachen.
K
Es gibt eine erste Ursache von Allem (= Gott).
Design-Beweis:
P1
Die meisten Dinge in der Welt weisen eine kunstvolle Ordnung und Zweckmäßigkeit (ein Design) auf.
P2
Jedes kunstvoll geordnete und zweckmäßige Werk hat einen Schöpfer.
K
Es gibt einen Schöpfer der Welt mit Fähigkeiten, eine überwiegend kunstvoll geordnete und zweckmäßige Welt zu erschaffen und zu formen (= Gott).
Begrifflicher (semantischer) Beweis:
P1
Wir können uns ein vollkommenstes Wesen denken.
P2
Ein Wesen, das nicht existiert, wäre nicht das vollkommenste Wesen.
P3
Der Gedanke, dass das vollkommenste Wesen nicht existiert, ist daher widersprüchlich.
P4
Wir dürfen nichts Widersprüchliches annehmen, denn aus Widersprüchlichem folgt Beliebiges.
K
Es gibt ein vollkommenstes Wesen, zu dessen Essenz die Existenz gehört (= Gott).
Es waren vor allem die beiden Dominikaner-Mönche Albertus Magnus (1193–1280) und Thomas von Aquino (1227–1274), die es sich zum Ziel setzten, den christlichen Glauben mit dem aristotelischen Weltbild zusammenzuführen und auf diese Weise auch Thesen über Gott mit einem Wissensanspruch auszustatten.
Es ist mehr als aufschlussreich, wie diese Synthese genauer aussah. Es handelte sich nämlich eher um mühsame und lückenhafte