Was der See birgt - Lenz Koppelstätter - E-Book

Was der See birgt E-Book

Lenz Koppelstätter

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Beschreibung

Dubiose Geschäfte, ein elitärer Geheimbund und eine junge Lokalreporterin, die in ihrer persönlichsten Story recherchiert: »Was der See birgt« ist der fulminante Auftakt einer neuen Reihe und ein extrem spannendes Lesevergnügen. Am Ufer des Gardasees blinken Blaulichter. Im Jachtafen von Riva wurde ein Toter gefunden. Gianna Pitti, Polizeireporterin der Lokalzeitung und der wohl größte Vasco-Rossi-Fan auf diesem Planeten, ist immer zur Stelle, wenn am See etwas passiert. Mit Entsetzen stellt sie fest, dass sie das Opfer kannte. Mehr noch: Sie war eine der Letzten, die den jungen Mann lebend gesehen hat. Während die Polizei im Dunkeln tappt, beginnt die Journalistin zu recherchieren. Unterstützung bekommt sie von ihrem schrulligen Onkel Francesco und der Chefredakteurin Elvira. Die Spuren führen sie zur ehemaligen Residenz des Schriftstellers Gabriele D'Annunzio, in der es nicht mit rechten Dingen zuzugehen scheint. Auf dem prunkvollen Anwesen, das heute ein Museum ist, werden geheimnisvolle Feste ausgerichtet. Je tiefer die drei graben, desto mehr Rätsel tauchen auf: Was hat es mit dem goldenen Anhänger auf sich, der im Rachen der Leiche steckte? Und wie hängt das alles mit Giannas Vater zusammen, dem legendären Investigativjournalisten, der vor einem Jahr spurlos verschwand? Die Suche nach Antworten bringt das Trio an seine Grenzen.

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Lenz Koppelstätter

Was der See birgt

Ein Fall für Gianna Pitti

Kurzübersicht

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Titelseite

Über Lenz Koppelstätter

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Über Lenz Koppelstätter

Lenz Koppelstätter, Jahrgang 1982, ist in Südtirol geboren und aufgewachsen. Er arbeitet als Medienentwickler und als Reporter für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung und Salon. 2015 startete bei Kiepenheuer & Witsch die Krimireihe um den Südtiroler Commissario Grauner, die ein großer Erfolg bei Leser:innen und Presse ist.

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Über dieses Buch

Dubiose Geschäfte, ein elitärer Geheimbund und eine junge Lokalreporterin, die in ihrer persönlichsten Story recherchiert: »Was der See birgt« ist der fulminante Auftakt einer neuen Reihe und ein extrem spannendes Lesevergnügen.

 

Am Ufer des Gardasees blinken Blaulichter. Im Jachtafen von Riva wurde ein Toter gefunden. Gianna Pitti, Polizeireporterin der Lokalzeitung und der wohl größte Vasco-Rossi-Fan auf diesem Planeten, ist immer zur Stelle, wenn am See etwas passiert. Mit Entsetzen stellt sie fest, dass sie das Opfer kannte. Mehr noch: Sie war eine der Letzten, die den jungen Mann lebend gesehen hat. Während die Polizei im Dunkeln tappt, beginnt die Journalistin zu recherchieren. Unterstützung bekommt sie von ihrem schrulligen Onkel Francesco und der Chefredakteurin Elvira. Die Spuren führen sie zur ehemaligen Residenz des Schriftstellers Gabriele D’Annunzio, in der es nicht mit rechten Dingen zuzugehen scheint. Auf dem prunkvollen Anwesen, das heute ein Museum ist, werden geheimnisvolle Feste ausgerichtet. Je tiefer die drei graben, desto mehr Rätsel tauchen auf: Was hat es mit dem goldenen Anhänger auf sich, der im Rachen der Leiche steckte? Und wie hängt das alles mit Giannas Vater zusammen, dem legendären Investigativjournalisten, der vor einem Jahr spurlos verschwand? Die Suche nach Antworten bringt das Trio an seine Grenzen.

 

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Inhaltsverzeichnis

Hinweis zum Buch

Brief an die Redaktion des Messaggero di Riva

TAG 1 

Gianna

Der Marchese

Gianna

Elvira

Gianna

Elvira

Gianna

Elvira

Gianna

Der Marchese

Gianna

Elvira

Gianna

Elvira

Gianna

Der Marchese

Gianna

Der Marchese

Gianna

Der Marchese

TAG 2 

Gianna

Elvira

Der Marchese

Gianna

Elvira

Gianna

Elvira

Der Marchese

Elvira

Gianna

Elvira

Gianna

Der Marchese

Elvira

Gianna

Der Marchese

Elvira

RÄTSELSEITE

TAG 3 

Gianna

Elvira

Gianna

Elvira

Gianna

Der Marchese

Gianna

Elvira

Gianna

Der Marchese

Elvira

Der Marchese

Gianna

Zitatnachweise

Dank

Lösung des Rätsels

Personen und Handlungen dieses Romans sind frei erfunden.

In Bezug auf Ortsbeschreibungen nimmt sich der Autor Freiheiten heraus.

An die Redaktion des Messaggero di Riva,

 

Ich wende mich an Sie, liebe Zeitungsmacher, in der Hoffnung, Gehör zu finden. Die Gerüchte sind ja nicht mehr wegzuleugnen! Doch unser Herr Bürgermeister Paolo Bolli schweigt wie immer beharrlich. Dieser Schönwetter-Politiker! Es geht – wie könnte es anders sein – um das Verscherbeln des Tafelsilbers, des baulichen Erbes unserer schönen, geliebten Stadt. Nichts macht uns Menschen in Riva derzeit wütender! Jetzt ist also die Rilke-Villa dran! Ihr ehemaliger, ehrwürdiger Redaktionssitz, die Perle von Riva! Formvollendete Schönheit, ein Schatz! Von den Stadtoberen verramscht! Man hört, Scheichs aus Katar wollen sie abreißen und einen ******wellness-Tempel für Superreiche errichten. Das hat uns gerade noch gefehlt! Und – mit Verlaub – was machen Sie? Sie, meine nicht mehr ganz so geschätzten Redakteurinnen und Redakteure, die vermeintlichen Ritter der Aufklärung? Nichts! Wir wollen nicht, dass unser Riva zugrunde geht. Raffen Sie sich auf, gehen Sie dieser Sache auf den Grund, denn sie stinkt. Es tut mir und meiner Frau bei jedem abendlichen Spaziergang an der Seepromenade im Herzen weh, wenn wir daran denken, dass es die Rilke-Villa bald nicht mehr geben wird.

 

Mit wütenden Grüßen,

ein (vielleicht demnächst nicht mehr so) treuer Leser

TAG 1 

Gianna

Stürme zogen auf. Der eine in Gianna Pittis Kopf. Bilder der vergangenen Nacht, kurz schloss sie die Augen, lehnte sich zurück. Der andere über dem See. Er hatte sich über der Pianura Padana zusammengebraut, sich nach Norden geschoben.

Die schwarzen Wolken hingen schwer über dem Wasser, schienen jede Sekunde platzen zu wollen.

Ein erster Blitz, gefolgt von dunklem Donnergrollen. Der nächste Blitz verästelte sich. Wie Gianna es liebte, dieses Weltuntergangswetter! Sie saß, wie beinahe jeden Morgen, vor dem kleinen Café in den Felsen über Torbole, am Nordufer des Sees. Bodentiefe Fenster, schwere Thekenhocker, ein paar weiße Plastikstühle auf der Terrasse. Noch geschlossene Sonnenschirme.

 

Seit Jahren folgte die junge Polizeireporterin in diesen kostbaren Stunden vor Arbeitsbeginn einer immer gleichen Routine. Das gab ihr ein bisschen Halt. Struktur. Beides brauchte sie unbedingt. Zumindest morgens, von sechs bis zehn, denn sobald sie die Redaktion des Messaggero di Riva betrat, hatte sie nicht mehr in der Hand, was geschah. Wecker um sechs, raus aus dem Bett, dreiunddreißig Liegestütze auf dem Teppich, eiskalt duschen, dabei langsam ebenso bis dreiunddreißig zählen. Dann fütterte sie Spiaggia und Lago – ein erfreulicher neuer Teil der Routine. Sie liebte die Katzen ihres Onkels. Seit drei Wochen lebte sie mit ihnen zusammen. Und ihm. Weil in ihrer kleinen Altstadtwohnung ein Wasserrohr gebrochen war. Der Marchese hatte ihr glücklicherweise gleich angeboten, zu ihm zu ziehen. Sonst hätte sie ihre Mutter, Carla, fragen müssen. Unvorstellbar.

Wieder zuckte ein Blitz über den See. Gianna zog sich die Jacke fester um die Schultern und sah auf die Uhr. Sie hatte noch etwas Zeit. Die Redaktionskonferenz begann um elf Uhr. Dort wurden die Aufgaben verteilt. Der eine eilte im Anschluss zur Pressekonferenz des Bürgermeisters, eine andere fuhr zu einem neu eröffneten Restaurant, um eine nette Geschichte darüber zu verfassen, ein dritter interviewte am Telefon den erfolgreichen Nachwuchssurfer aus Torbole, der sich mit der Nationalmannschaft auf Teneriffa auf die anstehende WM vorbereitete. 

Die Praktikanten wurden runter ans Ufer geschickt, Straßenumfrage. Die Lieblingseissorte? Der Sommerhit? Kommt der neue Klettergarten in Arco gut an? Die beste Pizza am See? Lokaltageszeitungsalltag.

 

»Noch einen, Gianna?«, riss sie eine raue Stimme aus ihren Gedanken. Maurizio Rocchi war von hinten an sie herangetreten und zeigte auf die leere Espressotasse. Ihr zweiter bereits. 

Wie jeden Morgen hatte sie sich auf ihre Vespa gesetzt, Riva und Torbole hinter sich gelassen und war die steile, kerzengerade Straße in Richtung Passo San Giovanni hochgefahren. Bis zu der schmalen, sandigen Parkbucht, in der Maurizio das kleine Café betrieb. Er hatte gerade den Laden aufgesperrt. Schon länger vermutete sie, dass er nur ihretwegen so früh kam.

 

»Was steht heute an, Süße?«, fragte Maurizio, dieser aus der Zeit gefallene, in die Jahre gekommene Charmeur mit listigen Augen und polierter Glatze. Er stellte die leere Tasse auf das Tablett in seiner Hand.

Die Frage überraschte sie ein wenig. In den vergangenen Wochen hatte er sich nicht wie sonst nach ihrer Arbeit erkundigt. Sondern ihr sein Leid geklagt. Seine Freundin hatte ihn verlassen. Endgültig. Nachdem sie ihn schon wieder mit einer anderen erwischt hatte.

Gianna hob die Schultern. »Hoffentlich nichts«, sagte sie und schmunzelte.

»Du hast es gut, du wirst auch bezahlt, wenn nichts passiert«, sagte er lachend und fuhr sich über das dünn rasierte Oberlippenbärtchen. »Wenn hier mal der Trubel ausbleibt, dann gibt’s kein Geld.«

»Du Ärmster!«, sagte die Journalistin und schnitt eine Grimasse.

Sie mochte den stets etwas unruhig wirkenden Mann. Er erzählte ihr manchmal von den Jahren, bevor er die Bar hier oben übernommen hatte. Von damals, als er in Paris als Straßenmusiker gelebt hatte. Gitarre. Blowin’ in the wind. Von seiner Zeit als Söldner. Im Kosovo, später im Irak. Er hatte in Dubai in einem Hotelbistro gearbeitet, in Südafrika nach Gold geschürft. Es wurde viel geredet in den Städtchen am Seeufer. Man munkelte, er sei mit einem ordentlichen Batzen Geld aus Afrika zurückgekommen, besitze mehrere Apartments in Torbole. Gianna wusste nicht, was an den Gerüchten dran war. Reich wirkte er nicht: Er trug stets die immergleichen Ledersandalen, eine abgewetzte Jeans, ein weißes Hemd, darüber ein silbernes Gilet.

Es war ihr auch egal. Die Stürme, jene im Kopf, jener über dem See, waren ihr im Moment spannend genug.

»Nein, zwei caffè müssen reichen«, sagte sie und versank in Gedanken.

 

Später, in der Konferenz, so hoffte sie, würde die Chefredakteurin Elvira Sondrini als Letztes auf sie zeigen. Gianna würde sich dann räuspern, mit gewichtiger Stimme sagen, sie sei da ja gerade an dieser einen großen Sache dran, diese Sache, die es in sich habe. Sie würde zwei, drei Schlagworte in den Raum werfen.

… ungeklärtes Familiendrama, viele Ungereimtheiten, zuverlässige Quelle aus Polizeikreisen …

Sondrini würde nicken, sie für die Recherche von all ihren anderen Aufgaben freistellen. Die anderen Redakteure würden die Augen verdrehen, weil sie Gianna durchschauten, weil es Mehrarbeit für sie bedeutete, weil die Seiten ja trotzdem gefüllt werden mussten.

 

Gianna ruckelte sich auf dem Plastikstuhl vor Maurizios Bar in eine gemütlichere, kauernde Position, steckte sich die In-Ear-Kopfhörer in die Ohren, machte Vasco Rossi auf Spotify an, Buoni o cattivi, das Livealbum. Vita spericolata, volle Lautstärke. Leises Mitsummen.

Ich will ein waghalsiges Leben führen, eines jener Leben, einfach so dahingerotzt …

Gianna wollte kein allzu waghalsiges Leben führen. Nein, nein, es reichte ihr, wenn sie berufsbedingt mit den – meist tragischen – Enden der waghalsigen Leben anderer zu tun hatte.

Ob Filippo auch Vasco liebte? Sie hatte ihn gestern gar nicht danach gefragt. So vieles hatte sie ihn nicht gefragt. Sie hatten viel geschwiegen. Ohne dass es unangenehm war. Das war doch ein gutes Zeichen, oder?

 

Sie beobachtete wieder den herannahenden Sturm. Die steile Straße neben der Bar war leer. Jetzt, am frühen Morgen, kamen noch keine Besucher an den See. 

Etwas abseits stand nur ein einziges weiteres Fahrzeug. Ein neuer VW-Van. Schwarz. Gemietet. Ein »I Lake Garda«-Aufkleber prangte auf der Tür neben dem Logo der Autovermietung.

Ein Mann stieg aus, biss in ein Nutellabrot, in der anderen Hand hielt er eine Kaffeetasse. Gut beleibt, grauer Dreitagebart, schwarze Hornbrille. Hinter ihm tauchte eine Frau auf, wasserstoffblond gefärbtes Haar.

Holländer, tippte Gianna. Beide etwa Mitte fünfzig. Amüsiert betrachtete sie das Paar.

Sie hatten einen Tisch und Stühle vor das Gefährt gestellt. Illegalerweise, denn auf dem kleinen Sandparkplatz war Wildcampen, wie überall am See, verboten.

Gianna konnte die beiden verstehen. Dieser Ausblick! Und Maurizio war viel zu gutmütig, um wegen so einer Lappalie die Carabinieri zu rufen. 

Die Frau bückte sich nun, um den Teppich unter dem Campingtisch zurechtzurücken, ihr T-Shirt rutschte hoch. Zum Vorschein kam eine verwelkte, verwaschene Version eines einst stolzen Arschgeweihs.

Tja, dachte Gianna, da konnte man nur eines machen. Es mit Würde tragen. Sie lächelte zur Camperin hinüber, doch die schien an ihr vorbei in Richtung See zu starren, sie gar nicht zu bemerken.

 

Gianna musterte nun eines ihrer eigenen Tattoos. Ein zwinkernder Smiley auf der Innenseite ihres Unterarms. Sie musste schmunzeln. Sie dankte dem lieben Gott nun, dass sie sich damals, als sie bei einem feucht-fröhlichen Mädelsabend diese blöde Wette verloren hatte, nicht für ein Arschgeweih entschieden hatte. Wie hatte sie sich so irren können. Sie war sich hundertprozentig sicher gewesen, Vascos legendäre Auftritte beim Festival von Sanremo wären 1981 und 1982 gewesen, nicht 1982 und 1983.

 

Der See glitzerte in unendlich vielen Schattierungen, die Blitze zuckten nun immer häufiger darüber hinweg. Im Augenwinkel nahm Gianna ein dunkelblaues Blinken wahr. Vor dem Hügel am Ufer, dem Monte Brione, der wie der Rücken eines Drachens aussah und hinter dem sich ihr Heimatort Riva versteckte, ja, da blinkte ein Blaulicht im Wasser. Noch eins. Zwei Polizeiboote. Sie bewegten sich schnell auf Riva und den Monte zu, dann verschwanden sie dahinter. Ein Unfall? Nein. Dann würden nicht gleich Boote anrücken. Zwei schon gar nicht. Oder?

»Da kommt Arbeit auf dich zu.«

Wieder war sie zusammengezuckt. Wieder hatte sie Maurizio nicht herantreten hören.

»Arbeit, ja, sieht so aus«, sagte sie, legte einen Fünfeuroschein auf den Tisch und drückte dem Mann ein Küsschen auf die Wange. »Danke für das Video von vorgestern, es hat mir die Mittagspause versüßt.«

Manchmal schickte er ihr WhatsApp-Nachrichten mit Vasco-Rossi-Material, das er auf YouTube fand. Alte Konzertmitschnitte, Interviews. Diesmal war es die Coverversion eines schottisch-italienischen Dudelsackspielers von Siamo soli gewesen.

»Pass auf dich auf, Kleines«, rief er ihr hinterher.

Alte Schule. Ach, Maurizio, er konnte nicht anders. Und sie konnte und wollte ihm nicht böse sein. Auf der Vespa holte Gianna ihr zerkratztes Smartphone aus der Jackentasche. Keine Nachricht von Filippo. Dafür zwei Anrufe aus der Redaktion. Bis zehn Uhr hatte sie das Smartphone auf stumm gestellt. Immer. Sie ließ den Blick ein letztes Mal über den See schweifen. Die beiden Boote mussten im Jachthafen von Riva angelegt haben. 

Blaulicht, das bedeutete, es würde kein langweiliger Tag werden. Das Display leuchtete auf. Dritter Anruf aus der Redaktion. Sie hob ab. 

»Gianna …« 

»Ich weiß. Ich bin unterwegs. Porca miseria.«

Der Marchese

Francesco Marchese Pitti-Sanbaldi hasste es, wenn der Knoten seiner abgewetzten Krawatten nicht so saß, wie er es haben wollte. Perfekt lässig. Mit Grübchen natürlich. Ohne Grübchen am Knoten konnte er dem Tag nicht entgegentreten. Er hatte heute sieben Anläufe gebraucht. Negativrekord des dritten Quartals. Er war kurz davor gewesen, es aufzugeben.

Doch er konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, wann er zuletzt ohne Krawatte aus dem Haus gegangen war.

Damals in den Siebzigern vielleicht, als plötzlich alle in zu weiten Klamotten, ausgelatschten Sandalen und langen Haaren die Promenade, seine geliebte Seepromenade, belagert hatten. Das eine oder andere Mal hatte er in dieser Zeit sogar den obersten Hemdknopf offen gelassen. Er war ja auch noch jung gewesen, jung und prinzipienlos.

Nein, er musste keine Krawatte tragen, niemand zwang ihn dazu. Er hatte in Erfahrung gebracht, dass es heutzutage Menschen gab, die in Birkenstocks arbeiten gingen. Das würde ihm niemals passieren. Konnte ihm gar nicht passieren. Weil er nicht arbeitete.

Das mit dem Arbeiten, ja, auch das hatte er mal ausprobiert. Für eine kurze Zeit. Eine sehr kurze Zeit.

Er hatte versucht, das Erbe seiner Familie zu verwalten. Wer hätte das denn sonst machen sollen? Sein jüngerer Bruder? Pah! Der hatte nur seine Journalistenkarriere im Kopf gehabt. Nun war er verschwunden, tot wahrscheinlich, seit über einem Jahr schon.

Francesco Marchese Pitti-Sanbaldi hatte sich damals – im heißen Sommer 1985 musste es gewesen sein, als Arbeit plötzlich und irrigerweise als cool angesehen wurde – in einem der Zimmer im Obergeschoss der Villa ein kleines Büro eingerichtet. Zuvor hatte er drei Monate lang die Edel-Flohmärkte Norditaliens von Padua über Brescia bis Pavia abgesucht, um geeignetes Nussholzmobiliar, vorzugsweise aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, zu finden. Schließlich wollte er nicht in einem Raum arbeiten, der die Atmosphäre einer Möbelhaus-Filiale verströmte.

Als erste Amtshandlung hatte er Fredo Serra, den treuen Wirtschaftsberater seiner Eltern, zu sich gebeten. Gemeinsam waren sie die Unterlagen der verbliebenen Grundstücke und Bankkonten der Familie durchgegangen.

Die Pitti-Sanbaldis, das musste man wissen, entstammten einem alten Adelsgeschlecht. Seit zwölf Generationen lebten sie am Nordufer des Sees. Einst, zur Habsburgerzeit, waren sie stolze Besitzer üppiger Olivenhaine an den Hängen des Monte Baldo, riesiger Maisplantagen im Hinterland von Riva und zahlloser Zitronengewächshäuser in und um Limone gewesen.

Heute war ihnen nicht viel davon geblieben, manch einer zählte die Pittis sogar schon zum verarmten Adel. Aber das war natürlich etwas übertrieben. Denn da gab es ja noch die Villa, zugegeben etwas heruntergekommen, den klapprigen Porsche davor, ein verpachtetes Hotel zwischen Fels und Wasser bei Torri del Benaco, eine verpachtete Limonaia bei Maderno, zwei Wohnappartements in Torbole, drei Wohnungen in Mailand – und noch etwas Geld auf stets zugänglichen Schweizer Konten.

 

Der Marchese hatte sich damals die Limonaia ausgesucht. Ja, das sollte sein erstes Arbeitsprojekt werden. Er wollte dem Pächter kündigen, selbst Hand anlegen. Limoncello herstellen, den besten der Welt, den teuersten der Welt, den Limoncello Pitti-Sanbaldi est. 1985. Er sollte nur in den exklusivsten Edelboutiquen von Mailand, New York und Shanghai erhältlich sein. Eine glänzende Idee, hatte er an jenem Montagnachmittag gedacht und entschieden, seinen ersten Arbeitstag zu beenden. Am Dienstag war ihm dann eingefallen, dass er Limoncello nicht leiden konnte. Er trank entweder Wasser oder die besten Riserve aus den Weinhängen des piemontesischen Barolo und Barbaresco. Dieses süße Gesöff, das ein bisschen nach Putzmittel schmeckte, das trank er nie.

Er war in eine kleine Vormittagsdepression gefallen, hatte Serra, den Wirtschaftsberater, nach Hause geschickt, einen Spaziergang auf der Promenade gemacht und wieder Frieden mit seinem Schicksal geschlossen, Privatier zu sein.

Er hatte Serra geschwind wieder angerufen, ihm mitgeteilt, alles bliebe beim Alten, er solle einfach weitermachen wie bisher: das Kapital konservativ verwalten, etwas verkaufen, wenn nötig, das Schwinden möglichst in die Länge ziehen; für ihn, seinen Bruder und eventuelle direkte Nachkommen sollte es noch reichen. Und wenn alles weg war, dann war alles weg. Konnte man nichts machen.

Die Kunst, langsam und stilvoll zu verarmen, hatte der Marchese Pitti-Sanbaldi von da an zur Perfektion getrieben. Seinem kleinen Bruder war das Familienerbe egal gewesen, er war bald darauf nach Mailand gezogen und hatte sich als Journalist einen Namen gemacht. Oh, geliebter Arnaldo, warum hast du nur nie auf mich gehört? Er straffte die Schultern und verließ schnellen Schrittes das Bad.

Ja, er hatte wieder einmal viel zu viel Zeit vor dem Spiegel vertrödelt. Den Schnauzbart gestutzt, die Haare nach hinten gekämmt, geprüft, ob sie erneut weniger geworden waren. Er benutzte Pomade, doch man sah sie nicht. Das hinzubekommen, war eine Gabe, die nur sehr wenige Männer beherrschten. 

Er befühlte die Narbe an seiner rechten Augenbraue, dann strich er sich über den Anzug. Feinster Stoff aus Modena. Die meisten Männer sahen in Anzügen verkleidet oder lächerlich aus. Oder beides. Meistens beides. Sein tannengrüner Dreiteiler wirkte, als wäre er um ihn herumgeschneidert worden. Schwere kastanienbraune Schuhe. Die Absätze klackerten auf den Stufen, als er die Treppe hinuntereilte.

Puccini schallte aus dem offenen Schlafzimmerfenster, als er das Tor der Villa erreichte. Er hatte Madame Butterfly gehört, wie immer montagsfrüh, auf seinem alten Plattenspieler, den er wohl vergessen hatte, auszumachen.

Er wunderte sich mittlerweile nicht mehr über seine Vergesslichkeit, er hatte sich beinahe daran gewöhnt. Er wunderte sich über gar nichts mehr. Mal lief er in die Küche, wusste in der Tür nicht mehr, was er dort wollte. Mal stand er plötzlich im Bad, setzte sich aufs Klo, bemerkte dann, dass er das Brotmesser noch in der Hand hielt.

 

Angefangen hatte es, kurz bevor das mit seinem Bruder passiert war. Zu der Zeit, als sich ab und an Traum und Realität in seinem Kopf zu vermischen schienen. Als er beispielsweise einmal mitten in der Nacht ein Krachen gehört hatte. So, als wäre die alte Ritterrüstung im Foyer in sich zusammengefallen, in die Francesco als Kind beim Versteckspiel einmal hineingeklettert und schließlich darin eingeschlafen war, weil Arnaldo ihn einfach nicht hatte finden können. Die sie dann als Geheimversteck genutzt und alles darin gelagert hatten, wovon die Eltern nichts hatten wissen dürfen. Erst Bonbons und Kieselsteine vom See, später Zigaretten und Softporno-Heftchen.

Doch die Rüstung war heil, das Krachen war wohl nur in seinem Kopf gewesen. Bald darauf begann die Vergesslichkeit zuzunehmen, darüber hinaus plagten den Marchese immer öfters Albträume, aus denen er nachts schweißgebadet erwachte. Neuerdings gesellte sich ab und an das Gefühl dazu, nicht alleine zu sein, auch wenn er wusste, dass Gianna nicht im Hause war. Auch Arnaldos Stimme glaubte er manchmal zu hören.

 

Er war spät dran, er würde mit dem alten Porsche eine knappe Stunde über den Pass bis nach Rovereto brauchen. Der Termin bei Dr. Gruber, der ihm schmerzliche Gewissheit bringen würde, war für 9.30 Uhr angesetzt.

Das Eisentor quietschte beim Öffnen, der Kies knirschte unter Francesco Marchese Pitti-Sanbaldis Schritten. Eine Möwe krächzte, der Marchese drehte sich um, sah zu ihr empor. Sie hatte sich auf die Spitze des Tors gesetzt, wo in Messing das Familienwappen prangte. Verdreckt vom Kot dieser Viecher.

Er musste schmunzeln. Das Bild gefiel ihm. Das Wappen seiner einst so stolzen Familie, von den Möwen zum Ort der Notdurft umfunktioniert. Das passte.

Zwei Tage, das hatte ihm Dr. Gruber am Telefon gesagt, dann würde er die Diagnose für die erweiterte Hirnwasseruntersuchung bekommen.

 

Er öffnete die Tür des Porsche, als ein Einsatzwagen der Carabinieri an seinem Grundstück vorbeiraste. Die Melodie Puccinis ging im Sirenenlärm unter. Der Marchese stieg ein. Nein, zurück ins Haus zu gehen, den Plattenspieler auszumachen, dafür blieb keine Zeit. Es war auch egal. Was er da hörte, war der Schluss des dritten Aktes. Tu, tu, piccolo iddio! Das Ende war nah.

Gianna

Ein bissiger Wind ließ die Jachten im Wasser wild hin und her schaukeln. Die Platanen an der Strandpromenade neigten sich bedrohlich vor und zurück. Das Seewasser klatschte über die Uferkante. 

Vereinzelte Fußgänger zogen ihre Hunde hastig hinter sich her. Die Hobbytaucher, die um diese Uhrzeit immer mit einem Schlauchboot hinausfuhren, um eines der Schiffswracks am Seegrund zu untersuchen, hatten sich zwischen den parkenden Autos versammelt. Sie steckten in Neoprenanzügen. Einer rauchte.

Um den Hafen herum war gelbes Flatterband gespannt. Es wimmelte nur so von Carabinieri. An der Wasserkante standen die Forensiker in weißen Schutzanzügen.

Gianna entdeckte Giorgio Foscolo, den Staatsanwalt aus Trient. Sie hoffte, dass er sie noch nicht gesehen hatte. Hier ging es nicht um einen normalen Unfall, da war sie sich sicher. Hier steckte eine größere Geschichte dahinter. Vielleicht war einer der Taucher ums Leben gekommen. Das wäre doch kein schlechter Aufmacher für die morgige Ausgabe. 

 

Gianna wusste, was zu tun war. Das Chaos nutzen, um Informationen einzuholen, bevor sich die Ermittler einen Überblick verschaffen und einen jeden nicht Befugten fernhalten konnten. Um mehr erzählen zu können als die Reporter, die erst zur Pressekonferenz des Staatsanwalts dazukamen. Oder die, die nur die Polizeiaussendung kopierten. Sie brauchte Beschreibungen der Szenerie, ein paar O-Töne, um ihre Geschichte lebendig zu machen. So etwas liebte Sondrini, die Chefredakteurin, so etwas liebten die Leser, so etwas liebte sie selbst.

Sie wartete auf den richtigen Moment, scannte die Gesichter der Umstehenden. Die meisten kannte Gianna. Und die wussten auch, wer sie war und würden sie wegschicken, sollten sie sie entdecken. Sie ging in großem Bogen hinter den Autos um die Absperrung herum, sah, dass sich dort, wo der Parkplatz des kleinen Hafens an die Straße grenzte, zwei junge Beamte mit einer Sanitäterin unterhielten. Das war ihre Chance.

Gianna atmete tief ein, schloss den beigen Trenchcoat über dem löchrigen Vasco-Rossi-T-Shirt und zupfte einen Fussel vom Stoff. Sonnenbrille auf. So ging sie mit ernster Miene auf die drei zu, stellte sich direkt vor sie. »Seid ihr schon weiter?«, fragte sie scharf.

Die drei blinzelten überrascht, nickten dann stumm. Gewonnen, dachte Gianna und verkniff sich ein Grinsen.

»Ist Giorgio … ah, da ist er ja.«

Sie winkte in Richtung des Staatsanwalts, der ihr zum Glück den Rücken zugewandt hatte.

»Sie …«, die Journalistin zeigte auf einen der jungen Polizisten, »… besorgen mir schnell einen Espresso, ja?«

Der junge Mann nickte erneut. Dann zeigte Gianna auf das Flatterband, das ihre Jeans auf Kniehöhe streifte. Der andere Polizist bückte sich, hob es hoch, sie schob sich darunter hindurch, ging schnell, aber nicht hastig auf die Forensiker zu, die vorne an der Hafenkante standen. Die Männer schauten auf etwas hinab, das da am Boden lag.

 

Es war ein junger Mann. Etwa eins achtzig groß. Dreitagebart, blutloser Teint. Ein paar Sommersprossen. Nackt und verunstaltet. Ein Loch im Kopf, eine Fleischwunde an der Wange, eine aufgerissene Nase. Ein Arm stand unnatürlich ab. Der leblose Körper ruhte in einer Lache aus Wasser.

»Nein … das kann doch nicht …«, entfuhr es Gianna. Sie schloss kurz die Augen, spürte, wie ihre Knie weich wurden.

Sie wandte sich ab, schaute auf den See hinaus. Normalerweise half das. Das Blau. Die weißen Farbtupfer, die Boote. Die Schaumkronen. Die Enten, die auf den Wellen schaukelten, manchmal ein Schwan. 

Diesmal half es nicht. Die schwarzen Wolken, die wie in Tinte getunkte Watteballen aussahen, hingen nun genau über Riva. Gleich würden sie platzen, ganz bestimmt. Wie aus weiter Ferne vernahm Gianna das Rauschen des Winds, das vergnügte Kreischen der Möwen, die sich von den Böen tragen ließen. 

Sie schluckte, trat an einen der Forensiker heran. Der Mann kniete über der Leiche, fotografierte sie mit einer altertümlich wirkenden Kamera. Gianna kramte mit zitternden Händen ihr Smartphone aus der Manteltasche, tippte möglichst unauffällig darauf herum, machte ein paar Fotos und ließ das Telefon wieder verschwinden.

»Seid ihr schon weiter?« 

Was einmal klappte, konnte auch zweimal klappen. Sie versuchte, sich zu fokussieren, auch wenn ihre Stimme beinahe versagte. Der Mann murmelte etwas vor sich hin, ohne zu ihr aufzusehen.

»Das war ein Gemetzel, kann man nicht anders sagen.«

»Ist das hier der Tatort?«, fragte sie weiter.

Er zuckte die Schultern. »Der Tote schwamm im Hafenbecken.«

»Todeszeitpunkt …«

Er schüttelte den Kopf. 

»Ist …«

Gianna spürte ein Tippen auf der Schulter. Noch bevor sie sich umdrehte, war ihr klar, dass es vorbei war.

»Hier, dein Kaffee, Gianna. Und jetzt verschwinde!« Staatsanwalt Foscolo schien noch nicht einmal verärgert, vielmehr genervt.

Sie hatte das Spielchen schon ein paarmal versucht. Gianna kannte den Staatsanwalt. Sie mochte ihn. Seine struppige Erscheinung, wie ein Straßenköter. Egal, wann sie ihm begegnete, er wirkte immer, als hätte man ihn gerade aus dem Bett geworfen. Theoretisch konnte er ihr nun Probleme machen. Sich bei Sondrini beschweren. Die Chefredakteurin würde sie dann zwar rügen, ihr jedoch zum Abschied verschwörerisch zuzwinkern. Alles halb so schlimm.

 

Die Reporterin warf Foscolo eine Kusshand zu und verließ den abgesperrten Bereich.

Ihr war schlecht. Schnellen Schrittes ging sie zu einer Hafenbude, die Chiara, eine alte Schulfreundin, betrieb. Beinahe täglich genehmigte sie sich hier einen Feierabenddrink.

Sie setzte sich auf die Bretterstufen, vergrub das Gesicht in den Händen. Erste dicke Regentropfen platschten nun auf den Boden. Die Taucher waren verschwunden, der Staatsanwalt hielt sich eine Ledertasche über den Kopf, stieg in den Fond eines Wagens, einer der Carabinieri hielt ihm die Tür auf. Einige Polizisten und Forensiker waren damit beschäftigt, ein weißes Tuch über den Toten zu legen. 

Über Filippo.

»Komm rein, Gianna, wir machen die Terrasse jetzt zu, es geht gleich richtig los …«

Es dauert einige Sekunden, bis sie sich aus ihrer Starre lösen konnte.

»Magst du frühstücken? Ein Vanillehörnchen vielleicht?«

Sie antwortete nicht, zwängte sich neben Chiara ins Innere der Imbissbude. Stürmte rechts an der Theke vorbei, in der sich Schokotörtchen, Obstkuchen, Couscous-Salate und mit Mozzarella belegte Brote stapelten. Hinein in die Kundentoilette. Tür zu. Absperren. Wo war der Lichtschalter? Egal. Dunkelheit war gut. Sie setzte sich auf den geschlossenen Klodeckel. Konnte das wirklich sein? War es wirklich er gewesen? Hastig zog sie erneut das Smartphone hervor, es rutschte ihr aus der Hand, knallte auf die Fliesen. Sie tastete danach, der Boden war nass. In der Fotogalerie tippte sie auf den letzten Schnappschuss. 

Der Tote am Hafen. Filippos Gesicht. Die Wunde an der Wange, der eingeschlagene Schädel. Sein silberner Nasenring, den er schon damals in Mailand getragen hatte, war weg. Herausgerissen.

Filippo! Mit dem sie gestern Abend in einer kleinen Trattoria in der Altstadt essen war. Der sie danach noch bis zur Villa begleitet hatte. Den sie tatsächlich geküsst hatte. Was sie schon vergangenes Jahr im Sommer, bei der einwöchigen Fortbildung in Mailand, gern getan hätte. Bei dem sie sich damals nach einem wunderbaren Abend nicht mehr gemeldet hatte. Weil sie den Kopf über das Herz hatte siegen lassen.

Weil sie ja genug gehabt hatte von den Männern. Eigentlich.

Eines der Seminare in Mailand hatte ihr Vater geleitet. Der große Pitti! Methoden der investigativen Recherche. Sondrini hatte ihr vorgeschlagen, nach Mailand zu fahren. Gianna hatte es gern getan. Nicht nur, um ein paar Tage bei ihrem Vater zu sein. Es hatte sie aufrichtig interessiert. Sollte sie irgendwann einmal an einer größeren Geschichte dran sein, wollte sie alles richtig machen. Endlich auch einen großen Journalistenpreis einheimsen, in die Fußstapfen von papà treten.

Sie erinnerte sich noch an so vieles, das sie von ihm gelernt hatte.

Der Erfolg der Recherche entscheidet sich in den ersten Tagen. Ist das Vertrauen einer Quelle einmal hergestellt, wechselt diese selten den Ansprechpartner. Bewahren Sie die Rechercheunterlagen nicht in der Redaktion auf, auch nicht in Ihrer Wohnung.

Es waren nicht nur diese Tipps, an die sie, wie so oft, zurückdachte. Sondern auch die letzten Stunden, die sie mit papà kurz vor seinem Verschwinden verbracht hatte. Und: die Zeit mit ihm. Sie wusste so wenig über ihn. Vorname: Filippo. Nachname: Rainieri. Er lebte im Süden der Stadt. War freier Journalist, arbeitete für ein paar Mailänder Stadtmagazine. Indie-Themen: Er besuchte Ausstellungen in kleinen Galerien, Theaterstücke der Off-Szene, ab und an veröffentlichte er Rezensionen zu neuen Alben von Post-Punk-Bands im Feuilleton einer überregionalen Zeitung. Er hatte ihr anvertraut, dass er irgendwann einmal als investigativer Journalist arbeiten wolle.

Als sie wieder an den See zurückgekehrt war, hatte er ihr noch ein paarmal geschrieben, sie angerufen, sie war nicht rangegangen. Schließlich hatte er sie in Ruhe gelassen. Bis vor ein paar Tagen. Da hatte er auf Instagram eines ihrer Fotos geliked. Und dann hatte er ihr erneut geschrieben.

Wie geht’s?

Und sie hatte geantwortet.

Gut – und dir?

Ich bin ab übermorgen ein paar Tage am Gardasee.

Ah …

Ah. Was? ;-)

Dann könnten wir uns …

Ja, könnten wir …

;-)

 

Gianna wurde übel, sie stand auf, tastete noch einmal nach dem Lichtschalter, fand ihn. Die Glühbirne ging blinkend an, der kleine Raum war niedlich eingerichtet. Margeriten in einer kleinen Blechdose, mit einer Hanfschnur an die Wand gehängt. Rosa Klopapier.

Sie klappte den Klodeckel auf, übergab sich. Schleim ergoss sich in die Schüssel. Sie hatte noch nichts gegessen. Sie wischte sich den Mund mit dem rosa Papier ab, stand auf, öffnete WhatsApp. Carlo Balzano war einer der Carabinieri, der ihr für ein bisschen Geld manchmal geheime Informationen zukommen ließ.

Hi C., was weißt du über die Sache am Hafen?

Sie wartete. Sah, dass er schrieb. Er schickte nur ein Smiley. Arsch.

100 Euro, tippte sie.

Eine neue Nachricht ploppte auf.

Va bene.

Sag schon!!!

Die Antwort kam prompt. Was willst du wissen, Gianna?

Sie wieder: Habt ihr ein Handy gefunden?

Diesmal dauerte es etwas länger. Eine zähe Minute.

?

Sie überlegte. War sie zu voreilig gewesen? Schöpfte er Verdacht, weil sie so explizit nach dem Handy fragte? Ihr war klar, dass die Ermittler schnell auf sie kämen, durchforsteten sie die letzten Nachrichten und Anrufe.

Verhör. Schlagzeilen. Gerede. So wie letzten Sommer, als papà