KLAPPENTEXT: Phillip und Paula lernen sich als Jugendliche auf der Schule kennen und es dauerte nicht lange, bis sich beide ineinander verliebten. Sie erlebten gemeinsam ihren ersten Kuss, ihren ersten gemeinsamen Sex und noch einiges mehr auf ihrem gemeinsamen Weg des Erwachsenwerdens. Beide führten über Jahre eine glückliche und harmonische Beziehung, bis Paula eines Tages spurlos verschwindet. 1992 wird der Fall "Paula" zu einem Kriminalfall und findet erst 2014 ein unfassbares Ende! - - - - - - BESCHREIBUNG: Phillip und Paula lernen sich in den 1980er-Jahren als Jugendliche auf der Schule kennen. In "Was ich dir noch sagen wollte", beschreibt der Autor jedoch nicht nur ihre dramatische wie auch herzzerreißende Geschichte, sondern lässt in diesem Buch noch einmal die 80er aufglänzen.
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Seitenzahl: 342
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Im Gespräch mit dem Autor
„Wir wuchsen in einer Zeit auf, in der Singles noch aus Vinyl bestanden und nicht aus Verzweiflung. Um Kondome zu kaufen, weil man seinen Partner oder seine Partnerin betrügen möchte, braucht Mann oder Frau heutzutage nur ins Geschäft gehen und sie bekommen sogar noch Treuepunkte“, sagte Phillip einmal zu mir, als wir uns zu einem Interview trafen. „Niemals wäre mir in den Sinn gekommen, Paula auf irgendeine Art zu betrügen. Schon immer war sie eine liebenswerte und dazu noch fürsorgliche Person. Ok, zwischendurch stockte mir der Atem, wann immer sie in unserer Jugend den Dr. Sommer Teil in der Bravo gelesen hatte und ich dann mit Schnappatmung vor ihr stand, als sie mir sagte, dass sie gerne dieses und jenes ausprobieren möchte.“
Ich musste lachen, nachdem er mir das sagte. Aber auch Phillip ließ es nicht kalt und er lachte mit mir. Dann fügte er hinzu: „Ich war damals sooo schüchtern, dass ich vor ihr am liebsten im Erdboden versunken wäre, wann immer sie mit neuen „Praktiken“, was unser Sexleben anging, zu mir kam. Wir waren damals ja erst vierzehn bzw. fünfzehn Jahre alt. Doch Paula war mir immer einen Weg voraus, was das Thema Sex zwischen uns anging. Sie sagte, was sie wolle und ich, der mit zweitem Vornamen „schüchtern“ hieß, stand vor ihr und wartete auf meinen Herzstillstand. Ich war wirklich sehr, sehr schüchtern.“
Autor: „Wir haben uns ja schon über so vieles unterhalten, als wir an diesem Buch gearbeitet haben, aber gab es eigentlich auch mal peinliche Momente zwischen euch?“
Phillip überlegte erst gar nicht lange und antwortete: „Ich erinnere mich sofort an zwei Situationen: Wir waren ungefähr ein Jahr zusammen und ich schlief schon seit längerer Zeit nur noch in Paulas Elternhaus und nicht mehr bei meinen Eltern in meinem Zimmer. Ihre Eltern hatten ihr Schlafzimmer direkt neben Paulas Zimmer in der ersten Etage und wir hofften bis dahin schon unzählige Male, dass ihre Eltern nicht das Quietschen von Paulas Bettgestell hörten. Die Wände ihres Zechenhauses, in dem sie lebten, waren sehr dünn. Eines Abends war es dann so weit. Unter uns krachte das Bett zusammen, als wir gerade Sex hatten. Es war schon sehr spät am Abend und ich wusste, dass Paulas Vater am anderen Morgen zur Frühschicht musste. Ich dachte, oh Gott, wenn der jetzt aufgewacht ist. Gerade wirklich nur kurz nachdem das Bett zusammen gekracht war und Paula und ich uns aus ihrer Matratze befreien konnten, ging ihre Zimmertür auf.
„Watt is hier los?“, fragte uns ihr Vater mit seinem Ruhrgebietsakzent. Seine dünnen Haare standen alle ab, als er mit einem weißen Feinripp-Unterhemd und seiner Schlafanzughose bekleidet im Türrahmen stand.
Eine passende Antwort zu finden, wäre kein Problem gewesen. Das Bett hätte ja einfach nur so zusammenklappen können, während wir schliefen. Doch als Paula und ich mit einem unschuldigen Gesichtsausdruck nackig vor den Resten ihres Bettes standen und jeweils unsern Körper versuchten zu verdecken, war es für den Vater sonnenklar, was wir zuvor getrieben hatten. Dann kam noch kurze Zeit später Paulas Mutter um die Ecke und die Familienversammlung konnte beginnen. Sehr peinliche Situation.
2. Eines Morgens hatten wir Sex. Es war zu der Zeit, als Paula und ich bereits unsere Wohnung in der ersten Etage gegenüber ihren Eltern bewohnten. Sah man aus unserem Schlafzimmerfenster, blickte man direkt zum Weidwall, eine schmale Parallelstraße von der Johannastraße, auf der wir wohnten. Paula und ich waren gerade aufgewacht und irgendwie überkam es uns. Ich muss dazu sagen, in unserem Schlafzimmer stand am Tag wie auch in der Nacht das Fenster immer auf kipp. In meinem Radiowecker lief an diesem Morgen nicht gerade leise der Song „Touch by Touch“ von Joy.
Schon wann immer wir uns zuvor beglückten, Paula übertönte fast alles, wie auch an diesem Morgen. Von der Musik war nicht immer was zu hören.
Eine halbe Stunde turnten wir bereits durch unser Bett, standen dann auf und machten im gesamten Schlafzimmer weiter. Wir kamen erst zum Ende, als wir vor der Wand, die sich seitlich dicht neben dem Fenster befand, standen. Paula beugte sich vor mir stehend gegen die Wand, wobei sie sich mit ihrem Oberkörper, mit den Händen und ihren Unterarmen an diese lehnte.
„Oh Mist“, sagte sie plötzlich, als ihr Blick aus dem Fenster ging.
„Was is´?“, fragte ich, als ich sie von hinten immer noch umklammerte und sah auch aus dem Fenster.
„Ich glaube, mein Vater stand gerade unten auf dem Bürgersteig.“
„Ach, das meinst du nur. Wo ist er denn, ich sehe ihn nicht.“
Wir küssten uns und schmusten noch ein wenig nachdem wir uns wieder auf das Bett fallen ließen. Fünf Minuten später klingelte es an der Wohnungstür und wir sahen uns beide erschrocken an. War es doch ihr Vater, den sie vorher am Fenster gesehen hatte?, fragte ich mich.
Schnell zogen wir uns was Leichtes drüber und nachdem Paula die Wohnungstür öffnete, hörte ich kurz darauf die Stimme ihres Vaters, der unsere Wohnung betrat. Ich dachte nur, oh Scheiße, der stand vielleicht wirklich vor unserem Fenster. Was mache ich denn jetzt und vor allem, wie verhalte ich mich?
Ich versuchte, ihm erst einmal aus dem Weg zu gehen und ging ins Bad, um mich zu waschen. Doch ich konnte die Unterhaltung, die im Korridor stattfand, „leider“ gut mithören.
„Ich happ gehört, ihr seid wach“, sagte ihr Vater.
Und ich stand kopfschüttelnd im Bad vor dem Spiegel, biss meine Zähne zusammen, schloss meine Augen und dachte, ich verlasse das Bad erst wieder, wenn er gegangen ist.
Seit diesem Vorfall, von denen es jede Menge gab, bin ich innerlich jedes Mal aus Scham in den Erdboden versunken, wann immer ich die Platte von Joy auf einem Geburtstag von uns gehört habe, auf dem Paulas Eltern anwesend waren.“
Autor: „In einem unserer Interviews haben sie die Tollpatschigkeit von Paula durchblicken lassen. Können Sie vielleicht mehr davon erzählen und ein paar Beispiele nennen?“
Phillip lachte laut und antwortete: „Unzählige. Es war an einem Sonntag. Paula und ich waren seit circa einem Jahr ein Paar und fuhren mit der Straßenbahn 301 in Richtung Gelsenkirchen-Buer und wollten ins Kino. Keine Ahnung, wie der Film hieß, den wir uns ansehen wollten. Es war ein sehr warmer Sommertag, daher blieb die Bahn mit offenen Türen an manchen Haltestellen noch etwas länger stehen, damit die Fahrgäste durch den Durchzug etwas abgekühlt wurden. Außerdem war die Luft in der Bahn etwas stickig. Als diese schließlich am Kino anhielt und wir aussteigen wollten, sprach ein Mädchen Paula von hinten an. Es war eine Freundin aus der Schule. Ich stand schon draußen neben der Bahn auf dem Bürgersteig und wartete also auf sie. Ich rief: „Paula, komm´ endlich, die Bahn fährt gleich wieder los.“ Doch sie unterhielt sich weiter. Sie stand in der Bahn direkt an der Tür und der Bahnfahrer hatte es wohl auch nicht mitbekommen, dass sie aussteigen wollte und machte nach einiger Zeit wieder die Türen zu, um weiter zu fahren. Doch genau in diesem Moment, kurz nachdem die Türen geschlossen waren, verabschiedete sich Paula von ihrer Freundin, drehte sich um und lief gegen die Glasscheibe einer Tür. Dabei prallte sie mit ihrem Gesicht ab, saß anschließend auf dem Boden und hielt sich ihre blutende Nase. Es war ein Bild für die Götter. Erst sah sie schockiert um sich, wusste nicht, was genau geschehen war und als sie schließlich wieder klar im Kopf wurde, lachte sie sich über ihre Tollpatschigkeit kaputt.
Der Straßenbahnfahrer wusste auch nicht, wie ihm geschah. Gerade wollte er die Fahrt fortsetzen, als es einen lauten Knall neben seiner Fahrerkabine gab, sodass er erschrak. Und ich stand draußen und bekam mich vor lauter Lachen nicht mehr ein.“
Autor: „Und das hat sie Ihnen nicht übel genommen?“
„Paula?“, fragte Phillip verwundert und antwortete: „Niemals! Sie musste ja jedes Mal selber über ihre Tollpatschigkeit lachen und nahm es anderen nicht übel, wann immer jemand über sie (mit)lachen musste. Sie nahm es ganz locker hin und mit viel Humor.
Einmal kam sie mit einer Schulfreundin lachend zu mir in die Raucherecke. Beide stellten sich neben mich und ich dachte, was ist denn mit denen los? Die Schulpause hatte gerade erst begonnen, als sie direkt aus dem Schulgebäude zu mir kamen.
„Was ist mit euch?“, fragte ich.
„Ach nichts“, antwortete Paula.
„Das sehe ich. Ihr kriegt euch ja gar nicht mehr ein.“
„Wir hatten gerade Englischunterricht“, antwortete Paulas Freundin.
„Ach ja? Und?“, fragte ich.
Paula sah mich an und sagte mit einem sehr verlegenem Grinsen im Gesicht: „Mir ist da gerade nur ein Missgeschick passiert.“
Nach einer Antwort suchend sah ich sie weiter an, wie sie vor mir stand und sich ein paar Sekunden später wieder halb totlachte.
„Sie hat sich etwas in der Wortwahl geirrt“, sagte ihre Freundin lachend.
„Ich hatte keinen Radiergummi und wollte nur fragen, ob mir jemand sein Gummi leihen kann“, sagte Paula und fügte hinzu: „Ich glaube, ich habe mich da wohl etwas falsch ausgedrückt.“
„Was hast du denn gesagt?“, fragte ich sie.
Dann lachte sie sich wieder schlapp und antwortete kurz darauf: „Does anybody have a rubber.“
Ihre Freundin lachte immer noch mit ihr, sah mich dann an und sagte: „Du hättest mal die Blicke sehen müssen, wie die gesamte Klasse sie angesehen hat. Auch die Lehrerin musste ihr Lachen verkneifen.“
Man muss dazu wissen: Sobald die Englischlehrerin den Raum betrat, durfte nur noch Englisch gesprochen werden. Hat man sie etwas auf Deutsch gefragt, bekam man keine Antwort von ihr.
Aber was den „Rubber“ angeht, den haben Paula und ich nie benutzt und auch nie gebraucht.
Folgendes passierte in der Schule, wovon sie mir am selben Tag erzählte, als ich sie von zu Hause abholte. Sie hatte dabei Tränen in den Augen, so hatte sie über sich gelacht: Ihr Klassenlehrer verschloss jedes Mal die Tür, wann immer er merkte, dass sich noch nicht alle Schüler in der Klasse befanden, obwohl die Schulstunde schon längst begonnen hatte. Er ließ die „Zuspätkommer“ dann immer eine Weile vor der Tür warten. Doch plötzlich merkte Paula, dass sie noch mal schnell raus und kurz aufs Klo musste. Also frage sie den Lehrer, ob sie gehen dürfte, stand dann auf, ging zur Tür, aber vergaß, dass diese verschlossen war. Sie drehte sich noch stolz zu ihrer Freundin um, grinste und klebte zwei Sekunden später an der Tür, als sie diese mit Wucht aufmachen wollte. Natürlich gab es wieder einen lauten Knall. Da es in einer Physikstunde war und ihr Lehrer in dem Moment den Bunsenbrenner unter ein Glasröhrchen hielt, um den Schülern etwas vorzuführen, erschrak auch er sich und ließ fast das Glasröhrchen fallen, das er mit einer Holzzange in seiner Hand hielt. Er dachte wohl, der Knall war eine Explosion.
Ständig passierten ihr Sachen, wo andere sagten: „Typisch, das kann ja auch nur dir passieren“ oder „wie hast du das nur wieder hingekriegt?“
Ihre Highlights waren: Entweder klemmte sie sich den Finger ein, sodass sie eine kleine Narbe in Form eines Sichelmondes hatte, oder sie stieß sich irgendwo an irgendeinem Gegenstand.
Eines Tages lief sie schreiend durch unsere Wohnung und hielt sich die Hand. Ich sprang sofort von der Couch und fragte besorgt, was los sei. Sie lag mit einem schmerzverzerrten Gesicht kniend vor mir auf dem Fußboden im Flur, hielt sich die Hand und sagte stöhnend: „Bin ich doof.“
Ich fragte nochmals, was los sei und war dabei sehr besorgt.
„Ich habe mir meine Haut an dem Wäscheständer eingeklemmt.“
Langsam verschwand der Schmerz und ich hörte sie über ihre Tollpatschigkeit wieder lachen.
Zuerst dachte ich, es muss was Schlimmes passiert sein, als sie schreiend durch unsere Wohnung lief, aber dann, als sie mir das sagte, dachte ich nur, typisch Paula.
Einmal sagte ich zu ihr: „Dir müssten deine Arme eigentlich schon chronisch wehtun, so oft wie du dich irgendwo stößt.“
Doch sie lachte darüber und antwortete: „Ich kann mit meiner Tollpatschigkeit leben, aber andere müssen es.“
Niemand kann sich vorstellen, wie besorgt ich war, jedes Mal, wenn sie in der Küche unser Essen zubereitete. Schließlich befanden sich dort jede Menge gefährliche Gegenstände. Wie zum Beispiel eine Gabel oder ein Messer oder sogar die Eckbank, an der sie sich bestimmt zwei Mal am Tag ihr rechtes Knie einhaute, wann immer sie aus dem Küchenfenster raus zu ihrem Elternhaus sah.
Ich kann so vieles aufzählen, wobei man sich vor lauter lachen nicht mehr einkriegt.
Als wir noch nicht zusammen wohnten und gerade mal sechzehn Jahre alt waren, stand sie in der Einfahrt neben dem Zechenhauses von ihren Eltern und fummelte im Kofferraum des Opel Rekords von ihrem Vater herum. Gerade wollte sie den Kofferraumdeckel zu machen, als ich um die Ecke kam und sie etwas fragte. Sie sah zu mir, machte den Kofferraumdeckel zu, aber vergaß ihren Kopf zur Seite zu tun. Seitdem lief sie mit einem kleinen und schmalen Strich oberhalb auf der Nase herum. Eine kleine Narbe, kaum sichtbar, aber wenn man es wusste und direkt darauf sah, konnte man sie sehen.
Sie hatte wirklich die Tollpatschigkeit gepachtet.
Auch die Türen waren so ein Problem für Paula. Ihre Trefferquote lag bei 90 %. Grundsätzlich, wenn man die Türe aufziehen musste, drückte sie gegen die Tür oder umgekehrt. Dann knallte es wieder, als sie dachte, dass man gegen die Tür drücken muss.
Auch wann immer sie die Treppen in ihrem Elternhaus zu ihrem Zimmer hochlief, hörte man meistens ein leises „Aua“ von ihr.
Was ich noch nicht erwähnt habe, ist Paulas Heuschnupfen. Es kam nicht selten vor, dass sie dadurch eine blutige Nase hatte. Nicht durch das Niesen, nein, es kam schon mal vor, dass sie sich die Nase irgendwo einhaute, wie zum Beispiel an meinem Kopf.
Wir beide lagen damals als Jugendliche auf ihrem Bett und schmusten. Plötzlich ging es ganz schnell, ohne dass ich überhaupt ausweichen konnte. Paula musste niesen, holte mit ihrem Kopf aus und gab mir dabei eine Kopfnuss. Nun kann man sich vorstellen, wie wir dort auf dem Bett lagen. Ich jammerte und hielt mir dabei den Kopf und Paula fing an, trotz Schmerzen sich anschließend kaputt zu lachen, wobei sie sich auch ihren Kopf hielt.
Oder als es noch ganz frisch zwischen uns war und Paulas Mutter mich wenige Tage zuvor zum ersten Mal in ihr Haus hinein bat, wo ich auf Paula warten durfte. Sie saß in der weißen, schlichten Küche am weißen Esstisch und hatte ihre Füße vor sich auf dem Stuhl, auf dem sie auch saß, gestellt. Sie nippte an ihrem Tee und plötzlich gab es einen lauten Knall und überall lagen Scherben auf dem Boden. Paulas Mutter hatte vor lauter Schreck fast einen Herzanfall bekommen, als sie mit dem Rücken zu ihr stand. Auf dem halben Küchenboden war die Tasse verteilt und ihre Scherben lagen inmitten einer Teelache. Sie hatte einen Niesanfall bekommen, ließ dabei als Erstes die Tasse aus ihrer Hand fallen und haute sich bei der zweiten Niesattacke ihre Nase auf ihrem Knie ein, das sich direkt vor ihr in Kopfhöhe befand. Das wars, schon wieder Nasenbluten.
Doch Paula konnte auch anders. Wir waren mit dem Fahrrad am Rhein-Herne-Kanal unterwegs. Die Strecke dort war damals in den Achtzigerjahren wirklich sehr eng, und man musste vom Fahrrad absteigen, sobald ein Fußgänger oder ein anderer Fahrradfahrer entgegenkam. Ich fuhr circa zehn Meter vor Paula her, stieg dann vom Rad, weil uns jemand entgegen kam und sah zu Paula, die gar nicht auf den Radweg sah. Nein, wo sah sie hin? Auf ihr T-Shirt wie auch auf ihr Dekolleté, ob auch alles schön „sitzt“. Dabei pfiff sie das Lied von Ultravox „Hymn“ noch ganz gemütlich vor sich her, und als sie hochsah, war es auch schon zu spät. Zwar hatte der andere Fahrradfahrer bereits halt gemacht, aber Paula radelte, ohne zu wissen, was im nächsten Moment kommt, auf ihn zu und sah weiterhin stolz auf ihre Oberweite. Gelandetist sie dann schließlich am Ufer des Rhein-Herne-Kanals.Zwischen hohen Grashalmen liegend und ihr Fahrrad lag halb auf ihr.
Auch eine Straßenbeleuchtung hat Paula nicht links „liegen“ gelassen. Es war an einem Abend, an dem wir gerade aus der Kneipe kamen, wo wir uns als Jugendliche freitags immer trafen. Ok, wir waren schon etwas beschwipst, aber trotzdem. Wir liefen also Hand in Hand nebeneinander her und wollten zu ihr nach Hause. Die ganze Zeit konnte ich erkennen, dass sie mich irgendwie stolz von der Seite her ansah und gar nicht geradeaus schaute. Plötzlich hörte ich nur ein dumpfes metallisches Geräusch (Oing) und es kam mir vor, als ob ich in dem Moment für kurze Zeit Paula hinter mir her ziehen würde. Sie stand gebeugt vor mir, als ich mich umdrehte und fasste sich mit der anderen Hand an ihren Kopf.
Nachdem sie sich wieder erholt hatte, sagte sie (schon fast in Sorge): „Na Hauptsache, die Laterne steht noch.“
Auch beim Einkaufen hinterließ sie ab und zu einen Eindruck. Zusammen waren wir in einem Geschäft, standen vor einem Regal, in dem sich jede Menge Wasserflaschen befanden und überlegten, wie viele Flaschen wir mitnehmen. Kurz darauf griff Paula also nach einer der Flaschen und löste somit eine Kettenreaktion aus. Als diese zu Ende war, sah man sie x-beinig und mit ausgestreckten Armen dicht vor dem Regal stehen, wobei in ihren ausgestreckten Armen sich einige Flaschen befanden, von denen sie ein paar mit ihrem Kopf, den sie zuvor in den Nacken legte, gerade hielt, damit sie nicht runterfielen. Zum Glück waren es Plastikflaschen, die sie mit ihrer Nasenspitze balancierte.
Auch kam es schon mal vor, dass sie mir meine Kaffeetasse aus der Hand schlug, als sie mich umarmen wollte oder das unabsichtlich ihre Hand in meinem Gesicht landete und ich für eine Woche eine Kratzwunde als Andenken von ihr hatte.
Es war schon sehr abenteuerlich mit Paula. Langweilig wurde es nie zwischen uns, egal in welcher Hinsicht.
Ich betrat zu aller ersten Mal Paulas Zimmer, als ihre Eltern übers Wochenende nicht zu Hause waren. Wir saßen auf ihrem Bett, hörten Musik und plötzlich sah ich ein Buch auf ihrer Nachtkommode. Ich fragte, was das für ein Buch ist und sie antwortete: „Mein Tagebuch.“ „Oh“, sagte ich, „du schreibst ein Tagebuch?“ Worauf sie mir zunickte. „Komme ich denn auch darin vor?“, war meine neugierige Frage. Sie stand vom Bett auf, um die Musikkassette zu wechseln und antwortete: „Nein, nur Wichtiges.“ Patsch. Der hatte natürlich gesessen.
Ich dachte, aha, ich bin also nicht so wichtig und war über ihre Antwort schon enttäuscht. Aber das war Paula. Ab und an war sie schon mal etwas verwirrt und gab dann dementsprechende Antworten, aber sie meinte sie nicht so. Sie war eben ein kleiner Schussel, wie ich in den nachfolgenden Wochen, Monaten Jahre herausfand.“
Autor: „Was waren eigentlich Eure Lieblingsfächer in der Schule?“
„Eines habe ich schon in der fünften Klasse herausgefunden, sobald man meint, die Mathe-Aufgaben sind aber leicht, dann ist das Ergebnis auf jeden Fall falsch. Mein einziges Lieblingsfach in der Schule war Sport“, antwortete Phillip, lachte und fügte hinzu: „Was Paulas Lieblingsfach angeht, daran kann ich mich nicht mehr erinnern, aber ich kann versichern, dass es nicht Sport war. Paula war klein und hatte mit vierzehn Jahren schon eine weibliche Figur. Aufgrund ihrer Größe sagte sie mir des Öfteren in all den Jahren: „Ich bin nicht klein, nur platzsparend.“ Sie mochte es überhaupt nicht, wann immer unser Sportlehrer uns zum warm laufen schickte. Sie war eine der Mädchen, über die die Jungs während des Sports schon mal ihre Scherze machten. Trotz BH fühlte sie sich beim Sport nie wohl.“
Phillip drehte sich eine Zigarette, hielt kurz inne und murmelte dann: „Es war wirklich eine schöne Zeit. Damals war alles ganz anders als heute. Selbst bei tiefsten Minusgraden waren wir immer draußen und trafen uns mit unserer Clique. Heute ist die Jugend ja ganz anders: Sie bestellen sich ein langes Ladekabel für ihr Smartphone im Internet und setzen sich dann auf den Balkon oder sonst wo hin. Hauptsache, die Steckdose ist in der Nähe.“
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„Ich weiß nicht, ob ich in der Schulstunde immer aufgepasst hätte, wenn Paula in meiner Klasse gewesen wäre. Daher war es schon besser so, dass wir in getrennten Klassen waren. Doch zwei Mal in der Woche hatten wir zusammen für je eine Stunde Unterricht. Es war ein Biologiekurs, den wir uns damals als Schüler freiwillig aussuchen konnten. Als zweite Auswahl gab es noch Chemie, aber darauf hatten die meisten keine Lust. In dem Raum, in dem der Kurs stattfand, befanden sich immer zwei Videogeräte und ein Fernseher. Doch in dieser Stunde fehlte plötzlich ein Videogerät. Es lagen aber zwei Fernbedienungen im Regal. Wir wussten, dass an diesem Tag unser Lehrer mit uns einen Film ansehen wollte, also machten wir uns einen Spaß. Wir probierten aus, welche Bedienung zu dem Videogerät gehörte, das im Regal unter dem Fernseher stand, und legten die Bedienung für das andere Videogerät auf den Schreibtisch des Lehrers. Die, die funktionierte, nahm ich mit an meinen Platz. Als der Lehrer in den Raum kam, begrüßte ihn die Klasse auch schön artig und dann ging es los: Erst wollte er den Film, den er zuvor ins Videogerät einschob, mit der Fernbedienung, die zum anderen Videogerät gehörte, starten, doch nichts tat sich. Also musste er die Playtaste am Videogerät selbst drücken. Nach circa fünf Minuten stoppte der Film aber plötzlich wieder, sodass der Lehrer wieder die Playtaste am Gerät drücken musste. Zwei Minuten später passierte dann wieder dasselbe. Verdutzt sah sich der Lehrer das Gerät an und fummelte an der Fernbedienung, die auf seinem Schreibtisch lag. Das Ganze wiederholte sich bestimmt zehn Mal, dann sagte der Lehrer: „Oh, das Gerät hat bestimmt einen Wackelkontakt.“ Er sah sich weiter das Gerät und die Bedienung an und drückte anschließend wieder auf Play. Nach ein paar Minuten stoppte wieder der Film und die Klasse fing an, lauter zu lachen. „Da muss ich doch mal dem Hausmeister Bescheid sagen, dass er sich das Gerät mal „ansehen“ soll. Das ist ja vielleicht ein Scheiß Ding“, fluchte er.
Während er überlegte und vor sich her murmelte, saß ich auf meinem Platz und konnte nicht mehr. Ich dachte, ich springe gleich lachend aus dem Fenster. Der arme Lehrer. Er hatte ja keine Ahnung, dass ich die ganze Zeit den Film mit der richtigen Fernbedienung auf Stopp gedrückt hatte.
Paula saß eine Reihe hinter mir neben Melinda und stupste mich lachend immer wieder an und flüsterte, ich solle mit dem Quatsch aufhören.
Aber meine Späße gingen nicht immer gut für mich aus und so landete mein Name des Öfteren im Klassenbuch. Wie zum Beispiel:
- Ziegler wurde wegen massiver Störung der Klasse verwiesen.
Als der Lehrer DAS eintrug, nahm ich anschließend meine Jacke und ging mir auf dem Jungenklo eine rauchen.
- Zieglers Notizblock fliegt durch den Raum. Er gefährdet dadurch die Mitschüler, die Geräte und den Lehrer.
- Ziegler klopft in der Englischstunde aggressiv von außen gegen die Tür, als er zu spät zum Unterricht kam.
- Ziegler bewirft eine Mitschülerin mit einer Scheibe Wurst.
- Ziegler erneut beim Rauchen erwischt.
Apropos rauchen. Wenn ich mir folgende Situation heute vor Augen führe, dann habe ich ein „schweres“ Grinsen im Gesicht. So mancher Lehrer muss sich damals in dem Moment innerlich kaputt gelacht haben. Wir hatten auf unserer Schule drei Raucherecken, wobei man von einer Ecke nicht von einer Ecke sprechen kann, denn es war das Jungenklo (schwierige Ausdrucksweise, nicht wahr?). In jeder Pause stand ich also mit circa zehn Kollegen in solch einer Ecke und jeder von uns versuchte immer Ausschau nach einem Lehrer zu halten. Meistens klappte es, doch auch die Lehrer waren ja nicht ganz so doof. Manche spazierten nicht direkt über den Schulhof und somit auf uns zu, sodass wir sie sehen konnten, nein, manche Lehrer „schlichen“ sich so an uns ran, indem sie am Rand des Schulhofs her gingen, direkt neben der Hecke, wo niemand von uns hinsah, weil wir den jeweiligen Lehrer der Aufsicht hatte, zwischen den restlichen Schülern auf dem Schulhof suchten. Drehte man sich schließlich um, weil man seinen Kumpel was fragen wollte, konnte es sein, dass plötzlich der Lehrer vor einem stand und man bekam kein Wort heraus. Andere Lehrer wie ein gewisser Herr Kassen kamen gaaanz langsam von Weitem auf uns zu. Er hatte dabei immer seinen Blick auf uns gerichtet, damit er auch ja beobachten konnte, ob er einige „Wölkchen“ bei uns aufsteigen sah. Neben ihm liefen immer ein paar Mädels her, die sich mit ihm in der Pause unterhielten. Und wir standen dort, versuchten unauffällig unsere Kippen aus zu machen, um die jeweiligen Stummel später weiter zu rauchen. Gaaanz langsam kam er also lächelnd auf uns zu, hielt dabei seinen Zeigefinger wie auch seinen Mittelfinger vor seinem Mund (als, wenn er eine rauchen würde) und machte dabei Pustebacke. Dann grinste er von einem Ohr zum anderen. Es dauert immer eine Ewigkeit, bis er bei uns in der Raucherecke angelangt war. „Wichtige“ Minuten von der Pause, in der man sich eine rauchen konnte, gingen dafür drauf.
„Wer hat hier geraucht?“, war dann meistens die Frage.
„Ich nicht“, antwortete ich ihm.
„Und du, Schulz?“, fragte er.
„Ich auch nicht“, antwortete dieser.
Jeder von meinen zehn Schulkameraden gab ihm dieselbe Antwort, obwohl im Umkreis von zwei Metern um uns herum jede Menge glühende Kippen auf dem Boden lagen und qualmten. Aber damit noch nicht genug. Herr Kassen stand anschließend mit voller Absicht noch eine Weile in unserer Runde und zwang uns ein Gespräch auf. Manche von meinen Schulfreunden fanden das aber gar nicht so witzig, dass er noch bei uns stand, denn einige hatten ihre Zigarette gar nicht ausgemacht, sondern hielten die glühende Kippe versteckt in ihrer Hand, die sie zu einer kleinen Faust gehalten haben und die sich außerdem in ihrerJackentasche befand. Ab und zu hörte man dann einen Aufschrei von einem Schüler, weil dieser nur noch denFilter mit der Glut zwischen seinen Fingern hielt.
Aber wann immer schlechtes Wetter draußen war, hielten wir uns auf dem Jungenklo auf. Dort konnte man wirklich fast nichts mehr sehen wegen des Zigarettenqualms, so viele Raucher hielten sich dort auf. Kam schließlich ein Lehrer zur Kontrolle ins Klo, flogen die Kippen sofort ins Pissoir. Auf die Frage, wer hier raucht, antwortete jeder: „Ich nicht.“
„Raus, aber sofort!“
Autor: „Welches Verhältnis hatte eigentlich Ihr Vater zu Paulas Eltern? Sie sagten ja mal, dass er sich nach der Scheidung von Ihrer Mutter zurückgezogen hatte.“
„Das stimmt, das tat er auch. Aber es gab Tage bzw. Abende, da hielt es ihn auch nicht mehr zu Hause. Paula und ich kannten uns schon seit einem Jahr und mit der Zeit bekamen ihre Eltern und mein Vater immer öfter Kontakt und luden ihn jedes Mal zu ihren Geburtstagen ein. Ich kann mich noch erinnern, als mein Vater zum ersten Mal zu einer Geburtstagsfeier von ihnen kam: Wir saßen an diesem Abend so weit alle im Wohnzimmer zusammen, als mein Vater gegen Abend hereinspazierte und Maria, Paulas Mutter, ihm die Jacke in der Küche abnahm. Man muss dazu wissen: Man konnte direkt vom Wohnzimmer aus nur in die Küche gehen. Mein Vater wurde von allen Anwesenden begrüßt und wunderte sich, dass noch die Kaffeetassen vom Nachmittag auf dem Wohnzimmertisch standen. Dann fragte er: „Oh, was ist los Richard, heute kein Alkohol auf dem Tisch?“
Er lächelte dabei und jeder von den Gästen wusste auch wie er seine Frage meinte.
Paulas Vater, antwortete ganz trocken: „Bei uns kommt kein Alkohol auf´m Tisch! Wir sind vorsichtig beim einschänken.“
Dann ging es los. Richard ging in den Keller, holte zwei Sechserpack Bier und machte es sich mit meinem Vater und den anderen Gästen gemütlich.
„Oh Gott, die Frau“, sagte Richard leise zu meinem Vater, als er sich zu ihm hin lehnte „wenn die datt widda sieht. Die macht mir die Hölle heiß.“
Als das Bier alle war, holte er die nächste Runde aus dem Keller, usw. .
Das Ende von dem Abend war, dass mein Vater einige Stunden später singend und schaukelnd ins Taxi stieg während Richard mit seiner Maria Arm in Arm vor der Haustür auf dem Bürgersteig Polka hoch und runter tanzte. Das Peinlichste für mich und Paula aber war, dass er während des Tanzes auch noch anfing zu jodeln. Die ganze Nachbarschaft hatte das mitbekommen und wurde wach. Am anderen Tag fragte Günther, der ein Nachbar von Paulas Eltern war: „Hömma, watt war denn heute Nacht bei euch los? Meine Frau wollt schon aufstehen, weil´se dachte der Hahn kräht.“
Nachdem Phillip und ich uns die Tränen von unseren Augen gewischt haben, fügte er hinzu: „Ja, ja, das waren Zeiten. Wir hatten ständig immer was zu lachen, es war sehr lustig.“
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„Ich liebte meine Paula schon damals von ganzem Herzen, als ich sie zum ersten Mal auf dem Schulhof wahrnahm. Sie war ganz natürlich äußerlich wie auch von ihrer ganzen Art und Weise. Sie war nicht wie manch andere Mädchen, die sich ihr Gesicht mit Schminke zuklebten, sodass deren Haut schon nicht mehr atmen konnte. Ich weiß noch, als wir damals noch jugendlich in die Disco gingen, kamen immer wieder jede Menge Mädchen von der Toilette, wo sie sich nicht nur einmal am Abend einpuderten.
„Was ist mit Puder?“, fragte die Eine ihre Freundin.
„Na ja, eine Lage geht noch. Dann sind wir auf der sicheren Seite“, antwortete die Andere.
Paula schmierte sich nie ihr Gesicht mit viel Make-up zu. Das Einzige, das sie ständig benutzte, war Labello oder, wenn wir mal ausgingen, etwas rosa farbigen Lipgloss. Mehr nicht. Auch ihre Haare pimpte sie, wenn überhaupt, nur leicht auf, wann immer wir freitagabends rausgingen. Andere Mädchen dagegen liefen herum, als ob sie gerade aus dem Löwenkäfig ausgebrochen wären, was deren Haare betrifft.“
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„Watt macht die Schule?“, fragte Paulas Vater als beide kurz zuvor eine kleine Auseinandersetzung hatten und ich voller Anspannung direkt zwischen den beiden saß.
„Nix macht die Schule. Ich muss alles selber machen“, antwortete Paula und war extrem sauer, nachdem sie sich gestritten haben. Mit schnellen Schritten ging sie hoch in ihr Zimmer und ließ mich mit Richard alleine in der Küche sitzen.
Ja, Paula konnte auch mal echt pampig zu einem sein.
Sozusagen als „Fremder“ im Haus der höchsten Respekt vor ihren Eltern hatte, fühlte ich mich während, wie auch nach dieser Auseinandersetzung mit ihrem Vater gar nicht wohl und blieb einfach nur still und kerzengerade auf dem Stuhl sitzen. Rechts neben mir saß Richard. Ich versuchte, ganz unauffällig zu atmen, als ob ich gar nicht anwesend wäre.
Plötzlich lehnte er sich zu mir und sagte leise: „Junge, hömma, bei „der“ musse gaaanz vorsichtig sein.“
Fragend sah ich ihn an, weil ich nicht verstand, was er damit meinte.
„Kennze die wichtichsten Punkte, die`n Mann wissen muss?“, flüsterte er mir entgegen.
„Nee“, antwortete ich.
„Oh man, ich muss echt leise sprechen, denn die steht gerne noch ´ne Weile oben vorm Zimmer und versucht, watt aufzuschnappen.“
Kurz darauf rückte er mit seinem Stuhl noch etwas näher zu mir.
„Also pass auf: Et gibt generell zehn Regeln für´n Mann. Wenne die einhälts, dann hasse imma Ruhe bei „der“.“
Mit „der“ meinte er Paula.
„Und welche?“, fragte ich neugierig und stellte meine Frage wohl etwas zu laut für Richard.
„Man, nich so laut“, flüsterte er. „Datt is ne ganz ausgeschlafene Trulla, die versucht imma allet aufzuschnappen. Also pass auf, Regeln 01 – 10: Sach imma „ja mein Schatz“. Hasse verstanden? Wenne datt einhälts, dann hasse ´n ruhiget Leben mit „der“.“
„So was in der Art ist mir auch schon aufgefallen“, antwortete ich ganz leise. „Zum Beispiel, wenn Paula und ich uns streiten, bin ich immer derjenige, der sich am Ende entschuldigt. Sie? Niemals! Egal, ob sie was angestellt hat.“
„Siehse Junge, du has´ den Dreh schon bei „der“ raus“, flüsterte er.
Kurz darauf hörte ich, wie eine Etage höher die Tür vonPaula „schwungvoll“ aufgemacht wurde.
„PHILLIP!“
„Äh...ja?!“
„KOMMST DU MAL?!“, rief sie.
Es war keine Frage, ob ich mal zu ihr kommen kann, nein, ihre Stimmlage war schon eher ein Befehlston und es war nicht schwer zu überhören, dass sie immer noch sauer war.
„Ja, mein Schatz“, antwortete ich und trabte langsam die Treppen zu ihr hoch. Richard saß am Küchentisch und kicherte leise vor sich her.
Ihr Vater war schon schwer in Ordnung. Zu Anfang, als ich Paula kennenlernte, dachte ich immer: Mit dem komme ich nicht klar, weil er mich immer im Auge hatte, sobald ich Paula zu nahe kam. Doch schnell begriff ich, dass er in Wirklichkeit schwer ok ist. Er hatte eigentlich in seiner ganzen Art so was Ruhiges, als wenn er mit sich schon immer und ewig im Reinen ist. Ihn konnte nichts, absolut gar nichts aus der Ruhe bringen und dachte immer positiv. Auch hatte ich ihn nie etwas Ausfallendes sagen hören. Wenn man zum Beispiel eine seiner Socken in einer Tasse gelegt hätte, in der sich heißes Wasser befand, dann hätte man diese Socke nur etwas ziehen lassen müssen und man hätte anschließend einen Beruhigungstee.“
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„Wir konnten uns ja eigentlich immer einigen, wann immer wir uns als Jugendliche in Paulas Zimmer einen Film ansahen, aber manchmal ging sie mir dabei schon auf die Nerven. Nicht nur einmal dauerte es fast eineEwigkeit, bis wir uns eine Videokassette rausgesucht haben und dabei diskutierten, welchen Film wir uns ansehen. Als ich dann merkte, dass ich im Grunde genommen keine Chance gegen sie hatte, gab ich immer nach und sie durfte sich am Ende den Film aussuchen. Schließlich machten wir es uns gemütlich auf ihrem Bett. Sie lag in meinem Arm und als wir uns den Film gerade mal zwanzig Minuten angesehen haben, schlief sie fast immer ein. Also lag ich neben ihr und sah mir einen Film an, den ich gar nicht sehen wollte. Wehe, aber, ich machte den Film aber aus und wechselte die Videokassette, gingen plötzlich ihre Augen auf und sie fragte, warum ich den Film gewechselt habe, der andere war doch so schön.“
Kennen Sie das, manchmal kennt man ein Mädchen vom Sehen, rennt tausend Mal an ihr vorbei und nichts passiert. Dann kommt plötzlich der Tag und man bekommt Luftnot, weil man sie gesehen hat. Man kommt seitdem nicht mehr von ihr los und man kann es kaum abwarten, sie wieder zu sehen. Genauso war es zwischen Paula und mir. Sie hatte den wunderschönen Nachnamen „Engel“ und sie sah auch genauso aus. Wie ein Engel.
Wir hatten das Jahr 1984, ein buntes und kultiges Jahrzehnt des Umbruchs. Ein Jahrzehnt der weiten Jogginghosen und Trainingsanzügen aus Ballonseide. Der Golfkrieg beginnt, in der Sowjetunion kommt es zur schlimmsten Umweltkatastrophe - Tschernobyl, der Eiserne Vorhang beginnt zu bröckeln und es wurde festgestellt, dass AIDS eine ansteckende tödliche Krankheit ist. Ein Jahrzehnt, in dem Film und Musik einen großen Einfluss auf die damalige Mode hatten. An jeder Ecke sah man Popper, Punks, Yuppies und Markenbewusste. Letztere hatten entweder das Geld für diese Sachen oder es waren Mamis und Omis Kinder - Enkelkinder, die von ihnen mit diversen Sachen ihren Hintern gepudert bekamen. Zeige, wer du bist, hieß es. Bei den Mädchen nannte man es damals „Power Dressing“ und die meisten von ihnen nahmen sich dazu Madonna als Vorbild. Als Ritterschlag gab es da noch die Frisuren. Vokuhila, vorne kurz und hinten lang. Egal, ob Mädchen oder Junge. So wild die Mode damals war, waren auch ihre Haarschnitte. Mit genügend Haarspray konnten diese, egal ob Dauerwelle, Vokuhila oder sonstige, in Form gebracht werden. Es wurde gestylt und geföhnt, geföhnt und gestylt. Damals liefen die, die es sich leisten konnten, mit einem Walkman herum und hörten die 80er-Jahre Charts auf Kassette hoch und runter. Die neue Deutsche Welle, Depeche Mode, Cindy Lauper, Boy George, Falko, Visage und wie sie noch alle hießen. Pünktlich Dienstag- und Mittwochabend saß die Ehefrau vor dem Fernseher und sah sich Dallas oder den Denver Clan an, wogegen sich die Jugendlichen lieber Flashdance, Footloose und später Dirty Dancing ansahen. Auf keinen Fall wurde die Samstagabendshow „Wetten dass“ ausgelassen, wo man als Familie bei belegten Schnittchen abends vor dem Fernseher saß. Man besuchte damals als Jugendliche die ersten McDonalds, nachdem man von der Rollerbahn kam oder man lud ein paar Freunde zum Geburtstag dorthin ein. Es war ein Jahrzehnt, in dem jede Seuche, die aus Amerika kam, sich in Deutschland nieder ließ und uns immer mehr amerikanisierte.
In dieser Zeit wechselte Paula Anfang 1984 inmitten der achten Klasse von der Real- zur Hauptschule und irgendwann hatte es uns auf dem Pausenhof erwischt, nachdem wir tagelang einfach so aneinander vorbei gelaufen waren, ohne dass ich sie beachtet habe. Einen weiteren Weg zur Schule hatte sie durch ihren Wechsel nicht, denn die Hauptschule an der Vestischen Straße lag direkt gegenüber der Realschule in Gelsenkirchen-Horst. Heute ist es die Gesamtschule auf der Devensstraße. In der Schulpause lief sie immer mit zwei Schulfreundinnen, in den Armen eingehakt, über unseren Schulhof und ich stand in der Raucherecke und beobachtete sie. Irgendwann, als sich unsere Blicke trafen, konnte plötzlich keiner mehr von uns wegschauen. Während meine Blicke immer ziemlich direkt auf Paula gingen, schaute sie mich immer nur mit einem schüchternen Blick und mit leicht gesenktem Kopf an. Dabei hingen ihr meistens ein paar dünne schwarze Haarlocken in ihr Gesicht. Dann lächelte sie und presste meist ihre Lippen aufeinander. Zuerst dachte ich, dass sie jeden Moment loslachen müsste, weil sie ihre Lippen so aufeinander presste, doch egal ob sie über mich hätte lachen müssen, für mich war sie plötzlich das schönste Mädchen auf dem Schulhof. Irgendetwas musste doch auch bei ihr übergesprungen sein, dachte ich mir. Wieso sonst erwidert sie meine Blicke und schaut nicht weg? Ich konnte die Schulstunden gar nicht abwarten, bis ich sie in der nächsten Pause wiedersehen konnte und so komisch es sich vielleicht auch liest, von mir aus hätte die Schule länger dauern können als nur sechs oder acht Stunden. Doch es blieb mir nichts Anderes übrig, als mich nach der Schule zu Hause auf den nächsten Tag zu freuen. Nie zuvor hatte ich mich so auf die Schule gefreut. Ich glaube, hätte ich gewusst, wo Paula wohnte, hätte ich mich nach der Schule öfters in ihrer Gegend aufgehalten. Ich war zwar ein etwas schüchterner Junge und ich hätte nicht wirklich gewusst, ob ich sie dann angesprochen hätte, aber alleine sie zu sehen, hätte mir schon gereicht. Anschließend wäre ich bestimmt voller Ärger nach Hause zurückgekehrt, weil ich sie nicht angesprochen hätte.
Es ging circa zwei Wochen so, dass wir uns nur in der Schule während den Pausen sahen. Thomas, einem damaligen Freund, fiel es auch schon auf, dass meine Blicke immer zu ihr hin wanderten. Dann konnte ich nicht mehr und riss mich zusammen. Es war an einem Freitag, die 11.30 Uhr Pause. Die letzte Pause, in der wir uns sehen konnten. Ich stand in der Raucherecke und freute mich, dass sie jeden Moment auftaucht. Ich bastelte mir gedanklich etwas zurecht, wie ich sie ansprechen könnte und merkte, dass ich deswegen immer nervöser wurde. Ich fand keine vernünftigen Worte bzw. ich war von meinen Worten vor lauter Nervosität nicht richtig überzeugt. Es lag das ganze Wochenende vor mir, dass ich vor lauter Herzschmerz nicht überstanden hätte, daher musste ich sie jetzt ansprechen. Vielleicht würde sie ja mit mir am Wochenende ausgehen? Ich wartete und wartete, doch ich sah sie nicht. Dann klingelte die Pausen-Schelle und ich ging enttäuscht, mit meinem Kopf nach rechts und links drehend, immer auf der Suche nach ihr, wieder in meine Klasse.
Ihr Klassenzimmer lag auf meinem Flur, den ich bis zum Ende entlang gehen musste, um in meine Klasse zu kommen. Hinter der Glastür, direkt am Anfang des Flures, auf dem sich insgesamt fünf Klassenzimmer befanden, war Paulas Klasse. Auf dem Weg zu meiner blickte ich im Vorbeigehen in den offen stehenden Raum, und sah, dass die Stühle alle schon auf den Tischen standen. Das hieß: sie hatte Schulschluss.
Voller Enttäuschung saß ich meine restlichen zwei Schulstunden ab und ärgerte mich, warum ich sie nicht schon in der ersten Pause angesprochen hatte.
Bevor mir Paula noch nicht aufgefallen war oder sagen wir mal so, bevor ich noch keine Luftnot bekam, jedes Mal, wenn ich sie auf dem Schulhof sah, freute ich mich auf das Wochenende und es konnte für mich nicht lang genug sein. Doch jetzt war es genau umgekehrt. Für mich konnte das Wochenende nicht kurz genug sein. Also setzte ich mich an diesem Wochenende auf mein klappriges Fahrrad und fuhr samstags durch unseren kleinen Ort. Nur mit einem Gedanken: Vielleicht sehe ich sie ja irgendwo. Doch es war wie verhext. Oft sah ich sie nach der Schule im Eiscafé San Marco mit ihren Freundinnen sitzen, als ich mich zu ihr noch nicht hingezogen fühlte, doch jetzt, wo es um mich geschehen war, sah ich sie nirgendwo. Stundenlang fuhr ich mit dem Rad herum, bis ich es aufgab.
Damals trafen meine Freunde und ich uns in der Freizeit immer in der Nähe des Fußballplatzes von Horst 08. Hinter diesem befand sich eine riesige Wildwiese, die früher mal ein Kornfeld war und dahinter befand sich ein Abstellgleis wie auch ein kleiner Güterbahnhof. Irgendwann in den 90er-Jahren wurde dieses Feld richtig platt gemacht und man baute eine AWO Siedlung darauf. Die Bahngleise wie auch die AWO Siedlung gibt es heute noch.