Was ist eine gute Kindheit?. [Was bedeutet das alles?] - Johannes Drerup - E-Book

Was ist eine gute Kindheit?. [Was bedeutet das alles?] E-Book

Johannes Drerup

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Beschreibung

Jedes Kind verdient eine gute Kindheit, keine Frage. Aber was ist eigentlich unter einer guten Kindheit zu verstehen? Der Band gibt Antworten aus den verschiedensten Blickwinkeln, etwa aus der Geschichte der Kindheit heraus, diskutiert den moralischen Status von Kindheit, umreißt Kernelemente einer guten Kindheit wie ausreichend vorhandene materielle Güter, Beziehungsgüter oder Bildungsgüter, und beleuchtet die Rolle von Autonomie als Meta-Gut sowie die Rolle von Eltern, Familie und Staat.

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Johannes Drerup / Gottfried Schweiger

Was ist eine gute Kindheit?

Reclam

E-Book-Leseproben von einigen der beliebtesten Bände unserer Reihe [Was bedeutet das alles?] finden Sie hier zum kostenlosen Download.

 

 

RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 962271

2024 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2024

RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962271-2

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014492-3

www.reclam.de

Inhalt

Eine gute Kindheit: Was ist das eigentlich?

1. Kinder und Kindheiten

Geschichten der Kindheit und das Problem des Fortschritts

Kindheit als moralischer Status

Kindheiten in pluralistischen Gesellschaften: Ausgangspunkte und Vorbehalte

2. Kernelemente einer guten Kindheit

Materielle Güter

Beziehungsgüter

Bildungsgüter

Intrinsische Güter

Autonomie als Meta-Gut

3. Kinder, Eltern und Familien

4. Kindheiten im liberalen Staat

5. Eine gute Kindheit für jedes Kind: Was kann man tun?

Literaturhinweise

Zu den Autoren

Danksagung

Eine gute Kindheit: Was ist das eigentlich?

Jedes einzelne Kind verdient eine gute Kindheit. Dieser Forderung würden nur die allerwenigsten Menschen widersprechen.

Aber was ist eigentlich unter einer guten Kindheit zu verstehen? Diese Frage ist offensichtlich nicht so einfach zu beantworten. Jeder Mensch hatte schließlich eine eigene Kindheit, die sie oder er als gut oder schlecht oder zumindest in bestimmter Hinsicht als besser oder schlechter erlebt hat. So werden in der Auseinandersetzung mit der eigenen Kindheit und auch mit fremden Kindheiten nicht nur individuell-biographische, sondern auch soziokulturell überlieferte und historisch wandelbare Interpretationsmuster aufgerufen, in denen oftmals ganz unterschiedliche Vorstellungen einer guten oder weniger guten Kindheit zum Tragen kommen: Während die einen nostalgisch in Erinnerungen an die eigene Kindheit als einer Art verlorenem Paradies schwelgen, dient anderen Kindheit vor allem als eine Chiffre für einen Albtraum, von dem sie sich vielleicht niemals ganz befreien können.

Die große Bedeutung, die Kindheit als Deutungsschema und als Erklärungsformel in unserer Selbstinterpretation als Individuum und als Gemeinschaft zugeschrieben wird, ist Ausdruck einer ungemein wirkmächtigen pädagogischen Idee und Einsicht: Die Kindheit repräsentiert eine besondere Lebensphase mit eigenem Wert, deren jeweilige Ausgestaltung in Beziehungen und Institutionen einen großen Teil des späteren Lebens prägt. So reden wir etwa im Alltag ganz selbstverständlich davon, dass eine Person ›es schwer in ihrer Kindheit‹ oder ›eine glückliche Kindheit‹ hatte. Wir setzen dabei in der Regel voraus, dass wir die erwachsene Person gar nicht verstehen könnten, wenn wir ihre Kindheit nicht verstehen, wenn wir nicht verstehen, wie sie zu dem geworden ist, was sie ist. Kurz: Wir gehen davon aus, dass Kindheit eine Lebensphase darstellt, die sich auf Basis von Kriterien bewerten lässt, eine Lebensphase also, die besser oder schlechter ausfallen kann.

Das Thema einer guten Kindheit gehört zu den existentiellen Herausforderungen des Lebens, die alle Menschen auf die eine oder andere Art auch im Alltag beschäftigen und zu denen die meisten Menschen starke Meinungen und Urteile zur Hand haben dürften. Entsprechend scheint dieses Thema anspruchsvolle normative Urteile zu provozieren.

Auch deshalb sollte man sich klarmachen, dass die in diesem Buch gestellte und sicherlich zunächst eher abstrakt anmutende Frage: ›Was ist eine gute Kindheit?‹ nicht nur eine philosophische Frage, sondern auch eine sehr konkrete Alltagsfrage ist, die im Leben vieler Menschen immer schon präsent ist. Es handelt sich um eine Frage, die wir für uns selbst und im Umgang mit einem Kind jeden Tag aufs Neue auf die eine oder andere Art und Weise praktisch beantworten. In allen Lebensbereichen, in denen Menschen mit einem Kind zu tun haben oder über das Leben eines Kindes nachdenken – in Schulen, Kindergärten oder Familien, auf der Straße oder auf dem Spielplatz, in der Arztpraxis oder vor Gericht –, werden immer auch Urteile darüber gefällt, was denn jeweils gut oder nicht gut für ein Kind und sein Leben ist.

Es verwundert daher wenig, dass über kaum ein Thema so intensiv und leidenschaftlich gestritten wird, und dass öffentliche und wissenschaftliche Debatten über die Bewertung der Lebenssituation von Kindern nicht selten hochgradig emotional geführt werden. Gestritten wird über nur scheinbar eher profan anmutende Fragen (z. B. Fragen der Ernährung oder über die Einrichtung von Kitas und Spielplätzen) und über klassische Fragen der Philosophie der Kindheit. Wie sollen Verantwortlichkeiten und Pflichten zwischen Eltern, Gemeinschaften und dem liberalen Staat aufgeteilt werden, wie die Rechte von Kindern und ihrer Eltern festgelegt werden? Strittig ist schließlich, was denn eigentlich eine gute Kindheit ausmacht.

Alle Beteiligten im öffentlichen Streit über Kinder, der eher selten auch mit Kindern ausgetragen wird, beanspruchen dabei in der Regel immer schon zu wissen und beurteilen zu können, was jeweils am besten für Kinder ist. Die normativen Kriterien, entlang derer eigene und fremde Kindheiten bewertet werden, werden dabei oftmals eher stillschweigend vorausgesetzt, ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen, welche Kriterien dies eigentlich sind, wie sie zu gewichten, zu begründen und anzuwenden sind. Dies mündet regelmäßig in eher dogmatischen Behauptungen und Setzungen, die nicht mit der gebotenen analytischen Sorgfalt erläutert und systematisch auf ihre Plausibilität und Geltung hin geprüft werden.

Viele verstehen unter einer guten Kindheit eine glückliche Kindheit. Eine glückliche Kindheit ist entsprechend dieser verbreiteten Vorstellung durch das subjektive Wohlbefinden eines Kindes geprägt. Dieses Wohlbefinden wird vor allem dadurch gewährleistet, dass sich die Beziehung zu den Eltern und anderen nahen Bezugspersonen durch Liebe, Fürsorge, durch Harmonie und Vertrauen auszeichnet.

Nicht berücksichtigt wird dabei, dass es zwischen einer glücklichen und einer guten Kindheit zu unterscheiden gilt und dass ein Kind nicht schon dann eine gute Kindheit hat, wenn es sich subjektiv häufiger glücklich fühlt. Ein Kind, das z. B. einem durchstrukturierten und zwangsbewehrtem Indoktrinationsregime unterworfen wird, kann sich mit den entsprechenden Verhältnissen arrangieren und sich an Gewalterfahrungen gewöhnen, vielleicht sogar über weite Strecken glücklich sein. Dennoch könnte man ihm keine gute Kindheit zuschreiben. Die Frage nach der guten Kindheit sollte daher nicht auf das subjektive Erleben und die Gefühlswelt eines Kindes reduziert werden. Subjektives Wohlbefinden macht ein wichtiges, jedoch nur ein zentrales Element einer guten Kindheit aus.

Eine gute Kindheit, so eine erste zentrale These, ist eine Kindheit, in der ein Kind ausreichend mit all jenen Gütern versorgt ist, die es benötigt, um sich zu einer autonomen Person entwickeln zu können. Dies gilt, wie wir im Folgenden zeigen werden, auch bereits für kleinere Kinder. Diese Güter sind nicht nur materieller Natur. Um Autonomie entwickeln zu können, bedarf es auch vieler nichtmaterieller Beziehungs- und Bildungsgüter wie etwa Liebe, Fürsorge, respektvollem Umgang mit anderen und einer gewissen Grundbildung. Wir schulden jedem einzelnen Kind auch deshalb die Bereitstellung dieser Güter, weil dies enorme Auswirkungen auf die Zukunft des späteren Erwachsenen haben dürfte (ohne diese Zukunft gleichwohl notwendig festzulegen). So sehr man schließlich darauf hoffen kann, dass etwa Erziehungs-, Bildungs- und Sozialisationsdefizite später im Leben noch ausgeglichen werden können, so offensichtlich ist jedoch, dass diese Defizite die Fähigkeit stark und manchmal unumkehrbar beeinträchtigen können, künftig ein autonomes und gutes Leben zu führen und glücklich zu werden.

Die Relevanz einer guten Kindheit erschöpft sich jedoch nicht allein in ihrem Zukunftsbezug. Sie lässt sich auch nicht ausschließlich auf die Bereitstellung der für personale Autonomie relevanten Güter beschränken, die nicht nur deshalb als wertvoll gelten können, weil sie Autonomie ermöglichen. Eine gute Kindheit, so die zweite zentrale These, ist eine Kindheit, in der ein Kind ausreichend mit jenen Gütern versorgt wird, die es für sein Wohlergehen braucht. Mit anderen Worten: Das kindliche Wohlergehen ist, neben der Entwicklung der Autonomie, der zweite zentrale Bezugspunkt einer guten Kindheit. Auch beim kindlichen Wohlergehen können eine subjektive und eine objektive Einschätzung voneinander unterschieden werden.

Das lässt sich am Beispiel der physischen und psychischen Gesundheit zeigen. Es ist intuitiv plausibel, dass Gesundheit ein wichtiges Element kindlichen Wohlergehens und damit auch ein Bestandteil einer guten Kindheit ist. Eine Kindheit kann mit Sicherheit dann als besser gelten, wenn ein Kind gesund ist. Gesundheit ist nun nicht gleichzusetzen mit der Einschätzung, sich gesund zu fühlen, sondern ist auch durch objektive medizinische Kriterien bestimmbar. Diese objektiven Kriterien sind am Ende in der Regel wichtiger als die subjektive Einschätzung. Das kindliche Wohlergehen lässt sich auch nicht angemessen anhand eines einzigen Kriteriums bestimmen, sondern nur entlang unterschiedlicher Kernelemente einer guten Kindheit, durch die jeweils zentrale Güter realisiert werden, die für das Wohlergehen eines Kindes grundlegend sind. Hierzu zählen etwa sogenannte intrinsische Güter der Kindheit (wie freies und strukturiertes Spielen), Bildungsgüter (u. a. Grundbildung) und Beziehungsgüter (u. a. Liebe, Fürsorge und Freundschaften).

Schon diese knappe Skizze zeigt, dass Wechselwirkungen und Verbindungen zwischen den unterschiedlichen Kernelementen einer guten Kindheit bestehen, zwischen der Ermöglichung von personaler Autonomie und anderen Gütern, zwischen einer guten und einer glücklichen Kindheit. Vieles von dem, was eine glückliche Kindheit ausmacht, ist auch relevant für eine gute Kindheit. Ebenso stehen das kindliche Wohlergehen und die Entwicklung des Kindes zu einer autonomen Person miteinander in enger Verbindung. Liebe und Fürsorge sind hierfür ebenso wie Gesundheit und Grundbildung von zentraler Bedeutung. Die unterschiedlichen Kernelemente einer guten Kindheit stehen jedoch oftmals in Spannung zueinander, die sich mitunter in Konflikten entlädt.

Kinder sind Menschen, die sich erst nach und nach, d. h. graduell und mit Bezug auf unterschiedliche Lebensbereiche, zu autonomen Personen entwickeln. Sie entwickeln früh Wünsche, haben Sorgen und verfolgen Projekte, die ihnen wichtig sind, und verfügen auch über die Fähigkeiten zu artikulieren, dass diese ihnen wichtig sind. Sie zeigen ihren eigenen starken Willen, der oftmals gegen den Willen der Eltern und anderer Bezugspersonen gerichtet sein kann. Der Umgang mit diesen Konflikten bildet eine zentrale Herausforderung von Erziehung in der Familie, im Kindergarten und in der Schule. Die Frage, was eine gute Kindheit ausmacht, wird durch den Umgang mit diesen Konflikten unmittelbar berührt.

Damit ist die dritte zentrale These angesprochen: Eine gute Kindheit zeichnet sich dadurch aus, dass dem Willen und den Wünschen, den Sorgen und Projekten eines jeden Kindes ausreichend Raum gegeben wird. Wir verstehen das als Ausdruck der Wertschätzung der sich entwickelnden kindlichen Autonomie und als Ausdruck von Respekt für das Kind als Person.

Die kindliche Autonomie ist natürlich noch keine reife und voll entwickelte Autonomie, und selbstverständlich ist ein starker Wille nicht in jedem Fall nur als Ausdruck von werdender Autonomie zu interpretieren. Das einzelne Kind wird erst nach und nach zu einer autonomen Person und ist dabei auf entgegenkommende Sozial- und Praxisformen angewiesen.

Dennoch ist in der kindlichen Autonomie im Kern schon das angelegt, was wir an der reifen, an der erwachsenen Autonomie schätzen und respektieren. Eine gute Kindheit ist also eine Kindheit, in der das Kind als Person und eigenständiges Subjekt mit seinen Fähigkeiten, Bedürfnissen und Interessen ernst genommen wird.

Das bedeutet nicht, dass eine gute Kindheit von Eltern verlangt, dass sie ständig ihr jeweiliges Kind umkreisen oder dass es alles bekommt, was es will. Eine gute Kindheit verlangt jedoch durchaus einen Perspektivwechsel, wenn ein Kind nur als Anhängsel der Eltern gesehen wird, nur als mangelhaftes, defizitäres Wesen, über das willkürlich entschieden werden darf. Im Rahmen einer guten Kindheit muss stets aufs Neue zwischen dem Respekt vor der kindlichen Autonomie und deren nötiger Einschränkung im Interesse des Wohlergehens des Kindes abgewogen werden.

Das Verhältnis zwischen kindlicher Autonomie und Verletzlichkeit, zwischen Freiraum und Einschränkung, stellt sich in jeder Phase der Kindheit anders und neu. Während bei einem jüngeren Kleinkind die Schutzfunktion von zentraler Bedeutung ist, ist in späteren Phasen die sich immer weiter entwickelnde kindliche Autonomie stärker zu berücksichtigen und sind einem Kind daher mehr Freiräume zuzugestehen. Solche ethischen Abwägungen sind praktisch bedeutsam und in pädagogischen Zusammenhängen unvermeidbar, in denen man ohne praktische Urteilsfähigkeit und pädagogischen Takt nicht auskommt.

Kinder bilden ebenso wie Erwachsene eine sehr heterogene Gruppe. Kindheit ist eine sehr vielgestaltige und wandelbare Lebensphase. Aus diesem Grund muss eine Konzeption der guten Kindheit für die Unterschiede zwischen den verschiedenen Kindern auf verschiedenen Entwicklungsstufen sensibel sein.

Damit ist ein wichtiger Ausgangspunkt und eine wichtige Einschränkung für das Folgende genannt. Dort wird es um die Lebensphase bis zum Beginn der Pubertät gehen, also um jene Lebensphase, die wir als Kindheit bezeichnen. Manchmal werden auch Jugendliche als Kinder bezeichnet (entsprechend der Definition durch die Vereinten Nationen, die die Volljährigkeit zum Maßstab nimmt). Doch scheint uns dies im Zusammenhang mit der Frage nach einer guten Kindheit nicht sinnvoll zu sein, da die Unterschiede zwischen Kindern und Jugendlichen einfach zu groß sind und die Lebensphase Jugend ganz eigene Aufgaben, Herausforderungen und Probleme für eine Theorie einer guten Kindheit aufwirft.

Der Übergang zwischen Kindheit und Jugend ist natürlich fließend, er ist historisch, soziokulturell und individuell gesehen variabel, ohne dass dies jedoch beliebige Zuordnungen erlauben würde. Zwar können die gesellschaftlichen Reaktionen auf die soziale Tatsache ›Kindheit‹ sehr unterschiedlich ausfallen, doch können wir Kinder nicht beliebig konstruieren, denn, wie es der Erziehungswissenschaftler Klaus Prange auf den Punkt bringt: »Konstrukte weinen nicht und machen auch nicht in die Windeln.«1