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Dass im Unterricht offen kontrovers diskutiert wird, ist – im Rahmen der Demokratieerziehung – notwendig und selbstverständlich. Angesichts wachsender gesellschaftlicher Polarisierung wird allerdings zunehmend unklar, welche Themen in dieser Form behandelt werden können und wie angemessenes Verhalten bei problematischen Einstellungsmustern aussieht. Wie umgehen mit Migrations- und Klimafragen, mit Verschwörungstheorien oder geschichtsrevisionistischen Äußerungen? Johannes Drerup entwickelt eine praktische Orientierungshilfe für ein zunehmend unübersichtliches Handlungsfeld. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.
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Seitenzahl: 157
Johannes Drerup
Konstruktiv streiten lernen
Reclam
Für Julie, Frida und Verena
2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2021
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN978-3-15-961889-0
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014095-6
www.reclam.de
Einleitung
1 Kontroverse Themen im Unterricht: Theoretische Problemvorgaben und Leitorientierungen
1.1 Kontroversen im Klassenzimmer: Grundlagen – Kontexte – Prinzipien
1.2 Vor- und Nachteile der Kontroverse im Unterricht: empirische Befunde
1.3 Kontroversen über Kontroversitätsgebote
2 Konstruktiv streiten lernen: Praktische Herausforderungen und Beispielfälle
2.1 Zur Praxis dialogischer Demokratieerziehung
2.2 Beispielfälle
2.3 Fazit
Literaturhinweise
Danksagung
Konstruktiv streiten zu lernen ist ein zentrales Ziel demokratischer Erziehung und Bildung. Die Diskussion kontroverser Fragen und Streitthemen gilt als demokratische Praxis par excellence und zugleich als wichtige praktische Methode, um demokratiepädagogische Leitziele wie z. B. personale Autonomie, Respekt und Toleranz zu erreichen. Indem Schülerinnen und Schüler miteinander im Unterricht über kontroverse Fragen diskutieren, lernen und erfahren sie – so die Idee und das Ideal –, was es bedeutet, in einer liberalen Demokratie zusammenzuleben, und worauf eine funktionstüchtige Demokratie angewiesen ist. Sie lernen, über die Plausibilität und Geltung von Gründen zu diskutieren, dabei fragwürdige Überzeugungen zu überprüfen und Konsensmöglichkeiten abzuschätzen, aber auch mit Dissens zu leben und sich trotz Meinungsverschiedenheiten wechselseitig als freie und gleichberechtigte Personen zu respektieren. Die pädagogische Initiation in die Praxis des demokratischen Streits soll sie dazu befähigen, sich gemeinsam auf eine sachlich angemessene, zivile und tolerante Art und Weise über Angelegenheiten von öffentlichem Interesse zu verständigen.1
In öffentlichen Schulen2 stellt die Diskussion politisch [8]relevanter Themen – also solcher Themen, die sich auf Fragen und Probleme des Zusammenlebens in liberalen Demokratien beziehen3 – eine fächerübergreifende Aufgabe dar, die sich sowohl aus theoretischen als auch aus praktischen Gründen nicht nur auf den Politikunterricht oder nur auf gesellschaftswissenschaftliche Fächer (etwa Wirtschaft oder Geschichte) beschränken lässt. Diskussionen über kontroverse Fragen von politischer Bedeutung können praktisch in allen Fächern aufkommen und sind daher für alle Fächer relevant, sei es nun den Philosophie- und Ethikunterricht (Debatten über Sterbehilfe), den Biologieunterricht (Debatten über Evolution oder Sexualität), den Religionsunterricht (Debatten über Religionsfreiheit oder die Freiheit der Rede) oder den Deutschunterricht (in dem – zunächst themenungebunden – die mündliche Debatte und die schriftliche Erörterung eingeübt werden). Demokratische Erziehung und Bildung sind also Aufgaben, die sich nicht auf einzelne Fächer beschränken lassen. Hitzig geführte gesellschaftliche Debatten machen weder vor Fächergrenzen noch vor den Schultoren halt und finden auf die eine oder andere Weise ihren Weg in den Klassenraum, der kein politikfreier Raum ist.
[9]Es ist daher wenig verwunderlich, dass auch Fragen des angemessenen Umgangs mit kontroversen Themen im Unterricht selbst ein umkämpfter Gegenstand von wissenschaftlichen und öffentlichen Kontroversen sind: Wie sollen z. B. Lehrkräfte mit konfliktbeladenen und polarisierenden Themen wie Klimawandel, Migration oder geschichtsrevisionistischen Postulaten von rechtspopulistischen Politikern im Unterricht umgehen? Wie können Schüler lernen, konstruktiv mit solchen Streitthemen umzugehen? Folgt aus der Etablierung von rechtspopulistischen Argumentationen in öffentlichen Debatten, dass diese im Unterricht gleichberechtigt mit anderen politischen Positionen diskutiert werden müssen? Dürfen Lehrerinnen und Lehrer ihre eigene politische Meinung im Unterricht offenlegen? Können oder sollen sie politisch neutral bleiben? Wie sollten sie sich zu politischen Konflikten verhalten, wo liegen die Grenzen der Meinungsfreiheit im Unterricht?
Diese Fragen verweisen auf eine Reihe von politischen und pädagogischen Herausforderungen, die in den letzten Jahren insbesondere aufgrund der Erfolge rechtspopulistischer Parteien an gesellschaftspolitischer Brisanz gewonnen haben und in der Folge zum Gegenstand einer breiten wissenschaftlichen und öffentlichen Debatte gemacht worden sind. So wird in der Öffentlichkeit z. B. vermehrt über die politische Neutralität von Lehrerinnen und Lehrern und über Indoktrinationsvorwürfe diskutiert. Es wird öffentlich Druck auf Lehrkräfte ausgeübt, denen politische Parteilichkeit vorgeworfen wird (etwa Dienstaufsichtsbeschwerden der AfD in Hamburg, die Einrichtung von Online-Portalen zur Meldung AfD-kritischer Lehrerinnen [10]und Lehrer im Rahmen der Aktion »neutrale Schule« sowie auch die kürzlich wieder entbrannte Diskussion über Berufsverbote für Lehrer).4 Diese Entwicklungen, die in ähnlicher Weise auch in anderen Ländern in und außerhalb Europas beobachtet werden können (z. B. Costa 2020), führen unweigerlich auch zu Spannungen zwischen den Gepflogenheiten der öffentlichen politischen Debatte, den Aufgaben von Schulen und dem professionellen Ethos mitsamt den Rationalitätsstandards, die Lehrerinnen und Lehrer bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu beachten haben. Sie haben unter den Lehrkräften zu einigen Verunsicherungen und zu Orientierungsbedarf bezüglich des Umgangs mit kontroversen Themen im Unterricht geführt.5
In der Debatte zu diesen Problemvorgaben geht es im Kern um die Fragen, wie begründet entschieden werden kann, welche politisch und gesellschaftlich relevanten Themen von Lehrkräften kontrovers, d. h. mit offenem Ausgang und mit Bezugnahme auf ein Spektrum von gleichermaßen angemessenen und legitimen Sichtweisen unterrichtet und diskutiert werden sollen, und welche nicht, und was hieraus in unterrichtspraktischer Hinsicht folgt. Diese Diskussion wird im deutschsprachigen Raum üblicherweise mit Referenz auf den sogenannten »Beutelsbacher Konsens« (in nuce: alle Themen, die in Wissenschaft und Politik kontrovers diskutiert werden, sollten auch im Unterricht [11]kontrovers diskutiert werden) und international mit Bezug auf die sog. Kontroverse über Kontroversitätsgebote6 geführt. Im Mittelpunkt stehen Probleme der Festlegung von angemessenen Kriterien zur Unterscheidung von kontroversen und nicht-kontroversen politischen Themen und Antworten auf die Fragen, ob, warum und wie diese Themen in öffentlichen Schulen dargestellt und vermittelt werden sollten (und faktisch vermittelt werden). Vorgeschlagen wurden verschiedene Kriterien: Auf Basis eines verhaltensbezogenen Kriteriums sollen z. B. alle in Öffentlichkeit und Politik kontrovers diskutierten Themen auch im Unterricht kontrovers diskutiert werden. Verteidiger epistemischer, auf rationale Rechtfertigung von Wissen und Erkenntnis ausgerichteter Kriterien wenden dagegen ein, dass dies nur für hinreichend rational und empirisch begründete Positionen gelten dürfe.
Für die folgende Auseinandersetzung mit Kontroversen im Unterricht sind daher drei systematische Grundfragen leitend:
Warum sollten kontroverse Themen im Unterricht behandelt werden?
Welche Themen sollten im Unterricht kontrovers diskutiert werden und welche nicht?
[12]Wie sollte mit kontroversen Themen im Unterricht pädagogisch-praktisch umgegangen werden?
Um diese Fragen beantworten zu können, werde ich zuerst die theoretischen und empirischen Grundlagen der Kontroverse über Kontroversitätsgebote darstellen und diskutieren. Sodann werde ich meine eigene Position in dieser Kontroverse vorstellen und erläutern und einen Orientierungsrahmen für den Umgang mit kontroversen Themen im Unterricht entwickeln, der zur Klärung der relevanten theoretischen Problemvorgaben beitragen und als praktische Orientierungshilfe für Lehrerinnen und Lehrer dienen soll. Für mein Plädoyer für eine vermehrte Einführung und Verwendung dialogorientierter Formate im Umgang mit Kontroversen nutze ich empirisch informierte Debatten über Möglichkeiten und Schwierigkeiten schulischer Demokratieerziehung in unterschiedlichen Schulsystemen. Last but not least möchte ich so dazu beitragen, dass Debatten über Kontroversen im Unterricht die öffentliche Resonanz finden, die ihrer bildungspolitischen Relevanz angemessen ist.
Zu den einzelnen Kapiteln: Der Band ist in zwei Hauptteile gegliedert, die einerseits zentrale theoretische Problemvorgaben und Leitorientierungen der Kontroverse über Kontroversitätsgebote (Kap. 1) und andererseits praktische Herausforderungen und Beispielfälle zum pädagogischen Umgang mit kontroversen Themen im Unterricht vorstellen und diskutieren (Kap. 2). In Kapitel 1 stelle ich zunächst (1.1) demokratietheoretische und -pädagogische Grundlagen und Grundbegriffe vor und rekonstruiere historische Hintergründe und zentrale Topoi der Kontroverse [13]über Kontroversitätsgebote (u. a. zur Genese und Rezeption des Beutelsbacher Konsenses). An nationalen und internationalen Beispielen lässt sich zeigen, wie man mit kontroversen Themen in sich historisch wandelnden soziopolitischen Kontexten in Schulen umgegangen ist und was man daraus für aktuelle Debatten lernen kann. Das Kapitel 1.2 versucht zu klären, welche normativen und empirischen Gründe für die Diskussion kontroverser Themen im Unterricht sprechen, welche Erziehungsziele und Wirkungserwartungen damit verbunden werden können. In Kapitel 1.3 werden nach einer kurzen Einführung in Grundannahmen der Kontroverse über Kontroversitätsgebote drei der wichtigsten Kriterien auf den Prüfstand gestellt, die zur Unterscheidung von kontrovers und nicht kontrovers zu behandelnden Themen vorgebracht wurden. Diese Kriterien – das verhaltensbezogene Kriterium, das Kriterium der politischen Authentizität und das epistemische Kriterium – können, so die Argumentation, die ihnen zugeschriebenen Orientierungsfunktionen und Rechtfertigungsleistungen für Lehrer und Schüler nur eingeschränkt erfüllen und bedürfen daher der Revision und Ergänzung. Ausgehend von dieser kritischen Bestandsaufnahme stelle ich einen alternativen, pluralistisch gehaltenen Orientierungsrahmen vor, der ein politisches – auf zentrale liberal-demokratische Grundwerte bezogenes – und ein wissenschaftsbezogenes Kriterium miteinander koppelt. Danach diskutiere ich zwei relevante Einwände gegen diese Kriterien, die Indoktrinationsvorbehalte und den Vorwurf mangelnder Neutralität von Lehrkräften geltend machen.
Ausgehend von diesem Orientierungsrahmen beschäftigt sich Kapitel 2 mit praktischen Fragen eines legitimen [14]und pädagogisch klugen Umgangs mit kontroversen Themen im Unterricht. Kapitel 2.1 liefert zunächst einen Überblick über konkrete Praxisformate, Methoden und Manuale einer dialogisch orientierten Demokratieerziehung und erläutert, was man aus diesen lernen kann, welche typischen Probleme und Fallstricke bei ihrer Umsetzung zu beachten sind und welche Rolle dabei der pädagogischen Urteilskraft zukommt. Ausgehend von der Forschung zu Best-Practice-Beispielen werden Leitlinien für einen gelingenden Umgang mit Kontroversen formuliert und zu vermeidende Fehlformen identifiziert. Erörtert werden Schwierigkeiten, die sich in Unterrichtsdiskussionen aus der asymmetrischen und machtförmigen Struktur pädagogischer Konstellationen für Lehrerinnen und Lehrer als epistemische und politische Autoritäten ergeben. Damit eng verbunden ist die Frage, wie Lehrerinnen und Lehrer auf eine pädagogisch angemessene Weise mit sensiblen Themen und mit intoleranten, antiliberalen und antidemokratischen Einstellungsmustern umgehen können und wo die Grenzen des Streits über politisch relevante Themen im Klassenraum zu ziehen sind. Das Kapitel wird beschlossen mit der Rekonstruktion von Problemen, mit denen dialogorientierte Praxisformate der Demokratieerziehung im deutschen und in anderen Schulsystemen konfrontiert sind (etwa mangelnde Zeit für Kontroversen, mangelnde Ausbildung der Lehrer). Es werden Vorschläge gemacht, wie diese Defizite behoben werden können, ohne damit das Schulsystem und einzelne Lehrerinnen und Lehrer mit politischen und gesellschaftlichen Erwartungen zu überfrachten und zu überfordern. In Kapitel 2.2 wird der in Kapitel 1.3 erarbeitete und im Folgekapitel auf Praxisprobleme [15]abgestimmte Orientierungsrahmen auf drei aktuelle gesellschaftspolitische Debatten angewendet und geprüft, ob und wie diese Themen auch im Unterricht als kontroverse Themen behandelt werden sollten. Hierzu zählen der Klimawandel, Verschwörungstheorien sowie die Freiheit der Rede im Zusammenhang mit religiösen Einstellungen. Im Durchgang durch diese Debatten wird sich zeigen, dass in öffentlichen Schulen nicht alle politischen Fragen ›irgendwie kontrovers‹ sind und sein dürfen und dass es selbstverständlich – trotz aller zu konzedierenden Grauzonen und Grenzfälle – durchaus möglich ist, auf Kriterien gestützte Urteile zu begründen, ob solche Themen und Sichtweisen im Unterricht noch oder eben nicht mehr als kontrovers gelten können und sollen. Die domänenspezifische Anwendung der allgemeinen Kriterien für Kontroversität auf konkrete Fälle hat gleichwohl nicht zum Ziel, die diskutierten Fragen ein für alle Mal und mit Bezug auf alle denkbaren Einzelheiten advokatorisch zu klären. Sie dient vielmehr dazu, die Komplexität der Aufgaben zu verdeutlichen, mit denen sich Lehrerinnen und Lehrer in ihrem Arbeitsalltag jeden Tag aufs Neue konfrontiert sehen, und soll zur theoretischen Klärung und praktischen Bewältigung dieser Aufgaben beitragen.
Die Bildungssysteme liberaler Demokratien sind zentrale Austragungsorte politischer Kontroversen über Fragen der demokratischen Erziehung und Bildung, ihre normativen Grundlagen, Leitorientierungen und -prinzipien und deren Legitimation. Im Folgenden werden einige der relevanten demokratietheoretischen und -pädagogischen Ausgangspunkte und Debattenkontexte vorgestellt und diskutiert, die für die Kontroverse über den Umgang mit kontroversen Themen im Unterricht relevant sind.
Liberale Demokratien7 – das erleben wir tagtäglich – zeichnen sich durch eine Pluralität von oftmals strittigen, [18]miteinander unvereinbaren politischen, religiösen, moralischen und ethischen Positionen und Konzeptionen des Guten aus. Das Faktum des Pluralismus und der Unvermeidbarkeit des politischen Dissenses grundsätzlich zu akzeptieren – wenn auch nicht unbedingt wertzuschätzen (Balint 2017) – und der Anspruch, sich trotz Meinungsverschiedenheiten wechselseitig als freie und gleiche Adressaten und Autoren von politischen Geltungs- und Rechtfertigungsansprüchen anzuerkennen, können heute als grundlegende Voraussetzung und als Leitvorgabe von Demokratieerziehung und demokratischer Bildung gelten (Reichenbach 2000).8 Strittig ist jedoch, wie die Ziele von [19]Demokratieerziehung und demokratischer Bildung konkret zu bestimmen sind, welche Fähigkeiten, Gewohnheiten, Charaktereigenschaften, Wertorientierungen, Tugenden etc. uns als Staats- und Weltbürger auszeichnen, wie diese durch pädagogische Arrangements und Praktiken gefördert werden können und wie dies jeweils normativ zu rechtfertigen und empirisch zu plausibilisieren ist. Fragen hierzu werden im Rahmen von konkurrierenden Liberalismus- und Demokratiekonzeptionen unterschiedlich gestellt und beantwortet.9 Diese Pluralität des Umgangs mit gesellschaftlichem Pluralismus ist Ausgangspunkt und Gegenstand der pädagogischen Kontroverse über den Umgang mit Kontroversen im Unterricht. Kontroversität als Faktum impliziert jedoch – das sei hier bereits festgehalten – keineswegs Beliebigkeit oder als Rückzugsoption die Annahme, dass alle Konzeptionen in gleicher Weise plausibel und begründbar sind.
Demokratieerziehung wird in diesem Zusammenhang grosso modo verstanden als die in asymmetrischen Konstellationen (u. a. der Lehrer-Schüler-Beziehung) geregelte und in Auseinandersetzung mit politisch relevanten Sachverhalten vermittelte Initiation in grundlegende Werte, Normen und Praktiken, die für das gelingende politische Zusammenleben in liberalen Demokratien notwendig und förderlich sind. Als Medium der politisch-pädagogischen [20]Aufklärung ist sie weder festgelegt auf eine Aufrechterhaltung des Status quo, noch inkompatibel mit der Kritik an bestehenden Ordnungen, zumindest sofern diese nicht auf eine Abschaffung demokratisch-liberaler Grundordnungen und -werte hinausläuft. Erziehung in und für liberale Demokratie ist vielmehr ausgerichtet auf die Etablierung einer demokratischen pädagogischen Streitkultur als »einer Kultur offenen Denkens und (Wider-)Sprechens« (Frick 2017, S. 57), in der sich die Kontrahenten nicht als Feinde, sondern als Gegner betrachten und behandeln (Levitsky/Ziblatt 2018), die trotz Dissens in der Sache auf eine zivile und tolerante Weise miteinander umgehen und sich als Personen mit gleichen Rechten und Freiheiten respektieren. Zu ihren zentralen Zielen zählen neben der Akzeptanz der grundlegenden Freiheits- und Menschenrechte und der Grundprinzipien liberaler Demokratien (etwa Gewaltenteilung und Pluralismus) vor allem personale und politische Autonomie. Letztere steht für die Bereitschaft und Fähigkeit, die eigene Lebensführung und die eigenen Überzeugungen reflexiv zu begründen und in Diskussionen über politisch relevante Fragen Stellung zu beziehen. Demokratieerziehung verpflichtet zudem zur Solidarität im Umgang mit der Autonomie anderer Menschen und im Kampf gegen Einschränkungen dieser Autonomie durch ungerechtfertigte Macht- und Herrschaftsverhältnisse10.
Demokratische Bildung als Form der Grund- und [21]Persönlichkeitsbildung ist – so wie sie im Folgenden verstanden werden soll – konstitutiv orientiert11 an den oben genannten Zielen von Demokratieerziehung, deren Voraussetzungen es im Rahmen von öffentlichen Schulen zu realisieren gilt. Als Grundbildung zielt sie damit auf die Generalisierung von »grundlegenden kognitiven und normativen, instrumentellen und reflexiven Prämissen der Kommunikation«, so dass »über die Befähigung aller zur Teilhabe an der jeweiligen Gesellschaft […] die Handlungsmöglichkeiten der Individuen und die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft zeitlich, sachlich und sozial gesichert werden« (Tenorth 2020, S. 481). Personale und politische Autonomie bedarf demokratischer Grundbildung,12 sie ist daher angewiesen13 auf
[22]hinreichend breites Wissen über die politische Welt und darüber, wie dieses Wissen zu erlangen und zu bewerten ist (u. a. Wissen über politische Institutionen und ihre Funktionen, politische Traditionen, Ideale, Ideen und Utopien),
Wissen und Fähigkeiten zum angemessenen Umgang mit unterschiedlichen Formen von Argumenten und damit verbundenen Geltungsansprüchen,
Reflexions- und Orientierungswissen über verschiedene Konzeptionen des Guten, ihre Unterschiede und Begründung und
Wissen über konkrete politische Auseinandersetzungen über Politik, politische Konzepte und Konzeptionen (z. B. von ›Demokratie‹) und über unterschiedliche Arten und Weisen, wie mit Konflikten und Dissens in politisch relevanten Fragen umgegangen wurde und wird.14
Als Persönlichkeitsbildung beruht sie auf der Förderung epistemischer und kommunikativer Tugenden, die in öffentlichen Schulen in Auseinandersetzung mit kanonisierten Lerninhalten und im Medium der Wissenschaftsorientierung erfolgen muss (vgl. Kap. 1.3 und 2.1). Hierzu zählen neben der Fähigkeit und Bereitschaft, die eigenen Auffassungen rational zu artikulieren, diskursiv zu begründen und in Auseinandersetzung mit Gegenargumenten zu prüfen und gegebenenfalls zu revidieren, vor allem Genauigkeit, Objektivität, Unparteilichkeit und Wahrhaftigkeit. Diese epistemischen Tugenden haben durch ihre [23]»Bedeutung für die Qualität unserer Urteile […] mittelbar ethische« und auch politische Relevanz (Reichenbach 2017, S. 196). Dies gilt auch deshalb, weil diese Tugenden epistemischen Lastern (wie etwa Dogmatismus, Autoritarismus und der Bereitschaft, unkritisch fragwürdige Stereotype und Vorurteile zu übernehmen) entgegenwirken, die in der Regel mit politischer Intoleranz einhergehen (Drerup 2019b). Die mit diesen kommunikativen und epistemischen Tugenden verbundene Verständigungsorientierung setzt voraus, dass die Legitimität von Kontroversen über politisch relevante Fragen grundsätzlich akzeptiert wird, und vertraut auf den »zwanglose[n] Zwang des besseren, weil einleuchtenderen Arguments« (Habermas 2009, S. 144). Dies ist nicht zu trennen von einer gewissen Ambiguitätstoleranz (Bauer 2018) im Umgang mit gesellschaftlicher Pluralität und der Kultivierung eines Gemein- und Realitätssinns (Drerup 2018c), auch und gerade dann, wenn man sich inhaltlich mit Bezug auf politisch relevante Themen nicht einigen kann.15
Die Erfahrung, dass Konflikte und Dissens auch dann Bestandteile demokratischer Auseinandersetzungen sind und bleiben, wenn man grundsätzlich einen Konsens anstrebt, ist auch Ausgangspunkt deliberativer, d. h. auf öffentlichen Beratungs- und Entscheidungsprozessen gründender Demokratietheorien, die in unterschiedlichen [24]Varianten den Referenzrahmen für dialogisch orientierte Konzeptionen der Demokratieerziehung und -bildung liefern (etwa: Gutmann/Thompson 1996; Gutmann 1999; Lafont 2020). Die Grundidee deliberativer Demokratietheorie wird von Gutmann und Thompson wie folgt zusammengefasst: »Wir definieren deliberative Demokratie als eine Regierungsform, in der freie und gleichberechtigte Bürger (und ihre Repräsentanten) Entscheidungen in einem Prozess auf Basis von Gründen rechtfertigen, die wechselseitig akzeptabel und allgemein zugänglich sind, mit dem Ziel, zu Schlussfolgerungen zu gelangen, die in der Gegenwart für alle Bürger verbindlich sind, es aber in Zukunft nicht bleiben müssen«.16
Leitend ist dabei die Annahme eines wechselseitigen Stützungs- und Rechtfertigungszusammenhangs zwischen den Institutionen liberaler Demokratien, einer kritischen und nicht bloß rezeptiven Öffentlichkeit (Habermas 1990) und einer hierauf abgestimmten, durch das öffentliche Bildungssystem sicherzustellenden Demokratieerziehung und -bildung. Sie soll künftige Bürger befähigen, informiert zu öffentlichen Kontroversen Stellung zu beziehen und so an kollektiven Prozessen der demokratischen Willensbildung und Selbstbestimmung teilzunehmen (Drerup [25]2020a). Demokratische Legitimität ist aus dieser Sicht darauf angewiesen, dass die relevanten politischen Entscheidungen und Verfahren offen für Formen der kollektiven Deliberation17 sind, die alle von den Entscheidungen Betroffenen gleichberechtigt einbeziehen.18
[26]Solche Formen der gemeinsamen Deliberation sind als Kern von Politik anzusehen und sollten – so die entsprechende Leitidee deliberativer Demokratiepädagogik – nicht nur in Schulen bei der Diskussion kontroverser Themen, sondern auch in anderen Lebensbereichen etabliert werden (für verhandlungs- und kompromissorientierte Familienerziehung, für eine Demokratisierung der Arbeitswelt). In Anlehnung an Samuelsson lassen sich zwei allgemein gehaltene Kernmerkmale bestimmen, die deliberative Diskussionsideale auszeichnen:
Es geht um Diskussionen, in denen unterschiedliche Sichtweisen präsentiert und begründet werden und in denen die Teilnehmer einander respektvoll zuhören und gemeinsam über die vorgebrachten Argumente und Behauptungen nachdenken.
Es geht in den anvisierten Diskussionen um kollektive Prozesse der kommunikativen Willensformierung, d. h. um Versuche einer Einigung über das, was zu tun ist (2016, S. 2), bzw. – so lässt sich ergänzen – darum, sich darüber zu einigen, worüber man sich nicht einigen kann, und damit auf mehr oder weniger konstruktive Weise umzugehen und zu leben.
Auch wenn daher sehr unterschiedliche kommunikative Praktiken, Arrangements und Methoden unter den Termini »Diskussion«, »Deliberation«, »Diskurs« oder »Dialog« [27]subsumiert werden können (z. B. eher ›offene‹ Formate oder solche, in denen Debatten stärker pädagogisch direktiv vorstrukturiert und gelenkt werden), gibt es dennoch einen weitgehenden Konsens unter Vertretern deliberativer Demokratiepädagogik, dass die Initiation in diskursive Praktiken eine der wichtigsten Möglichkeiten darstellt, um für und in Demokratien zu erziehen und mit den vielen Konflikten des demokratischen Zusammenlebens umgehen zu lernen. Die damit verbundenen Erziehungs- und Bildungsziele sind, so die weithin geteilte Annahme, jedoch nur realisierbar, wenn sich Schüler praktisch als Teilnehmer in demokratisch gestalteten Unterrichtsdiskussionen engagieren.