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"Wenn eine religiöse Lehre unsinnige Satzungen behauptet, welche ... nur das Verständnis des Lebens noch mehr verwirren, so ist dies kein Glaube". Die Arbeit an seiner Schrift "Was ist Religion und worin besteht ihr Wesen?" beendete Leo N. Tolstoi 1902. Der hier vorgelegte Band enthält die im gleichen Jahr erstmals veröffentlichten Übersetzungen von Nachman Syrkin (Verlag Hugo Steinitz) und Iwan Ostrow (Verlag Eugen Diederichs). In den Anhängen werden weitere Texte des russischen Schriftstellers dargeboten: Brief an die Minister des Innern und der Justiz (1896); Gewissensfreiheit - Über die Glaubenstoleranz (1901); Der grüne Stab (1904/05); Lesungen aus der Anthologie für alle Tage (1904-1906), u.a. "Das Kaffeehaus in Surat" und Gedanken von Jean-Jacques Rousseau. Tolstoi sieht in der urchristliche Weltanschauung "nicht irgendeine besondere Religion, sondern die Religion überhaupt, wie sie in Übereinstimmung mit den Lehren all der großen Weisen aller Zeiten und Völker gegeben war, so dass eben das, was in den heiligen Lehren aller Völker das Übereinstimmende ist, die wahre Religion ausmacht und die in Formenwesen und Dogmen sich zeigenden Unterschiede der verschiedenen Konfessionen eigentlich nur eine Verhüllung dieser Religion der Menschheit bedeuten, eine irreligiöse Verunstaltung des gemeinsamen Heiligtums, der Religion" (Eugen Heinrich Schmitt: Einführung zur Ausgabe der Flugschriften). Tolstoi-Friedensbibliothek Reihe A, Band 13 (Signatur TFb_A013) Herausgegeben von Peter Bürger Editionsmitarbeit: Ulrich Frey
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Tolstoi-Friedensbibliothek
Reihe A | Band 13
Herausgegeben von
Peter Bürger
Editionsmitarbeit:
Ulrich Frey
Vorbemerkungen des Herausgebers
WAS IST RELIGION?
(Čto takoe religija i v čem suščnost' eja?)
Leo N. Tolstoi
Deutsch von Dr. Nachman Syrkin (1902)
WAS IST RELIGION UND WORIN BESTEHT IHR WESEN?
(Čto takoe religija i v čem suščnost' eja?)
Leo N. Tolstoi
Ausgabe des Diederichs-Verlags (1902/1911)
Einführung zur Übersetzung der Flugschriften Eugen Heinrich Schmitt
Was ist Religion und worin besteht ihr Wesen? Übersetzt von Iwan Ostrow
Über Gewissensfreiheit, 1901 Übersetzt von Raphael Löwenfeld
Ein Brief an die Minister des Innern und der Justiz, 1896 Übersetzt von Raphael Löwenfeld
_____
Anhang
DER GRÜNE STAB
(
Zelenaja paločka, 1904/05)
Leo N. Tolstoi
Übersetzt von Wilhelm Löwenthal
AUS DEM LESEZYKLUS FÜR ALLE TAGE
(
Krug čtenija, 1904-1906)
Von Leo Tolstoi ausgewählte und selbst verfasste Texte
Das Kaffeehaus in Surat
Bernardin de Saint-Pierre
(
nach der Übersetzung von L. Tolstoi
)
Das Reich Gottes und die allgemeine Religion
Tagestexte
–
14. Juli
„Wenn wir nur auf das hören wollten, was Gott zum Herzen des Menschen sagt …“
Jean-Jacques Rousseau
„Man soll sich niemals vorsätzlich Gott annähern“
Tagestexte – 7. Oktober
_____
Bibliographische Übersicht zu den dargebotenen Tolstoi-Texten
Die Arbeit an seiner Schrift „Was ist Religion und worin besteht ihr Wesen?“ (Čto takoe religija i v čem suščnost' eja?) beendete Leo N. Tolstoi 1902. Der hier vorgelegte Band enthält die im gleichen Jahr erstmals veröffentlichten Übersetzungen von Dr. N. Syrkin (Verlag Hugo Steinitz) und Iwan Ostrow (Verlag Eugen Diederichs). Der im russischen Reich geborene Nathan Syrkin1 (1868-1924), Begründer des sozialistischen Zionismus, ist vor seiner Ausweisung aus Deutschland im Jahr 1904 mit mehreren Übertragungen von Tolstoi-Traktaten hervorgetreten. Zum zweiten Übersetzer Iwan Ostrow liegen bislang – auch in den Einträgen der Deutschen Nationalbibliothek – keine weiterführenden Informationen vor.
In „Was ist Religion?“ formuliert der 1901 ‚exkommunizierte‘ Russe auf denkbar scharfe Weise seine Kritik an dem – mit Staat und Besitzenden verklebten – Legitimationskomplex des verfassten Kirchentums, welcher in erster Linie auf der Heilslehre der Macht und einem irrationalen Glauben an die Gewalt gründet.
Leo N. Tolstoi, so schreibt Eugen Heinrich Schmitt 1911 in der von uns dokumentierten Einführung zur letzten Diederichs-Ausgabe der ‚Flugschriften‘ (→S. 59-70), sieht „in der urchristlichen Weltanschauung … nicht irgendeine besondere Religion, sondern die Religion überhaupt, wie sie in Übereinstimmung mit den Lehren all der großen Weisen aller Zeiten und Völker gegeben war, so dass eben das, was in den heiligen Lehren aller Völker das Übereinstimmende ist, die wahre Religion ausmacht und die in Formenwesen und Dogmen sich zeigenden Unterschiede der verschiedenen Konfessionen eigentlich nur eine Verhüllung dieser Religion der Menschheit bedeuten, eine irreligiöse Verunstaltung des gemeinsamen Heiligtums, der Religion“ (→S. 60). Schmitt, der selbst den ‚Dogmen‘ durchaus einen symbolischen Wahrheitsgehalt zugesteht, vermittelt Tolstois Schrifttum aus dem Blickwinkel einer ‚neugnostischen‘ Religionsphilosophie. Seine Anfragen an das russische Vorbild betreffen u. a. die Wertschätzung bzw. Bedeutung des Individuums: „Tolstoj … fordert, dass der Mensch als sein Ich Gott anerkenne. … Da aber Tolstoj das Menschlich-Individuelle bloß als Dinglich-Endliches anerkennt oder als Teuflisches verwirft …, so gewinnt dies Versenken des Ichs in die Gottheit den Sinn des Erlöschens, der bloßen Verneinung des geistigen Individuums, wie beim Nirwana der Inder. Bis an sein Lebensende äußerte daher Tolstoi Zweifel über das Fortleben des individuellen Geistes.“ (→S. 67)
In den übernommenen Beigaben zur Diederichs-Ausgabe „Was ist Religion?“ und im neu zusammengestellten Anhang des vorliegenden Bandes werden weitere Texte des russischen Schriftstellers dargeboten: Brief an die Minister des Innern und der Justiz (1896); „Gewissensfreiheit“ – über die Glaubenstoleranz (O veroterpimosti, 1901); Der grüne Stab (Zelenaja paločka, 1904/05); Lesungen aus der Anthologie für alle Tage (Krug čtenija, 1904-1906).
Beim Text „Der grüne Stab“ (→S. 139-151) ist zu bedenken, dass der Titel in Verbindung steht mit Erzählungen von Tolstois ältestem Bruder aus Kindertagen: „Nikolaj kannte ein wunderbares Geheimnis, eingeritzt in ein kleines grünes Stöckchen, das am Rande einer Schlucht in der Nähe des Gutes vergraben war. Wenn der Zweig eines Tages gefunden und das Geheimnis offenbart würde, sollten alle Menschen in glücklicher Harmonie miteinander leben. Krankheiten, Leiden und das Böse verschwänden – unter den Menschen sollte es nur Liebe geben.“2
Der Lesetext „Das Kaffeehaus in Surat“ (→S. 153-161), eine Übertragung nach Bernardin de Saint-Pierre, steht in Bezug zu Tolstois Anliegen der interreligiösen Verständigung. Die ebenfalls der Anthologie für alle Tage entnommenen Gedanken von Jean-Jacques Rousseau (→S. 165-170) verweisen auf den großen Einfluss, den der französische Philosoph mit seinem Werk auf den Weg des russischen Dichters ausgeübt hat.3
pb
1 In einigen bislang erschienenen Bänden der Tolstoi-Friedensbibliothek steht irrtümlich: Nathan (statt richtig: Nachman) Syrkin.
2 Geir KJETSAA: Lew Tolstoj. Dichter und Religionsphilosoph. Gernsbach: Casimir Katz Verlag 2001, S. 26-27.
3 Vgl. Jens HERLTH: Jean-Jacques Rousseau. In: M. George/ J. Herlth / Chr. Münch/ U. Schmid (Hg.): Tolstoj als theologischer Denker und Kirchenkritiker [2014]. Zweite Auflage. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, S. 477-490.
(Čto takoe religija i v čem suščnost' eja?)
1901/1902
Leo N. Tolstoi
Deutsch von Dr. Nachman Syrkin4
I.
Bei allen menschlichen Gesellschaften ist zu gewissen Perioden ihres Lebens eine Zeit angebrochen, in der die Religion anfangs von ihrer Grundbedeutung abwich, um alsdann, immer mehr abweichend, ihre Grundbedeutung völlig zu verlieren und endlich in den einmal feststehenden Formen zu erstarren. Die Wirkung derselben auf das Leben der Menschen wurde dann eine immer geringere. In solchen Perioden glaubt die gebildete Minderheit nicht mehr an die bestehende religiöse Lehre, giebt sich aber den Anschein, daß sie daran glaube, weil sie es für nötig erachtet, um die Volksmassen in den bestehenden Lebensformen zu erhalten; die Volksmassen halten zwar durch die Kraft der Trägheit an den einmal festgestellten Formen fest, werden aber in ihrer Lebensweise schon nicht mehr von den Anforderungen der Religion geleitet, sondern nur von den Volkssitten und Staatsgesetzen.
Dies ist mehrfach in den verschiedenen menschlichen Gesellschaften der Fall gewesen. Niemals aber kam das vor, was jetzt in unserer christlichen Gesellschaft vor sich geht. Es war niemals der Fall, daß die reiche, herrschende und gebildetere Minderheit, welche den größten Einfluß auf die Massen hat, an die bestehende Religion glaubte, sondern sie war davon überzeugt, daß die Religion jetzt nicht mehr nötig sei; daß sie den Menschen, welche an der Wahrheit ihrer Religion Zweifel hegen, nicht eine andere, vernünftigere und klarere Religionslehre als die bestehende beibrachte, sondern die Lehre: die Religion habe überhaupt ihre Zeit überlebt und sei jetzt nicht nur ein unnützes, sondern auch ein schädliches Organ im Leben der Gesellschaft, wie der Blinddarm im menschlichen Organismus. Diese Menschen studieren die Religion nicht als etwas aus innerer Erfahrung Resultierendes, sondern als eine äußere Erscheinung, welche gewissen Leuten anhaftet, und welche wir nur nach äußeren Symptomen zu erforschen vermögen. [→S. 71-72]
Die Religion ist nach der Meinung einiger dieser Menschen aus der Beseelung der Naturerscheinungen (Animismus) hervorgegangen; nach der Meinung anderer stammt sie aus der Vorstellung, daß es möglich sei, Beziehungen zu den verstorbenen Vorfahren zu unterhalten, nach der Meinung einer dritten Gruppe von Menschen – aus der Furcht vor den Naturgewalten. Da aber – so folgern die gelehrten Leute unserer Zeit – die Wissenschaft bewiesen hat, daß Bäume und Steine nicht beseelt sein können, daß die verstorbenen Vorfahren schon nicht mehr fühlen, was die Lebenden thun, und daß die Naturerscheinungen durch natürliche Ursachen erklärt werden, so ist auch das Bedürfnis für eine Religion, sowie für alle Beschränkungen, welche sich die Menschen infolge der Religion auferlegten, aufgehoben. Nach der Meinung der Gelehrten gab es ein Zeitalter der Unwissenheit – das religiöse. Dieses Zeitalter ist von der Menschheit schon längst überlebt; es sind nur noch spärliche statistische Merkmale davon übrig geblieben. Alsdann kam das metaphysische Zeitalter, das ebenfalls überlebt ist. Jetzt leben wir, die aufgeklärten Leute, in dem wissenschaftlichen Zeitalter, in dem Zeitalter der positiven Wissenschaft, welche die Religion ersetzt und die Menschheit auf eine solche hohe Stufe der Entwickelung führt, die sie niemals hätte erreichen können, wenn sie sich den abergläubischen religiösen Lehren unterworfen hätte.
Zu Anfang des Jahres 1901 hielt der berühmte französische Gelehrte Berthelot eine Rede5* worin er seinen Zuhörern den Gedanken mitteilte, daß die Zeit der Religion vorüber sei, und daß die Religion jetzt durch die Wissenschaft ersetzt werden müsse. Ich citiere diese Rede deshalb, weil sie mir zuerst in die Hände geraten ist und in der Hauptstadt der gebildeten Welt von einem allgemein anerkannten Gelehrten gehalten wurde. Der gleiche Gedanke wird indessen beständig und überall ausgesprochen, angefangen bei philosophischen Traktaten bis hinab zu Zeitungs-Feuilletons. Herr Berthelot sagt in dieser Rede, daß es früher zwei Prinzipien gab, welche die Menschheit leiteten: die Gewalt und die Religion. Jetzt aber seien diese bewegenden Prinzipien überflüssig geworden, indem an ihre Stelle die Wissenschaft getreten sei. Unter der Wissenschaft versteht aber Herr Berthelot augenscheinlich, ebenso wie alle Leute, die an die Wissenschaft glauben, eine solche Wissenschaft, die alle Gebiete menschlicher Erkenntnis, die harmonisch vereinigt und je nach ihrer Wichtigkeit untereinander gegliedert ist, erfaßt, und solche Methoden besitzt, daß alle von ihr überkommenen Daten die unzweifelhafte Wahrheit darstellen. Da aber eine solche Wissenschaft in Wirklichkeit nicht existiert und da die sogenannte Wissenschaft eine Sammlung von zufälligen, durch nichts zusammenhängenden Kenntnissen bildet, die mitunter ganz unnötig sind, und nicht nur keine unzweifelhafte Wahrheit darstellen, sondern sehr häufig aus den gröbsten, heute als Wahrheit geltenden und morgen umgestoßenen Irrtümern bestehen, so ist es klar, daß der Begriff nicht vorhanden ist, welcher nach der Meinung des Herrn Berthelot die Religion ersetzen soll. Darum ist denn auch die Behauptung des Herrn Berthelot, sowie der ihm gleichgesinnten Menschen, daß die Wissenschaft die Religion ersetzen werde, ganz willkürlich und aus den durch nichts gerechtfertigten Glauben an die Unfehlbarkeit der Wissenschaft gegründet, gleich dem Glauben an die Unfehlbarkeit der Kirche. Indessen sind Männer, welche Gelehrte heißen und sich auch für Gelehrte halten, vollständig davon überzeugt, daß bereits eine solche Wissenschaft existiere, die die Religion ersetzen müsse und könne und dieselbe sogar bereits aufgehoben habe.
„Die Religion hat sich überlebt; an irgend etwas außer der Wissenschaft zu glauben, ist Unwissenheit. Die Wissenschaft wird alles ordnen, und man darf sich nur von ihr im Leben leiten lassen,“ – so denken und sprechen sowohl die Gelehrten selbst, wie die Leute aus der großen Menge, die zwar der Wissenschaft selbst fern stehen, den Gelehrten aber Glauben schenken und zusammen mit ihnen behaupten, daß die Religion ein überlebter Aberglaube ist und daß man sich im Leben nur von der Wissenschaft leiten lassen müsse, d. h. eigentlich von nichts, da doch die Wissenschaft, ihrem eigenen Ziele entsprechend, keine Anleitung für das Leben zu geben vermag.
II.
Die gelehrten Männer unserer Zeit haben entschieden, daß Religion nicht mehr nötig sei, daß die Wissenschaft sie ersetzen werde, wenn sie dieselbe nicht schon abgelöst habe. Indessen aber hat wie früher, so auch jetzt ohne Religion niemals eine menschliche Gesellschaft oder auch ein einzelner vernünftiger Mensch gelebt. (Ich sage deshalb vernünftiger Mensch, weil der unvernünftige Mensch, ebenso wie das Tier, auch ohne Religion leben kann.) Und zwar kann der vernünftige Mensch darum nicht ohne Religion leben, weil nur die Religion dem vernünftigen Menschen die ihm notwendige Anleitung darüber giebt, was er zu thun habe und was man früher und später thun solle. Der vernünftige Mensch kann eben deshalb ohne Religion nicht leben, weil die Vernunft eine Eigenschaft seiner Natur ist. Jedwedes Tier wird in seinen Handlungen – außer denjenigen, zu welchen die Lust der Befriedigung seiner Triebe es hinreißt, – von der Rücksicht auf die nächsten Folgen seines Handelns geleitet. Indem das Tier diese Folgen mit den ihm zu Gebote stehenden Hilfsmitteln der Erkenntnis überlegt, bringt es seine Handlungen mit jenen Folgen in Übereinstimmung, daß es immer ohne zu schwanken, gleichmäßig dieser Überlegung entsprechend, handelt. So fliegt z. B. die Biene nach Honig aus und trägt ihn in den Stock, weil sie im Winter die von ihr gesammelte Nahrung für sich und die Jungen brauchen wird; über diese Erwägung hinaus weiß sie nichts und kann sie nichts wissen. Ebenso verfährt der Vogel, der sein Nest baut, oder von Norden nach Süden oder umgekehrt zieht. Und auch jedes andere Tier verfährt so, wenn es eine Handlung vollzieht, die nicht einem direkten momentanen Bedürfnisse entspringt, sondern durch die Überlegung erwarteter Folgen bedingt wird. Anders aber ist es beim Menschen. Der Unterschied zwischen Mensch und Tier besteht darin, daß die Erkenntnisfähigkeit des Tieres sich auf das beschränkt, was wir Instinkt nennen, während die hauptsächliche Erkenntnisfähigkeit des Menschen die Vernunft ist. Die Biene, die ihre Nahrung einsammelt, kann keinen Zweifel darüber hegen, ob es gut oder schlecht sei, sie einzusammeln. Aber der Mensch, der die Ernte oder die Früchte einsammelt, kann nicht umhin, daran zu denken – ob er nicht für zukünftige Zeit das Wachstum des Korns oder der Früchte vernichte? oder daran – ob er durch dieses Einsammeln nicht dem Nächsten die Nahrung wegnehme? Er kann nicht umhin, auch daran zu denken, was aus jenen Kindern werden wird, welche er ernährt? und mancherlei anderes. Die wichtigsten Fragen der Lebensführung können durch den vernünftigen Menschen nicht endgültig entschieden werden und zwar gerade wegen der Überfülle der Folgen, an die er denken muß. Jeder vernünftige Mensch fühlt, wenn er es nicht weiß, daß er in den allerwichtigsten Lebensfragen sich weder von Persönlichen Gefühlsregungen, noch von Erwägungen über die nächsten Folgen seiner Thätigkeit leiten lassen kann, weil er zu verschiedene und oft entgegengesetzte Folgen sieht, d. h. solche, die wahrscheinlich ebenso wohlthätig, wie schädlich sein können, sowohl was ihn, als was andere Menschen angeht. Es giebt eine Legende, nach der ein Engel, der auf die Erde zu einer frommen Familie niederstieg, daselbst ein Kindchen tötete, welches in der Wiege lag; als man ihn fragte, weshalb er dies gethan, erklärte er, daß dieses Kind der größte Bösewicht geworden wäre und seiner Familie viel Unglück gebracht hätte. Aber nicht nur die Frage, welches Menschenleben nützlich, unnütz oder schädlich ist, sondern alle wichtigen Lebensfragen können vom vernünftigen Menschen nicht durch die Rücksichtnahme auf ihre nächsten Beziehungen und Folgen entschieden werden. Der vernünftige Mensch kann sich nicht durch jene Erwägungen befriedigt fühlen, welche die Handlungen des Tieres bestimmen. Der Mensch kann sich als Tier unter Tieren, die nur für den gegenwärtigen Tag leben, betrachten, er kann sich auch als Mitglied der Familie, der Gesellschaft, des Volkes, welches Jahrhunderte lebt, betrachten. Er kann und soll sich sogar unbedingt (weil ihn die Vernunft unaufhaltsam dahin führt) als einen Teil der großen Welt ansehen, welche in der Zeit unendlich ist. Darum sollte der vernünftige Mensch in Bezug auf die unendlich kleinen Lebenserscheinungen, die seine Handlungen bestimmen können, das thun und hat es auch immer gethan, was in der Mathematik als Integrierung bezeichnet wird, d. h. er muß alle seine Handlungen nicht nur zu den nächsten Lebenserscheinungen, sondern zur ganzen, in Zeit und Raum unendlichen, Welt in Beziehung bringen. Die Schaffung solcher Beziehungen des Menschen zu dem Ganzen, von dem er sich selber als einen Teil fühlt und aus dem er eine Anleitung für seine Handlungen entnimmt, dies ist es eben, was Religion genannt wurde und genannt wird. Und darum war die Religion immer eine Notwendigkeit und eine unabweisbare Lebensbedingung für den vernünftigen Menschen und die vernünftige Menschheit und kann es niemals aufhören zu sein.
III.
So wurde auch die Religion immer von denjenigen Menschen aufgefaßt, welche des höchsten, d. h. des religiösen Bewußtseins nicht entbehrten, das den Menschen vom Tier unterscheidet. Die älteste und gebräuchlichste Definierung der Religion, wovon auch das Wort stammt: religio (religare, binden) besteht darin, daß die Rel igion das Band zwischen dem Menschen und Gott ist. Les obligations de l’homme envers Dieu, voilà la religion, sagt Vauvenargues. Die gleiche Bedeutung legen der Religion Schleiermacher und Feuerbach bei, indem sie anerkennen, daß die Grundlage der Religion die Erkenntnis der Abhängigkeit des Menschen von Gott ist. La religion est une affaire entre chaque homme et Dieu. (Bayle.) La religion est le résultat des besoins de l'âme et des effets de l’intelligence. (B. Constant.) Die Religion ist für den Menschen ein gewiss es Hil fsmittel der Verwirklichung seiner Beziehung zu den übermenschlichen und geheimen Kräften, von welchen er sich abhängig glaubt. (Goblet d’Alviella.) Die Religion ist die Bestimmung des Menschenlebens mittels der Verbindung der Menschenseele mit jenem geheimnisvollen Geist , dessen Herrschaft über die Welt und über sich vom Menschen anerkannt wird und mit welchem er sich vereint fühlt. (A. Reville.)
Das Wesen der Religion wurde demnach und wird auch jetzt von Menschen, die der höchsten menschlichen Eigenschaft nicht entbehren, als eine Feststellung der Beziehung des Menschen zu dem unendlichen Wesen oder den Wesen, deren Macht er über sich fühlt, aufgefaßt. Und diese Beziehung, wie verschieden sie auch immer für die verschiedenen Völker und in verschiedenen Zeiten gewesen ist, gab den Menschen immer ihre Bestimmung in der Welt an, aus welcher natürlicherweise auch die Anleitung für ihre Handlungsweise entsprang. Der Jude verstand seine Beziehung zum Unendlichen in der Weise, daß er ein Glied des von Gott auserwählten Volkes sei, und daß er deshalb den von Gott mit diesem Volke geschlossenen Vertrag wahren müsse. Der Grieche verstand seine Beziehung in der Weise, daß er, da er doch von den Stellvertretern der Unendlichkeit – den Göttern – abhängig ist, das thun müsse, was ihnen angenehm ist. Der Brahmane verstand seine Beziehung zum unendlichen Brahma in der Weise, daß er eine Erscheinung dieses Brahma sei und daß er durch den Verzicht auf das Leben nach einer Verschmelzung mit diesem höchsten Wesen streben müsse. Der Buddhist verstand und versteht seine Beziehung zum Unendlichen in der Weise, daß er, aus einer Lebensform in die andere übergehend, unvermeidlich leidet; da aber die Leiden aus Leidenschaften und Wünschen hervorgehen, so müsse er deshalb nach der Vernichtung aller Leidenschaften und Wünsche und nach dem Übergang in das Nirvana streben. Jedwede Religion ist die Feststellung der Beziehung des Menschen zum unendlichen Dasein, an welchem er sich selbst teilnehmend fühlt und aus welchem er die Leitung für seine Handlungsweise entnimmt. Und wenn darum die Religion die Beziehung des Menschen zum Unendlichen nicht feststellt, wie zum Beispiel der Götzendienst oder die Zauberer es thun, so ist das schon keine Religion mehr, sondern nur eine Entartung derselben. Wenn auch die Religion die Beziehung des Menschen zu Gott regelt, jedoch mit Behauptungen, die mit der Vernunft und den modernen Kenntnissen nicht übereinstimmen, sodaß der Mensch an diese Behauptungen nicht glauben kann, so ist dies ebenfalls keine Religion mehr, sondern nur ein Ebenbild derselben. Wenn die Religion nicht das Leben des Menschen mit dem unendlichen Dasein vereinigt, so ist das auch keine Religion. Und ebenfalls ist keine Religion – die Forderung, an solche Satzungen zu glauben, aus denen sich keine bestimmte Richtung für die menschliche Handlungsweise ergiebt.
Die wahre Religion ist diejenige, welche Vernunft und Wissen des Menschen zu dem ihn umgebenden unendlichen Leben in Beziehung bringt, wodurch sein Leben mit diesem Unendlichen verbunden und seine Handlungsweise gelenkt wird.
IV.
Wiewohl nirgend und niemals die Menschen ohne Religion weder gelebt haben, noch leben, sagen doch die gelehrten Männer unserer Zeit, ebenso wie jener Arzt von Molière, der versichert, daß sich die Leber auf der linken Körperhälfte befinde: nous avons changé tout cela, daß es möglich und nötig sei, ohne Religion zu leben. Aber wie die Religion es war, so bleibt sie auch jetzt die hauptsächlichste bewegende Kraft, das Herz des Lebens der menschlichen Gesellschaft, und wie ohne Herz, so kann auch ohne Religion kein vernünftiges Leben existieren. Auch jetzt sind viele verschiedene Religionen vorhanden, weil der Ausdruck der menschlichen Beziehung zum Unendlichen, zu Gott oder zu den Göttern, verschieden ist gemäß der Zeit und der Entwickelungsstufe der verschiedenen Völker; aber niemals hat auch nur eine einzige menschliche Gesellschaft, seitdem die Menschen als vernünftige Geschöpfe existierten, ohne Religion leben können, und darum hat sie auch nicht und kann sie auch nicht ohne Religion gelebt haben und leben.
Es gab und giebt allerdings im Leben der Völker Perioden, da die bestehende Religion so entstellt war und so hinter dem Leben zurückblieb, daß sie dasselbe nicht mehr leitete. Dieses, zu gewisser Zeit in jeder Religion eintretende, Aufhören der Einwirkung auf das Leben der Menschen war aber für gewöhnlich nur vorübergehend. Die Religion besitzt, wie alles Lebendige, die Eigenschaft zu keimen, sich zu entwickeln, zu altern, abzusterben, dann wieder aufzuleben, und zwar in vollendeterer Form, als vorher. Nach einer Periode der höchsten Entwickelung der Religion tritt immer eine Periode ihrer Entkräftung und Erstarrung ein, worauf gewöhnlich eine Periode der Wiedergeburt und der Begründung einer vernünftigeren und klareren Religionslehre, als die frühere war, beginnt. Solche Perioden der Entwickelung, des Absterbens und der Wiedergeburt gab es in allen Religionen. Als die tiefsinnige brahmanische Religion zu altern und in den einmal festgestellten groben Formen zu versteinern begann, welche von ihrem Grundgedanken abwichen, da erschienen von der einen Seite eine Wiedergeburt des Brahmaismus, und von der andern die hohe Lehre des Buddhismus, die den Begriff von der Beziehung der Menschheit zum Unendlichen weiter entwickelten. Solch ein Verfall war auch in der griechischen und römischen Religion eingetreten, und ebenso entwickelte sich, nachdem der Verfall bis zur höchsten Stufe gediehen war, das Christentum. Dasselbe geschah mit dem Kirchen-Christentum, welches in Byzanz zur Bilderdienerei und Vielgötterei ausartete, indem als Gegengewicht dieser Entartung des Christentums einerseits die Paulicianer erschienen, andererseits, im Gegensatz zur Lehre von der Dreieinigkeit und der Gottesgebärerin, der strenge Muhammedanismus mit seinem Grunddogma des einzigen Gottes erstand. Dasselbe war auch mit dem päpstlichen mittelalterlichen Christentum der Fall, welches die Reformation hervorrief. Die Perioden der Entkräftung der Religion in dem Sinne ihrer Einwirkung auf die Wahrheit der Menschen bilden demnach die notwendige Bedingung des Lebens und der Entwickelung aller religiösen Lehren. Dies hat darin seinen Grund, daß jegliche religiöse Lehre in ihrem wahren Sinne, wie grob dieselbe auch sei, immer die Beziehung des Menschen zum Unendlichen feststellt, welche für alle Menschen dieselbe bleibt. Jede Religion erkennt den Menschen als gleich nichtig vor dem Unendlichen, und darum schließt jede Religion immer den Begriff der Gleichheit aller Menschen vor demjenigen, was sie als Gott betrachtet, in sich, – sei es nun der Blitz, der Wind, ein Baum, ein Tier, ein Heros, ein toter oder sogar ein lebender Herrscher, wie dies in Rom der Fall war. Die Anerkennung der Gleichheit aller Menschen ist somit die unvermeidliche Grundeigenschaft jeglicher Religion. Da aber in Wirklichkeit eine Gleichheit der Menschen unter sich niemals und nirgends bestand oder besteht, so geschah es, daß sofort nach Erscheinen einer neuen religiösen Doktrin, die immer die Anerkennung der Gleichheit aller Menschen in sich schloß, die Leute, für welche die Ungleichheit vorteilhaft war, diese Grundeigenschaft der religiösen Lehre dadurch zu verbergen suchten, daß sie die religiöse Lehre selbst entstellten. Dies geschah auch immer und überall, wo eine neue religiöse Doktrin erschien. Und dies geschah meistenteils nicht bewußt, sondern nur darum, weil die Menschen, für welche die Ungleichheit vorteilhaft war, die Mächtigen, die Reichen, sich mit allen Mitteln bemühten, die religiöse Lehre so zu deuten, daß die Ungleichheit erhalten blieb, um sich vor der angenommenen Lehre als gerecht zu fühlen, ohne doch dabei die eigene Lage zu ändern. Die Entstellung der Religion, bei welcher die Herrschenden sich zur Herrschaft berechtigt halten konnten, wurde natürlicherweise auf die Massen übertragen und flößte diesen den Glauben ein, daß ihre Unterwerfung unter die Herrschenden eine Forderung der von ihnen angenommenen Religion sei.
V.
Jede menschliche Thätigkeit wird durch drei Leitmotive hervorgerufen: durch das Gefühl, die Vernunft und die Eingebung, eine Eigenschaft, welche die Ärzte Hypnose nennen. Mitunter handelt der Mensch nur unter dem Einfluß des Gefühls, indem er das erreichen will, was er begehrt, mitunter nur unter dem Einfluß der Vernunft, welche ihn darauf hinweist, was er thun soll; mitunter und am häufigsten handelt der Mensch, weil er selbst oder die anderen Menschen ihm eine gewisse Thätigkeit suggeriert haben, und er sich unbewußt der Suggestion unterwirft. Unter normalen Lebensbedingungen nehmen alle diese drei Leitmotive an der menschlichen Thätigkeit teil. Das Gefühl reißt den Menschen zu einer gewissen Thätigkeit hin, die Vernunft untersucht die Übereinstimmung dieser Thätigkeit mit der Umgebung, der Vergangenheit und der Zukunft, die Suggestion zwingt den Menschen, die durch das Gefühl hervorgerufenen und durch die Vernunft gebilligten Handlungen auszuführen, ohne dabei selbst zu fühlen und zu denken. Wenn das Gefühl nicht wäre, so würde der Mensch nichts unternehmen; wenn die Vernunft nicht wäre, so würde der Mensch sich gleichzeitig vielen entgegengesetzten und ihm und anderen schädlichen Beschäftigungen hingeben; wenn die Fähigkeit, der eigenen und fremden Eingebung zu gehorchen nicht wäre, so müßte der Mensch unaufhörlich jenes Gefühl haben, das ihn zu einer gewissen Thätigkeit bewegte und fortwährend seine Vernunft zur Prüfung der Zweckmäßigkeit dieses Gefühls anstrengen. Darum sind all diese drei bewegenden Kräfte auch für die einfachste, menschliche Thätigkeit notwendig. Wenn der Mensch von einem Ort an einen andern geht, so geschieht dies deshalb, weil das Gefühl ihn dazu treibt, weil die Vernunft diese Absicht billigte, die Mittel der Ausführung vorschrieb (im gegebenen Falle das Schreiten auf einem gewissen Wege), und weil die Muskeln des Körpers gehorchen. Während er geht, werden Gefühl und Vernunft für eine andere Thätigkeit frei, was nicht eintreten könnte, wenn die Fähigkeit der Eingebung zu gehorchen nicht bestände. So geschieht dies bei jeglicher menschlichen Thätigkeit und auch bei der allerwichtigsten, der religiösen Thätigkeit. Das Gefühl ruft das Bedürfnis nach Feststellung der Beziehung des Menschen zu Gott hervor; die Vernunft bestimmt diese Beziehung; die Eingebung bewegt den Menschen zu der Thätigkeit, welche aus dieser Beziehung entspringt. Aber dies geschieht nur so lange derart, wie die Religion noch keiner Entstellung ausgesetzt war. Sobald diese Entstellung eintritt, wird die Eingebung immer stärker und die Thätigkeit des Gefühls und der Vernunft immer schwächer. Die Mittel der Eingebung sind aber immer und überall die gleichen. Diese Mittel bestehen darin, daß man unter Benutzung desjenigen menschlichen Zustandes, in dem der Mensch am meisten empfänglich für Eingebungen ist (Kindesalter, wichtige Lebensereignisse – Geburten, Eheschließungen, Todesfall), auf ihn durch Werke der Kunst einwirkt: durch Architektur, Bildhauerkunst, Malerei, Musik, dramatische Vorstellungen, und in diesem Zustande der Empfänglichkeit – welcher dem ähnlich ist, der bei einzelnen Menschen durch Einschläfern erreicht wird – ihm das suggeriert, was den Eingebern wünschenswert ist.
Diese Erscheinung kann man bei allen alten Glaubenslehren beobachten: sowohl bei der erhabenen Lehre des Brahmaismus, die in grobe Anbetung zahlloser Abbilder in verschiedenen Tempeln bei Gesang und Räuchern ausgeartet ist, wie bei der altjüdischen Religion, die von den Propheten gepredigt wurde und sich dann in eine Anbetung Gottes in einem herrlichen Tempel bei feierlichen Gesängen und Umzügen verwandelte, sich auch bei den zahllosen, feierlichen Bräuchen in den geheimnisvollen Lamaismus verwandelte, wie auch bei dem Taotismus mit seiner Zauberei und seinen Beschwörungen.
Sobald die religiösen Lehren zu entarten anfangen, verwenden die Wächter der Religionslehre alle Anstrengungen immer darauf, den Menschen das zu suggerieren, was sie selbst brauchen, indem sie dieselben in einen Zustand geschwächter Vernunftthätigkeit versetzen. Man mußte aber bei allen Religionen immer dieselben drei Satzungen suggerieren, welche als Basis aller der Entstellungen dienen, denen die alternden Religionen ausgesetzt waren. Erstens, daß es eine besondere Art Menschen gäbe, welche allein die Vermittler zwischen den Menschen und Gott oder den Göttern sein können; zweitens, daß Wunder geschahen und geschähen, welche die Wahrheit dessen beweisen und bekräftigen, was diese Vermittler zwischen Menschen und Gott sagen; und drittens, daß es bestimmte Worte gäbe, die in der Tradition leben oder in Büchern stehen, welche den unwandelbaren Willen Gottes oder der Götter ausdrücken und deshalb heilig und unfehlbar sind. Sobald aber unter dem Einfluß der Hypnose diese Satzungen angenommen sind, so wird auch alles, was die Vermittler zwischen Gott und den Menschen sprechen, als heilige Wahrheit angenommen, und das Hauptziel der religiösen Entartung ist erreicht – nicht nur die Verhüllung des Gesetzes der Gleichheit aller Menschen, sondern auch Schaffung und Begründung der allergrößten Ungleichheit, die Einteilung in Kasten, die Scheidung in Menschen und in Sklaven, in Rechtgläubige und in Ungläubige, in Heilige und Sünder. Ganz dasselbe geschah und geschieht auch im Christentum: die vollkommen ungerechte Einteilung der Menschen untereinander, und zwar nicht nur in dem Sinne des Verständnisses der Lehre in den Klerus und das Volk, sondern auch in dem Sinne der gesellschaftlichen Stellung – in Gewalt besitzende Menschen und solche, die sich jener Gewalt unterwerfen müssen, die Paulus als von Gott selbst eingesetzt betrachtet, wurde anerkannt.
VI.
Die Ungleichheit der Menschen, nicht nur des Klerus und der Laien, sondern auch der Reichen und der Armen, der Herren und der Knechte, ist durch die christliche Kirchenreligion in bestimmten und schroffen Formen festgesetzt worden, ebenso wie in anderen Religionen. Urteilen wir aber nach jenen Thatsachen, welche wir über den anfänglichen Zustand des Christentums haben, urteilen wir nach der in den Evangelien zum Ausdruck gekommenen Lehre, so scheint es, daß die hauptsächlichsten Mittel der Entstellung, die in anderen Religionen vorkommen, vorausgesehen wurden, und daß eine Warnung davor klar ausgesprochen wurde. Gegen den Stand der Priester ist geradezu gesagt, daß kein Mensch der Lehrer des andern sein könne (nennet euch nicht Väter und Lehrer); gegen die Thatsache, daß Büchern eine geheiligte Bedeutung zugeschrieben wird, wird gesagt, daß der Geist und nicht der Buchstabe das Wichtige sei und daß die Menschen nicht menschlichen Überlieferungen glauben sollen; und daß ferner das ganze Gesetz und die Propheten, d. h. alle Bücher, welche man für heilige Schriften hielt, nur darauf hinaus führen, daß du mit deinem Nächsten so verfahren sollst, wie du willst, daß es mit dir geschehe. Wenn nichts gegen die Wunder gesagt ist und im Evangelium selber Wunder beschrieben sind, die angeblich Jesus vollbracht habe, so ist trotzdem aus dem ganzen Geist der Lehre ersichtlich, daß Jesus die Wahrheit seiner Lehre nicht auf Wunder gründete, sondern auf die Lehre selbst. („Wer wissen will, ob meine Lehre wahr sei, der mag thun, was ich sage.“) Am wichtigsten ist aber, daß das Christentum die Gleichheit der Menschen verkündet, und zwar nicht als Folgerung aus der Beziehung der Menschen zum Unendlichen, sondern als Grundlehre der Brüderlichkeit aller Menschen, da alle als Kinder Gottes anerkannt werden. Und darum sollte es doch unmöglich scheinen, das Christentum so zu entstellen, daß dabei das Bewußtsein der Gleichheit der Menschen untereinander beseitigt würde.
Allein der menschliche Verstand ist erfinderisch und es wurde, vielleicht unbewußt oder halb bewußt, ein noch ganz neues Mittel (truc, wie die Franzosen sagen) erdacht, um die evangelischen Warnungen und die offenbare Verkündigung der Gleichheit aller Menschen unwirksam zu machen. Dieser truc besteht darin, daß die Unfehlbarkeit nicht nur einem gewissen Buchstaben, sondern auch einer gewissen Versammlung von Menschen zugeschrieben wurde, welche die Kirche heißt, und welche das Recht hat, diese Unfehlbarkeit den von ihr auserwählten Menschen zuzuschreiten.
Es wurde eine kleine Hinzufügung zu den Evangelien erdacht, und zwar, daß Christus, als er gen Himmel fuhr, gewissen Menschen das ausschließliche Recht übergeben habe, nicht nur die Menschenkinder die göttliche Wahrheit zu lehren (er übergab zugleich nach dem Buchstaben des Verses des Evangeliums auch das Recht, welches gewöhnlich nicht benutzt wird – unverletzlich zu sein für Schlangen, jegliches Gift und Feuer), sondern auch die Menschen selig zu machen oder zu verdammen und, was die Hauptsache ist, dieses Recht auch auf andere Menschen zu übertragen. Sobald aber der Begriff der Kirche festgesetzt war, wurden auch schon alle Satzungen des Evangeliums unwirksam, welche eine Entstellung verhindern sollten, da die Kirche älter war als die Vernunft, sowie die für heilig anerkannten Schriften. Die Vernunft wurde als Quelle des Irrtums erklärt; das Evangelium wurde nicht so ausgelegt, wie es der gesunde Verstand verlangte, sondern wie es diejenigen haben wollten, welche die Kirche bildeten.
Und darum wurden alle drei früher genannten Mittel der Religionsentstellung: die Priesterschaft, die Wunder und die Unfehlbarkeit der Schrift – auch im Christentum in voller Kraft anerkannt. Anerkannt wurde das rechtmäßige Vorhandensein von Vermittlern zwischen Gott und den Menschen, weil die Kirche die Notwendigkeit und Gesetzlichkeit der Vermittler anerkannte; anerkannt wurde die Wirklichkeit der Wunder, weil die unfehlbare Kirche dieselben bezeugte; die Bibel wurde als heilig anerkannt, weil die Kirche sie als solche erklärte.