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Im März 1966 stellt Egon Bahr ein Manuskript fertig. Unter dem Titel »Was nun?« skizziert er, damals Pressesprecher des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, darin eine neue Ost- und Deutschlandpolitik. Er übergibt es stolz seinem Chef – und der Text verschwindet in der Schublade. Angesichts der Möglichkeit einer Großen Koalition berge die Denkschrift zu viel Sprengstoff, fürchtet Willy Brandt. Doch die beiden machen sich schon bald daran, Bahrs Konzept im Zuge der »Neuen Ostpolitik« Schritt für Schritt zu verwirklichen: Sie lassen die Hallstein-Doktrin hinter sich, setzen auf »Wandel durch Annäherung« und bringen die Ostverträge auf den Weg. Brandts Kniefall in Warschau steht bis heute sinnbildlich für diese Politik. Dem Kanzler wird sie den Friedensnobelpreis einbringen, seinem wichtigsten Berater und engsten Freund den Ruf des brillanten außenpolitischen Analytikers.
30 Jahre nach dem Mauerfall wird Egon Bahrs Denkschrift nun endlich veröffentlicht. Der Historiker Peter Brandt ordnet Bahrs Strategie in das politische Spannungsfeld der sechziger Jahre ein. Ein historisches Dokument ersten Ranges.
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Seitenzahl: 302
Egon Bahr
Was nun?
Ein Weg zur deutschen Einheit
Herausgegeben von Peter Brandt und Jörg Pache
Suhrkamp
Peter BrandtEinleitung
Editorische Notiz
Was nun?
Zur Einleitung
Was nun?
Elemente einer Bestandsaufnahme
Gesucht: Kommunistische Patrioten
Das Verhältnis Bundesrepublik – DDR
Ein europäisches Sicherheitssystem
Ein Stufenplan
Innenpolitische Voraussetzungen
Deutschlands Rolle
AnmerkungenAnmerkungenErläuterungen und Verweise
Peter Brandt
Die Teilung Deutschlands durch die doppelte Staatsgründung am 23. Mai und am 7. Oktober 1949 war nicht das Ergebnis eines Plans der Siegermächte. Zwar war eine territoriale Aufteilung des besiegten Deutschen Reiches, nicht identisch mit den späteren Besatzungszonen, während des Zweiten Weltkriegs erwogen, aber nicht konkret beschlossen und auf der ersten Nachkriegskonferenz der führenden Politiker der UdSSR, der USA und Großbritanniens (Frankreich wurde nachträglich hinzugezogen) in Potsdam (17. Juli bis 2. August 1945) nicht weiter verfolgt worden. Vielmehr gingen die dortigen Beschlüsse von der Wirtschafts- und sektoralen Verwaltungseinheit des um die preußischen Ostprovinzen jenseits von Oder und Neiße (unter Vertreibung der dort lebenden Deutschen) verkleinerten Deutschland aus, auch wenn eine einheimische Regierung auf gesamtstaatlicher Ebene zunächst nicht vorgesehen war. Vielmehr fungierte der Alliierte Kontrollrat bis Frühjahr 1948 als eine Art Regierung.1
Die Wirtschaftseinheit und die wegen der französischen Weigerung nicht realisierten zentralen Verwaltungsbehörden standen jedoch in einem Spannungsverhältnis zur Übertragung umfassender Vollmachten an den jeweiligen Oberbefehlshaber in den vier Besatzungszonen sowie in den vier Sektoren des als Sondergebiet definierten Berlin. Die inhaltlichen Richtlinien von »Potsdam« – schlagwortartig zusammengefasst in den vier bzw. fünf Ds: Denazifizierung, Demilitarisierung, Demokratisierung, Dezentralisierung und Demontage (von Industrieanlagen) – waren überwiegend Formelkompromisse, die unterschiedlich ausgelegt werden konnten, und unterschiedlich waren auch die Interessen der Besatzungsmächte, namentlich die der Hauptsieger USA und Sowjetunion. Während die USA nach einer Phase der Unklarheit und des Verschiebens von Entscheidungen seit Herbst 1946 von der Unverzichtbarkeit des deutschen, zumindest westdeutschen Wirtschaftspotenzials für den Wiederaufbau Westeuropas und für die Rekonstruktion eines einheitlichen liberal-kapitalistischen Weltmarkts ausgingen, war das vorrangige Interesse der Sowjetunion auf Reparationen für die Verheerungen der Jahre 1941-1944 und in diesem Zusammenhang auf die Beteiligung an der Kontrolle des Ruhrgebiets gerichtet.2
Aus der Unfähigkeit und wachsenden Unwilligkeit der Sieger- und Besatzungsmächte, über Deutschland zu einer Einigung zu kommen, entstand über den Zusammenschluss der amerikanischen und britischen Zone mit Jahresbeginn 1947 (zunehmend versehen mit deutschen exekutiven und repräsentativen Institutionen), den alliierten Auftrag vom Juni/Juli 1948 an die inzwischen durch Wahlen legitimierten westdeutschen Länder, einen separaten, mit einer Verfassung (das spätere Grundgesetz, ausgearbeitet von einem aus den Länderparlamenten beschickten Parlamentarischen Rat) versehenen Weststaat zu bilden, sowie nicht zuletzt die westzonale Währungsreform vom 20. Juni 1948 die Bundesrepublik Deutschland. Im Hinblick auf die damit auch formal vollzogene staatliche Teilung verstand sich die Bundesrepublik besonders in ihren ersten Jahren als Provisorium.3
In der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) bedeutete die Schaffung der Deutschen Wirtschaftskommission zum 11. Juni 1947 einen wesentlichen Schritt zur Verselbstständigung des Gebiets. Während der Blockade der westlichen Sektoren Berlins (Juni 1948 bis Mai 1949) zwecks Verhinderung der Weststaatsbildung wurde die Stadtverwaltung gespalten und der Ostsektor mehr und mehr in die SBZ integriert, auch wenn die Freizügigkeit innerhalb der Stadt bis zum 12. August 1961 im Wesentlichen gewährleistet blieb. Die Formierung einer »Einheitsfront« (später eines »Blocks«) der zugelassenen Parteien schon im Sommer 1945 und die unter massivem Druck erfolgte zonale Fusion von KPD und SPD im Frühjahr 1946 setzten schon frühzeitig eine politische Eigenentwicklung in Gang, die, ergänzt um harte und teilweise willkürliche Repression keineswegs nur gegen Nationalsozialisten und »Reaktionäre«, mehr und mehr jener in den neu entstehenden Volksdemokratien des sowjetischen Einflussbereichs ähnelte.4 Dabei waren die Bodenreform zur Zerschlagung des Großgrundbesitzes und die Ausschaltung, dann Enteignung des Großkapitals als solche nicht unpopulär. Das galt auch für die Westzonen und West-Berlin, wo in den ersten Nachkriegsjahren die Sozialdemokratie und bis zu einem gewissen Grad sogar Teile der CDU eine Überwindung des Kapitalismus anstrebten.5 Ob die sowjetische Politik von vornherein auf die Errichtung einer separaten ostdeutschen Republik gerichtet war, ist ebenso umstritten wie die grundsätzliche Bereitschaft der UdSSR, sich bei entsprechenden Gegenleistungen des Westens auf eine Kompromisslösung über die Wiedervereinigung Deutschlands einzulassen. Jedenfalls waren die SED und andere politische Einrichtungen der SBZ/DDR etliche Jahre bemüht, sich gegen die Bonner Parteien und die »imperialistischen Westmächte« als Kämpfer für die Einheit zu profilieren – auch mit einer ganzen Reihe von an die Bundesrepublik gerichteten Vorschlägen und Angeboten.6
Nach dem Aufbau eigener Streitkräfte der beiden deutschen Staaten im Rahmen gegeneinander gerichteter Militärpakte und dem Übergang der Sowjetunion zur Zwei-Staaten-Doktrin Mitte der fünfziger Jahre stand die Existenz der DDR für die SED-Führung selbst theoretisch nicht mehr zur Disposition. Der Generalsekretär bzw. Erste Sekretär der SED Walter Ulbricht forcierte nun die Entwicklung einer spezifischen »nationalen Konzeption«, der zufolge die DDR (noch bis in die späten sechziger Jahre und verankert in der neuen Verfassung vom 9. April 1968) als eine Art Stützpunkt der gesamtdeutschen Arbeiterklasse verstanden wurde, dem Antipoden der »antinationalen« und antidemokratischen Linie der deutschen Bourgeoisie seit dem späten 19. Jahrhundert. Mit der Konsolidierung der DDR, insbesondere ihren wirtschaftlichen Erfolgen während der sechziger Jahre, drückte sich darin auch ein gewachsenes Selbstbewusstsein der SED-Führung aus. Dereinst werde das deutsche Proletariat, unterstützt von anderen fortschrittlichen Kräften, die gespaltene Nation unter der Roten Fahne wieder zusammenführen. Bis dahin bot Ulbricht eine Konföderation beider deutscher Teilstaaten an. Als die im Oktober 1969 neu gebildete Bonner Regierung aus SPD und FDP nun an die bis dahin gültige ostdeutsche Lesart: zwei Staaten einer Nation, anzuknüpfen suchte, ging die SED, nicht ganz ohne Vorläufer, aber doch im Bruch mit Ulbrichts Konzeption, von der Zwei-Staaten- zur Zwei-Nationen-Lehre über: Neben der im Westen weiter existierenden alten bürgerlich-kapitalistischen Restnation sei auf dem Territorium der DDR eine neue, sozialistische deutsche Nation entstanden, eine Definition, die wenig positive Resonanz in der ostdeutschen Bevölkerung finden konnte.7
Die bis 1966 von der CDU/CSU (bis 1963 unter Bundeskanzler Konrad Adenauer) zusammen mit kleineren konservativen Parteien und die meiste Zeit mit der FDP regierte Bundesrepublik hat der DDR nicht nur die demokratische Legitimität, sondern lange die Staatlichkeit überhaupt abgesprochen. Sie galt als künstliches Gebilde sowjetischer Fremdherrschaft; auch die Sozialdemokratie sah das so. Insofern formulierte Adenauer 1949 im 1. Bundestag mit Zustimmung aller Fraktionen außer der KPD, die neu gegründete Republik sei »der Staat für alle Deutschen«.8 Aus dieser Grundeinstellung ergab sich dann der Anspruch auf Rechtsnachfolgeschaft im Hinblick auf das Deutsche Reich und auf das alleinige Vertretungsrecht der Bundesrepublik für Deutschland nach außen. Als diese 1955 weitgehend souverän wurde und eine eigenständige Außenpolitik treiben konnte, entstand die sogenannte »Hallstein-Doktrin«. Sie drohte jedem Staat, der die DDR formell anerkannte, mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen. Die Sowjetunion wurde wegen ihrer Rolle als Sieger- und Besatzungsmacht davon ausgenommen. Die Verantwortung der vier Mächte für »Deutschland als Ganzes« dauerte ja fort. Zuletzt tagten die Außenminister der früheren Kriegsalliierten 1959 in Genf, ohne einen Konsens über Deutschland zu erzielen. Vorangegangen waren die, letztlich ergebnislose, ultimative Forderung Nikita Chruschtschows, des Parteichefs der KPdSU, West-Berlin zu einer »entmilitarisierten, freien Stadt« zu machen, und die Drohung, einen separaten Friedensvertrag abzuschließen, der die Rechte der sowjetischen Besatzungsmacht auf die DDR übertragen hätte.9
Kurt Schumacher, der von Egon Bahr bewunderte erste Nachkriegsvorsitzende der SPD (1945-1952), kritisierte die Sowjetunion erstens als diejenige Siegermacht, die mit ihrer rigorosen Sicherheits- und Bestrafungspolitik die Lebensinteressen des deutschen Volkes am stärksten bedrohe, und zweitens als einen totalitären, staatskapitalistischen und imperialistischen Staat, der für ihn den Gegenpol zur Demokratie und namentlich zum demokratischen Sozialismus darstellte. In diesem Sinne war Schumacher, trotz seiner Betonung der nationalen Anliegen, ein Vertreter klarer Westorientierung. Das territorial möglichst unversehrte Deutschland sollte im Rahmen eines vereinigten Europa von vornherein seinen gleichberechtigten Platz einnehmen. Auch und gerade ein demokratisch-sozialistisches Deutschland gehörte diesem Verständnis zufolge grundsätzlich an die Seite der »Weltdemokratie« in ihrer Auseinandersetzung mit der sowjetischen Diktatur.10 Überlegungen, durch die Hinnahme einer militärischen Neutralität eine Lösung der deutschen Frage, also die Wiedervereinigung zu ermöglichen, wie sie die SPD schon unter Schumacher und dann unter seinem Nachfolger Erich Ollenhauer (1952-1963) anstellte, tangierten nicht die Grundentscheidung für das politische System des Westens.
Um das große Engagement gerade sozialdemokratischer Politiker für die deutsche Einheit zu begreifen, genügt nicht der Hinweis auf psychologische Faktoren. Die Staatsgründung der SED im Osten stützte nach Meinung der SPD die konservativen Kräfte im Westen und verhinderte den im Fall freier gesamtdeutscher Wahlen fest erwarteten Wahlsieg der Sozialdemokratie.11 Bei der »Wiedervereinigung« dachte die SPD wie die anderen westdeutschen Parteien (außer der KPD) anfangs durchaus an die Grenzen von 1937. Intern nahm die SPD-Parteiführung ab Ende der fünfziger Jahre peu à peu von der Vorstellung Abstand, die früheren preußischen Ostprovinzen ganz oder überwiegend zurückgewinnen zu können. Aber erst ab Mitte der sechziger Jahre begann die Partei, auch nach außen zu erkennen zu geben, dass die Oder-Neiße-Grenze de facto anerkannt werden müsse und eine spätere Revision nicht mehr ins Auge gefasst werden könne.12 Es gilt zu betonen, dass die offene Frage der Ostgrenze gegenüber Polen alle Bemühungen um eine Zusammenführung Rest-Deutschlands bis in die frühen siebziger Jahre zusätzlich erschwerte.
Bei aller Kritik auch an der Deutschlandpolitik der Westmächte, namentlich Frankreichs, sah die SPD-Führung das Haupthindernis der Wiedervereinigung in der Sowjetunion. Die unablässige konzeptionelle Suche nach einem Status für Gesamtdeutschland, der für alle vier Siegermächte akzeptabel wäre, hatte stets in erster Linie Moskau im Blick. Der unabhängige, blockfreie Nationalstaat (1952 in Reaktion auf die Stalin-Noten), das regionale Disengagement in Mitteleuropa (1956-1959 in Reaktion auf die diesbezüglichen Pläne des polnischen Außenministers Adam Rapacki und anderer) und die Einbindung des vereinten Deutschland in ein die Blöcke ersetzendes gesamteuropäisches Sicherheitssystem (durchgehend und vor allem ab 1954/1955 in Reaktion auf die von Adenauer betriebene, allein Westdeutschland einbeziehende Westintegration) stellten – sich nicht unbedingt ausschließende – Varianten dieses Suchens dar.13
Indem die führenden Sozialdemokraten sich darauf einließen, die Sicherheitsinteressen der UdSSR von ihren vermeintlichen expansionistisch-repressiven Bestrebungen zu trennen, und begannen, die sowjetischen Interessen überhaupt zu berücksichtigen, näherten sie sich damit zugleich in gewisser Weise den Vorstellungen der Sowjetunion für die Lösung der deutschen und europäischen Sicherheitsfragen. Im Zuge dieser Realitätswahrnehmung ließ die SPD gegen Ende der fünfziger Jahre auch die Bereitschaft erkennen, die Existenz eines zweiten deutschen Staates für eine begrenzte Zeit hinzunehmen und die DDR im Vereinigungsprozess prozedural zu beteiligen (Deutschlandplan vom 18. März 1959).14
In der Außen- und Sicherheitspolitik und damit auch in der Deutschlandpolitik lässt sich zweifellos von einer Wende der SPD zwischen Herbst 1959 und Herbst 1960 sprechen. Es handelte sich um das – wenn auch nicht kritiklose – Einschwenken auf die Grundentscheidungen der ersten beiden Regierungen Adenauer. Der Vorbehalt, den Fritz Erler noch im April 1960 im Bundestag formulierte, nämlich dass »das wiedervereinigte Deutschland nicht en bloc in die Nato marschieren kann«,15 wurde zwar nicht widerrufen, aber schon bald kaum noch erwähnt. Das gilt auch für den, ehedem betonten, provisorischen Charakter der Bundesrepublik.
Die SPD-Führung begründete ihren Kurswechsel mit der Veränderung der weltpolitischen Situation seit der Genfer Viermächtekonferenz 1959 und dann speziell seit dem im Mai 1960 geplatzten Pariser Gipfeltreffen sowie mit der Tatsache, dass der sozialdemokratische Deutschlandplan bei keinem der Adressaten die notwendige Resonanz gefunden hatte.16 Der Deutschlandplan hatte auf die Wiedervereinigung im Rahmen einer mitteleuropäischen atomwaffen- und paktfreien Entspannungszone gezielt.
Nur auf der Basis eines intakten, ausreichend und zweckmäßig gerüsteten Nato-Bündnisses, so hieß es jetzt, könnten die sowjetische Hegemonialpolitik abgewehrt und die Grundlagen für neue Initiativen in der Deutschlandpolitik gelegt werden. Das schloss ein eindeutig positives Verhältnis zur Bundeswehr ebenso ein wie die Hinwendung zur amerikanischen, schließlich gescheiterten Idee einer multilateralen Atomstreitmacht unter deutscher Beteiligung.17
Die SPD hatte zur Kenntnis nehmen müssen, dass ihre Vorstellungen zur Lösung der deutschen Frage bei den Siegermächten auf absehbare Zeit ohne Chance waren, und sie hatte akzeptieren müssen, dass für die Mehrheit der Westdeutschen die nationale Einheit ein Ziel unter anderen war, für dessen Verwirklichung sie die äußere Sicherheit und die Lebensordnung der Bundesrepublik keinesfalls gefährden wollte. Die SPD übernahm um 1960 diesen »bundesrepublikanischen« Grundkonsens. Von der gesellschaftsverändernden Dimension der sozialdemokratischen Wiedervereinigungspolitik war bereits im Godesberger Programm keine Rede mehr. Schon bevor der Deutschlandplan vom 18. März 1959 insgesamt ad acta gelegt wurde, hatte man sich von seinen innerdeutschen, gesellschaftspolitischen Aspekten verabschiedet.
Die sozialdemokratische Wende wurde in der außenpolitischen Debatte des Bundestags am 30. Juni 1960 mit Reden von Herbert Wehner und Fritz Erler öffentlichkeitswirksam demonstriert. Wehner und Erler stellten klar, dass die SPD am Ziel internationaler Entspannung und Abrüstung sowie an der Wiedervereinigung Deutschlands als Bestandteil eines europäischen Sicherheitssystems festhielt, aber ihre diesbezüglichen Vorschläge aus den fünfziger Jahren für überholt ansah. Beide bekannten sich unzweideutig zur Eingliederung der Bundesrepublik in das westliche Bündnissystem. »Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands hat nicht gefordert und beabsichtigt nicht, das Ausscheiden der Bundesrepublik aus den Vertrags- und Bündnisverpflichtungen zu betreiben.« Vielmehr seien geboten: »Loyale Erfüllung der von der Bundesrepublik abgeschlossenen Verträge […] und Stärkung der westlichen Solidarität.«18 Von der CDU/CSU verlangten Wehner und Erler eine vorurteilsfreie gemeinsame Bestandsaufnahme als Ausgangspunkt der angestrebten parteiübergreifenden Außenpolitik.
Noch mehr als in den fünfziger Jahren wurde die Außen- und Sicherheitspolitik der SPD zu einer Angelegenheit der Experten, in erster Linie von Fritz Erler und Helmut Schmidt. Die außenpolitische Wende von 1960 fiel zeitlich ungefähr mit dem Regierungswechsel in den USA zusammen. Zwischen den »liberals« um Kennedy und der neuen SPD gab es grundlegende Übereinstimmungen, während die Differenzen zwischen Teilen der CDU/CSU und der US-Administration, insbesondere während der letzten Regierung Adenauer 1961-1963, unübersehbar waren.19
Proatlantisch operierte die SPD auch in der Europapolitik; Kennedys Angebot einer wirtschaftlichen, politischen und militärischen Atlantischen Partnerschaft der USA mit einem vereinten Westeuropa entsprach ganz der Auffassung der SPD. Demgegenüber erschien ihr die Politik des französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle nahezu uneingeschränkt als nationalistisch, hegemonistisch und rückschrittlich. Insbesondere das französische Veto vom Januar 1963 gegen die Aufnahme Großbritanniens in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und die Blockierung einer weiteren westeuropäischen Integration durch Paris stießen auf scharfe Kritik, ebenso das Ausscheiden Frankreichs aus der militärischen Integration der Nato im Frühjahr 1966. Dem am 22. Januar 1963 geschlossenen Élysée-Vertrag stimmte die SPD erst zu, nachdem die »stille Koalition« der Atlantiker20 aller Parteien eine Präambel durchgesetzt hatte, die dem politischen Sinn des Vertrags entgegenstand und ihn für seine Väter de Gaulle und Adenauer weitgehend entwertete.
Attraktiv war die Politik des französischen Staatspräsidenten für einen Teil der CDU/CSU unter Führung von Adenauer und Franz Josef Strauß wegen de Gaulles kritischer Haltung zu den Bemühungen der Amerikaner um ein begrenztes Arrangement mit der Sowjetunion. Solche Bemühungen waren schon im Jahr 1959 deutlich sichtbar geworden und dominierten seit der Amtsübernahme Kennedys eindeutig die Außenpolitik der USA. De Gaulle störte nicht die Entspannung als solche, die er vielmehr Mitte der sechziger Jahre selbst betrieb, sondern er war von der Aussicht beunruhigt, die USA würden dabei die Interessen ihrer europäischen Verbündeten vernachlässigen. Das war der Anknüpfungspunkt für die deutschen »Gaullisten«, die in dieser Situation bereit waren, auf de Gaulles Angebot einer französisch-westdeutschen Union als Kern einer relativ eigenständigen westeuropäischen Staatenkombination unter Führung Frankreichs einzugehen.21
Die amerikanische Politik, schon in der Endphase der Regierung Eisenhower von der antikommunistischen Befreiungsrhetorik abgerückt, richtete sich unverkennbar auf eine längere Periode der Koexistenz mit der Sowjetunion und den mit ihr verbündeten Staaten ein. Ein begrenztes Arrangement der beiden Supermächte sollte gleichermaßen der freiheitlichen Evolution des Kommunismus und den imperialen Interessen der USA dienen, namentlich in der damals so genannten Dritten Welt. Vom idealistischen Impetus, der die kennedysche »Strategie des Friedens« für die deutsche Sozialdemokratie so attraktiv machte, blieb unter der Präsidentschaft Lyndon B. Johnsons nicht viel übrig. In der Praxis setzte Johnson aber die Entspannungspolitik fort. Eine begrenzte Verständigung mit der vermeintlich saturierten Weltmacht UdSSR auf der Basis des europäischen Status quo lag jetzt besonders nahe, um für den als exemplarisch verstandenen Krieg in Vietnam den Rücken frei zu haben.22
Für die Bundesrepublik war die neue Konstellation nach dem Mauerbau daher mit der Notwendigkeit einer flexibleren Außenpolitik verbunden. Auch Bundeskanzler Konrad Adenauer strebte im Geheimen ein mittelfristiges Arrangement mit der Sowjetunion an, wobei er zwischen 1958 und 1962 mehrere Vorschläge unterbreitete.23 Der »Atlantiker« Gerhard Schröder (CDU), Außenminister 1961-1966, bemühte sich unter Aufrechterhaltung aller Rechtspositionen und der Hallstein-Doktrin um die Intensivierung der Beziehungen zu den nichtsowjetischen Staaten Osteuropas. Diesem von der SPD gegen einen Teil des Regierungslagers nachhaltig unterstützten Ziel diente die Einrichtung von Handelsmissionen in Polen, Rumänien, Ungarn und Bulgarien 1963/64. Es ging Schröder mit seiner »Politik der Bewegung« um die Isolierung der DDR im Ostblock und damit indirekt auch um eine Beeinflussung der Sowjetunion. Noch die Bereitschaftserklärung der Regierung Erhard (1963-1966) zu wechselseitigem Gewaltverzicht und konstruktiven Friedensschritten in ihrer an die Staaten der Welt gerichteten Note vom 25. März 1966 klammerte die DDR aus.24
Eine teilweise andere Richtung schlug der Berliner Regierende Bürgermeister und (seit 1964) SPD-Vorsitzende Willy Brandt ein. Für die Berliner Sozialdemoraten bedeutete der 13. August 1961 einen Schock.25 Ihre Sprache gegenüber dem Osten verhärtete sich bis hin zu quasireligiösen Formulierungen (»Mächte der Finsternis«). Die DDR erschien als ein »erbärmlicher Satellitenstaat, der weder deutsch noch demokratisch noch eine Republik ist«, als »Kolonialregime besonderer Art«.26
Doch schneller und radikaler als im eigentlichen Bundesgebiet spürten die Berliner Sozialdemokraten den Zwang, der von der amerikanischen Respektierung der östlichen Machtsphäre ausging. Die Erleichterung über den als defensiv interpretierten Mauerbau in den westlichen Hauptstädten, namentlich in Washington, war Mitte August 1961 unverkennbar, die westliche Zurückhaltung hatte durchaus demonstrativen Charakter. Auch die Realisierung der brandtschen Anregung, nach dem Bruch des Vier-Mächte-Status der Stadt durch die UdSSR einen Drei-Mächte-Status für West-Berlin zu proklamieren und dieses stärker in die Bundesrepublik zu integrieren, hätte hinsichtlich des Hauptergebnisses der Abriegelungsmaßnahmen, der Zementierung der deutschen und europäischen Teilung, keinen Unterschied gemacht.
An erster Stelle der sozialdemokratischen Berlinpolitik stand – auch nach dem Ende der akuten Bedrohung – die Funktion West-Berlins als Symbol für das Streben nach friedlicher Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts auch im Osten Deutschlands. Diese Symbolfunktion wurde aber zunehmend defensiv verstanden im Sinne einer Selbstbehauptung der Stadt als attraktive Metropole.
In Berlin hatte schon kurz nach dem 13. August 1961 bei Brandt und seinem engeren Beraterkreis (in erster Linie Innensenator Heinrich Albertz, Bundessenator Klaus Schütz und Senatspressesprecher Egon Bahr) ein Umdenken begonnen,27 das beschleunigt wurde durch einen tragischen Vorfall ein Jahr nach dem Mauerbau; Volkspolizisten ließen den angeschossenen Flüchtling Peter Fechter am 17. August 1962 im Minenfeld verbluten. Die ohnmächtige Wut der Westberliner, die sich in spontanen Massendemonstrationen äußerte, beschwor die Gefahr gewaltsamer Zusammenstöße an der innerstädtischen Demarkationslinie herauf und signalisierte auch eine dramatische Entfremdung zwischen den Berlinern und den Westalliierten, die nichts unternommen hatten, um Fechter zu retten, und in deren und des Senats Auftrag die Westberliner Polizei dann die Proteste beendet hatte. Die Situation musste schon aus Sicherheitsgründen irgendwie entschärft werden.
Die Aussage Willy Brandts am 6. Dezember 1961 im Bundestag, man dürfe den Landsleuten in der DDR »nicht den Rücken zuwenden« und müsse sich auch deshalb um eine Verbesserung der Beziehungen zur Sowjetunion bemühen,28 bedeutete für den Kreis um Brandt vor allem, um praktische Erleichterungen für die Menschen zu ringen – als humanitärer Selbstzweck, aber auch um den menschlichen Zusammenhalt der Nation zu wahren. »[W]as gut ist für die Menschen im geteilten Land, das ist auch gut für die Nation«, resümierte Brandt 1964 auf dem Karlsruher SPD-Parteitag.29
Das Bemerkenswerte an der »Politik der kleinen Schritte«, wie sie zwischen Herbst 1961 und Ende 1963 peu à peu konzipiert und in den folgenden Jahren konzeptionell vertieft wurde, bestand zunächst in der Schnelligkeit, mit der der Gesprächs- und Beraterkreis (Spitzname »Heilige Familie«) zu einer realistischen Situationsanalyse kam und bereit war, politische Schlussfolgerungen zu ziehen. Zugute kam ihm dabei die in der Publizistik zunehmend verbreitete Erkenntnis, dass die Deutschlandpolitik neuer Anstöße bedürfe, wenn der Anspruch auf die Einheit Deutschlands nicht zum alleinigen Gegenstand von »Sonntagsreden« werden sollte.30 Seit Frühjahr 1963 regierte die Westberliner SPD statt wie zuvor mit der CDU mit der FDP. Misstrauen war nicht nur auf Seiten der Bundesregierung zu überwinden. Auch in der eigenen Partei waren gerade die engagierten Verfechter der Wende von 1960 skeptisch, so dass Brandt auch aus diesem Grund Vorsicht walten lassen und taktieren musste.
In Berlin ging es vor allem darum, die Mauer durchlässiger zu machen, wenn man bis auf Weiteres gezwungen war, mit ihr zu leben. Da nicht nur den Ostberlinern der Übergang in den Westen, sondern auch den Westberlinern der Zugang in den Ostteil der Stadt verwehrt war, wodurch zahlreiche Familien auseinandergerissen wurden, konzentrierte sich das Interesse auf eine Passierscheinregelung. Die eigentliche Hürde bildeten bei Verhandlungen Statusfragen.
Als der Berliner Senat Ende 1963 erstmals einen Beauftragten für Gespräche mit einem Repräsentanten der DDR-Regierung benannte, war ein Tabu gebrochen. Die rettende Formel, beide Seiten hätten sich auf Amts-, Behörden- und Ortsbezeichnungen nicht verständigen können,31 erlaubte es der neuen Politik, in den Jahren 1963-1966 ihre humanitären und national verbindenden Wirkungen zu entfalten. Mit einer Mehrheit von über 60 Prozent bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus im Februar 1963 (mit der FDP fast 70 Prozent) und einer eher noch breiteren Unterstützung in der Bevölkerung für konkrete Schritte war die SPD-geführte Senatsregierung, gedeckt von den Alliierten und auch vom Bonner Minister für Gesamtdeutsche Fragen, Erich Mende (FDP), im Innern stark genug, ihren Weg weiterzuverfolgen.
Das Schlagwort »Wandel durch Annäherung« wurde zum Motto der neuen Politik. Am 15. Juli 1963 – mit dem Atomteststoppabkommen zeichnete sich ein erstes praktisches Ergebnis der seit der überaus gefährlichen Kuba-Krise vom Oktober 1962 vorsichtig eingeleiteten Entspannung zwischen den Weltmächten ab – sprachen Willy Brandt und Egon Bahr in der Evangelischen Akademie Tutzing. Brandt kritisierte zum wiederholten Mal den Immobilismus der westdeutschen Deutschlandpolitik: »Das bloße Beharren bietet keine Perspektive.« Eine Lösung der deutschen Frage sei nur mit der Sowjetunion möglich, nicht gegen sie. »Wir können nicht unser Recht aufgeben, aber wir müssen uns damit vertraut machen, daß zu seiner Verwirklichung ein neues Verhältnis zwischen Ost und West erforderlich ist«. Diese zu erwartende Zeitspanne könne und müsse durch die Erleichterung des Lebens der Menschen erträglicher gemacht werden.32 Bahr ging weiter, indem er, sich auf Kennedy berufend, feststellte, eine Veränderung des Status quo sei nur möglich auf der Basis seiner Akzeptierung. Es gelte, die kommunistische Herrschaft zu verändern, nicht sie abzuschaffen, und zwar auch in der DDR. Dabei maß Bahr insbesondere den Handelsbeziehungen eine wichtige Rolle zu. Eine gewisse Stabilisierung der politischen Ordnung im Osten sei gerade erwünscht, denn sie mache den Wiederannäherungs- und Wiedervereinigungsprozess »mit vielen Schritten und vielen Stationen« kontrollierbar und somit für die UdSSR hinnehmbar. »Die Zone muß mit der Zustimmung der Sowjets transformiert werden.«33
Bahrs Rede erregte großes Aufsehen und stieß auch innerhalb der SPD nicht nur auf Einverständnis. Zwar bestand in der Partei und darüber hinaus Konsens über die Notwendigkeit, das Verhältnis der Bundesrepublik zur Sowjetunion und zu den anderen Ostblockstaaten zu verbessern, aber an eine Einbeziehung der DDR hatten bislang nur wenige gedacht. Äußerungen von Albertz, der offen seine Abneigung gegen den Bonner »Rheinbundstaat« zu erkennen gab, verstärkten in der SPD-Spitze die Furcht vor einem vorzeitigen Ende der Gemeinsamkeitspolitik gegenüber den Regierungsparteien in Bonn.34 Die Parteilinke hingegen unterstützte den Brandt-Kurs und suchte die Neuorientierung der SPD in der Absetzung von der CDU/CSU voranzutreiben.
Auch in Berlin waren es in erster Linie linke innerparteiliche Widersacher Brandts um den langjährigen Falken-Vorsitzenden Harry Ristock, die dem Regierenden Bürgermeister Beifall zollten. Ristock und seine Gesinnungsgenossen hatten für das »Ulbricht-Regime«, wie man auch in diesen Kreisen sagte, genauso wenig übrig wie andere Sozialdemokraten. Sie sahen aber im jugoslawischen Selbstverwaltungsmodell und in anderen reformerischen Tendenzen innerhalb Osteuropas Anknüpfungspunkte für ihre demokratisch-sozialistischen Ziele. Mit ihren Reisen nach Polen und in andere Länder förderten die Berliner Falken – ebenso wie andere, etwa kirchliche Gruppen – faktisch die beiderseitige ideologische Auflockerung, ohne welche die Idee der Entspannung sich nicht hätte durchsetzen können. Dieses Beispiel verweist auf Meinungsverschiebungen in der politischen Öffentlichkeit im Hinblick auf die Deutschland- und Ostpolitik schon um die Mitte der sechziger Jahre. Parteipolitisch artikulierten sich neue Auffassungen, neben der SPD vor allem in der FDP und dort nicht nur bei den Linksliberalen.35
Egon Bahr war 1922 in Thüringen als Sohn eines Lehrers geboren worden, hatte in Berlin das Gymnasium besucht und, da er zum Musikstudium wegen einer jüdischen Großmutter nicht zugelassen wurde, eine Ausbildung zum Industriekaufmann absolviert. Dem Kriegsdienst (Fliegerausbildung in Belgien und Frankreich) und der unehrenhaften Entlassung aus der Wehrmacht, wiederum wegen der jüdischen Vorfahrin, folgte die Dienstverpflichtung zur Industriearbeit und, nach Kriegsende, die Tätigkeit als Journalist, zunächst bei der von den Sowjets beeinflussten Berliner Zeitung, dann bei der amerikanisch lizensierten Allgemeinen Zeitung, ab 1949 als Bonner Korrespondent des Tagesspiegel und ab 1950 beim Rundfunk im amerikanischen Sektor (Rias).
Nur ein einziges Mal, Anfang 1966 in Was nun?, legte Egon Bahr ein Stufenmodell zur Wiedervereinigung Deutschlands vor. Indem er seine Ausführungen eingangs als »positive politische Utopie« charakterisierte,36 machte er deutlich, dass es ihm nicht darum ging, den einzig denkbaren, sondern einen denkbaren und plausiblen Weg zur Vereinigung zu skizzieren. Oder anders gesagt: Es sollte die politische Fantasie angeregt werden, ohne in bodenlose Spekulation und reines Wunschdenken zu verfallen. Vielmehr sei Flexibilität der Mittel bei Festhalten am Ziel der deutschen Einheit geboten. Deshalb begann die Schrift mit einer ausführlichen Analyse der internationalen und deutsch-deutschen politischen Lage. Den Tutzinger Redebeitrag vom Juli 1963 – »Wandel durch Annäherung« – baute Bahr größtenteils wörtlich in den Text ein; er schien ihm also in keiner Weise überholt. Daran anknüpfend erhob er den Anspruch, eine »politische Strategie« zu entwickeln, »die die Bundesrepublik zur politischen Aktion befähigt und damit in die Lage versetzt, das Mögliche und Verantwortbare zu tun, um den toten Punkt zu überwinden«.37
Bahr stellte wie schon früher fest, dass die »Entwicklung des Ost-West-Konflikts« – gemeint waren die Befestigung der bipolaren Ordnung durch den Mauerbau und der Beginn eines Arrangements der Supermächte nach der Kuba-Krise – die Vorstellung obsolet gemacht habe, man könne in einem einmaligen Akt zur Wiedervereinigung gelangen. Nicht nur habe der Grad der Eigenständigkeit der osteuropäischen Staaten gegenüber der Sowjetunion zugenommen, auch die DDR sei stärker und damit relativ unabhängiger geworden. Zusammen mit einer schleichenden Entideologisierung38 – die Ideologie sei nicht aufgegeben, habe aber »an Lebensbedeutung verloren« – lasse die innere Differenzierung des Warschauer Pakts es kaum noch zu, von einem »Ostblock« zu sprechen. Diesen evolutionären Prozess gelte es zu fördern; er sei ein wichtiger Faktor bei der Lösung der deutschen Frage.
Weil die DDR, trotz größerer Selbstständigkeit und wachsenden Gewichts innerhalb des sowjetischen Einflussbereichs, weiterhin in besonderem Maß von der UdSSR, konkret: von der Anwesenheit der Streitkräfte der Sowjetarmee, abhängig sei, sie zudem der nationalen Problematik nicht entkommen könne, »der kleinere Teil des zerrissenen deutschen Volkes« zu sein,39 hielt Egon Bahr das Risiko einer Vertiefung der Spaltung durch Aufwertung der DDR für geringer als die zunehmende Gefahr, dass die Regierung in Ost-Berlin, unterstützt von der östlichen Führungsmacht, den Entspannungsprozess in Europa, namentlich die Verbesserung der bundesdeutschen Beziehungen zu den übrigen Staaten des politischen Ostens, blockieren würde – mit negativen Auswirkungen auch auf die deutschen Dinge.
Als entscheidend für die Lösung der deutschen Frage im Sinn der Wiedervereinigung sah Bahr nach wie vor die Haltung des Kreml an. Die sowjetische Seite sei bislang noch »nicht mit wirklichem Nachdruck vor Alternativen gestellt worden, die für sie interessanter sind als die Zumutung der bedingungslosen Herausgabe der Zone«.40 Eine solche Alternative zum Status quo wollte Bahr in der Idee eines europäischen Sicherheitssystems erkennen, die, an sowjetische Vorstellungen anknüpfend, die Bedrohungsperzeption Moskaus nicht einfach als Propaganda abtat, sondern – ungeachtet ihrer, so meinte der Autor, objektiven Irrationalität – als handlungsleitend in Rechnung stellte, ebenso die Abneigung gegen und die Furcht vor einem ungebundenen einheitlichen Deutschland seitens der anderen Kriegsgegner des Zweiten Weltkriegs bzw. der vom Großdeutschen Reich ehedem besetzten Länder. Das europäische Sicherheitssystem sollte (in Anlehnung an eine Formulierung Fritz Erlers) »Sicherheit vor und für Deutschland« garantieren, wobei für Bahr außer Frage stand, dass Gesamtdeutschland weder der Nato noch dem Warschauer Pakt angehören könne. Keine der Siegermächte würde die Zustimmung zu Deutschlands Einigung geben, »ohne zu wissen, in welchen Grenzen nicht nur geographischer Art sich dieses Deutschland bewegt«.41
Konkret sollte das europäische Sicherheitssystem durch eine Reihe sich ergänzender und inhaltlich zusammenhängender bilateraler Verträge und Garantieerklärungen entstehen. Im Zentrum standen allseitige Beistandsverpflichtungen im Fall eines Angriffs auf die friedensvertraglich festzulegenden Grenzen des wiedervereinigten Deutschland einerseits wie im Fall eines deutschen Angriffs auf einen anderen Staat andererseits. In einer solchen Lösung sah Bahr die Sicherheitsinteressen der in anderer Ausdehnung zunächst weiterexistierenden Lager des Ostens und des Westens und ihrer Führungsmächte gleichermaßen gewährleistet.
Um diese Grundüberlegungen plausibel zu machen, wäre der Achtstufenplan, der den zweiten Teil von Was nun? ausmacht, nicht zwingend erforderlich gewesen. Bahr wollte mit dem Wiedervereinigungsmodell seinen Gedankengang plastisch veranschaulichen. Es basierte auf der Vorstellung, dass der Prozess durchgehend unter der Kontrolle aller beteiligten Mächte bleiben müsse, um erfolgreich zu verlaufen und nicht zu entgleisen, was ein weitgehendes Einvernehmen zumindest über dessen Richtung und sicherheitspolitische Rahmensetzung verlangte. Der konzeptionelle Kern der Stufenfolge war die vorab vereinbarte Parallelität der Gespräche und Verhandlungen zwischen den beiden deutschen Staaten über die Schaffung der Voraussetzungen der Wahl einer verfassunggebenden Nationalversammlung sowie den vier Siegermächten und allen anderen betroffenen Staaten einschließlich der beiden deutschen über den ausstehenden Friedensvertrag sowie das umfassende Sicherheitssystem.
Im Juni 1966 verkündete der Dortmunder Parteitag der SPD erstmals seit 1959 wieder offiziell ein offensives und alternatives deutschlandpolitisches Konzept, das, ohne unmittelbar darauf zu beruhen, wesentliche Grundannahmen Egon Bahrs enthielt. Gegenüber den Beschlüssen von Karlsruhe zwei Jahre zuvor, als die Parteitagsdelegierten unter einer Deutschlandkarte mit den Grenzen von 1937 und der Losung »Erbe und Auftrag« getagt hatten, waren die Akzente deutlich anders gesetzt. Realismus wurde – auch semantisch – betont, die wachsenden Zweifel vor allem der Jüngeren an den Bonner deutschlandpolitischen Stereotypen wurden angeführt. Die Gemeinsamkeitsformel erschien nun weniger als Anpassung denn als Forderung an die anderen Parteien, gemeinsam einen neuen Anfang zu machen. Die deutschlandpolitische Entschließung konstatierte die Veränderung der weltpolitischen Lage und die Festigung der SED-Herrschaft in der DDR (noch »SBZ« genannt) seit Beginn der sechziger Jahre und forderte, den »Handlungsspielraum gegenüber dem Regime in der SBZ« im Bereich der innerdeutschen Kommunikation voll auszuschöpfen. »Es dient dem Zusammenhalt unseres Volkes und der Bewahrung unserer nationalen Substanz.«42 Ohne den Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik und den Grundsatz der Nichtanerkennung der DDR formell aufzugeben, wurde eine weitaus flexiblere Handhabung ins Auge gefasst, und Willy Brandt sprach sogar erstmals von der Möglichkeit eines »qualifizierten, geregelten und zeitlich begrenzten Nebeneinanders der beiden Gebiete« als Zwischenlösung der deutschen Frage, »wenn durch internationale Entscheidungen die Weichen gestellt sind und im anderen Teil Deutschlands die freie Meinung sich entfalten kann«.43
Als die wichtigsten internationalen Voraussetzungen einer Lösung der deutschen Frage galten Rüstungskontrolle und Entspannung mit dem Ziel der Abrüstung und Blocküberwindung. Helmut Schmidt forderte einen eigenen Entspannungsbeitrag der Bundesrepublik in Mitteleuropa:
Eine Wiedervereinigung in einem Akt mit anschließender freier Aushandlung des Friedensvertrags ist […] ein irreales Konzept geworden. Ein Versuch der Vereinbarung einer Sequenz von Stufen, bei der das Betreten der ersten Stufe voraussetzt, daß rechtliche Bindungen auch schon hinsichtlich der letzten eingegangen sind, ist in der gegenwärtigen Lage Europas ebenfalls irreal […]. Wir Deutschen selbst müssen vielmehr, das Ziel fixierend, bereit sein, Schritte zu tun, obgleich die weiteren Stadien des Weges nicht im voraus einzeln festgelegt sind.44
Ebenso wie beim ersten Berliner Passierscheinabkommen vom Dezember 1963 war es im Frühjahr 1966 eine Initiative der SED, die der Sozialdemokratie Gelegenheit gab, ihre Bereitschaft zu demonstrieren, mit dem »anderen Gebiet« einschließlich seiner kommunistischen Repräsentanten auf Tuchfühlung zu gehen. Am 7. Februar 1966 trat das Zentralkomitee der SED mit einem Offenen Brief an die Dortmunder Parteidelegierten »und an alle Mitglieder und Freunde der Sozialdemokratie in Westdeutschland« heran und schlug eine »große gesamtdeutsche Beratung« zwischen den Parteien und Massenorganisationen der beiden Staaten – vor allem zwischen SED und SPD – vor, »um endlich eine Bresche in die Barrieren zu schlagen, die den Weg zur Überwindung der deutschen Spaltung blockieren«.45
Im Unterschied zu vergleichbaren früheren Angeboten antwortete der SPD-Vorstand auf den Brief des ZK der SED. Er wies die in Richtung »Aktionseinheit« zielenden Avancen der SED brüsk zurück und stellte stattdessen eine Reihe von Fragen zu Reiseerleichterungen, Mauer und Schießbefehl. Anknüpfend an die kommunistische Idee der »gesamtdeutschen Beratung« schlug die SPD eine »offene Aussprache aller Parteien in allen Teilen Deutschlands« vor. Wider Erwarten erschien die sozialdemokratische Antwort ungekürzt im Neuen Deutschland,46 und es wurde in der Folgezeit ein erster Redneraustausch zwischen SED und SPD in Hannover und Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) verabredet. Obwohl dieser dann doch nicht zustande kam, hatte es die SPD verstanden, die anderen westdeutschen Parteien in den Dialog einzubeziehen und die große Mehrheit der Bevölkerung für den Redneraustausch zu gewinnen. Sie hatte einen Testlauf für die Neue Ostpolitik der Folgezeit bundesinnenpolitisch erfolgreich bestanden.47
Die mit der Zumutung eines Gesetzes zur Freistellung eventueller ostdeutscher Redner von der ansonsten drohenden Verfolgung durch die westdeutsche Justiz (laut DDR »Handschellengesetz«) begründete Absage der SED muss im Zusammenhang mit dem Misstrauen der sowjetischen Führung gegenüber jedweder deutsch-deutschen Annäherung gesehen werden. Mit dem Jahreswechsel 1965/66 hatte die UdSSR auf internationaler Ebene wieder einmal eine scharfe Propaganda-Kampagne gegen die Bundesrepublik gestartet, deren aggressiver »Revanchismus« eine ständige Gefahr für den Frieden in Europa darstelle.48 Und so war es kein Zufall, dass die DDR sich nach Pfingsten 1966 einer weiteren Passierscheinregelung auf der Grundlage der salvatorischen Klausel verweigerte, der zufolge man sich nicht habe auf Amts-, Behörden- und Ortsbezeichnungen verständigen können. Es dauerte bis zur Berlin-Vereinbarung der vier Mächte vom 30. September 1971,49 bis Westberliner wieder den Ostteil der Stadt (und jetzt auch andere Bezirke der DDR) besuchen konnten. Bis zum September 1969, als ein sowjetisches Verhandlungsangebot dem Regierungswechsel in Bonn vorausgegangen war,50 hatten sich die äußeren Bedingungen für eine aktive und innovative Deutschland- und Ostpolitik der Bundesrepublik nach den Vorstellungen von Egon Bahr beinahe stetig verschlechtert, auch wenn die Große Koalition ab Winter 1966/67 in mancher Hinsicht den Boden bereitet hatte für das, was danach kam. Nicht zuletzt drohte ein Dammbruch bei der weltweiten diplomatischen Anerkennung der DDR.
Vom Leiter des Planungsstabes im Auswärtigen Amt, wo er gründlich durchdachte, alternative Politikmodelle erarbeitete,51 wurde Bahr mit dem Regierungswechsel vom Herbst 1969 zum wichtigsten, seit Jahren auch informelle »Kanäle« nutzenden Verhandlungsführer mit und in Moskau bei der Vorbereitung des deutsch-sowjetischen Vertrags vom 12. August 1970. Während das Urteil des politischen Gegners damals skeptisch bis ablehnend war, ist die epochale Bedeutung dieses Vertragswerks später gewürdigt worden, etwa 1989 und 1992 von Helmut Kohl.52 Der Moskauer Vertrag und, in seinem Gefolge, die anderen Ostverträge, einschließlich des Grundlagenvertrags mit der DDR, beinhalteten die faktische und rechtlich bindende Anerkennung des territorialen Status quo in Europa durch die Bundesrepublik, namentlich der Oder-Neiße-Grenze mit Polen und der Existenz der DDR. Doch untersagte das Vertragsensemble nicht Bemühungen um eine spätere friedliche und einvernehmliche Vereinigung Deutschlands; einen diesbezüglichen »Brief zur deutschen Einheit« nahm die sowjetische Seite widerspruchslos entgegen und zur Kenntnis.53
Wie bei den blockauflösenden Ansätzen der fünfziger Jahre stand bei dem blockübergreifenden Ansatz der siebziger Jahre das Verhältnis zur Sowjetunion im Zentrum. Mit der Regelung dieses Verhältnisses – »Moskau zuerst« – wurde die Ostpolitik der ersten Regierung Brandt begonnen, und jeder ihrer Schritte, jede Stufe bedurfte – mit zwingender immanenter Logik – des sowjetischen Einverständnisses. Die Einigung mit der östlichen Führungsmacht würde einen Druck erzeugen, dem sich auch die DDR nicht würde entziehen können.
Die, so hoffte man, irgendwann selbsttragende Dynamik des Entspannungsprozesses setzte, um ihre Wirkung im gewünschten Sinn zu entfalten, eine Ergänzung der Verträge (mündend in die KSZE-Schlussakte) durch Rüstungskontrolle und substanzielle Abrüstung voraus. Damit war der Erfolg der sozialdemokratischen Entspannungspolitik jedoch an das nur schwer zu beeinflussende Verhalten der Weltmächte und der von ihnen geführten Paktsysteme gebunden, zwischen denen die Spannungen ab Mitte der siebziger Jahre wegen der weltweiten Offensive der Sowjetunion im Bündnis mit linksgerichteten Befreiungsbewegungen in der südlichen Hemisphäre einerseits, wegen einer forcierten – insbesondere für Europa relevanten – Aufrüstung mit atomaren Mittelstreckenraketen neuen Typs andererseits wieder zunahmen.54
Die Frage war, wie – neben der Bundesregierung – die SPD als Partei auf die neuerliche Ost-West-Konfrontation reagieren würde, zumal der im ursprünglichen Konzept angelegten nationalen Dimension im Verständnis der Parteibasis und eines wachsenden Teils der Führung eine abnehmende Bedeutung zukam. Eine weitere Problematik ergab sich daraus, dass die Stabilität Europas als Staatensystem wie die der einzelnen Staaten im Innern entsprechend der früheren Doktrin Egon Bahrs die unabdingbare Voraussetzung des Entspannungsprozesses bildete, der nur als ein von den Weltmächten und den weiteren Beteiligten kontrollierter erfolgreich sein könne. Aus dieser Identifizierung von Frieden und Stabilität in beiden Blocksystemen resultierte von vornherein eine gewisse Reserve gegenüber Emanzipationsbewegungen von unten.
Die SPD musste ihre Ostpolitik, die längst zum Identitätsbestand gehörte, seit den späten siebziger Jahren in Auseinandersetzung mit den USA