Was uns wirklich nährt - Gregor Hasler - E-Book

Was uns wirklich nährt E-Book

Gregor Hasler

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Beschreibung

Den Teufelskreis innerer Leere und leerer Kalorien durchbrechen – für ein genussvolleres, gesünderes und selbstbestimmtes Leben

Nahrung ist weit mehr als nur die Zufuhr von Kalorien: Sie versorgt den Körper mit Energie, bringt Geschmack und Genuss, kann Krankheiten vorbeugen und heilen, ist Gemeinschaftserlebnis und Ritual.

Doch seit dem Siegeszug von Fast Food und Convenience-Produkten wird unser Essen immer vitalstoffärmer und eindimensionaler, und leistet ernährungsbedingten Erkrankungen wie Arthritis, Adipositas oder Allergien Vorschub.

Wie wir unser Essen ganz praktisch wieder beseelen und seine Heilwirkung zurückerobern können, erklärt der Psychiater und Ernährungsexperte Gregor Hasler anhand von aktuellen Forschungsergebnissen und Erkenntnissen aus spirituellen Traditionen.

Die gute Nachricht: Mit nur wenigen Maßnahmen lässt sich der Körper wieder ins Lot bringen. So verlangsamt achtsames Essen den Anstieg des Blutzuckers. (Intervall-)Fasten reguliert nicht nur das Gewicht, sondern sorgt auch für eine bessere Konzentration. Unverarbeitete Lebensmittel, deren Matrix nicht zerstört wurde, stärken das Mikrobiom.

Gregor Hasler motiviert dazu, Nahrung gut auszuwählen und sie auf gesunde Weise zu essen. Schließlich können wir den Teufelskreis zwischen innerer Leere und leeren Kalorien durchbrechen und den Weg in die Fülle finden, in der wir uns mit uns selbst und der Welt verbinden.

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Seitenzahl: 583

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Buch

Nahrung ist weit mehr als nur die Zufuhr von Kalorien: Sie versorgt den Körper mit Energie, bringt Geschmack und Genuss, kann Krankheiten vorbeugen und heilen, ist Gemeinschaftserlebnis und Ritual. Doch seit dem Siegeszug von Fast Food und Convenience-Produkten wird unser Essen immer vitalstoffärmer und eindimensionaler, und leistet ernährungsbedingten Erkrankungen wie Zuckerkrankheit, Adipositas oder Allergien Vorschub. Wie wir unser Essen ganz praktisch wieder beseelen und seine Heilwirkung zurückerobern können, erklärt der Psychiater und Ernährungsexperte Gregor Hasler anhand von aktuellen Forschungsergebnissen und Erkenntnissen aus spirituellen Traditionen. Die gute Nachricht: Mit nur wenigen Maßnahmen lässt sich der Körper wieder ins Lot bringen. So verlangsamt achtsames Essen den Anstieg des Blutzuckers. (Intervall-) Fasten reguliert nicht nur das Gewicht, sondern sorgt auch für eine bessere Konzentration. Unverarbeitete Lebensmittel, deren Matrix nicht zerstört wurde, stärken das Mikrobiom. Gregor Hasler motiviert dazu, Nahrung gut auszuwählen und sie auf gesunde Weise zu essen. So können wir den Teufelskreis zwischen innerer Leere und leeren Kalorien durchbrechen und den Weg in ein erfülltes Leben finden, in dem wir mit uns selbst und der Welt verbunden sind.

Autor

Prof. Dr. Gregor Hasler ist Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Freiburg/Schweiz, Chefarzt und Leiter der psychiatrischen Forschungsabteilung des Freiburger Netzwerks für Psychische Gesundheit. Seit vielen Jahren beschäftigt er sich als Wissenschaftler und Kliniker mit Gewichtsproblemen und Essstörungen, Stress und Depression. Er ist ein gefragter Vortragsredner und Medienexperte. Zu Gregor Haslers zahlreichen Publikationen zählen Resilienz – der Wir-Faktor und der Bestseller Die Darm-Hirn-Connection. Der Autor lebt in Bern.

Prof. Dr. Gregor Hasler

Was uns

wirklich

nährt

Durch achtsames Essen Gesundheit, Wohlbefinden und innere Verbundenheit erlangen

Neueste Einblicke in die Ganzheitsmedizin der Ernährung

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Originalausgabe Oktober 2024

Copyright © 2024: Arkana Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Michael Lenkeit

Umschlag: ki 36 Editorial Design, München, Daniela Hofner

Umschlagmotiv: © creativemarket/Hanna V

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

SC ∙ CF

ISBN 978-3-641-30819-3V001

www.arkana-verlag.de

Inhalt

Einleitung

Achtsames Essen

Mikro- und Makro-Fasten

Ganze Lebensmittel

Essrituale und Essgemeinschaft

Verwandlungen der Nährenergie

Reinigung

Ausklang

Dank

Glossar

Anmerkungen

Register

Einleitung

Bei Claudia wurde im Alter von 28 Jahren eine seltene Darmerkrankung diagnostiziert, die zu einer gestörten Verdauung und unzureichender Nährstoffaufnahme im Darm führte. Daran änderten auch mehrere chirurgische Eingriffe und diverse medizinische Behandlungen nichts. Die Ärzte des Universitätsspitals Zürich entschieden sich daher dafür, Claudia mit einer Nährstofflösung zu ernähren, die über einen Katheter direkt in ihre Venen gelangte.

Obwohl die Nährlösung alle erforderlichen Vitamine, essenziellen Fette, Spurenelemente, Proteine und Kohlenhydrate enthielt, entwickelte Claudia eine fortschreitende Mangelernährung. Ihre Haut verlor an Farbe, sie fühlte sich erschöpft und geistig träge, die Leberfunktion verschlechterte sich, und in ihrem Körper gerieten Salze und Zucker aus dem Gleichgewicht. Im Alter von 31 Jahren verstarb Claudia an einem Herzstillstand, der auf eine Überladung ihres Körpers mit Zucker zurückzuführen war, obwohl die Nährlösung genau die richtige Menge davon enthielt.

Von Claudias tragischem Schicksal erfuhr ich als Medizinstudent in einem Kurs der Inneren Medizin. Ihre Geschichte berührte mich tief. Zum einen, weil eine so junge Frau an einem Ernährungsproblem sterben musste, aber auch, weil ich als junger Erwachsener selbst an Magen-Darm-Problemen litt und gelegentlich an der Funktionsfähigkeit meines Darms zweifelte. Claudias Tod veranschaulichte auf eindrückliche Weise, wie wichtig die Nahrung in ihrer Ganzheit ist. Auch wissenschaftlich beschäftigt mich Claudias Tod bis heute. Selbst die modernsten Ernährungslehren können ihren Tod nicht erklären, weil sie immer noch davon ausgehen, dass Ernährung im Grunde nichts anderes ist als die Aufnahme von Nährstoffen durch das Blut. Ob diese Nährstoffe aus einer Kapsel, einem Katheter oder aus einem Apfel stammen, ist gemäß dieser Lehre gleichgültig. Und obwohl diese Lehre im Medizinstudium unterrichtet wird, machte ich in der Klinik immer wieder die Beobachtung, dass Ärztinnen und Ärzte im medizinischen Alltag intuitiv davon abwichen. Denn auch wenn die Sondennahrung die perfekte Ausgewogenheit an Nährstoffen enthält, weiß jede erfahrene Klinikerin, dass Patienten, die kleine Portionen Semmeln, Joghurt und Apfelschnitze essen, eine bessere Lebensqualität und ein längeres Leben haben als solche, die künstlich ernährt werden.

Das Geheimnis des langen und guten Lebens

Die große Bedeutung des regelmäßigen Essens unbehandelter, ganzer Lebensmittel belegen auch Menschen, die sehr alt geworden sind. Typischerweise lieben diese Menschen die traditionelle Ernährung und leben in Regionen, in denen die Esskultur hochgehalten wird, etwa in Frankreich, Italien und Japan. Die Japanerin Kane Takana starb im April 2022 im Alter von 119 Jahren als damals älteste Frau der Welt. Kane stellte die Ernährung mit all ihren Bezügen stets ins Zentrum ihres Lebens. Als 1937 der Krieg mit China ausbrach, ging Kane mit Mann und Sohn an die Front und kochte Nudeln für die Menschen in Not. Nach dem Krieg traten sie und ihr Mann zum Christentum über und bauten eine Kirche. Die christliche Kultur zog sie seit ihrer Kindheit an, weil sie das Essen ins Zentrum ihrer Spiritualität stellt. Im Jahr 1993 starb ihr Mann, im Alter von 90 Jahren erkrankte sie an Grauem Star und mit 103 wurde sie wegen Dickdarmkrebs operiert, woraufhin sie in ein Pflegeheim ziehen musste. Trotz dieser Schicksalsschläge behielt sie ihren Lebensmut. Im September 2021 sagte sie in einem Interview lächelnd: »Ich werde nicht sterben, ich habe nie daran gedacht.«1 Sie strahlte über den Blumenstrauß, den sie zum Geburtstag bekommen hatte, und aß täglich achtsam und regelmäßig drei Mahlzeiten mit Reis, Fisch und Gemüse. Danach spazierte sie eine Viertelstunde, nahm einmal pro Woche an einem Quiz teil und verfügte bis zum letzten Tag über einen guten Geschmackssinn. Teezeremonien und Übungen in Kalligrafie halfen ihr, ihren Geist zu schärfen und ihr Bewusstsein mit einer höheren Wirklichkeit zu verbinden.

Anfang 2023 berichteten Zeitungen auf der ganzen Welt über Schwester André, die im Alter von 118 Jahren im Schlaf verstarb. Sie lebte in Südfrankreich und überstand zwei Weltkriege, die Spanische Grippe und eine Coronainfektion. Obwohl sie nicht religiös erzogen worden war, trat sie auf eignen Wunsch einer Ordensgemeinschaft bei, um Not leidenden Menschen zu helfen. Lange pflegte sie Senioren, die deutlich jünger waren als sie selbst. Sie sagte einmal, dass sie zwei große Ziele im Leben gehabt habe: ihre Liebe zu teilen und keine Kompromisse bei ihren eigenen Bedürfnissen einzugehen. Diese Kompromisslosigkeit offenbarte sich wohl am deutlichsten beim Essen. Bereits zum Frühstück aß sie etwas Schokolade und gönnte sich jeden Tag ein Glas Rotwein zum Mittagessen. Dass sie bis ins hohe Alter eine Feinschmeckerin mit hochdifferenzierter Aroma-Wahrnehmung war, zeigte sich etwa darin, dass sie eine Vorliebe für Hummer hatte. Ihren 117. Geburtstag feierte sie mit Gänseleber, gebratenem Kapaun und Käse. Überraschungssoufflé, eine Eistorte mit flambiertem Baiser, war ihr Lieblingsdessert, davon aß sie gern kleine Portionen. Die Überraschung besteht darin, dass unter der heißen Oberfläche ein kühlendes Speiseeis versteckt ist.

Das Bemerkenswerte ist: Schwester André ist nicht allein. In Frankreich gibt es viele Menschen, die regelmäßig fettiges Fleisch, Fettleber, verschimmelten Käse und süße Desserts essen und dazu Wein trinken. Franzosen lassen sich viel weniger von der chemischen Ernährungswissenschaft beeinflussen und vertrauen bei ihrer Speisewahl ihren Nasen, Zungen, Augen und Ohren, welche in mediterranen Kulturen besonders stark geschult und entwickelt werden. Trotzdem leben diese Genussmenschen überdurchschnittlich lange und leiden vergleichsweise selten an Herzkrankheiten und Krebs. Diesen verblüffenden Befund nennt man in der Ernährungslehre das französische Paradox, weil in Frankreich Genuss – inklusive gesättigter Fettsäuren, Cholesterin sowie Alkohol – und Gesundheit auf besonders erstaunliche Weise zusammenfallen.

Ein mit dem französischen Paradox verwandtes Konzept sind die Blauen Zonen. Damit bezeichnet man diejenigen Regionen auf der Welt, in denen Menschen besonders alt werden, ohne überdurchschnittlich viel für das Gesundheitswesen auszugeben. Dazu gehören Sardinien, die griechische Insel Ikaria, die japanische Insel Okinawa und die Nicoya-Halbinsel in Costa Rica. Die Gemeinsamkeit der Einwohner dieser Zonen besteht darin, dass sie intuitive Genussesser sind und viel Tee und Kaffee trinken. Ihr Genuss ist jedoch nicht zügellos, sondern eingebunden in Traditionen und spirituelle Überzeugungen. Das Pflegen von Ritualen hilft dabei, die Nahrungsaufnahme zu koordinieren, und sorgt dafür, dass man nicht mehr isst als notwendig. Den Bewohnern der Blauen Zonen sind bewusstes Hungern und Kalorienzählen fremd. Im Gegenteil, hier werden Kalorien nicht einfach nur gegessen, sondern stets im Einklang mit Mythen und einer tieferen Bedeutung genossen.

Ich wollte mehr erfahren über Menschen, die sehr alt geworden sind, über ihre besonderen Einsichten, Gefühle und Geheimnisse. Schwester André schien mir ein Schlüssel dazu zu sein, weil es Dutzende Videos gibt, in denen sie über ihre Überzeugungen, Erfahrungen und Lebensweisheiten berichtet. Ich erfuhr, dass sie in Bezug auf Ernährung immer auf ihren Geruchs- und Geschmackssinn sowie auf ihre Intuition vertraute. Für sie war Essen ein Ritual mit höherer Bedeutung. Selbst in ihrem letzten Lebensjahr, als sie blind und an den Rollstuhl gefesselt war, wurde sie nicht müde, wieder und wieder den hohen Wert des Lebens zu betonen, und wie wichtig es sei, die Güter und Speisen der Welt zu teilen.

Doch obwohl diese Videos viele wichtige Information enthielten, stillten sie meine Neugier nicht, vielmehr stachelten sie sie nur noch mehr an. Wann genau ging sie ins Bett, wann stand sie auf? Was hielt sie von Snacks zwischen den Mahlzeiten, was von Rosenkohl? Hatte sie regelmäßigen Stuhlgang?

In dieser Zeit meiner neugierigen Trauer um Schwester André besuchte mich eine Journalistin aus Frankreich in meiner Klinik, um mit mir ein Interview über meine neuen Therapieansätze zu führen und die Räumlichkeiten zu besichtigen. Nach dem Interview fragte ich sie, ob sie schon mal von Schwester André gehört habe. Das war der Fall, und ich durfte mit Freude vernehmen, dass sie meine Begeisterung für die »Doyenne de l’humanité«, wie man sie in Frankreich nennt, teilte. Als ich ihr meine detaillierten Fragen zur Diät der »Ältesten der Menschheit« stellte, winkte sie jedoch grob ab: »Ihre Einstellung zu Rosenkohl? Solche Fragen ergeben keinen Sinn. Sie werden Schwester Andrés Geheimnis dadurch nicht näherkommen. Man muss das im Zusammenhang sehen.«

Diese Kritik traf mich besonders, weil ich ja selbst einen ganzheitlichen Ansatz vertrete. Als die Journalistin meine Enttäuschung und Verärgerung sah, erzählte sie mir von ihrer Großmutter Anna, die in Deutschland gelebt habe, immerhin auch 103 Jahre alt geworden und bis ins hohe Alter topfit gewesen sei. Für die Journalistin war ihre Oma ein wichtiger Mensch, unter anderem, weil ihr Vater die Familie früh verließ und es ihrer Mutter an Halt im Leben fehlte. Anna war immer sehr positiv eingestellt, eine Optimistin, nichts konnte sie aus der Ruhe bringen. Und ähnlich wie bei Kane Takana und Schwester André spielte das Essen und damit verbundene Rituale eine zentrale Rolle in ihrem Leben. Sie hatte in ihrer Kindheit Hunger erlebt und wusste dadurch aus eigener Erfahrung, dass Nahrung keine Selbstverständlichkeit, sondern ein Geschenk ist.

Ihr Geschmackssinn war hervorragend und sie konsumierte alles achtsam und in Maßen, am liebsten frische Zutaten, die sie auf dem Markt kaufte. Aufgrund einer Allergie trank sie keinen Alkohol. Körperlich war sie immer aktiv, ohne viel Sport zu treiben. Ihr besonderes kulinarisches Interesse galt stillem Mineralwasser. Sie hatte viele verschiedene Sorten im Haus, weil für sie jede anders schmeckte und sie die Vielfalt liebte. Bis ins hohe Alter kannte sie alle Telefonnummern der Wasserlieferanten auswendig. Sie nahm nie Nahrungsergänzungsmittel ein, nicht eine einzige Vitamintablette, die ihr ein Arzt verschrieben hatte, denn sie bestand darauf, alles, was sie zu sich nahm, geschmacklich auf ihrer Zunge zu erfahren. Sie war bescheiden in allem, auch beim Essen, freute sich aber sehr, wenn Ärzte ihren Körper lobten, der mit 100 Jahren noch sehr gesund aussah. Gern erzählte sie von einem Klinikaufenthalt, bei dem die Ärzte und das Pflegepersonal um ihr Bett standen, um ihre makellosen Beine zu bewundern, oder von einer Kardiologin, die kaum glauben konnte, wie jung und kräftig ihr Herz war.

Die Journalistin betonte, dass ihre Mutter und ihre Oma im gleichen Haushalt lebten und ihnen im Prinzip die gleichen Speisen zur Verfügung standen. Doch ihre Persönlichkeiten unterschieden sich deutlich. Ihre Mutter hatte nicht Annas Bescheidenheit und innere Haltung geerbt, sie gehörte einer anderen Generation mit anderen Erfahrungen an. Sie hatte sehr hohe Ansprüche ans Leben, was immer wieder zu Konflikten führte. Über Annas Mineralwasserleidenschaft machte sie sich lustig, denn Wasser war für sie einfach nur Wasser, Limonade schmeckte ihr viel besser. Sie fand, dass sie das Recht hatte, zu jeder Tageszeit Süßigkeiten zu essen, und Schokohasen oder Weihnachtsgebäck, die sie geschenkt bekam, verschlang sie im Nu. So etwas wäre Anna nie in den Sinn gekommen. Vielmehr stellte sie so etwas als Dekoration auf und warf es später weg, weil sie ihr Leben und ihre Nahrung selbst bestimmen und sich nicht von Geschenken und Werbung verführen lassen wollte. Der Mutter hingegen konnte man ein volles Glas Wein oder ein großes Stück Kuchen hinstellen und durfte sicher sein, dass sie diese Angebote ohne Zögern annahm. Diese Offenheit machte sie sympathisch, brachte aber auch viel Chaos, Leid und Gesundheitsprobleme in ihr Leben. Anna war da ganz anders: Für sie gehörte alles zu einer höheren Ordnung, ihre Herkunft, die Speisen, ihr strikter Essrhythmus, ihre spirituellen Überzeugungen, das alles kam von innen und ergab ein Ganzes.

Das schwerwiegende Versagen der chemischen Nährstofftheorie

In ursprünglichen Gesellschaften war fast alles, was mit Essen zu tun hatte, in symbolische Bedeutungen, magische Praktiken, Zeremonien und Tabus eingebettet. In etwas geringerem Maße gilt dies auch für traditionelle Gesellschaften unserer Zeit. Dies kann man gut an der französischen Esskultur ablesen. Im Französischen meint das Wort »Menü« nicht die Auswahl an Speisen, sondern eine rituelle Anweisung, wie eine Mahlzeit verlaufen soll.

Mit dem Aufkommen von Fast Food, der Mikrowelle und dem zunehmenden Zeitdruck am Arbeitsplatz verschwand das Bedürfnis und die Ruhe, jede Mahlzeit im Rahmen eines gemeinsamen Rituals einzunehmen. Gleichzeitig machte sich die Irrlehre breit, dass Essen nichts anderes sei als die Aufnahme chemischer Nährstoffe, um industrielle Nahrung wissenschaftlich zu rechtfertigen. Dazu kommt, dass Fast Food im Grunde so gut wie ungenießbar ist, wenn man unserem Mund nicht durch die Zugabe von großen Mengen Zucker und Salz vorgaukelt, in etwas Gutes zu beißen. In neuester Zeit fördern das Fernsehen, Computer und Smartphones das unbewusste Essen, bei dem Kalorien freud- und achtlos verschlungen werden. Die Folgen dieses Rückfalls der kulinarischen Kultur ins Reptilienzeitalter sind bekannt: Die Häufigkeit von Diabetes hat sich seit 1980 vervierfacht, das Problem des Übergewichts hat sich verdoppelt und Darmkrebs nimmt bei jungen Menschen deutlich zu.2 Jeder zehnte Mensch leidet seit dem durchschlagenden Erfolg von Fast Food an einer Autoimmunkrankheit, am meisten an Entzündungen von Gelenken, dem Darm und der Haut, etwa Arthritis, Zöliakie und allergischen Hautkrankheiten.3

Nährstoffe wie Vitamine und Fettsäuren sind erstaunlich wenig gesund oder sogar ungesund, wenn man sie isoliert mittels einer Kapsel einnimmt. Erst im Zusammenhang mit einem ganzen Nahrungsmittel, eingebettet in eine Lebensmittelstruktur und als Teil einer Lebensmittelmatrix, entwickeln sie ihre günstigen Wirkungen. Selbst ganze Lebensmittel wirken nicht allein, sondern immer in einer körperlichen und sozialen Umgebung. Eine Speise wie Schwester Andrés Überraschungssoufflé ist auf nüchternen Magen viel ungesünder als nach einer vollen Mahlzeit, weil der Körper nicht darauf vorbereitet ist und die Grundlage aus Salat und Gemüse fehlt, um die Zuckerflut zu verlangsamen. Das heißt, ganze Lebensmittel müssen in Mahlzeiten und Tagesabläufe eingebunden sein, um ihre positive Wirkung zu entfalten. Neueste Forschung weist darauf hin, dass sogar die Atmung und der Schlaf die Aufnahme von Nährstoffen und die Regeneration des Körpers nach dem Essen beeinflusst. In den Blauen Zonen wirkt sich zudem die soziale Umgebung, das Teilen und die spirituelle Bedeutung des Essens auf die Gesundheit von Mahlzeiten aus, wie eine Reihe von Studien belegt.4 Das bestätigt auch die moderne Sinnesphysiologie, die zeigt, dass Essen die komplexeste und intensivste Sinneswahrnehmung überhaupt ist, für die große Teile des Gehirns verantwortlich sind. Essen ist also immer auch eine Hirnaktivität und hat das Potenzial zur Bewusstseinserweiterung. Achtsame Esser leben daher gesünder als unachtsame, selbst wenn sie die exakt gleichen Nährstoffe zu sich nehmen, weil Achtsamkeit dem Körper die Möglichkeit gibt, sich auf die Verdauung vorzubereiten, und Entspannung das Ansetzen unnötiger Fettdepots verhindert.5

Die große und verständliche Versuchung der modernen Medizin ist, komplexe gesundheitliche Phänomene auf banale chemische Prozesse zurückzuführen, obwohl es immer offensichtlicher wird, dass diese Strategie oftmals ungenügend ist, um komplexe Systeme zu verstehen, die stets mehr als ihre Einzelteile sind. Claudias Tod ist ein eindrücklicher Beleg dafür. Dazu kommt, dass die Nahrungsmittelindustrie Komplexität scheut wie der Teufel das Weihwasser, weil industrielle Methoden darauf ausgerichtet sind, einzelne, gut haltbare Nährstoffe in großen Mengen billig herzustellen. Der Aufbau komplexer Lebensmittelstrukturen wäre viel zu aufwendig. Die medizinische, biologische und geisteswissenschaftliche Forschung ist sich hingegen zunehmend der Notwendigkeit bewusst, Nahrung in ihrer ganzheitlichen Komplexität zu untersuchen.

Damit steht sie in einer langen Tradition. Die Beziehung, die wir zu Essen und Nahrungsmitteln haben, ist das zentrale Thema aller spirituellen Lehren der letzten Jahrtausende. Unser Körper und alle seine Organe beteiligen sich am Essen. Die Augen sehen die Nahrung. Arme und Hände führen sie zum Mund. Über die Speiseröhre und den Magen gelangt sie in den Darm. Dort wird sie mithilfe von Säften der Bauchspeicheldrüse und der Galle verdaut. Die Leber entgiftet das Aufgenommene, sodass über das Blut die Nährstoffe im ganzen Körper verteilt werden können. Sie werden ins Hirn und in die Sinnesorgane befördert, in Herz und Lunge, Haut und Haare, in die Bauchhöhle, die Geschlechtsorgane, Knochen und Muskeln sowie ins Fettgewebe. Eine Reihe von Hormonen bestimmt, wie und wo die Stoffe verwandelt und genutzt werden. Die Darmbakterien und das Immunsystem sind zuständig für die Erkennung und Entsorgung schädlicher Stoffe. Die Nieren filtern Überschüssiges aus dem Blut und entfernen es über die Blase. Der Enddarm leitet Unverdauliches als Stuhl aus. Darüber hinaus verlassen Nährstoffe den Körper über die Lymphe und die Haut. Es ist wie ein Lebensstrom, der durch unseren ganzen Körper fließt. Prana nannten die indischen Gelehrten diesen Strom, der den Atem, die Nahrung und die höheren Welten miteinander verbindet. Die moderne Biologie bestätigt, dass unser Körper Tausende von Detektoren im Hirn und in allen anderen Organen besitzt, um den Nährstoffstrom zu erfassen, was die vielfältigen Einflüsse der Nahrung auf unsere Psyche, unsere soziale Ausstrahlung und unser Bewusstsein wissenschaftlich erklärt. Praktisch bedeutet dies, dass wir es beim Essen und Kochen selbst in der Hand haben, diesen Strom zu spüren, zu steuern, zu fördern oder zu unterbrechen.

Die neue Wissenschaft der ganzheitlichen Ernährung

Dieses Buch soll aufzeigen, was wirklich nährt. Jedes Kapitel enthält praktische Hinweise auf dem Weg zur ganzheitlichen Ernährung. Das erste Kapitel spürt der Beobachtung nach, dass sehr alt gewordene Menschen einen ausgesprochen guten Geschmacks- und Geruchssinn haben, den sie durch achtsames Essen laufend trainieren. Was können wir von ihnen lernen? Das zweite Kapitel nimmt die abnehmenden Pausen zwischen Mahlzeiten und Snacks in den Blick und zeigt auf, warum das problematisch ist und was wir dagegen tun können. Stichwort: Fasten. Im dritten Kapitel geht es um gesunde Lebensmittel und darum, warum ein ganzer Apfel deutlich gesünder ist als Apfelsaft, obwohl beide aus den gleichen chemischen Molekülen bestehen. Im vierten Kapitel ergründe ich das Geheimnis der Essgemeinschaft und von Essritualen, die in allen Kulturen genutzt werden, um soziale Netze zu knüpfen und aufrechtzuerhalten. Das fünfte Kapitel ist dem Fluss der Nährenergien gewidmet und vermittelt einfache mentale Techniken, die dabei helfen, Kalorien in psychische, soziale und spirituelle Kraft zu verwandeln. Um gesund zu bleiben, muss der Körper sich von Nahrungsresten befreien, die keiner Verwandlung zugänglich sind. Wie wir diese Reinigung bewusst stärken und steuern können, bildet den Inhalt des sechsten und letzten Kapitels.

Die ganzheitliche Ernährungswissenschaft erweitert die chemische Vorstellung von Nahrung und bezieht auch psychische, soziale, ökologische und spirituelle Aspekte mit ein. Wobei die Frage, was uns wirklich nährt, natürlich immer bei der konkreten Nahrung beginnt. Neueste Forschung zeigt, dass ganze Lebensmittel, die möglichst wenig zerkleinert und industriell verarbeitet werden, uns am besten nähren. Wenn solche Nahrungsmittel in Kombination gegessen werden, etwa ganze Äpfel, Birnen und Nüsse zusammen, ist die nährende Wirkung noch größer. Die Forschung über das Essverhalten von Menschen, die sehr alt geworden sind, weist zudem darauf hin, dass die gesunde Ernährung eine positive Einstellung zur Nahrung einschließt. Durch achtsames Essen, aber auch durch Fasten, geraten wir in einen intensiven und direkten Bezug zur Nahrung, sodass aus den bloßen Nährwerten ein psychisches Erleben wird. Die Tischgemeinschaft ist eine gute Gelegenheit, dieses Erleben in einen größeren sozialen und spirituellen Kontext einzubinden. Der Energiekreislauf beginnt im Darm, der durch metabolische Prozesse die Nährstoffe dem Körper aneignet. Dies ist ein kreativer Prozess, in dem neue Stoffe und Zusammenhänge entstehen, etwa durch die Enzyme der Darmbakterien. Anschließend muss sich die Nährenergie, die durch das Feuer der Verdauung gegangen ist, in andere, subtilere Energien verwandeln, etwa in Willenskraft, Herzensgüte und mentale Beweglichkeit. Richtige Ernährung beinhaltet deshalb immer auch eine ausgiebige Energiearbeit, deren biologische und psychische Dimensionen ich im Detail erklären werde. Zu guter Letzt müssen die unverbaubaren Bestandteile der Nahrung ausgeschieden und der Körper gereinigt werden, weil die unverdauten Nahrungsreste eine Reihe von Krankheiten verursachen können, darunter Diabetes, Herzkrankheiten, Krebs und Demenz. Was wirklich nährt, ist also nicht die einzelne, nackte Kalorie, sondern vielmehr die Ganzheit der Nahrung, unsere Einstellung zur Ernährung und die Verwandlung und Reinigung der Nährenergie. Diesen Ansatz nenne ich spirituell, weil er die Verbundenheit ins Zentrum stellt und nicht nur Fachwissen anhäuft, sondern eine Praxis beinhaltet und einen Weg in ein erfülltes Leben weist.

Achtsames Essen

Achtsames Essen ist die Voraussetzung, die Ganzheit der Nahrung wahrzunehmen. Zunehmend essen Kinder und Erwachsene jedoch vor dem Fernseher oder dem Computer. Die Nahrungsaufnahme verläuft dabei so schnell und unaufmerksam, dass kein Bewusstsein für die Nahrung und die Verdauung entstehen kann. Der Zucker, der uns überschwemmt, oder das Salz, das unseren Blutdruck in die Höhe treibt, bleiben dabei unbewusst. Im Gegensatz dazu haben Kane Takana, Schwester André und Oma Anna langsam, konzentriert und in vollem Bewusstsein gegessen, um genau zu spüren, was bei der Ernährung mit ihrem Körper geschieht. Ein wichtiger Vorteil des achtsamen Essens zeigt sich etwa darin, dass Geschmacks- und Geruchssinn, die im Alter eher abnehmen, erhalten bleiben. Gemäß jüngster Forschung sind genau diese Sinne für ein langes Leben maßgebend. Eine Studie untersuchte die Aroma-Wahrnehmung von 3000 Menschen im Alter von 57 bis 85 Jahren mit Rosen-, Leder-, Fisch-, Orangen- und Pfefferminzdüften.6 Die untersuchten Personen, die Mühe hatten, diese Düfte zu erkennen, starben in den folgenden fünf Jahren viermal so häufig wie jene, welche die Düfte korrekt erkannten. Das heißt, die Unfähigkeit, die Nahrung richtig wahrzunehmen, verkürzte die Lebensdauer mehr als schwere Krankheiten wie Herzinfarkt, Hirnschlag und Krebs. Auch andere Studien belegen den ausgesprochen guten Geschmackssinn von Menschen, die älter als 100 Jahre alt werden.7 Dass Frauen im Durchschnitt länger leben, sich gesünder ernähren und mehr soziale Kontakte im Alter haben als Männer, geht zu einem wichtigen Teil auf ihre bessere Aroma-Wahrnehmung zurück. Oma Annas Behauptung, sie könne verschiedene Mineralwasser geschmacklich voneinander unterscheiden, war also vermutlich kein Bluff, sondern der Schlüssel zu ihrem langen Leben.

Warum ist die Wahrnehmung von Aromen so wichtig? Sie hilft uns, sowohl zwischen verschmutzter und guter Luft als auch zwischen gesunden und ungesunden Nahrungsmitteln zu unterscheiden und Krankheitserreger aufzuspüren. Zudem motiviert sie uns, nährstoffreiche Nahrung zu essen, aber auch versteckte Kalorien und verstecktes Salz zu erkennen und diese Nährstoffe nicht unbewusst zu uns zu nehmen. Außer für die Wahl der Umgebung und der Nahrung ist die Aroma-Wahrnehmung auch psychisch von großer Bedeutung. Angenehme Aromen heben die Stimmung und vermitteln ein Gefühl der Verbundenheit. Zudem ist die Aroma-Wahrnehmung bedeutsam für das Zusammenleben und die spirituelle Verankerung in einem größeren Lebenskontext, wie ich im vierten Kapitel über die Essgemeinschaft aufzeigen werde.

Umgekehrt gesagt: Menschen mit einer schwachen Aroma-Wahrnehmung essen eher ungesund, wenig vielfältig, genießen seltener die Natur und haben weniger Kontakte und ein geringeres Interesse an Spiritualität. Menschen mit Hirnkrankheiten wie Parkinson ernähren sich in der Regel schlecht und leiden an einer niedrigen Lebensqualität, weil ihr Aroma-Sinn durch die Krankheit eingeschränkt ist. Menschen, die Zucker nicht wahrnehmen, essen deutlich mehr davon, um zumindest etwas Süße zu erleben, laufen dadurch aber Gefahr, an Diabetes zu erkranken. Zum Glück können wir den Aroma-Sinn wie einen Muskel trainieren. Das sieht man schon daran, dass fast alle älteren Menschen Kaffee am Geruch erkennen, eine Rose aber nicht. Dies hat nichts mit Genetik oder Hirnalterung zu tun, sondern mit dem Umstand, dass man praktisch täglich die Gelegenheit hat, Kaffee zu riechen, was auf Rosen leider weniger zutrifft. Regelmäßiges Schnuppern an Rosenblüten ist daher ein wirksames Mittel, Rosenaromen bis ins hohe Alter wahrnehmen zu können. Das Training jedoch, das für ein genussvolles, langes Leben wirklich bedeutsam ist, ist das achtsame Essen.

Entwicklung von Ess-Achtsamkeit

Wir sollten jeden Tag so planen, dass es genügend Zeit für achtsames Essen gibt. Viel Aufwand bedarf es dazu nicht. Eine gewisse Entspannung und eine Unterbrechung der Arbeit schafft gute Voraussetzungen für Achtsamkeit beim Essen. 20 Minuten genügen, aber auch schon zehn Minuten sind viel besser, als am Telefon, am Computer oder im Gehen zu essen. Die Tragödie der Ablenkung besteht in dem Irrglauben, dass sich die interessanten Dinge außerhalb von uns vollziehen. Dabei geschieht das Spannendste in uns selbst.

Ein guter Anfang ist, das Essen zunächst für einige Momente in Ruhe zu betrachten und zu riechen. So gerät es ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit und gewinnt an Präsenz. Gelegentlich denke ich an die Mineralien, den Boden, den Regen, die Pflanzen und die Arbeit vieler Menschen, die notwendig waren, damit diese Nahrung nun vor mir auf dem Teller liegt. Um Achtsamkeit beim Essen zu entwickeln, sollten wir ganz normal essen, jedoch mit dem Wissen, dass wir essen. Wenn ich ein Sandwich achtsam esse, denke ich: »Ich esse jetzt ein Sandwich.« Das ist ungewöhnlich, denn normalerweise denke ich beim Essen nicht ans Essen, sondern an meine To-do-Liste, oder ich verspüre eine leichte Unruhe, weil mir einfällt, dass ich eine E-Mail noch nicht beantwortet habe. Meine persönliche Motivation, beim Essen bewusst ans Essen zu denken, ist nicht primär meine Gesundheit, die ich damit fördere, sondern der Genuss, den es bereithält. Das Essen, selbst wenn es fade ist, beinhaltet zudem immer eine direkte und intensive Körpererfahrung. Das ist es, was es symbolisch so reich und bedeutungsvoll macht. Deshalb wiegt das unbewusste Essen so schwer. Es beraubt uns des intensivsten Kontakts mit der Welt. Zwischen den Bissen lenke ich die Aufmerksamkeit immer wieder auf meine Atmung. Das hilft, einen Rhythmus zu finden. Der Rhythmus ist ein Mittelweg zwischen totaler Kontrolle und Zügellosigkeit. Wenn ich mit anderen Menschen unterwegs bin, versuche ich, meine Aufmerksamkeit zwischen dem Essen und meinen Begleitern zu teilen, und nehme die Gelegenheit wahr, über das Essen zu sprechen, um die Achtsamkeit zu vertiefen. 

Achtsames Essen kann fast jede ungesunde Speise in eine gesunde verwandeln, weil die Menge und die Geschwindigkeit der Aufnahme wesentlich die Gesundheit einer Nahrung ausmachen. Selbst reiner Zucker in ganz kleinen Mengen, sehr langsam und entspannt eingenommen, verliert seine krank machende Potenz, da der Körper durchaus in der Lage ist, diese Portion aufzunehmen und zu verdauen, ohne dass ein Zuckeranstieg im Blut und eine Insulinreaktion mit all ihren nachteiligen Folgen eintreten.

Das Gegenteil von achtsamem Essen ist unbewusstes Essen, Stress-Essen und emotionales Essen. Bei ihnen steht nicht die Nahrungsaufnahme im Zentrum des wachen Interesses, sondern eine Ablenkung, Stress oder ein starkes Gefühl, das stört. So fehlt die Kontrolle über das Essen und damit über die Auswahl, die Menge und die Essgeschwindigkeit. Fast immer führt dies zu einer übermäßig großen und genusslosen Kalorieneinnahme und einer Missachtung von Sättigungsreizen. Noch schwerwiegender ist aber der Teufelskreis, der daraus entsteht: Emotionales und unbewusstes Essen führt zu spürbaren oder unterschwelligen Scham- und Schuldgefühlen, die wiederum das emotionale und unbewusste Essen fördern.

Genussesser sind im Vorteil

Als ich als junger Erwachsener ein paar Jahre in den USA lebte und arbeitete, begann ich, mich ungesund zu ernähren. Dass die USA keine Blaue Zone sind, in der über Jahrhunderte entwickelte Esstraditionen und Essrituale die Menschen vor Krankheiten schützen, erlebte ich dadurch am eigenen Leib. Im zweiten Jahr meines Aufenthalts ließen meine europäischen Essrituale nach und ich trank bereits am Morgen zuckerige Limonaden, aß Sandwiches mit einem Pfund Erdnussbutter und ultrasüßer Traubenkonfitüre und am Nachmittag, wenn ich mich etwas müde fühlte, einen Donut. Wegen dieser industriellen Ernährung schämte ich mich – was hätte wohl meine Mutter dazu gesagt? – und das führte dazu, dass ich immer mehr Angst vor natürlichen Lebensmitteln hatte, sodass ich unorganisch rechteckige Fischstäbchen einem ganzen Fisch vorzog. Dadurch geriet ich in einen Teufelskreis, in dem ich meine Scham und meine Angst vor ganzen Lebensmitteln mit dem wahllosen und übermäßigen Verschlingen von Kalorien betäubte. Meine Haut wurde schlecht und ich nahm über zehn Kilo zu.

Zurück in der Schweiz, wo Bekannten und Freunden mein schlechter körperlicher Zustand auffiel, fand ich die Motivation, dieses ungesunde Verhältnis zum Essen zu stoppen. Am meisten half mir dabei das langsame, achtsame Essen. So kaufte ich mir beispielsweise einen Donut, nahm ein kleines Stück davon in den Mund und spürte, wie viel Zucker und Fett sich zuerst auf meiner Zunge und dann in meinem ganzen Körper ausbreitete. Ich machte die Beobachtung, dass ich den Donut nicht ganz essen musste, um mich gut zu fühlen, denn durch die wiederholte Achtsamkeitsübung wurden selbst kleinste Donut-Stücke so aufregend und erfüllend, dass ich mich viel schneller gesättigt fühlte.

Das kurzfristige Veränderungsziel des achtsamen Essens ist also, dass wir langsamer und mit mehr Genuss essen und dass wir weniger Kalorien, Fleisch und Fast Food brauchen, um erfüllt und gesättigt zu sein. Achtsamkeit beinhaltet aber noch viel mehr. Sie kann psychische Prozesse wie Anhaftungen, Abneigungen und Illusionen als Quelle von Leid und Krankheiten erkennen, auflösen und heilsame Geistesqualitäten wie Dankbarkeit, Bescheidenheit und Güte kultivieren. In meinem Fall merkte ich, dass ich in den USA der Illusion verfiel, am Nachmittag einen Donut, ein Sandwich oder gleich beides zu brauchen, um genug Energie für den Rest des Tages zu haben. Bei meinen Achtsamkeitsübungen spürte ich dann, dass die mentale Verknüpfung zwischen Süßigkeit und Energie keine heilsame war, sondern eher einer Anhaftung und Abhängigkeit entsprach, die ich auflösen musste, um mich freier zu fühlen. Schrittweise gelang mir das auch, sodass ich heute am Nachmittag nichts esse, sondern stattdessen einen Spaziergang oder kleine Turnübungen mache, um Energie zu tanken.

Die Entwicklung der Ess-Intuition

Unachtsames Essen ist eine relativ neue Erscheinung, auf die unser Körper nicht vorbereitet ist. Urmenschen mussten bei der Nahrungssuche und beim Essen immer sehr achtsam sein, allein schon weil die meisten natürlich vorkommenden Pflanzen in irgendeiner Form giftig sind oder keinen Nährwert für uns haben. Wir sind Allesesser und verfügen deshalb über eine große Nahrungsintelligenz, einen ausgeprägten Geschmacks- und Geruchssinn und ein gutes Gedächtnis. Doch diese Intelligenz und Wahrnehmung muss wie jede höhere Fähigkeit dauernd trainiert werden. Deshalb sind Nahrungsumstellungen so aufwendig. Kinder und Jugendliche, die mit Fast Food aufwachsen, das vorwiegend aus Mais, Soja, Weizen und Fleisch besteht und mit verstecktem Zucker und Salz angereichert ist, was die sauren und bitteren Aromen abschwächt und übertönt, haben keine Gelegenheit, diese Intelligenz zu entwickeln. Sie müssen das gesunde und achtsame Essen wie eine Zweitsprache lernen. Die Digitalisierung hat das Potenzial, die Nahrungsintelligenz zusätzlich zu zerstören, weil das ständige Konsumieren von Medien den Seh- und den Hörsinn bevorzugt behandelt – auf Kosten von Schmecken, Riechen und Tasten. Beim Essen vor dem Bildschirm ist die Ess-Achtsamkeit fast unmöglich, da die Ablenkung, die jegliches Gewahrsein zu untergraben droht, massiv unterstützt und gesteigert wird. Die Folgen dieser Entwicklung sind enorm. Unbewusstes Essen hat seit 1980 stark zugenommen und damit eine Epidemie von Übergewicht, Diabetes und Autoimmunkrankheiten ausgelöst. Ernährungsstudien belegen, dass gegen das zunehmend unbewusste Essen vor allem eines hilft: Achtsamkeit. Diäten, die nur erklären, was man essen soll, aber nicht wie, haben nur kurzfristigen Erfolg. Eine Erweiterung davon ist das intuitive Essen, bei dem es darum geht, auf die Signale des Körpers zu hören, wie zum Beispiel Hunger, Sättigung und Geschmacksvorlieben, und sich selbst zu erlauben, auf natürliche Weise zu essen, ohne durch äußere Regeln gesteuert zu werden. Achtsamkeit beinhaltet schließlich sowohl Regeln und Rituale wie auch Intuition, ergänzt diese beiden Elemente aber durch einen umfassenderen Prozess des Bewusstwerdens. In diesem befreien wir uns von der Anhaftung an bestimmte Nahrungsmittel und von Illusionen über sie. Für die Nachhaltigkeit von Diäten ist dieser zusätzliche Aspekt von immenser Bedeutung.8

In Asien etwa nehmen Probleme wie Überessen und Übergewicht viel weniger schnell zu, weil Achtsamkeit mehr als bei uns zur allgemeinen Kultur gehört und die traditionellen Sitten gewisse Hürden für unbewusstes Essen darstellen. Konfuzius beispielsweise galten Messer bei Tisch als barbarisch. Welche Rolle sollte ein Messer in der achtsamen Beziehung mit der Nahrung schon spielen? Stäbchen hingegen ermöglichen einen ganz anderen, sanfteren Zugang zur Nahrung. Mit ihnen kann man die Nahrung einklemmen, solange man behutsam mit ihr umgeht. Die Stäbchen dienen auch dazu, die Nahrung achtsam zu trennen, ohne sie zu zerschneiden, zu zerreißen, aufzustechen oder zu spalten. Die Stäbchen zerstören die Nahrung nicht, sondern heben im Gegenteil ihre Bestandteile und Strukturen hervor. Und am Ende führen sie die Nahrung nicht als Zange, sondern als Stütze in den Mund. Dank der Stäbchen ist die Nahrung keine Beute, auf die man sich achtlos und gewaltsam stürzt, sondern eine verwandelte, kultivierte Substanz, die zur körperlichen Harmonie und Beruhigung beiträgt. Ein absoluter Schutz gegen unbewusstes Essen sind freilich auch asiatische Tischsitten nicht. Gesundes Essverhalten basiert immer auf der persönlichen Motivation und einer förderlichen Haltung.

Achtsames Essen hat auch eine ökologische Seite. Indem wir langsam und bewusst essen, haben wir die Gelegenheit, die Herkunft und die Herstellung von Lebensmitteln zu überdenken. Dies kann helfen, mehr biologisch angebaute Produkte zu kaufen. Und indem wir weniger essen, können wir uns auch teurere und ökologisch wertvollere leisten. Achtsame Esser brauchen zudem weniger Fleisch, weil sie die Nahrungsmittel viel intensiver wahrnehmen, wodurch kleinere Portionen genügen. Achtsames Essen kann darüber hinaus zu einer stärkeren und intensiveren Verbindung zur Natur führen, was wiederum das Bewusstsein für Umweltthemen stärken und zu einem umweltfreundlicheren Lebensstil inspirieren kann.

Spirituelle Lehrer haben eindrückliche Methoden eingesetzt, um ihre Anhänger vom achtsamen Essen zu überzeugen. Jesus, ein freudiger Esser und Weintrinker, der am liebsten am Tisch predigte, brach bei seinem Abschied das Brot und bot es seinen Jüngern an: »Nehmt und esst davon, denn das ist mein Leib, der für Euch gegeben wird.« Das ist natürlich ein extrem dramatischer Aufruf zu achtsamem Essen: Was ich euch vorsetze, ist nicht nur aus den besten Ähren und mit Liebe gebacken und deshalb sehr wertvoll, nein, es ist das Heiligste überhaupt, nämlich Gott! Etwas subtiler, und deshalb noch wirksamer, hat der Buddha seine Mönche ans achtsame Essen herangeführt. Er verbot ihnen, Geld zu verdienen und Nahrung zu kaufen. Damit waren sie vollständig auf Essgeschenke angewiesen. Ob dann das Essen, das sie von unbekannten und oft armen Menschen erhielten, verkocht, vergammelt, verseucht oder genießbar war, mussten sie erst durch Achtsamkeit mit Augen, Ohren, Fingern, Mund und Nase herausfinden. 

Essen als ganzheitliche Körpererfahrung

Achtsames Essen ist aber nicht nur eine gesundheitliche und moralische Notwendigkeit, es ist auch immer ein Abenteuer. Vor allem die erste Berührung der Zungenspitze und wie die Nahrung dann langsam in Kontakt mit dem ganzen Mundraum tritt. Ist dieses direkte Zusammentreffen mit der Außenwelt nicht eine Reflexion wert? Es geht hier um Empfindungen, um eine zärtliche Lust, die nicht nur die Haut betrifft, sondern viel tiefere, weichere und ursprünglichere Zonen des Körpers: den Darm und seine Drüsen. Die Nahrung dehnt sich auf dem riesigen Teppich unserer Schleimhäute aus, was das Körperbewusstsein von innen moduliert und zu einer ganzheitlichen Veränderung des Körperempfindens und damit des Bewusstseins führt. Im besten Fall ist dies ein Wohlbefinden, das aus allen Teilen des Körpers strömt. Nicht nur der Mund, auch der Darm ist durchsetzt mit Geschmacksknospen und jede Nervenzelle hat Sensoren, um die Aromen der Nahrung wahrzunehmen. Es lohnt sich, diesem Ganzkörpergeschehen zugleich genüsslich wie auch kritisch zu lauschen.

Achtsames Essen ist zudem eine wunderbare Gelegenheit, all unsere Sinne zu erleben. Neben den fünf klassischen Sinnen verfügen wir über einen Schmerzsinn, einen Temperatursinn, einen Körpersinn, einen Appetitsinn, einen Gleichgewichtssinn, einen Sinn für Beschleunigung und Verlangsamung, einen Sinn dafür, wo wir uns im Raum befinden (die sogenannte Propriozeption), und einen Sinn für das Vergehen der Zeit. Sie alle lassen uns wissen, wo und mit wem wir sind, was wir essen und wie es uns dabei geht.

Beim Essen ist es wichtig, die einfachste und fundamentalste Form von Bewusstsein zu aktivieren, nämlich das Körperbewusstsein, das sich auf das Bewusstsein und auf die Wahrnehmung unseres Körpers, einschließlich seiner Bewegungen, Positionen und Empfindungen, auswirkt. Dazu brauchen wir die zahlreichen inneren Sinne, die nicht zu den klassischen fünf, nach außen gerichteten Sinnen gehören. Neben der Wahrnehmung geht es auch darum, wie wir unseren Körper als Ganzes spüren, Körpervorgänge deuten und darauf reagieren.

Erst durch das Zusammenführen von inneren und äußeren Reizen und inneren Beurteilungen kann Körperbewusstsein überhaupt entstehen.9 Bewusstsein heißt Offenheit, die es erlaubt, die Fülle innerer und äußerer Informationen wahrzunehmen und optimal zu nutzen. Stellen Sie sich vor, Sie beißen in eine Erdbeere. Achtsam registrieren Sie die Signale, die sich auf die Wärme und die Weichheit der Erdbeere beziehen. Zusätzlich haben Sie einen optischen Eindruck der Erdbeere, Sie verspüren das leichte Knacken, wenn Sie auf sie beißen, ihren Geschmack und ihren Geruch, aber auch die Stellung und Positionsveränderungen Ihres Körpers während des Essens, die Bewegungen des Kiefergelenks und alle Sinneseindrücke, die aus dem Raum außerhalb Ihres Körpers stammen. Dies alles nennt man äußere oder exterozeptive Reize, wobei für das Hirn der Mund teilweise noch zur Außenwelt gehört. Diese Reize werden in der Inselrinde, einer Hirnregion an den Seiten der beiden Hirnhälften, mit den viszeralen Signalen, die aus dem Körperinneren stammen, zusammengeführt. Die inneren Signale kommen aus dem Magen, der die zerkaute Erdbeere bearbeitet, vom Darm, der die Erdbeere verdaut, dem Herzen, das etwas schneller schlägt, dem Atem, der während des Essens unregelmäßiger wird, und von der Körpertemperatur, die leicht ansteigt. Sie gelangen hauptsächlich über den Hirnstamm zum Hirn und haben direkten Zugang zum limbischen System, das für Gefühle, Emotionen, Motivation und die Stressreaktion zuständig ist. Die Bewertung der Sinneseindrücke findet dann in verschiedenen limbischen Regionen statt: Der Mandelkern, ein Helfer der Inselrinde, beurteilt, wie sehr die Erdbeere den eigenen Vorlieben entspricht, und der Hippocampus vergleicht die Erdbeer-Erfahrung mit früheren, ähnlichen Esserfahrungen. Weil dies alles unbewusst ablaufen kann, kommt es nicht selten vor, dass unser Körper die Sättigung, die Abneigung gegenüber einer Speise oder des unguten Einflusses einer Tischgemeinschaft zum Ausdruck bringt, bevor wir dieses Unwohlsein bemerken, weshalb wir es versäumen, unser Ess- und Sozialverhalten rechtzeitig entsprechend anzupassen.

Das Körperbewusstsein hat auch eine bedeutende Beziehung zum Selbst und zu unserer Selbstwahrnehmung, weil unser ursprüngliches Selbst als Fötus und Säugling ein Körperselbst war, also ein Gefühl des eigenen, aktiven Körpers im Verhältnis zum Körper der Mutter, zu Nahrungsmitteln und zu Gegenständen und Personen in der Umgebung.10 Ein positives Körperbewusstsein, das mittels achtsamen Essens gefördert wird, kann zu einem positiven Selbstbild und Selbstwertgefühl führen, während unbewusstes Verschlingen von Kalorien ein negatives Körperbild stärkt, was zu Unsicherheiten und zu einem niedrigen Selbstwertgefühl beiträgt. Des Weiteren hilft achtsames Essen, unseren Appetit, die Lust am Essen und die Verdauung zu akzeptieren und zu schätzen, unabhängig von gesellschaftlichen Normen oder Idealen. Achtsames Essen bietet somit eine wertvolle Möglichkeit, ein authentisches Körpergefühl zu entwickeln. Dabei lernt man, zwischen der Freude am Essen, die den Speisen selbst und echtem Appetit entspringt, und den sozialen Zwängen zu unterscheiden. Dies ermöglicht eine tiefere Verbindung, Akzeptanz und Liebe zum eigenen Körper und seinen wunderbaren Fähigkeiten. Achtsames Essen vermittelt auch ein Gefühl der Selbstregulation, womit gemeint ist, bewusst und bedacht auf Hunger- und Sättigungssignale zu hören, körperliche Grenzen zu erkennen und Stress in Bezug auf Appetit, Essen und Magen-Darm-Beschwerden positiv zu beeinflussen. Achtsames Essen trägt darüber hinaus dazu bei, die allgemeine emotionale Resonanz zu verbessern, was die Voraussetzung dafür ist, mit sich und seiner Umgebung in Kontakt zu sein und sich sicher und kompetent in unterschiedlichen sozialen Situationen zu fühlen, ohne sich abkapseln zu müssen.

Achtsames, bewusstes Essen birgt also die Chance auf Autonomie und Entwicklung. Achtsamkeit ist wie ein Raum zwischen Reiz und Reaktion, etwa zwischen dem Sehen einer Praline und ihrem Konsum. Zunächst erfasst unsere Netzhaut Farbe, Form und Glanz der Praline. Dies löst fast immer Emotionen aus, etwa Neugier oder Vorfreude, möglicherweise aber auch Scham und Schuldgefühle. Erinnerungen an frühere Erfahrungen mit Pralinen kommen hoch. Aufgrund der Emotionen und Erinnerungen findet dann eine Bewertung statt und es bildet sich eine mentale Vorstellung, was es sensorisch und emotional bedeuten würde, die Praline zu essen. Durch die erhöhte Wahrnehmung beim achtsamen Essen entsteht ein Raum, der uns die Macht gibt, zwischen Verzehr und Verzicht bewusst zu wählen. Macht mich eine bestimmte Nahrung süchtig? Stoße ich andere ab? Warum tue ich das? Sind die Speisen, meine Art des Essens und meine Achtsamkeit dabei heilsam oder gibt es schädliche Aspekte? In dieser Verzögerung der Reaktion liegt unsere Freiheit und unsere Fähigkeit, uns zu verändern.

Achtsames Essen aktiviert den Vagus-Nerv

Aus all den genannten Gründen ist es wichtig, sich beim Essen Zeit zu lassen. Das beginnt schon vor dem Essen, weil das Hirn Zeit benötigt, um den Körper und das Bewusstsein für die Nahrungsaufnahme zu wappnen. So löst etwa der Hypothalamus, das Energiezentrum, vor dem Essen eine Kaskade von Hormonen aus, die uns auf die Nahrungsaufnahme vorbereiten. Aber nicht nur weil die Nahrungsaufnahme biologisch anspruchsvoll ist, sondern auch wegen des Wohlbefindens lohnt es sich, während aller Ess-Phasen achtsam zu sein. Jeder einzelne Schritt kann eine Quelle positiver Gefühle sein: das Empfinden der Gerüche mit der hinteren Nase, das Schmecken und Kauen, und auch der Darm, ja der ganze Körper ist voller Geschmacksrezeptoren, die sich an der Nahrung erfreuen. Im Hirn gibt es mit dem Dopamin zudem einen besonderen Botenstoff, der für Belohnungen zuständig ist. Dieser wird in allen Phasen des Essens ausgeschüttet und erzeugt immer wieder eine neue Vorfreude. Der gesamte Körper ist also dafür gerüstet, noch den kleinsten Bissen zu genießen – wenn man ihm nur Zeit lässt.

Parallel dazu wird der Vagus-Nerv aktiviert, der das Hirn direkt mit dem Darm verbindet, es über den Darminhalt informiert und als großer Erholungsnerv des Körpers dafür sorgt, dass wir entspannt bleiben, damit aus der Lust keine Gier wird. Am Ende senden der Darm und die Darmbakterien Sättigungssignale aus, die wichtig sind, um die Esslust abzuschließen. Schnellessern fehlen all diese verschiedenen Feedbackloops, diese anregenden Gespräche zwischen Hirn und Darm – sie essen quasi im Autopilotmodus. Dazu kommt, dass unsere Verdauungssäfte, Enzyme und Gallensäuren nicht auf ein hohes Tempo eingestellt sind. Schnelles Essen führt deshalb zu einer Fehlverdauung, was Übergewicht, Fettleber und Diabetes zur Folge haben kann.

Seine Aufmerksamkeit immer wieder auf den Atem zu richten, ist eine der einfachsten Techniken, um den Vagus-Nerv zu aktivieren und die Achtsamkeit zu steigern. Bevor ich den ersten Bissen nehme, versuche ich, ruhig zu werden, auf meinen Atem zu achten und mit meinem Körper in Kontakt zu treten. Dabei frage ich mich, was meine Bedürfnisse in diesem Moment sind und wie groß mein Hunger wirklich ist. Das gelingt natürlich nicht jedes Mal und aufgrund von Ablenkung, Unachtsamkeit und Stress vergesse ich diese Übung auch des Öfteren. Doch es lohnt sich, sich immer wieder daran zu erinnern. Denn um die Nährstoffe verdauen zu können, brauchen wir Sauerstoff. Atmung und Ernährung gehören also eng zusammen.

Das Gegenteil von lustvollem, achtsamem Essen ist der Essanfall, bei dem ein bestimmter Reiz eine Kette von suchtgetriebenen, automatischen Handlungen auslöst. Dabei geht das körperliche Selbst für einige Zeit verloren: Es gibt keinen freien Willen mehr, keine Urheberschaft, keine Person, die das alles steuert, keinen kritischen Abstand zwischen Impuls und Tun. Es gibt nur noch einen Ort des Geschehens. Langfristig zerstören solche Attacken das Selbstwertgefühl. Doch auch ein zwar kontrolliertes, aber beliebiges Essverhalten, etwa das blinde Kopieren einer trendigen Diät irgendeines YouTube-Gurus, kann uns von uns selbst entfremden, weshalb ich es nicht für eine gute Idee halte, eine Diät unkritisch zu übernehmen.

Für Menschen, die Schwierigkeiten mit dem achtsamen Essen haben, kann es eine Hilfestellung sein, ein Esstagebuch zu führen. Oft handelt es sich dabei um Menschen, die durch traumatische Intim- oder Esserfahrungen an Essstörungen und Köperunzufriedenheit leiden oder starke Schamgefühle gegenüber dem Essen haben. Beim Schreiben eines solchen Tagebuchs merkt man, wie wenig man über die Art, die Menge, die Farbe und die Beschaffenheit der aufgenommenen Nahrung weiß, weil man meist unbewusst und ohne jede Anschauung isst. Oder man isst so schnell, dass das Hirn die überstürzte Nahrungsaufnahme nicht verarbeiten kann. Umgekehrt ist es ein gutes Zeichen, wenn es einem gelingt, eine Mahlzeit anschaulich zu beschreiben, inklusive der Umgebung und den Gefühlen, die man dabei hatte. Denn Genuss braucht Ruhe und Anschauung. Die deutsche Sprache kennt das wunderbare Wort »lauschig«. Es bezeichnet ein gemütliches Wahrnehmen. Esstagebücher können uns dazu verhelfen, lauschige Esser zu werden.

Hilfreich kann auch eine Meditation über die Nahrungsaufnahme sein. Warum habe ich gegessen? War es eine bewusste Absicht? Hat es meinem Zeitplan entsprochen oder war es spontan? War es aufgrund von körperlichem Hunger oder zur Beeinflussung anderer Gefühle? Wie habe ich die Nahrung ausgewählt? Hatte ich überhaupt eine Wahl? Wie achtsam und liebevoll habe ich mich auf das Essen vorbereitet? Habe ich allein oder mit anderen gegessen? Habe ich das Essen genossen oder unbewusst Kalorien verschlungen? Wie entwickelte sich das Hungergefühl vor und nach dem Essen? Warum habe ich aufgehört zu essen? War es eine bewusste Entscheidung oder hat »Es« einfach gegessen?

Eine zusätzliche Möglichkeit besteht darin, eine kleine Speise bewusst sehr achtsam zu essen. Dies ist auch eine Methode, bei der Stressreduktion durch Achtsamkeit eingesetzt wird. Der vietnamesische Mönch Thich Nhat Hanh lehrt, ein Stück Brot in der Hand zu halten und dieses tief achtsam zu betrachten und dabei zu spüren, dass in diesem Stück Brot der ganze Kosmos ist. Die Erde, der Sonnenschein, die Bauern, die Bäcker, alle Menschen sind in diesem Brot. Dann empfiehlt er, den Brotgeruch einzuatmen, um zu erleben, dass das Stück Brot nichts weniger als ein Wunder ist. Erst wenn man das erkannt hat und entsprechend beglückt schmunzelt, sollte man das Brot in den Mund nehmen. Beim Kauen des Brotes müsse man dann nichts anderes tun, als Brot zu kauen. Gedanken und Sorgen sollten nicht mitgekaut werden. Er empfiehlt dieses langsame Ritual, weil die Achtsamkeit dadurch erleichtert wird. Achtsamkeit mag am Anfang anstrengend sein – doch es wird immer einfacher. Hirn und Vagus-Nerv kann man trainieren. Ferner führt achtsames Essen zu einer günstigen Veränderung des Mikrobioms, das eine vielfältigere Sprache entwickelt, um uns immer besser über die Verdauung und die Bedürfnisse des Darms zu informieren.

Allesesser leben gefährlich und müssen deshalb sensibel sein

Unsere Urahnen waren allesessende Nomaden, die immer wieder neue Savannen, Wälder, Küsten und Gewässer erkundeten und deshalb andauernd vor der Aufgabe standen, unbekannte Speisen zu beurteilen. Aus der Sicht der Evolution ist es plausibel, dass sich unsere Fähigkeit zur Achtsamkeit und Bewusstheit aus dieser Aufgabe heraus entwickelte. So wie sich das Hirn bei sehr primitiven Lebewesen zuerst aus Nervenzellen der Lippen und des Munds bildete, so könnte es sein, dass sich bei höheren Tieren das Selbstbewusstsein aus den Empfindungen des Munds entwickelte, weil dieser genau an der Schnittstelle von innen und außen liegt. Ihm fällt die Aufgabe zu, mechanisch und chemisch festzustellen, ob wir uns etwas einverleiben oder es ausspucken sollen. Er hat sich deshalb zu einem ausgeklügelten Labor entwickelt, um den Gehalt von Giften und Nährstoffen in Sekundenschnelle zu bestimmen. Tiere, die immer das Gleiche essen, schmecken und riechen nicht. Vampirfledermäuse, die sich ausschließlich von Blut ernähren, haben weder einen Sinn für Süße noch für Bitterkeit, weil Blut fast immer von bester Qualität ist. Auch Fleischfresser wie Katzen und Delfine schmecken ihre Nahrung nicht, weil Fleisch immer proteinreich und nahrhaft ist. Es ist also die Offenheit gegenüber der Welt, die sich im großen Nahrungsspektrum des Menschen zeigt, die das Bewusstsein erst notwendig macht.

Als Allesesser brauchen wir eine Zunge, die besonders empfindlich ist, um schleimige oder ungewöhnliche Oberflächen zu spüren und zu verhindern, dass wir den Wurm schlucken, der in der Erdbeere lebt, die wir uns gerade achtsam in den Mund gelegt haben. Wenn wir auf die Erdbeere beißen, bedeutet ein feines Knacken, dass die Erdbeere frisch ist. Gibt es keinen Ton und keinen Widerstand, ist das ein Zeichen, dass die Erdbeere zu weich und vielleicht faul ist und deshalb ausgespuckt werden sollte. Sobald der erste Biss gelungen ist und keinen Alarm ausgelöst hat, werden Sensoren aktiv, die den Geschmack der Erdbeere abschätzen und intensivieren. Dabei spielen unsere Erwartungen, etwa eine sehr leckere Erdbeere zu essen, eine große Rolle. Der Speichel hilft, die Erdbeere schon etwas aufzulösen und zu verdauen, sodass noch mehr Aromen freigesetzt werden, welche die Aroma-Wahrnehmung fortlaufend verstärken. Schmeckt die Erdbeere unerwartet bitter, führt dies zum Ausspucken, weil die Bitterkeit auf Giftstoffe hinweist. Schlangen etwa haben eine lange Zunge, weil sie all diese Abklärungen treffen wollen, bevor sie den Bissen schlucken, was in Bezug auf Vergiftungen ein durchaus vernünftiges Vorgehen ist. Wenn also Kinder Speisen mit herausgestreckter Zunge erkunden, sollte man dafür Verständnis haben.

Der Geschmackssinn stellt im Mund die in Flüssigkeit gelösten Aromen fest. Dabei reduziert er die Millionen möglicher Aromen auf ein paar wenige Grundqualitäten: süß, salzig, bitter, sauer und umami. Zusätzlich hat der Mund Sensoren, welche die Wässrigkeit, den Fettgehalt, die wärmende oder kühlende Wirkung und die Schärfe wahrnehmen. Diese kann man auch zum Geschmackssinn zählen, der in erster Linie die Aufgabe hat, die Sicherheit und den Nährstoffgehalt eines Bissens zu prüfen.

Der Geruchssinn wiederum nimmt Aromen in Flüssigkeiten und in der Luft wahr. Ihm stehen Hunderte verschiedene Sensoren zur Verfügung, die der großen Vielfalt möglicher Aroma-Stoffe gerecht werden. Der Geruchssinn stellt aber nicht nur das Vorliegen einzelner Aromen fest, sondern auch deren Kombinationen, die für Menschen, Tiere und Pflanzen typisch sind. Er ist nicht nur beim Essen wichtig, sondern hilft auch, das Stresslevel eines Menschen abzuschätzen, Krankheiten zu erkennen und sich in einer vertrauten Wohnung wohlzufühlen. Menschen mit einem schlechten Geruchssinn haben im Durchschnitt weniger enge Freunde, weniger Sex und weniger Lebenslust.11 Diese sozialen Auswirkungen hat die Coronapandemie, während der Anosmie vorübergehend als Symptom aufgetreten ist, bestätigt. Ferner ist eine fehlerhafte Aroma-Wahrnehmung auch ein Grund für Unfälle, Infektionen, Lebensmittelvergiftungen und Brände, weil der ekelerregende Geruch von Rauch, verseuchten Lebensmitteln, gefährlichen Bitterstoffen und Erregern nicht mehr registriert wird.

Geruchs- und Geschmackssinn arbeiten eng zusammen, was recht bemerkenswert ist, weil die Geschmacksinformationen über den Hirnstamm »von unten« ins Hirn gelangen und die Geruchsinformationen direkt über den Riechkolben über der Nase »von oben« in die Großhirnrinde und ins limbische Emotionszentrum fließen. Das Ergebnis dieser erstaunlich komplexen Informationsflüsse, die das gesamte Hirn in Anspruch nehmen, nennt man die Aroma-Wahrnehmung. Diese Wahrnehmung ist aber nicht auf das Hirn beschränkt. Laufend werden weitere Aroma-Rezeptoren im ganzen Körper entdeckt, etwa entlang des Darms, in der Bauchspeicheldrüse und in den Geschlechtsorganen. Auch das Hirn selbst bezieht die Aroma-Informationen nicht nur über Nase und Mund, sondern jede einzelne Nervenzelle im Gehirn verfügt zusätzlich über Sensoren, um Aroma-Stoffe direkt im Blut zu schmecken. Sogar unsere Darmbakterien haben neben einem Geschmackssinn für Chemikalien auch einen Geruchssinn für Aromen in der Luft. Ein solches Aroma ist Ammoniak, das im Stuhl vorkommt und für die Nase »stinkt«. Die Geschmackssensoren im Darm dagegen schreckt es nicht ab, es zieht sie vielmehr an. Tief in unseren Därmen gibt es also etwas, dessen Appetit durch WC-Gerüche angeregt wird, weil sie dafür sprechen, dass jemand viel und gut gegessen hat.12

Die große Verwirrung: Industrielle Nahrung

Industrielle Nahrung ist eine relativ neue und schwerwiegende Herausforderung für den Aroma-Sinn und neben Smartphone, Fernseher, Computer und Radio eine zusätzliche Gefahr für das achtsame Essen. Die Industrie spickt ihre Speisen mit billigen Superreizen, die eine kurze, intensive und suchtfördernde Aroma-Erfahrung vermitteln, die zu den Milliardengewinnen und dem zunehmenden Einfluss der Nahrungsproduzenten maßgebend beiträgt, von den Konsumenten aber mit der langfristigen Abnahme von Genuss und Gesundheit bezahlt wird. Zu diesen Superreizen gehören Zucker, Salz, Glutamat und billiges Fett in großen Mengen. Zudem zerstört die industrielle Überverarbeitung die Lebensmittelmatrix, etwa Zellwände und Muskelfasern, was die Aroma-Wahrnehmung verkürzt, den Appetit steigert, den Aroma-Sinn abstumpft, die Nährstoffaufnahme beschleunigt, die Sättigung hemmt und die Fähigkeit, vielfältige und gute von eintöniger und schlechter Nahrung zu unterscheiden, massiv einschränkt. Faserstoffe werden dermaßen zertrümmert, dass die Alterung der Nahrung (die sich normalerweise in den Brüchen der Faserstoffe zeigt) optisch nicht mehr zu erkennen ist. Dies alles führt dazu, dass Makronährstoffe wie Kohlenhydrate und Fette in Massen eingenommen werden, was zur Fettleibigkeit beiträgt. Ferner sterilisiert die Industrie die Nahrung und setzt anstatt auf lange auf kurze Moleküle, die schnell verdaut werden können. Mit einer derart überverarbeiteten Nahrung ernähren wir nur noch den oberen Teil unseres Darms, wodurch im unteren Teil und im Dickdarm die Schleimhaut und das Mikrobiom auf der Strecke bleiben.

Eine Flut von Studien zeigt, dass der Zusatz von essenziellen Nährstoffen, welche die Industrie in großen Mengen billig herstellen kann (etwa Vitamine und Omega-3-Fettsäuren), dieses Problem nicht löst, sondern eher noch verstärkt, weil moderne Nahrung ohnehin schon zu viel davon enthält.13 Doch leider ist es der Industrie gelungen, ihre »chemische« Lebensmittellehre, die exakt auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten ist, in Gesetzen, Lehrgängen und Büchern zu verankern, sodass nun sogar Apothekerinnen und Drogisten behaupten, Vitaminpräparate und Omega-3-Fettsäuren könnten unser Ernährungsproblem lösen, obwohl dies der neuesten Forschung und den neuesten internationalen Richtlinien eindeutig widerspricht. (Im dritten Kapitel über ganze Lebensmittel werde ich im Detail auf diese Pseudolehren eingehen.) In Wahrheit fehlen der industriellen Nahrung gerade die Vielfalt der Nährstoffe, eine intakte Lebensmittelmatrix, Tausende von Mikronährstoffen und Probiotika, die in Pflanzen und Pilzen natürlich vorkommen. Und da die Evolution unseren Geschmack auf eine Weise geformt hat, dass wir energiereiche Lebensmittel suchen und essen, die von Natur aus genügend Mikronährstoffe, Struktur- und Faserstoffe enthalten, können wir uns bei industrieller Nahrung nicht mehr auf unsere Wahrnehmung verlassen. Vielmehr müssen wir die Nahrung bewusst auswählen und unseren Aroma-Sinn neu schulen, um dieser neuen Herausforderung die Stirn bieten zu können.

Himmel und Hölle der Süßigkeit

Milch und Honig sind die beiden Produkte, welche die Natur aus dem einzigen Grund herstellt, um Lebewesen zu nähren. Interessanterweise sind diese natürlichen Speisen ziemlich süß. Und unsere Schwäche für Süßigkeiten ist so groß, dass selbst ursprünglich lebende Menschen wie die Hadza ein paar Löffel Honig einem großen Stück Fleisch vorziehen, obwohl Fleischproteine viel wesentlicher sind für den Aufbau des Körpers.

Süßigkeiten wirken auf uns wie ein Allheilmittel. Sie können Schmerzen und alle Arten von unangenehmen Empfindungen und Erinnerungen unterdrücken.14 Ferner vermitteln sie ein Gefühl der Sicherheit und der Entspannung, der Zusammengehörigkeit und sogar der Liebe. Davon zeugen die herzförmigen Leckereien am Valentinstag, die Torten zu Hochzeiten und Geburtstagen, Lebkuchen und das Süßgebäck an Weihnachten. Bezeichnenderweise führt eine Störung des Aroma-Sinns, etwa nach einer Chemotherapie, fast immer zu einer Vorliebe für sehr süße Speisen, weil süße Aromen in der Aroma-Verwirrung Sicherheit vermitteln.15

Das ist vermutlich der Grund, weshalb in allen Religionen und spirituellen Traditionen Gottheiten, Ahnen oder die höhere Welt mit Süß-Aromen in Verbindung gebracht werden. Im Islam wird das Fasten mit süßen Datteln gebrochen. In der Bibel verspricht Gott seinem Volk ein Land, in dem süße Milch und Honig fließen. In der Wüste rettet Gott es mit süßem Manna. Jesus schenkt der Menschheit seinen brotsüßen Leib. In den Psalmen wird die Wahrnehmung von Süße sogar als direkte Erfahrung Gottes verstanden. So heißt es etwa: »Schmecket und sehet, wie süß der Herr ist. Wohl dem, der auf ihn vertraut.« Im Mittelalter haben Mystikerinnen dieses Gottesverständnis ausgeweitet. Die spirituelle Erotik der deutschen Mystikerin Mechthild von Magdeburg ist besonders eindrücklich: »Ich bin heiser in der Kehle meiner Keuschheit, aber der Zucker deiner süßen Milde hat meine Kehle wieder zum Klingen gebracht, sodass ich singen kann: Herr, dein Blut und das meine sind eins, unbefleckt. Deine Liebe und meine sind eins, untrennbar. Dein Gewand und meins sind eins, unbefleckt. Dein Mund und der meine sind eins, ungeküsst, von keinem Menschen außer dir allein.«16

In Freuds Psychoanalyse ist die milde Süße, die die Mutterbrust bereitstellt, die Brücke zum Urvertrauen in die Mutter und in die Welt. Der Milchzucker ist im Vergleich zu Tafel- und Fruchtzucker wenig süß, vermutlich um die Abhängigkeit zur Mutter nicht unnötig groß werden zu lassen. Im Bild Gottes oder der Mutter als Süßigkeit war es nicht vorgesehen, dass jeder Schluck und jeder Biss Natur intensiv süß schmeckt, weil ihnen industrieller Zucker zugefügt wurde. In der Bibel war der Gott noch versteckt hinter Wolken, erschien überraschend im Manna und wie dieses verschwand er ohne offensichtlichen Grund, um etwas später auf einem Berg oder in einem Regenbogen wieder zu erscheinen. So war es auch mit dem Zucker, der im Fund einer reifen Frucht oder von Honig oder beim Abendmahl plötzlich mit seiner Süße das menschliche Bewusstsein entzückte. Am Anfang der Neuzeit trat dann ein anderes Gottesbild in den Vordergrund, nämlich das eines immer anwesenden, alles sehenden und alles bestimmenden Wesens. Im Gleichschritt wurde Zucker dank Sklavenarbeit auf riesigen Plantagen in Amerika und auf den karibischen Inseln in immer größeren Mengen hergestellt und wurde bald zum immer anwesenden und alles bestimmenden Nährstoff, wie wir ihn heute im Übermaß von jeder Salatsoße, jedem Ketchup, jeder Mayonnaise, jeder Tomatensoße, jedem Brotaufstrich, jeder Gewürzgurke, jedem Rollmops, jeder Wurst, jedem Rotkraut, jedem Joghurt, jedem Müsli, jedem Kraftriegel, jedem Eistee, jeder Limonade und jedem Bitterschnaps kennen. Um das Vertrauen in die künstliche Nahrung aufrechtzuerhalten, müssen die angstlösenden und beruhigenden Zuckermoleküle bei jedem Bissen sagen: Sorge dich nicht, das, was du isst, ist vertrauenswürdig und gut.

Doch leider ist dies eine Fehlmeldung. Zucker ist zwar der grundlegende Treibstoff für unseren Körper, doch der Konsum von Zucker, wie er in der Natur selten vorkommt, erzeugt oxidativen Stress. Dieser Stress schädigt Zellen und kann zu verschiedenen Krankheiten wie Herzproblemen, Krebs, Parkinson und Demenz führen.17 Ein weiteres Risiko ist die Glykierung, bei der Zucker mit den Wänden der Blutgefäße reagiert und diese versteift. Glykierung entspricht in etwa dem chemischen Vorgang, den man beim Toasten einer Scheibe Brot beobachten kann: Der Brotzucker verbindet sich mit Brotproteinen, wodurch eine harte, dunkle Kruste entsteht. Was wir beim Toast lieben, ist für die Blutgefäße jedoch ein gefährlicher Alterungsprozess: Sie werden hart und starr, was einen Anstieg des Blutdrucks und eine Überbelastung des Herzens zur Folge hat. Schließlich verursacht Zucker eine übermäßige Ausschüttung des Hormons Insulin, was man auch Insulinspitze nennt. Insulin steigert den Hunger, macht müde und gibt dem Körper das Signal, Fettpolster anzusetzen. Aus all diesen Gründen wird klar, dass es für unseren Körper von höchster Wichtigkeit ist, dass unser Blut wenig Zucker enthält, nämlich nie mehr als ein Gramm pro Liter. Diese Menge ist so gering, dass wir Blut bei Nasenbluten oder bei einer Verletzung der Mundschleimhaut nicht als süß, sondern als salzig, bitter und metallisch wahrnehmen.

All diese medizinischen Fakten mögen auf den ersten Blick deprimierend wirken, doch beinhalten sie auch eine optimistische Seite: Allein durch das Vermeiden von Zuckerspitzen dank achtsamem Essen, zuckerarmer Nahrung und Fasten ist es möglich, den erwähnten Krankheiten, einschließlich Depression, Migräne, Herzproblemen und Krebs, vorzubeugen, ihren Verlauf zu mildern oder sie sogar zu heilen. Das achtsame, langsame Essen ist eine der wirksamsten Sofortmaßnahmen, da unser Körper ja durchaus fähig ist, Nahrungszucker zu einem gewissen Maß auf gesunde Weise zu verarbeiten – und dieses Maß ist bestimmt durch die Menge pro Minute. Je langsamer und weniger wir essen, desto gesünder ist die Nahrung, selbst wenn es sich um Fast Food und Schokoladentorte handelt. Ein weiterer optimistischer Aspekt ist, dass man durch Gesetze, die den Zuckergehalt in industrieller Nahrung beschränken, Milliarden an Gesundheitskosten sparen und viel Leid vermeiden könnte, ohne den Essgenuss einzuschränken, weil unsere bewusste Zuckerwahrnehmung erstaunlich unzuverlässig ist. Eine Fanta in England hat zum Beispiel circa 20 Gramm Zucker, in Deutschland circa 30 Gramm und in Indien, Vietnam und Ecuador circa 40 Gramm. Trotzdem ist nicht bekannt, dass Touristen, die nach England reisen, sich über die schlechte Qualität der britischen Fanta beschweren.

Der Schlüssel im Widerstand gegen den aggressiven und dominanten Zuckergott ist also das achtsame Essen, das uns hilft, die feinere, mildere und natürliche Süße der viel älteren und ursprünglicheren Süßgöttin neu zu entdecken. Der industrielle Zucker ist schließlich nur eine Süßquelle unter vielen. In den Blauen Zonen, wo Genussesser uralt werden, beginnt das Kochen mit dem Hacken von Zwiebeln und Sellerie, die unter leichtem Anbraten eine wunderbare Süße entwickeln, die man riechen kann und die den Speisen Halt und Vertrauenswürdigkeit einflößen, ohne zu viel schädlichen Zucker zu enthalten. Ganz allgemein gilt, dass traditionelle und selbst gekochte Speisen deutlich weniger Zucker enthalten als Fertigprodukte und modernes Restaurantessen.