Was von uns übrig bleibt - Sven Stillich - E-Book

Was von uns übrig bleibt E-Book

Sven Stillich

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Beschreibung

Dieses Buch reist in die Geschichte und in die Zukunft. Es blättert in Schriftrollen, betrachtet Gemälde und reibt so lange auf Stadtplänen herum, bis antike Pfade zum Vorschein kommen. Es liest Krimis und nimmt Fingerabdrücke. Es schaut Filme, und es hört bei Popsongs auf die Texte. Häuser stürzen ein, und Spürhunde suchen nach Vermissten. Es ist ein Buch voller Kuscheltiere, T-Shirts und Souvenirs, voll mit echten und falschen Erinnerungen, voller Gerüche und Bilder – und voller Fragen: Sollte ich nicht mal mit Oma über ihre Kindheit reden, solange sie noch da ist? Wie viel meines Humors ist eigentlich der meines Partners? Und wann habe ich zum letzten Mal ein Backup meiner wichtigsten Daten gemacht? Was würde ich zurücklassen, wenn ich aus meiner Heimat fliehen müsste? Und was würde ich unbedingt einpacken? Und wenn ich mal nicht mehr da sein werde: Was sollte mich überdauern?

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Seitenzahl: 354

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Sven Stillich

Was von uns übrig bleibt

Wenn wir einen Ort, einen Menschen oder die Welt verlassen

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Dieses Buch reist in die Geschichte und in die Zukunft. Es blättert in Schriftrollen, betrachtet Gemälde und reibt so lange auf Stadtplänen herum, bis antike Pfade zum Vorschein kommen. Es liest Krimis und nimmt Fingerabdrücke. Es schaut Filme, und es hört bei Popsongs auf die Texte. Häuser stürzen ein, und Spürhunde suchen nach Vermissten. Es ist ein Buch voller Kuscheltiere, T-Shirts und Souvenirs, voll mit echten und falschen Erinnerungen, voller Gerüche und Bilder – und voller Fragen: Sollte ich nicht mal mit Oma über ihre Kindheit reden, solange sie noch da ist? Wie viel meines Humors ist eigentlich der meines Partners? Und wann habe ich zum letzten Mal ein Backup meiner wichtigsten Daten gemacht? Was würde ich zurücklassen, wenn ich aus meiner Heimat fliehen müsste? Und was würde ich unbedingt einpacken? Und wenn ich mal nicht mehr da sein werde: Was sollte mich überdauern?

Über Sven Stillich

Sven Stillich, geboren 1969, hat Sprachwissenschaften studiert und im Anschluss die Henri-Nannen-Journalistenschule besucht. Seitdem arbeitet er als Autor für verschiedene Zeitschriften und Zeitungen sowie als Lektor. Lange füllte er den Blog «Verweilen im Vorübergehen» mit Alltagsfotografien, -texten und -gedanken. Sven Stillich ist im Hamburger Gängeviertel aktiv und arbeitet an seinem Langzeitprojekt «Erfundstücke». 2007 erschien bei Ullstein «Second Life. Wie virtuelle Welten unser Leben verändern».

Im Gedenken an

Traude Bock (1920–2008)

 

Für Petra

Davor

Da vorne in den Baum hat jemand ein Herz geritzt. Daneben im Busch: ein leeres Zigarettenpäckchen, ganz zerknautscht und halb mit Erde bedeckt. Dort hinten, die beiden: wie sie miteinander lachen. Im Haus dahinter war einmal ein Blumenladen, man sieht die Schrift noch über dem Schaufenster. Der Baum neben dem Laden ist bestimmt hundert Jahre alt; was hat der schon alles gesehen? Das Paar kennt sich seit ein paar Tagen. Es wird sich noch oft an diesen Moment erinnern, in dem sie wie zufällig seine Hand berührt. Ein Auto fährt vorbei, es hat hinten links eine Delle, und der Fahrer weiß, von wem und warum. Vor Ewigkeiten sind auf dieser Straße die römischen Heere durchgekommen, und dass ein Soldat da vorne eine Handvoll Münzen verloren hat, weiß im Moment noch keiner. In zehn Jahren werden sie im Rathaus in einer Vitrine liegen, und das Paar wird sie sich ansehen, zusammen mit den Kindern.

Wir sind Menschen, wir können nicht anders: Wir hinterlassen unmerkbar Spuren an Plätzen, die wir besuchen, in den Gehirnen anderer Menschen, in der Welt. Ein Denkmal gibt es dafür selten, oft nicht mal ein Dankeschön. Aber stets bleibt etwas zurück, von uns, bei uns und in anderen. Wir bewahren Menschen in uns auf und werden in anderen Menschen aufbewahrt – für die einen ist das nur eine Gehirnfunktion. Für die anderen ein großer Trost.

 

Die Sehnsucht, dass etwas von ihnen bleiben soll, wohnt tief in vielen Menschen – im Großen wie im Kleinen. Sie hoffen in schönen Momenten, dass die Uhr stillstehen möge. Oder sie wünschen sich, dass ihre Lieblingsorte wie ein Fels in der Zeit stehen: Das gemütliche Restaurant, der struppig-schöne Park, das gut sortierte Fachgeschäft sollen nie verschwinden. Manche arbeiten sogar ihr ganzes Leben daran, dass etwas von ihnen bleiben möge, wenn sie einmal die Welt verlassen. Ein Haus, ein Baum oder Kinder, in denen sie weiterleben. Oder eine Idee, eine Erinnerung, ein Pokal. Anderen ist das unwichtig. Sie fragen sich, was Mozart davon hatte, dass noch heute jeder seinen Namen und die Musik kennt. Sie fragen Teenager, ob sie wissen, wer Heinz Rühmann war, und wenn die den Kopf schütteln, sagen sie: «Den kannte mal jeder.» Für sie fällt mit dem Tod der Vorhang, von ihnen muss nichts bleiben. Sie möchten dann einfach nur Platz machen für diejenigen, die nach ihnen kommen.

 

Für das Leben ist völlig unwichtig, wie wir seiner Vergänglichkeit gegenüberstehen. Es weiß aus der Erfahrung von Jahrtausenden: Unsere Versuche, Spuren zu hinterlassen, sind meist zum Scheitern verurteilt. Der Schriftsteller Erich Kästner hat geschrieben: «Die Zeit wählt aus, was bleiben und dauern soll. Und meistens hat sie recht, die Zeit.» Wir können uns anstrengen, wie wir wollen: Die Zeit ist stärker als wir. Nur was sie übrig lässt, hallt in der Gegenwart nach. Alles andere ist Schnee von gestern.

Die gute Nachricht: Es wird meistens etwas von uns bleiben. Nur werden wir davon gar nichts wissen. Das Leben wird sich an uns erinnern. An Orten, in Menschen und in der Welt. An dem Punkt wird es unplanbar, chaotisch, lebendig und spannend. Und da fängt dieses Buch an, sich für die Sache zu interessieren und ihr auf den Grund zu gehen. Es macht sich auf und sucht nach biologischen Spuren und nach geistigen, nach kulturellen und konkreten. Es reist in die Geschichte und in die Zukunft. Es trägt Wissen zusammen aus allen Quellen, derer es habhaft werden konnte: Es blättert in alten Schriften, betrachtet verstaubte Gemälde und reibt so lange auf den Stadtplänen unserer Städte herum, bis antike Pfade zum Vorschein kommen. Es liest Krimis und nimmt Fingerabdrücke. Es schaut Heimat- und Liebesfilme, und es hört bei Popsongs auf die Texte. Die Gehirne Verliebter werden analysiert, und virtuelle Welten bekommen Besuch. Es wird geküsst, geliebt, geflüchtet, gekämpft, in Rente gegangen und gestorben. Häuser stürzen ein, und Spürhunde suchen nach Vermissten. Es wird gesammelt und weggeworfen, behalten und begraben. Es ist ein Buch voller Kuscheltiere, T-Shirts und Souvenirs, voll mit echten und falschen Erinnerungen, voller Gerüche und Bilder.

Die umgekehrte Frage, was von anderen Menschen in uns selbst übrig bleibt, ist dabei genauso faszinierend – und genauso schwer zu beantworten. Meist können wir nicht sagen, woher ein Teil unserer Persönlichkeit stammt oder woher wir etwas wissen; wer uns angewöhnt hat, anderen die Tür aufzuhalten etwa, oder von wem wir gelernt haben, dass erst der Essig auf den Salat kommt und dann das Öl. Wir sind das Produkt von Lehrerinnen und Lehrern, von Eltern und Verwandten, von Freundinnen und Freunden, von Erziehung und Erfahrung. Ein Satzfetzen, den wir in der S-Bahn von einem Gespräch völlig fremder Leute aufschnappen, kann unser Leben genauso prägen wie eine Weisheit der Großeltern – wir müssen nur hinhören. Dieses Buch hört gerne hin. Auch die Orte, an denen wir leben, hinterlassen Spuren in uns – wir müssen nur hinschauen. Dieses Buch ist ganz vernarrt ins Hinschauen.

 

Dieses Buch behauptet nicht, jedem etwas zu sagen. Ich habe zwar versucht, möglichst viele Facetten des Themas abzubilden. Aber was nun hier geschrieben steht, ist natürlich auch das Resultat meiner eigenen Vorlieben und Interessen, meiner Kindheit und meines Erwachsenseins, meiner Leichen im Keller und Mücken im Kopf. Das heißt nicht, dass ich mich besonders wichtig nehme – nur hätte jemand anderes eben ein völlig anderes Buch geschrieben. Es ist ein Buch, das oft in meiner Nachbarschaft spielt, in Hamburg Altona. Oder in meiner Kindheit, in Hessen. Die Zigarettenschachtel gab es, vorne an der Kirche, ich war dabei, als sie über Monate immer weniger wurde. Die römischen Soldaten und die Münzen gab es, am Limes. In diesem Buch steht, offen und verklausuliert, viel von mir. Und es handelt viel von dem, was mich beschäftigt, und das geht vielleicht nicht anders. Wenn ich in diesem Buch ein «Wir» beschreibe, ist das ein mir nahes «Wir», ein weißes, abendländisches «Wir». Das soll niemanden ausschließen. Ein Buch jedoch kann nicht alles über alles sagen. Es muss seinen Blick scharfstellen, sonst franst das Bild an den Seiten aus. Deswegen trägt meines auf den folgenden Seiten nun eine mitteleuropäische Brille und erblickt so ein «Wir». Ein Buch, das eine asiatische oder eine afrikanische Perspektive einnimmt, würde ich bestimmt verschlingen.

 

Es ist gerade Sonntagmorgen, draußen scheint die Sonne, und ich sitze in einem rot-gelb-grün gestreiften Sessel aus den siebziger Jahren. Hinter mir wartet eine Tütenlampe aus den Fünfzigern darauf, am Abend weiches Licht zu spenden, es wird auf eine Musiktruhe aus den Sechzigern fallen. Die drei Möbelstücke standen vor zwanzig, zehn und vor einem Jahr plötzlich vor mir auf der Straße, zwei davon bei anderem Sperrmüll, die Truhe einfach so. Ich weiß noch: Als die Lampe und ich uns fanden, hat es schrecklich geregnet, sie musste repariert werden hier ganz in der Nähe, bei Radio Kölsch; den Laden gibt es nicht mehr, da ist jetzt ein Friseur. Ich habe mich oft gefragt, wer wohl die Lampe oder den Sessel auf die Straße gestellt hat oder die gute Truhe – und warum. Sind die Möbel verstoßen oder nur ausgemustert worden, sind sie vielleicht sogar geflohen; haben sie sich auf den Weg gemacht auf der Suche nach etwas Besserem als dem Tod – und dann haben sie mich gefunden? Natürlich weiß ich, dass ich darauf nie eine Antwort bekommen werde. Es ist sogar wahrscheinlich, dass die Geschichte der Dinge noch nicht fertig erzählt ist und sie eines Tages weiterziehen werden zu anderen Menschen, in andere Wohnungen. Warum etwas kommt und etwas geht: Wir wissen es meist nicht, wir können es uns nur zusammenreimen.

 

Mich hat als Jugendlicher eine Erzählung von Heinrich Böll beeindruckt, Wanderer, kommst du nach Spa… Darin starrt ein verwundeter Soldat immer wieder auf eine Stelle über einer Tür. Wo früher ein Kreuz hing, bis die Nazis an die Macht kamen, ist nun «ein frischer, dunkelgelber Fleck an der Wand, kreuzförmig, hart und klar, der fast noch deutlicher zu sehen war als das alte, schwache, kleine Kreuz selbst, das sie abgehängt hatten», denkt er sich. Mich hat das damals umgehauen: dass etwas nicht mehr da ist und dadurch noch viel mehr in der Welt. Leerstellen können so hell leuchten, dass man gar nicht anders kann, als blinzelnd immer wieder hinzuschauen.

 

Wenn dieses Buch etwas sein mag, dann ein Plädoyer für ein wenig mehr Aufmerksamkeit im Alltag. Für das Jetzt, für das Leben im Moment, für das, was übrig bleibt in uns und in den anderen. Gegen «Veränderungsblindheit», wenn man so will. Manchmal ist man einfach ein paar Jahre nicht bei der Sache, und plötzlich ist der Partner ein ganz anderer. Oder der Bus auf dem Weg zur Arbeit fährt an einem neuen Gebäude vorbei, von dessen Bau man gar nichts mitbekommen hat. Ich hatte mal einen Blog, der hieß Verweilen im Vorübergehen – und genau das finde ich wichtig: auch auf alltäglichen Wegen manchmal zu verharren und sich umzusehen, auch mal nach oben zu schauen, nicht nur auf den Boden. Sonst leben wir bald nur noch im Transit, und die Räume, durch die wir uns bewegen, werden zu blinden Flecken. Mich berührt der Wandel, sei er subtil oder brutal; auch einstürzende Altbauten haben ihre Reize, auch die Hochhäuser der Nachkriegszeit haben schöne Ecken.

Es gibt keine Normalität: Darum geht es auch in diesem Buch. Nichts war schon immer da, nichts wird für immer bleiben. Wir nicht, die nicht, das nicht. In allem um uns herum stecken Zeichen von Leben. Es ist schön, sie lesen zu können – in Orten, in Menschen und in der Welt. Dann wird alles reicher. Für die einen piepsen, zwitschern oder trällern draußen die Vögel. Für die anderen singen Meisen, Amseln, Rotkehlchen. Für die einen sind Graffiti an der Wand Geschmiere, für andere ein neues Kunstwerk von Herakut. Irgendetwas an dir ist heute anders, habe ich das Gefühl. Magst du mir vielleicht ein wenig davon erzählen?

 

Dies ist kein trübsinniges Buch. Oder jedenfalls will es das nicht sein. Es ist auch kein Buch, das sich darum bemüht, die besten Antworten zu finden. Im Gegenteil. Es möchte gerne ein Beet sein, auf dem die eigenen Fragen keimen können. Fragen, die so persönlich und bestenfalls so einzigartig sind, dass ich sie mir gar nicht ausdenken könnte. Ich habe ja nur meine. Und ein paar, die meine Lektorin Julia Vorrath und ich uns ausgedacht haben (sie öffnen die Türen zu den einzelnen Kapiteln). Eine der schönsten Fragen, die ich nie hätte erfinden können, findet sich in der Autobiographie der Schauspielerin Adele Neuhauser, Ich war mein größter Feind. Darin beschreibt sie, wie sie ihre sterbende Mutter begleitet. Bei ihrem letzten Gespräch fragt diese plötzlich: «Und, Adele, wo ist jetzt eigentlich dein Glück?» Es ist eine letzte Frage, die sie heute noch beschäftigt. «Ich bin ihr sehr dankbar für diesen Satz», schreibt Adele Neuhauser. Nicht weil sie unglücklich sei. Sondern weil in ihm eine weitere Frage stecke, die ihr Leben erschütterte: «Gibt es da nicht noch etwas Neues, Ungelebtes?» Könnte das Glück nicht ganz woanders lauern, wo man es vielleicht nie gesucht hat?

Der Antrieb, dieses Buch zu schreiben, war Neugier. Nicht weil ich etwas wusste und es gerne mitteilen wollte, sondern weil ich etwas wissen wollte. Nicht weil ich von etwas schon Ahnung hatte, sondern weil ich etwas begreifen wollte. Meine Fragen waren der Auslöser, und aus vielen großen Fragen wurden im Verlauf der Monate meiner Reise immer mehr kleinere Fragen. Ich weiß: Viele meiner Wege sind vor mir beschritten worden (und alle Bücherquellen, die ich nenne, sind unbedingt als Tipps zum Weiterlesen zu verstehen), und sogar diese alten Pfade konnte ich oft nicht zu Ende gehen, sonst wäre ich nie angekommen. Wenn ich zumindest ein paar neue Kreuzungen entdeckt hätte, würde mich das freuen. Das Buch hat nun drei Teile – sie widmen sich Orten, Menschen und der Welt –, jeder Teil hat einen kleinen Vorspann («Vorweg») und einen Nachklapp («Dazu»), in dem ich noch ein wenig von meinen Erfahrungen erzähle.

 

Mein Leben ist reicher geworden beim Schreiben. Und meine Wohnung ein wenig voller. Mein Frühstücksbrötchen heute Morgen lag auf einem Teller aus dem Palast der Republik. Der Teller ist neu bei mir. Als ich recherchiert habe, was von dem Gebäude übrig geblieben ist, lag er auf eBay plötzlich vor mir. Wie eine Antwort aus Porzellan. Ich habe auf «Sofort kaufen» geklickt, und nun wird er mich immer an die vergangenen Monate erinnern. So ein Buch zu schreiben, geht ja nicht spurlos an einem vorüber.

 

Sven Stillich, im Juli 2018

Teil EinsWas von uns übrig bleibt … wenn wir einen Ort verlassen

Was war der wichtigste Gegenstand, den ich je verloren habe? • Wer hat vor fünfzig Jahren in meiner Wohnung gewohnt? • An welchen Ort würde ich gerne noch einmal zurückkehren? • Zu welchem Ort möchte ich nie wieder zurückkehren? • Dürfen meine Freunde auf ihrem Smartphone sehen, wo ich gerade bin? • Wer hat die Blumen da vorne gepflanzt? • Gibt es die Schaukel noch, auf der ich in meiner Kindheit geschaukelt habe? • Der Sand vom letzten Urlaub im Koffer: Welches Gefühl löst er in mir aus? • Woher stammt der Name der Stadt, in der ich wohne? • Welchen Gegenstand würde ich überall mit hinnehmen? • Wer hat meinen Geburtsort ausgesucht? • Welcher letzte Blick wäre mir wichtig, bevor ich hier für immer wegziehe? • Wenn jemand meinen Müll durchsuchte: Was würde er von mir denken? • Wo findet sich die älteste erhaltene Spur von mir? • Wie riecht meine Kindheit, und wie riecht meine Gegenwart? • Welches ist der älteste Gegenstand aus meinem Leben, den ich besitze? • Ob die neuen Mieter mir zeigen, was sie aus meiner alten Wohnung gemacht haben? • Was ändert sich, wenn ich einen Ort per Flugzeug, per Bahn oder zu Fuß verlasse? • Habe ich mir so früher meine Wohnung vorgestellt? • Welche meiner Spuren würde ich gerne verwischen? • Wie sieht eigentlich meine Grundschule heute aus? • Wenn ich eine Schatzkiste vergraben würde, was wäre darin? • Steht der Baum noch, in dessen Rinde ich meinen Namen geritzt habe? • Haben verlassene Orte immer «bessere Zeiten» gesehen? • Existieren noch Mails von mir an meiner ehemaligen Arbeitsstelle? • Wenn ich an meine Heimat denke – an was denke ich als Erstes? • Was fehlt, wenn man zerstörte Orte originalgetreu wieder aufbaut? • Was ist in der Wohnung meiner Eltern noch übrig von mir? • Ist mein Gedächtnis ein Ort, den ich manchmal gerne verlassen würde? • Wo habe ich mein Herz verloren?

Vorweg

Plötzlich ist etwas weg, das immer da gewesen ist. Eines Morgens stehen wir vor dem Zaun einer Baustelle, und das Haus, das dort hingehörte, ist verschwunden. Da ist nur noch Luft, da sind keine Wände mehr, und wir stehen da wie festgenagelt. Wir malen uns aus, wie wir dort oben, wo jetzt nichts mehr ist, vor kurzem noch die Treppe hochgegangen sind. Dort, eine Etage höher, hat vielleicht unser Bett gestanden, in dem wir immer «gute Nacht» gesagt haben. Mit einem Mal stehen wir vor Schutt und staksen durch Erinnerungen. Das Haus ist weg, und doch ist es irgendwie noch da. Es ist in uns übrig geblieben.

Manchmal sind es die Orte, die uns verlassen. Aber meist sind wir es, die ihnen den Rücken kehren. Es gibt viele Arten, das zu tun – so viele, wie es Orte und wie es Menschen gibt. Wir können ruhig, bestimmt und endgültig die Tür hinter uns zuziehen oder alles überstürzt stehen und liegen lassen. Wir können erleichtert oder gescheitert gehen, verschreckt oder mit einem Lächeln im Gesicht. Es gibt Orte, die wir jahrelang immer wieder gerne besuchen, und es gibt Plätze, zu denen wir nie mehr zurückkönnen oder -wollen. Und immer stellen sich die Menschen dieselben Fragen: Was würden wir an diesen Orten hinterlassen? Was möchten wir unbedingt mitnehmen? Darum geht es auf den folgenden Seiten, im Allgemeinen – und ganz persönlich.

 

Die Kapitel streifen über die Felder der Biologie und der Forensik, sie stochern ein wenig in Geschichte und Archäologie herum, besuchen die Popkultur und erzählen von Orten, an denen kein Mensch mehr lebt – oder die nie wieder einer betreten wird. Sie spüren der Frage nach, wo und wie sich Menschen immer wieder selbst verewigen. Und am Ende steht ein Exkurs: wie man spurlos verschwindet. So wie das Haus hinter dem Bauzaun, das bis heute immer da gewesen ist.

Und niemals geht man so ganz

Auf den Fährten der Biologie: über Fingerabdrücke aus der Grundschule, Hundenasen und Bakterienvölker, einen historischen Doppelmord und Wolken über unseren Köpfen

An jedem Ort, den wir besuchen, bleibt ein Teil von uns übrig, und wir nehmen auch etwas mit. Wir geben, und wir nehmen – ungeachtet, wie lange wir uns dort aufgehalten haben, wie unspektakulär uns der Aufenthalt erschien. Es gibt Orte, die nie in einem Fotoalbum landen werden, die durch uns so schnell hindurchgehen wie wir durch sie: Tankstellen, Supermärkte, Wartezimmer, Schnellbusse. Schnell trocknende Flecken unseres Alltags sind das, Funktionsräume, Halbstundenorte. Und doch tragen wir manchmal sogar etwas von diesen Räumen mit uns weiter: Tickets, Kassenzettel, Kaugummi am Schuh – kühle Beweise eines flüchtigen Besuchs. Und auch etwas von uns bleibt zurück, auf den Abrechnungen der Kreditkarten und auf den Aufnahmen der Videokameras über unseren Köpfen, gespeichert auf Festplatten von Menschen, die wir nie kennenlernen werden. Wenn wir durch die Welt laufen, malen immer kleinere Objektive ein immer feineres Bild von uns, die GPS-Fühler unserer Smartphones zeichnen Linien auf eine imaginäre Karte. Wo wir gehen, bleiben wir. Wir hinterlassen selbst im Transit immer Spuren. Und so flüchtig die meisten davon sind, manchmal halten sie sich auch viel länger, als wir es für möglich halten. Mit am längsten bleiben ausgerechnet: Fußabdrücke.

Eine der ältesten erhaltenen Fußspuren findet sich im Norden Tansanias in der Nähe der Olduvai-Schlucht, einem der Brennpunkte der Evolution (und der Ort, an dem im Film 2001: Odyssee im Weltraum den Frühmenschen der schwarze Monolith erscheint). 1976 kommt dort der Ökologe David Western nach einem harten Arbeitstag auf die Idee, den Paläontologen Andrew Hill aus Spaß mit Elefantendung zu bewerfen. Hill rutscht aus, fällt hin und erblickt vor seiner Nase erst fossile Abdrücke von Regentropfen und Augenblicke später, als er genauer hinschaut, Antilopen-, Nashorn- und krabbelige Käferspuren – und schließlich entdeckt das Team rund um die Archäologin Mary Leakey frühmenschliche Fußabdrücke. Die waren entstanden, als eine Gruppe unserer Vorfahren durch die Aschefelder eines Vulkans gewandert ist, aufrecht, auf zwei Beinen. Es hatte gerade ein wenig geregnet an diesem Tag vor dreieinhalb Millionen Jahren, die Asche war feucht. Sie trocknete, sie verfestigte sich, und so hielt sich die Spur bis heute. Auch in Kenia und Äthiopien gibt es viele frühe Spuren. Über einen ungewöhnlich alten Abdruck auf Kreta rätseln derzeit die Archäologen: Wer auch immer dort seine Füße in einen heute versteinerten Strand gedrückt hat, lief ebenso auf zwei Beinen, und die Form seiner Füße passt zu keiner heute bekannten Affenart. Der Boden, in dem sich die Abdrücke erhalten haben, stammt aus einer Zeit vor rund sechs Millionen Jahren, als das Mittelmeer eine Salzwüste war. Diese Fußabdrücke sind mehr als eine alte Spur: Sie erschüttern die Theorie, dass sich unsere Vorfahren alleine in den Savannen Afrikas entwickelt haben.

Wer heute als aufrechter Homo sapiens in einer Stadt durch eine Fußgängerzone läuft, der hinterlässt natürlich ebenso seine Fuß- oder eher: Schuhabdrücke. Hat es gerade ein wenig geregnet oder geschneit, glänzen deren Muster auf den Fußböden der Geschäfte oder den Bodenplatten der Aufzüge. Was das Heute vom Damals unterscheidet: Es dauert nicht lange, da läuft jemand anderes über den Abdruck. Und wenn es Nacht wird, kommen der Putzdienst oder die Straßenreinigung und entfernen, was vom Tage übrig blieb. Wer genau da seinen Fuß hingesetzt hat, bleibt – wie vor Millionen Jahren in den Weiten Afrikas – meist im Dunkeln. Außer der Fundort der Spur wird zum Tatort und ihr Urheber interessant für die Polizei. Dann wird aus einem beiläufigen Abdruck mit einem Mal der vielleicht größte Fehler eines flüchtigen Täters, und die Muster der Schuhsohlen werden zu einem wichtigen Beweismittel. Deshalb gibt es bei der Polizei eine große Datenbank für «Referenzschuhsohlenmuster». In Brandenburg zum Beispiel hat das Landeskriminalamt mehr als 6000 Muster handelsüblicher Schuhe im Computer gespeichert, dazu kommen noch einmal so viele Schuhspuren, die an früheren Tatorten gesichert wurden. Von einem simplen Abdruck direkt auf den Täter zu schließen, ist zwar nicht möglich. Wenn man aber den echten Schuh zum Abdruck findet, kann aus einer dahergelaufenen Spur schnell eine individuelle werden – schließlich läuft jeder anders und nutzt die Sohle anders ab, läuft zum Beispiel immer den linken Absatz schief oder rollt rechts immer nach außen. Wer in der Stadt oder im Treppenhaus auf die Abdrücke achtet, die nach dem Regen auf dem Boden funkeln, dem erschließt sich eine Welt voller Linien, Kreise, Punkte und Rillen. Als sei jedes Sohlenmuster einzigartig wie ein Fingerabdruck.

Apropos: Das Wissen, dass unsere Fingerabdrücke etwas Persönliches sein müssen, ist sehr alt, es ist aber immer wieder in Vergessenheit geraten. Die alten Babylonier und die ersten chinesischen Kaiser sollen bereits ihre Fingerabdrücke in Ton oder Lehm gepresst haben, und auch in den Jahrtausenden danach gilt ein Abdruck der Finger oder der Hand oft als Unterschrift – aber das hat eher damit zu tun, dass nur wenige Menschen schreiben konnten, und weniger damit, dass die Abdrücke als unvergleichlich angesehen wurden. Das ändert sich im 19. Jahrhundert, erst in Indien und Japan, dann in Europa, dann in Amerika und schließlich in der ganzen Welt. Alles beginnt 1858, als der englische Kolonialbeamte William James Herschel nach Indien geschickt wird und nahe Kalkutta auf die Idee kommt, gefärbte Handabdrücke unter Verträge setzen zu lassen, um Betrug zu verhindern. Als er sich irgendwann die Abdrücke etwas genauer anschaut, fällt ihm auf, dass vor allem die Fingerkuppen unterschiedlich aussehen. Er malt seine eigenen Finger schwarz an und drückt sie auf Papier, dann die der Familie und von Freunden – und alle sind wirklich einzigartig. Herschel forscht weiter und nutzt Fingerabdrücke auch bei späteren Stationen seiner Karriere. Kreise zieht die Entdeckung aber nicht.

Bis dem schottischen Missionar Henry Faulds um 1880 in Japan bei Grabungen auffällt, dass auf den gefundenen Tonscherben die eingebrannten Fingerabdrücke der Töpfer zu sehen sind. Er stutzt, vergleicht so viele der Tonabdrücke miteinander, wie er finden kann, und kommt zum selben Schluss wie Herschel. Sein Glück: Kurz darauf kann er die Theorie in der Praxis ausprobieren. Immer wieder nimmt nämlich in einem nahen Krankenhaus jemand einen Schluck aus der Flasche mit dem Desinfektionsalkohol – ohne seine Fingerabdrücke abzuwischen. Faulds vergleicht die Abdrücke mit denen der Verdächtigen und kann einem seiner Mitarbeiter die Tat beweisen. Diese Entdeckung, beschließt er, darf ihm keiner mehr nehmen. Schnell schickt er einen Text an die Zeitschrift Nature und schlägt vor, Fingerabdrücke zur Identifizierung von Personen zu verwenden. Als sein Artikel publiziert wird, liest den auch Herschel. Der schreibt ebenso an Nature und teilt mit, dass er seit zwanzig Jahren Fingerabdrücke für solche Zwecke nutze. Henry Faulds und William James Herschel werden danach jahrzehntelang darüber streiten, wem die Ehre zusteht, die Einzigartigkeit der Fingerabdrücke entdeckt zu haben.

In Deutschland fällt währenddessen dem jungen Tierarzt Wilhelm Eber in einem Schlachthof in Berlin auf, dass die Schlächter mit ihren blutverschmierten Händen unterschiedliche Abdrücke in den Geschäftsbüchern hinterlassen. Die preußische Regierung will 1888 von seiner «Möglichkeit der direkten Belastung einer Person auf Grund mindestens einen Quadratzentimeter großer Handspuren am Tatorte eines Verbrechens» aber noch nichts wissen, ein Mitarbeiter des Innenministeriums schreibt ihm, dass «Ihre Vorschläge zurzeit praktisch noch nicht verwertbar erscheinen und ich daher davon absehe, auf dieselben näher einzugehen». Erst 1903 nutzt die Dresdner Polizei in Deutschland erstmals Fingerabdrücke zur Überführung von Verbrechern.

Würden wir heute in ein Haus einbrechen, eine Bank überfallen oder jemanden umbringen: Wir würden unbedingt Handschuhe tragen. Ende des 19. Jahrhunderts ist man da noch unbedarfter. Der erste Fall, in dem Fingerabdrücke für die Polizei zum Beweis werden, trägt sich in Argentinien zu, in der Hafenstadt Necochea, südlich von Buenos Aires. Am 19. Juni 1892 sterben dort zwei Kinder, die vierjährige Teresa und ihr zwei Jahre älterer Bruder Ponciano. Jemand hat ihnen am helllichten Tag die Schädel eingeschlagen. Auch ihre Mutter Francisca Rojas wird verletzt, sie hat Messerschnitte an der Kehle. Und sie beschuldigt den Nachbarn des Mordes. Der jedoch beteuert seine Unschuld. Die örtliche Polizei ist überfordert und bittet um Unterstützung aus der Hauptstadt La Plata. Wochen später reist Inspektor Eduardo Alvarez an, übernimmt den Fall, bestätigt schnell das Alibi des Nachbarn – und entdeckt dann einen blutigen Fingerabdruck am Rahmen der Schlafzimmertür. Er vergleicht ihn mit den Abdrücken der Beteiligten, und siehe da: Der rechte Daumen der Mutter stimmt überein. Daraufhin bricht Francisca Rojas zusammen und gesteht, ihre Kinder erschlagen zu haben. Sie hätten ihr und ihrem Geliebten im Wege gestanden. Rojas wird zu lebenslänglicher Haft verurteilt und Argentinien das erste Land, das die Daktyloskopie dem Werkzeugkasten der Polizei hinzufügt. Bis zum heutigen Tage ist die Mörderin übrigens unvergessen: Im Gegensatz zu den meisten Menschen, die vor hundert Jahren niemanden erschlagen haben, hat sie heute einen eigenen Wikipedia-Eintrag.

 

Dass der Fingerabdruck in der Popkultur mit offenen Armen empfangen wird (auch wenn sie damals noch nicht so heißt), ist kein Wunder. Denn dass es da etwas gibt an unserem Körper, das anders ist als bei allen anderen Menschen, lässt viel Raum für Phantasien. Seinen Siegeszug im Krimi beginnt der Fingerabdruck bei Mark Twain, der bereits 1883 eine Geschichte mit dem Titel Ein Daumenabdruck und was sich daraus ergab veröffentlicht. Ein Mann sucht darin die Mörder seiner Frau und seiner Kinder und gibt sich als Wahrsager aus. «Meine Ausrüstung war einfach», schreibt er: «ein bisschen rote Farbe und ein Stück weißes Papier. Ich strich dem Kunden den Daumen an, machte davon auf dem Papier einen Abdruck, studierte ihn während der Nacht und verkündete dem Mann am nächsten Tag sein Schicksal.» 43 Abdrücke nimmt er, dann hat er den Täter, und das ohne Zweifel, denn: «Der Daumen ist das einzig Sichere, den kannst du nicht verkleiden.» Arthur Conan Doyles Meisterdetektiv Sherlock Holmes überführt 1903 im Baumeister aus Norwood seinen ersten Täter per Daktyloskopie; hier allerdings ist der Abdruck – welch ein Twist! – sogar mit Wachs gefälscht.

 

Wenn wir sie nicht wegputzen, sind Fingerabdrücke sehr hartnäckig. Biologisch betrachtet handelt es sich bei ihnen um einen Hautfettabdruck – und wenn der auf einer glatten Oberfläche trocknet, geht er von alleine nicht mehr weg. Da muss man sprühen und wischen und rubbeln auf Brillen- und Weingläsern, auf dem gebürsteten Metall der Kühlschränke, auf den Touchscreens unserer Smartphones. Studien haben gezeigt, dass Fingerabdrücke sogar auf Plastiktüten nach sieben Jahren noch nachweisbar sein können. Ein Abdruck auf dem Metallrahmen eines Fensters war bei einem Experiment in Großbritannien auch nach zweieinhalb Jahren noch da, obwohl er Wind und Wetter ausgesetzt war. Sind die Rahmenbedingungen günstig, spricht nichts gegen ein bisschen Unendlichkeit: Haben wir in der Grundschule zum Beispiel eine Fensterscheibe angefasst, und diese Scheibe hatte es seitdem schön trocken (etwa in einem Lagerraum oder einem Keller), wurde sie nicht geputzt und kein anderer hat mehr drangefasst – dann ist unser jahrzehntealter Grundschülerfingerabdruck heute noch da.

 

Wir hinterlassen Ab- und Eindrücke auf allem, das wir betatschen und betreten. Was auch immer wir anfassen, worauf auch immer wir laufen, womit auch immer unser Körper in Kontakt kommt: Etwas von uns bleibt darauf übrig, ein winziges Stückchen von uns selbst, vielleicht für alle Zeiten. Das älteste Haar eines Menschen, das bislang entdeckt wurde, lag Hunderttausende Jahre in Südafrika herum. Es wurde in einer Höhle bei Johannesburg in einem Haufen versteinerten Hyänenkots gefunden.

Wer weiß, wie weit unsere Haare heute Morgen vom Wind durch die Welt gepustet wurden und wo sie gelandet sind? Wir alle verlieren 60 bis 100 Kopfhaare am Tag. Sie sterben ab, sie fallen aus, sie klammern sich an unsere Mütze oder schweben irgendwohin und bleiben lange liegen. Unter einem Mikroskop gäbe ein gefundenes Haar Hinweise auf unsere Haarfarbe, man wüsste, ob es gefärbt ist oder nicht, und man könnte unser Alter eingrenzen. Mit chemischer Analyse bekäme man heraus, ob wir Alkohol getrunken oder Drogen genommen haben. Und dann kommt das Erbgut an den Wurzeln der Haare hinzu. Das verrät unter anderem unser Geschlecht sowie die Haut- und Augenfarbe.

DNA hält länger als ein Menschenleben. Und seit der Biochemiker Alec Jeffreys 1984 zufällig die DNA-Analyse erfunden hat, wird diese Jahr für Jahr verbessert. 1987 überführte sein Verfahren den ersten Täter, seit 1990 ist es auch in Deutschland als Beweismittel anerkannt – und seitdem sind Körperzellen potenzielle Verräter. Immer kleinere Spuren reichen, um Verdächtige als Täter zu entlarven: Früher mussten Blutspuren noch so groß sein wie ein Eurostück, damit sie zur Analyse taugten, heute genügt ein millimetergroßer Klecks. Und die Analyse wird immer mächtiger: Irgendwann wird es möglich (und rechtlich zulässig) sein, aus einer DNA das Aussehen eines Menschen herauszulesen. Bis das so weit ist, fordert der Hamburger Rechtsmediziner Klaus Püschel, dass die DNA aller Menschen in Deutschland gespeichert werden soll, «von der Wiege bis zur Bahre, überall in unserem Land, an jeder Grenze». Alles für die Sicherheit.

Viele der biologischen Spuren, die wir hinterlassen, sind sehr leicht, unsichtbar und gehen gern auf Reisen. Meist pusten wir sie unhörbar leise in die Landschaft, manchmal verteilen wir sie laut und explosionsartig. Wenn wir zum Beispiel heftig niesen, verbreiten sich Nasensekret und Speichel – und damit die DNA darin – in einer Gaswolke mehr als elf Meter weit, haben Forscher des Massachusetts Institute of Technology herausgefunden. Für ein DNA-Profil reichen bereits die winzigen Mengen an Speicheltröpfchen, die wir beim Aussprechen eines kurzen Satzes versprühen. Und auch die können lange auf uns deuten, wenn die Natur mitspielt: Spucken wir im Sommer in einer Altstadt auf das Kopfsteinpflaster, und es regnet vier Wochen nicht, ist diese Spur nach dieser Zeit noch nachweisbar, selbst wenn mehrere Passanten drübergespuckt haben. Niesen wir in das Buch einer Bibliothek, trocknet das Sekret ein, und unsere DNA bleibt – wie der Fingerabdruck aus der Schule – potenziell für immer. Derzeit versuchen Forscher aus Dublin, Erbgut aus einem Buch von 1410 zu extrahieren: Sie möchten mehr über einen Priester wissen, der vor mehr als 500 Jahren in diesem Buch immer wieder eine Abbildung von Jesus am Kreuz geküsst haben soll.

 

Wer keine Spuren verursachen möchte, müsste also in jedem Fall Handschuhe und einen Mundschutz tragen. Und dennoch wäre er chancenlos. Das liegt daran, dass wir uns ständig selbst verlieren. Wir sind, wo immer wir stehen und gehen, die ganze Zeit von einer Wolke umgeben wie der schmuddelige Junge bei den Peanuts. Und das, was in dieser Partikelwolke um uns herum am meisten herumwabert, war einmal ein Teil von uns: unsere alte Haut. Die erneuert sich, indem sie sich wegwirft. Neugeborene Schichten drängen von unten nach, alte Zellen auf der Oberfläche werden abgestoßen, alle ein bis zwei Monate schlüpfen wir quasi in eine neue Haut. Forscher gehen davon aus, dass wir in der Minute rund 40000 Hautzellen verlieren, das sind mehr als 600 Zellen in einer Sekunde und weitaus mehr als 50 Millionen pro Tag. Erwachsene Menschen werfen pro Jahr bis zu vier Kilogramm Zellen ab. Was wir Hausstaub nennen, besteht zum größten Teil aus Haut, die wir nicht mehr gebraucht haben. Wir saugen an den Wochenenden beim Hausputz also die Reste von uns auf.

«Abschilferung» nennen Experten das, wenn wir uns in der Gegend verteilen – und dabei ist es nebensächlich, ob wir nackt sind oder etwas anhaben: Kleidungsstücke sind für diesen steten Strom an Zellen meist durchlässig. Die Zellen fallen dabei nicht einfach nur an uns herunter – unser Hemd- oder Pulloverkragen gleicht dem Schlot eines Schornsteins. Der Temperaturunterschied zwischen unserem Körper und unserer Umwelt versetzt nämlich unbemerkt die Luft dicht an unserem Körper in Bewegung. Uns umgibt also immer und überall ein Luftstrom. Er beginnt an unseren Füßen, fließt an den Beinen hinauf, wird unter unseren Armen etwas langsamer, wirbelt am Kinn etwas unschlüssig herum, wird wieder schneller, folgt den Konturen des Gesichts, pustet sich über unseren Kopf hinaus, bildet dort eine kleine Wolke und geht dann sacht in die Luft der Umgebung über. Je nach äußeren Bedingungen kann dieser persönliche Luftzug bis zu 30 Zentimeter pro Sekunde schnell sein und bis zu 20 Zentimeter über unseren Kopf hinauswachsen. Wenn wir gehen oder joggen, wirkt unsere Kleidung wie ein Blasebalg und stößt die Luft aus unserem Kragen, Ärmeln und Hosenbeinen. Und diese Strömung besteht nicht nur aus Luft, sie reißt unter anderem auch unsere alten Hautzellen mit sich. Die klumpen dabei ein wenig aneinander, oft mehr, manchmal weniger (wir können Hautzellen mit bloßem Auge erst sehen, wenn ein paar hundert sich zu Hautschuppen verbunden haben). Die schweren fallen zu Boden oder auf das Hemd des Sitznachbarn, andere trägt der Wind leise davon.

Es bleibt also stets etwas über von uns in der Welt, unbemerkt und selten bewusst. Und wie bei den Videoaufnahmen all der Überwachungskameras wissen wir nicht, ob unsere Spur auch nach Monaten noch da ist. Ob die Natur sie gelöscht hat oder nicht. Im Alltag machen wir uns über so etwas keine Gedanken – flüchtige Täter hingegen sollten sich dessen bewusst sein. «Jeder Kontakt hinterlässt eine Spur», heißt es in der Forensik, eine direkte Berührung braucht es dafür aber nicht. Auch deswegen wird jedes Mordopfer am Tatort komplett mit Klebeband abgeklebt. Das kommt zwar im Fernsehkrimi nicht vor, sichert aber wichtige Spuren, weil bei der Entfernung des Tapes allerhand hängenbleibt. Kriminalisten können zwar anhand der Form einer Hautschuppe nicht erkennen, von wem sie stammt, ist aber noch DNA vorhanden, verrät die natürlich auch hier Entscheidendes. Als zum Beispiel 2010 in der Nähe von Mönchengladbach der kleine Mirco verschwindet, ist erst einmal nur klar, dass er in ein fremdes Auto gestiegen ist. Es werden Teile seiner Kleidung gefunden, unter anderem seine Jogginghose – und an der finden die Ermittler Hautschuppen des Täters, die von der Rückbank des Autos stammen, in dem der Junge saß. 2300 Spuren untersuchen die Forensiker, drei Wochen später haben sie den Täter überführt: anhand der Hautschuppen und der DNA.

Immer wenn wir Taxi, Bus oder Straßenbahn fahren, sammeln sich fremde Hautzellen an unserer Kleidung. Wenn wir durch die Innenstadt laufen, schreiten wir durch ein Meer unsichtbarer Teile anderer Menschen. Wir geben, wir nehmen. Wir ziehen unsere Teilchenwolke hinter uns her wie eine Schleppe, streuen uns selbst auf unsere Wege wie Hänsel und Gretel ihre Brotkrumen in den Wald. Wo wir waren, bleiben wir – zumindest eine Zeitlang. Könnten wir die Hautschuppen mit bloßem Auge sehen, würden unsere Städte aussehen wie mit Pulverschnee überzogen.

Es ist erstaunlich, wie weit unsere Hautzellen in der Gegend herumkommen. Selbst an einem nicht allzu windigen Tag. Selbst, wenn wir nur gemächlich über einen Parkplatz mit ebenem Asphalt gehen, können sie leicht Hunderte Meter oder weiter fliegen. Ein paar bleiben in den Ritzen der Markierungen auf dem Boden hängen, einige verheddern sich in den kleinen Büschen unter den Laternen, andere Zellen kleben sich an die Türen der parkenden Autos, weitere sammeln sich, wo es windstill ist, zum Beispiel im Wartehäuschen einer Bushaltestelle.

Auf einer Wiese fallen unsere Zellen sehr nahe am Körper auf den Boden und bleiben dort durch das Gras geschützt liegen, auf glattem Beton aber finden sie kaum Halt. Auf dem Parkplatz kann es sogar sein, dass unsere abgeschilferten Teile vom Luftstrom vorbeifahrender Autos mitgewirbelt werden. Dann bleiben Spuren von uns an Orten übrig, an denen wir nie waren. Wir können auch dort vorhanden sein, wo wir nie gewesen sind.

 

Mit größter Wahrscheinlichkeit findet nur einer unsere echte Spur: ein Hund – oder zumindest ein dazu ausgebildeter Suchhund. Dass Hunde eine sehr feine Nase haben, wusste schon früh in der Geschichte jedes Kind. Bereits im antiken Griechenland kennt man Spürhunde, und auch im 13. Jahrhundert schreibt der Universalgelehrte Albertus Magnus in seinem Werk De animalibus, dass «der hund vnder allen andern tyern die aigenschaft hat, das man mit Im mag ußspüren die dieb vnd die bößwicht». Das gilt auch heute noch, und nicht nur für Verbrecher und ihre Opfer, sondern zum Beispiel auch für ältere Menschen, die sich verirrt haben. Heute kommt dann der ausgebildete Personensuchhund – kurz und offiziell: PSH – zum Einsatz. Der lässt sich kaum ablenken und folgt stur dem unsichtbaren Geruch unserer Hautzellen, die wir unausweichlich auslegen, als würden wir Millionen winziger Kreidepfeile auf den Boden zeichnen, die alle in unsere Richtung deuten.

 

Dass wir an einem Ort noch länger zu riechen sind, kennt jeder aus Erfahrung. Wobei es sich hier nicht um unseren eigenen Geruch handeln muss: Schweres Rasierwasser oder ein großzügig aufgetragenes Parfüm sind ebenso sichere Indizien dafür, dass sich jemand in einem Raum aufgehalten hat. Es gibt sogar eine Maßeinheit für Menschenduft, sie heißt «Olf» und wurde 1988 von Povl Ole Fanger eingeführt, einem dänischen Ingenieur und Experten für Luftqualität und thermische Behaglichkeit. Ein Olf ist definiert als die Geruchsmenge, die von einem erwachsenen Menschen mit durchschnittlich 1,8 Quadratmeter Hautoberfläche, einer sitzenden Tätigkeit und einem Hygienestandard von 0,7 Bädern pro Tag ausgeht – oder wie Forscher es formulieren, «ein Olf entspricht der Verunreinigungslast durch eine Standardperson». Ein starker Raucher kommt laut Fanger auf 25 Olf, nach dem Sport sind wir bei 30 Olf. Da können selbst Menschen nicht darüber «hinwegriechen» (außer sie sind schwer erkältet).

 

Ein Spürhund lässt sich nicht irritieren durch Zigarrenrauch oder Chanel N°5: Er findet uns, weil jeder von uns ein wenig anders duftet. Dieser «Individualgeruch» ist unabhängig von unserer Ernährung, unserer Stimmung oder von Kosmetika, die wir nutzen. Wie und warum er entsteht, sagt viel aus über uns als Menschen. Wir erzeugen unseren persönlichen Geruch nämlich nicht selbst. Das machen die Bakterien auf unserer Haut. Dort leben so viele Mikroorganismen, wie es Menschen auf der Erde gibt, und sie alle haben Hunger. Besonders gerne essen sie, was um sie herum aus den Millionen Poren und Drüsen dringt, die zum Beispiel den Körper kühlen, indem sie Flüssigkeit abgeben. Die besteht größtenteils aus Wasser, aber auch aus Harnstoff, Eiweißen, Fett, Milchsäure, Hormonen, Ammoniak und einer Prise Zucker und Salz. Diese Mischung ist geruchlos – bis die Bakterien zubeißen und den chemischen Mix aufspalten. Dabei entstehen zum Beispiel Butter- oder Ameisensäure. Erst dann riecht es nach Schweiß, und wir rümpfen die Nase. Dabei duftet es jetzt vielmehr nach uns. Die Zutaten des Menüs, das wir den Bakterien anbieten, sind nämlich auch abhängig von unseren Genen und dem Immunsystem. Und auch die Auswahl unserer kleinen Essensgäste ist in großen Teilen einzigartig: Im Durchschnitt stimmen etwa nur 13 Prozent der Arten, die zwei Menschen auf ihrer Handfläche tragen, miteinander überein.

Wir duften also individuell, weil ausgewählte Bakterienkolonien auf unserer Haut einen exklusiven Geruch herstellen. Verlieren wir Hautzellen, verabschieden wir uns auch von den Mikroben, die auf ihnen wohnen – und wenn unsere durch die Luft wirbelnden Schuppen irgendwo landen, essen die Bakterien darauf einfach weiter, solange noch etwas da ist. Wir duften sozusagen woanders weiter. Und dann steigen wir dem Hund in die Nase.

 

Über die Frage, wie lange ein ausgebildeter Personensuchhund riechen kann, dass wir an einem Ort waren, wird mitunter heftig gestritten. Sicher ist: Es gibt Bedingungen, die das Leben einer Spur verlängern oder verkürzen. Temperatur, Wetter und Boden zum Beispiel. Ist es zu kalt oder zu heiß und zu trocken, werden die Zellen schnell zerstört. Ein Wetter mit grauem Himmel hingegen, bei dem wir noch ohne Schirm vor die Tür gehen würden, ist perfekt, denn die Organismen auf unseren Hautschuppen lieben es feucht. Und fallen sie auf eine poröse Oberfläche wie Sandstein oder auf einen modrig-weichen Waldweg, dann freut sich der Hund. Dann können die Mikroben sogar Kolonien bilden, die sich selbständig regenerieren – und oft noch lange nach dem Menschen riechen, von dem die Zellen stammen.

Bei einer Spurensuche auf Wäldern und Wiesen kommen übrigens wieder Schuhabdrücke ins Spiel. Denn jedes Mal, wenn wir unseren Fuß in die Erde drücken, bringen wir eine dort lebende Gemeinschaft ziemlich durcheinander. In nur einem Teelöffel Erde lebt eine Billion Mikroorganismen in einem wogenden Gleichgewicht – und unser Schuheindruck ändert mit einem Mal das ganze Habitat: Gräser werden zerquetscht. Mikroben, die zuvor nie das Licht gesehen haben, liegen nun oben. Wer es zuvor schön feucht hatte, drängt sich nun im Trockenen. Andere überleben den Tritt gar nicht, biologische Prozesse verlangsamen sich oder nehmen Fahrt auf. Alles ist plötzlich ganz anders. Dann kommen Fäulnisbakterien und siedeln sich an. Dass alles kann der Hund riechen. Und nicht nur er: Wer frühmorgens auf einer feuchten Wiese erst am Gras schnüffelt, dann mit dem Schuh einen Abdruck hinterlässt, dabei ein paar Halme knickt und wieder am Gras riecht, wird merken, dass sich der Geruch der Stelle verändert hat. Eine solche «Bodenverletzung» riecht zwar nicht speziell nach uns, ein guter Hund verknüpft aber unseren Geruch und die Richtung, aus der wir gekommen sind, mit dem Geruch des Abdrucks. Sehr talentierte Hunde können sogar Spuren folgen, wenn wir mit dem Fahrrad oder gar in einem Auto mit geöffneter Scheibe weggefahren sind, obwohl auf der Straße weniger Schnüffelzellen von uns liegen bleiben, da wir uns ja schnell fortbewegt haben.

Um die Frage nach der nachweisbaren Dauer der Spur zumindest annähernd zu beantworten: Zwei Wochen sind ein guter Richtwert. Spuren dieses Alters kann ein guter PSH mit großer Wahrscheinlichkeit finden; manche unserer Spuren sind aber viel kürzer nachweisbar, andere dafür noch nach Monaten. «Die Hunde scheitern in der Regel nicht am Alter der Geruchsspur, sondern an ihrer mangelnden Konzentrationsfähigkeit», schreibt Leif Woidtke von der Hochschule der Sächsischen Polizei in seinem Buch Mantrailing – Fakten und Fiktionen. Mit entscheidend für den Sucherfolg sei dabei immer die Qualität und die Reinheit des Geruchs, den man dem Hund unter die Nase hält, bevor man ihn auf die Fährte schickt. Je weniger jemand anderes mit dem Geruchsträger – einem T-Shirt etwa – in Kontakt gekommen ist, desto reiner ist der Geruch. Je länger es getragen wurde, desto mehr riecht es nach dem Gesuchten. Es ist überraschend, was sich als