Weckzeit - Norbert Böseler - E-Book

Weckzeit E-Book

Norbert Böseler

0,0

Beschreibung

Im Juli 2006 gerät Edgar Focke zusammen mit seiner achtjährigen Tochter in die Fänge eines Psychopathen. Der Familienvater verliert sein linkes Bein und das Mädchen ist seitdem spurlos verschwunden. Die Ermittlungen der Polizei verlaufen im Sande. Zehn Jahre später kommt Edgar durch einen Zufall in den Besitz eines antiken Weckers, der entgegengesetzt der Zeit läuft. Der mysteriöse Wecker ermöglicht es ihm, in jene schicksalhafte Zeit zurückzukehren, die tiefe Narben hinterlassen hat. Während er in der Gegenwart schläft, wird Edgar mit seiner eigenen Vergangenheit konfrontiert. Auf beiden Zeitebenen lernt er Nora Runge kennen, die scheinbar demselben Täter zum Opfer gefallen ist. Gemeinsam begeben sie sich auf die Suche nach dem Entführer. Beiden wird vor Augen geführt, dass jeder Eingriff in den Zeitverlauf ungeahnte Veränderungen nach sich zieht. Bei ihren Recherchen kommen sie einem Serientäter auf die Spur, der anderen Menschen unermessliches Leid zufügt. Der Tag, der Edgar Fockes Leben verändert hat, rückt immer näher. Kann und darf er die schrecklichen Ereignisse verhindern?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 302

Veröffentlichungsjahr: 2018

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Norbert Böseler

Weckzeit

Thriller

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

2004

1985

2004 / 2

2015

2004 / 3

2015 / 2

2005

1985 / 2

2015 / 3

2005 / 2

1985 / 3

2015 / 4

2005 / 3

1993

2015 / 5

2005 / 4

1994

2005 / 5

2015/2016

2004 / 4

2006/2016

2016

2006

2006 / 2

2006/2016 / 2

2005 / 6

2006/2016 / 3

04.07.2006

05.07.2016

05.07.2006

06.07.2016

Impressum neobooks

2004

Im Kinosaal herrschte absolute Stille. Den Zuschauern stockte der Atem, als ein riesiger Vogel die ganze Leinwand vereinnahmte und mit weit ausgebreiteten Schwingen auf dem Bergplateau landete. Das imposante Wesen aus einer anderen Welt faltete seine mächtigen Flügel zusammen und wandte sich der Berghütte zu, in der sich sein Sohn befand. Die vogelartige Gestalt wollte seinen Nachkommen töten. Die Tür öffnete sich und ein alter Mann trat heraus.

Nora und Regina saßen in der letzten Reihe des gut besuchten Kinos und starrten gebannt auf die Leinwand. Regina kaute vor lauter Anspannung auf ihren künstlichen Fingernägeln. Nora hingegen verhielt sich ein wenig gelassener, da sie das Buch Quick gelesen hatte, das nun endlich verfilmt worden war. Sie wusste, wie es ausgehen würde, dennoch füllten sich ihre Augen bei der Schlussszene mit Tränen. Während der Abspann lief, verließen die meisten Besucher bereits das Kino. Die beiden Freundinnen warteten, bis sich der Vorhang schloss, dann bewegten sie sich gemächlich auf den Ausgang zu. Draußen wurde angeregt über den Film diskutiert. Auch Reginas Analyse ließ nicht lange auf sich warten: „Wow, der Streifen war ja megaspannend. Phänomenal, wie Falcao sich in dieses Vogelwesen verwandelt hat. Marlon war wirklich ekelig, ein richtig mieser Typ. Nicks schneller Alterungsprozess wurde super dargestellt. Stell dir mal vor, du würdest an einem Tag um ein Jahr altern. Wie hat dir denn der Film gefallen, Nora?“

„Er hat meine Erwartungen übertroffen, obwohl ich das Buch dennoch besser finde. Das Interessante an einer Buchverfilmung ist, zu sehen, wie aus den stillen Worten eines Romans lebendige Bilder werden, und das ist den Machern dieser Verfilmung sehr gut gelungen. Ich werde mir später auf jeden Fall die DVD holen“, meinte Nora.

„Ich auch! Was machen wir jetzt? Gehen wir zum Fitzund trinken noch was? Ulf ist bestimmt auch da!“

„Das ist eine gute Idee, auf zum Fitz.“

Die beiden jungen Frauen hakten sich mit den Armen ein und schlenderten über den Gehweg Richtung Innenstadt. Nora hoffte sehr, Ulf in der Musik Bar anzutreffen, denn sie hatte sich in den gutaussehenden Jungen verliebt. Noch flatterten die Schmetterlinge in einem Käfig, dessen Maschen aus Schüchternheit bestanden. Eine hemmende Gemeinsamkeit, die sie mit Ulf teilte. Keiner von beiden traute sich, gegenüber dem anderen seine Gefühle zu äußern. Sie hatte ihn in einer Diskothek kennengelernt. Nora studierte Grafik und Design und er hatte an einigen Lesungen teilgenommen. Nach einem Semester hatten sie sich leider aus den Augen verloren, doch seit geraumer Zeit traf sie ihn häufig im Fitz an. Beide hatten sich über das Wiedersehen sehr gefreut und kamen gleich in ein unterhaltsames Gespräch, wobei Ulf es immer wieder verstand, Nora zum Lachen zu bringen. Ja, sie mochte ihn. Vielleicht würde sie heute Abend all ihren Mut zusammennehmen und die Maschen des Käfigs zerreißen, damit die Schmetterlinge sich frei entfalten konnten.

Obwohl es noch vor Mitternacht war, platzte das Fitz aus allen Nähten. Oben drängten sich die Leute an einer langen Theke. Unten aus dem Keller, wo sich die Tanzfläche befand, dröhnte laute Rockmusik. Nora und Regina bahnten sich ihren Weg durch die Menge und suchten zunächst die Toiletten auf. Nachdem die beiden ihr Make-up nachgebessert hatten, gingen sie zurück in die Bar und bestellten zwei Getränke. Während Nora an ihrem Pernod Cola nippte, spähte sie durch die Vielzahl der Besucher, konnte Ulf aber nirgends entdecken. Regina unterhielt sich mit einem Typen, dessen Haupt von langen Rasta-Locken geziert wurde, die wie leblose Schlangen auf seinen Schultern ruhten. Soweit Nora wusste, tummelten sich bei Regina keine Schmetterlinge, und falls doch, würde sie ihre Gefühle nicht in einen Käfig sperren, sondern unbekümmert in Freiheit lassen. Was Jungs anbelangte, war ihre Freundin anders gestrickt. Nora blickte nochmal enttäuscht durch die Menge, wahrscheinlich tobte Ulf sich unten in der Disco aus. Wie auf Kommando erklang aus dem Keller das Intro von Vagabonds, ein Song ihrer Lieblingsband New Model Army. Nora zerrte Regina von dem Rasta-Mann weg und drängte mit ihr zur Kellertreppe. Sie stellten die Gläser ab und stürmten auf die Tanzfläche. Die Musik löste bei Nora pures Adrenalin aus. Sie bewegte sich ausgelassen zu dem harten Rhythmus des Liedes, wobei sie die Blicke der Männer auf sich zog. Lange blonde Haare rahmten ihr hübsches Gesicht ein. Ein enges Top und verwaschene Blue Jeans schmiegten sich an ihren perfekt geformten Körper. Noras hingebungsvoller Tanz mit geschmeidigen, rhythmischen Bewegungen faszinierte die anwesenden Jungs. Die beiden tanzten auch noch zu dem nächsten Lied, dann leerten sie ihre Gläser und bestellten an der Kellerbar ein neues Getränk. Nora erspähte viele bekannte Gesichter, Ulf sah sie jedoch nicht. Frustriert drehte sie an dem silbernen Ring, der auf ihrem rechten Mittelfinger steckte. Eine Angewohnheit, die Nora kaum wahrnahm und so nie wieder ausüben würde.

Etwa zwei Stunden später verließen die beiden Freundinnen leicht angetrunken das Lokal.

„Lass uns mit der S-Bahn fahren“, schlug Regina vor.

Nora war einverstanden, woraufhin die beiden den nächstgelegenen S-Bahnhof ansteuerten. Nur wenige Leute befanden sich um diese Zeit auf dem Nachhauseweg. Die Straßenbahn war nur spärlich besetzt. In ihrem Abteil suchte ein Flaschensammler in aller Seelenruhe nach Pfandflaschen, die achtlose Fahrgäste zurückgelassen hatten. Nach drei Stationen stiegen die beiden jungen Frauen wieder aus. An der nächsten Ampelkreuzung trennten sich ihre Wege. Regina musste links die Hauptstraße überqueren, während Nora noch gut einen Kilometer bis zu ihrer Studentenwohnung vor sich hatte und der Straße folgen musste. Die Ampel zeigte auf Rot und die beiden jungen Frauen nutzten die Zeit, um sich mit einer innigen Umarmung voneinander zu verabschieden. Aus den Augenwinkeln sah Nora einen dunklen Lieferwagen, der ungewöhnlich langsam über die Kreuzung fuhr. Das grüne Männchen und der piepende Signalton der Ampel lösten die beiden Freundinnen aus ihrer Umarmung.

„Ich ruf dich morgen an“, versprach Regina und eilte dann schnellen Schrittes über die Kreuzung. Nora winkte Regina kurz hinterher und setzte dann ihren Weg fort, den sie schon viele Male gegangen war. Nach etwa zweihundert Metern verengte sich die Straße und Nora kam an einem asphaltierten Bolzplatz vorbei, der von hohen Gittern umgeben war. Vor sich konnte sie schon die Eisenbahnunterführung erahnen. Als sie das öffentliche Fußballfeld passiert hatte, überquerte ein Zug mit lautem Getöse die Brücke. Die anschließende Stille wirkte auf Nora bedrückend, zumal sich kein Mensch auf der Straße befand. Im Schein der Straßenlaternen konnte sie ein Fahrzeug erkennen, das direkt vor der Unterführung parkte. Das helle Nummernschild hob sich deutlich von der dunklen Karosserie ab. Nora näherte sich mit unwohlem Gefühl in der Magengegend, obwohl sie eigentlich kein ängstlicher Mensch war. Bei dem abgestellten Fahrzeug handelte es sich um den dunklen Lieferwagen, der Nora schon an der Ampel aufgefallen war. Der Wagen hatte im Bereich der Ladefläche keine Fenster. Nora blickte sich um und machte einen weiten Bogen um das Fahrzeug. Sie sah zum Seitenfenster, konnte aber niemand hinter dem Steuer erkennen. Ohne es zu bemerken, hatten sich ihre Schritte automatisch beschleunigt, die jetzt laut durch die Unterführung hallten. Da die kurze Strecke unterhalb der Bahnschienen nicht beleuchtet war, schnürte aufkommende Panik Noras Magen nun vollends zusammen. Sie war kurz davor loszurennen, als sich eine dunkle Gestalt von dem Betonpfeiler löste und auf sie zugestürmt kam. Ein kräftiger Arm presste sich gegen ihren Brustkorb. Panisch trat Nora mit den Füßen um sich, doch der Angreifer hielt sie mit seiner stählernen Umklammerung fest. Nora wollte gerade nach Hilfe schreien, als ein feuchtes Tuch vor ihren Mund gedrückt wurde. Der durchtränkte Stoff raubte ihr die Luft zum Atmen, stattdessen inhalierte sie Dämpfe, die ihre Sinne benebelten. Nora spürte, wie ihre Kräfte schwanden, dann tauchte sie in eine lautlose Dunkelheit ab.

1985

Sie konnte den Tod nicht sehen, nicht hören und nicht fühlen, dennoch roch sie seine Gegenwart. Der Duft des Todes umgab sie wie eine finstere Wolke, sie aber blieb ahnungslos. Falls sie auf den Schalter drücken sollte, würde er sie in seine Arme schließen.

***

Das Leben hatte es nicht gut mit ihnen gemeint. Warum sollte es so früh enden? Musste es jetzt überhaupt enden? Doch Renate und Franz hatten einen Entschluss gefasst. So schwer der Weg auch schien, sie wollten ihn gemeinsam gehen. Renate war im vergangenen Jahr schwer erkrankt. Darmkrebs lautete die niederschmetternde Diagnose – weit fortgeschritten und unheilbar. Starke Medikamente begleiteten sie über den Tag und machten die Schmerzen einigermaßen erträglich. Sie bestand nur noch aus Haut und Knochen, wog gerade mal vierzig Kilo. Die meiste Zeit des Tages verbrachte sie im Bett, doch Schlaf fand sie kaum. Franz, ihr Ehemann, zerbrach an Renates Krankheit. Er litt an Depressionen, die er nicht mehr in den Griff bekam. Zum einen konnte er den Zustand seiner Frau nicht mehr ertragen, zum anderen stand er vor dem Nichts. Die beiden hatten Schulden, die ihre Zukunft zerfraßen wie die Krebszellen Renates Körper. Der landwirtschaftliche Betrieb, der Mittelpunkt ihres Lebens, stand vor dem Bankrott und musste verkauft werden. Für Franz war damals ein Jugendtraum in Erfüllung gegangen, als er den Hof von seinen Eltern übernehmen durfte. Die hatten sich daraufhin in die Stadt zurückgezogen, um ihren Ruhestand zu genießen. Nach mehr oder weniger erfolgreichen Jahren stürzte der Hof unaufhaltsam in eine verheerende, finanzielle Krise. Ein Großteil der Rinder war bereits verkauft worden, doch das Geld bekamen sie nie zu Gesicht. Franz sah keine Perspektiven mehr, dachte immer häufiger an Selbstmord. Bis vor kurzem konnte Renate ihm diese düsteren Gedanken noch austreiben, doch nun hatte sie die Kraft dazu verloren. Sie konnte ihrem Mann keinen Lebensmut mehr einhauchen, da ihr eigener sie langsam verließ. Einzig die beiden Kinder hatten ihren Willen zu leben noch aufrecht gehalten. Johanna, die siebenjährige Tochter sprühte nur so vor Lebensfreude. Um sie brauchte sich Renate keine Sorgen machen. Auch wenn das Schicksal sie hart treffen würde, sie käme bei den Großeltern unter und würde ein anderes Leben beginnen können. Sorgen bereitete Renate der elfjährige Junge. Er war äußerst labil und könnte an solch einer Tragödie zerbrechen. Er wollte nicht wahrhaben, dass seine Mutter so schwer erkrankt war. Jeden Tag fragte er sie, ob sie wieder gesund werde. Und als Renate die Frage eines Tages verneinte, rannte er weinend in sein Zimmer und schloss sich ein. Er konnte sich schwer von etwas trennen. Selbst wenn Rinder zum Schlachten gebracht wurden, weinte er tagelang. Was sollte aus ihm werden, wenn er von seinen Eltern getrennt wurde? Würde er sich jemals wieder fangen? Renate und Franz konnten es nur hoffen, denn sie hatten eine Entscheidung gefällt. Franz hatte seiner Frau unmissverständlich verdeutlicht, dass er ohne sie nicht leben könne. Wenn sie nicht mehr da sei, würde er sich früher oder später das Leben nehmen. Daran hegte er keinen Zweifel. Renate sah in seine Augen, die pure Verzweiflung widerspiegelten, dass er es ernst meinte. Ende letzter Woche stimmte sie seinem Plan zu. Sie kam zu der Überzeugung, dass dieser letzte Schritt für alle das Beste sei. Sie malten sich alle möglichen Szenarien aus, wobei in ihrer Ausweglosigkeit die positiven Aspekte für einen Freitod eindeutig überwogen. Für die Kinder würde gesorgt werden, sie würden nicht alleine sein, dessen waren Renate und ihr Mann sich sicher.

Franz traf alle Vorkehrungen. Er hatte fünf Gasflaschen im Haus verteilt. Eine im Wohnzimmer, eine in der Küche und die anderen drei im Schlafzimmer. Zudem hatte er den elektrischen Heizlüfter an eine Zeitschaltuhr gekoppelt und den Timer auf zwölf Uhr gestellt. Die Kinder würden eine Stunde später aus der Schule nach Hause kommen. Sie sollten ihre Eltern nicht tot im Bett vorfinden, diesen Anblick wollten sie ihnen ersparen. Wenn die beiden nach Hause kämen, würde das Wohnhaus nicht mehr existieren und die Rettungsdienste würden sich um die Kinder kümmern. Außerdem wollte Franz nichts hinterlassen. Nichts für die Bank, nichts für die Kinder. Alle persönlichen Gegenstände, die in den Kindern Erinnerungen wachrufen könnten, sollten in den Flammen zu Asche verglühen. Die beiden Kinder mussten vergessen, Erinnerungen durften ihrem Neuanfang nicht im Wege stehen. So sehr sie auch mit sich gerungen hatte, letztendlich tolerierte Renate den Wunsch ihres Mannes. Die Kinder sollten nicht zurückblicken müssen. Was vor ihnen lag, würde all ihre Kraft beanspruchen.

Renate und Franz gingen ins Bad, wo beide Schlaftabletten zu sich nahmen. Franz drehte die Gasflaschen in der Küche und im Wohnzimmer auf. Renate wartete im Flur auf Franz, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Als Franz auf sie zukam, musste sie sich an der Wand abstützen, da ihre Beine einzuknicken drohten. Sie hakte sich bei ihrem Mann ein und wankte mit ihm ins Schlafzimmer. Schwerfällig ließ sie sich aufs Bett nieder und legte sich hin. Franz drehte die Ventile der drei restlichen Gasflaschen auf, kontrollierte nochmal die Zeitschaltuhr und legte sich anschließend zu seiner Frau aufs Bett. Renate öffnete das Nachtschränkchen und holte einen Rosenkranz hervor. Sie legte ihn in die offene Hand und wandte sich ihrem Mann zu. Er griff nach ihrer Hand mit dem Rosenkranz und umschloss sie sanft. Dann gab er seiner Frau einen letzten Kuss, wobei ihm eine Träne des Abschieds über die Wange rann. Beide lagen im Schlafzimmer und starrten an die Decke, wo vor ihren Augen Bilder aus einer glücklichen Vergangenheit abliefen, die sie nicht wiederbeleben konnten. Das Ehepaar würde ihre Kinder nie wieder wiedersehen. Renate und Franz warteten darauf, dass die Bilder erloschen. Voller Wehmut hofften sie auf die baldige Erlösung.

***

Johanna saß frohgelaunt im Bus und unterhielt sich angeregt mit ihrer Freundin. Die letzten beiden Stunden waren heute ausgefallen, da die Deutschlehrerin erkrankt war. Als der Schulbus anhielt, verabredete Johanna sich noch schnell mit ihrer Freundin und stieg dann aus. Den Rest des Weges musste sie zu Fuß bewältigen. Der Hof lag weit abseits der Wohnsiedlung hinter einem kleinen Wald verborgen. Ein mit Schotter befestigter Weg führte links von der Landstraße ab, dem musste sie knapp vierhundert Meter folgen, um nach Hause zu gelangen. Rechts und links flankierten Maisfelder den Weg. Die Pflanzen ragten so weit in die Höhe, dass Johanna sie nicht überblicken konnte. Sie schippte einen Stein vor sich her und als er im hohen Gras am Wegesrand verschwand, suchte sie sich einen neuen Schotterstein. Ein einziges Mal hatte sie es bislang geschafft, mit nur einem Stein den Hof zu erreichen. Dabei hatte sie für die Strecke die doppelte Zeit benötigt, weil sie sich voll und ganz auf ihre Schusstechnik konzentriert hatte. Heute ging sie zügig, ihr war egal, wohin die kleinen Steinchen rollten. Vor ihr endeten die beiden Maisfelder und sie erreichte den Wald, der ausschließlich aus Laubbäumen bestand. Von hieraus war es nicht mehr weit. Kurze Zeit später sah sie das Wohnhaus. Johanna wunderte sich, weil es auf dem Hof so still war. Normalerweise arbeitete ihr Vater um diese Zeit im Stall, der sich noch ein Stück weiter hinter dem Haus befand. Jetzt hörte sie keine Geräusche, selbst die Türen waren alle verschlossen. Bestimmt hilft er Mama im Haus, dachte Johanna und ging unbekümmert zur Eingangstür. Die Tür war abgeschlossen, was ebenfalls ungewöhnlich war. Johanna nahm die Schultasche ab und bückte sich zu dem Blumentopf, der auf dem Treppenstein stand. Darunter lag für den Notfall ein Haustürschlüssel. Klingeln wollte sie nicht, falls ihre Mutter schlief. Johanna schob den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür. Sie stellte die Schultasche im Windfang ab und ging dann durch eine zweite Tür in den Flur. Sie bemerkte sofort den komischen Geruch. Er stieg beißend in ihre Nase auf und füllte Johannas Augen mit Tränen. Ihre Mutter hatte in der Küche sicherlich wieder etwas anbrennen lassen, glaubte Johanna, das kam in letzter Zeit häufiger vor. Sie rief einmal nach ihren Eltern, erhielt jedoch keine Antwort. Der Flur war fensterlos, nur wenig Licht fiel durch die Verglasung der Haustür. Johanna begann zu husten und hielt sich die Hand vor den Mund. Mit der anderen Hand tastete sie nach dem Lichtschalter. Sie legte ihre kleinen Finger auf die Wippe und drückte sie nach unten.

2004 / 2

Stelze waren die beiden jungen Frauen schon von Weitem aufgefallen. Sie standen an der Ampel, und schienen sich voneinander verabschieden zu wollen. Als Stelze sich langsam der Ampel näherte, fing sein Herz laut an zu pochen. Die ganze Nacht war er durch die Stadt gefahren, auf der Suche nach einem Opfer, auf der Suche nach jemand, der sich von etwas trennen sollte. Vor zwei Tagen hatte ihn wieder dieses bedrückende Gefühl übermannt. Wenn er nur daran dachte, wurde er es nicht mehr los. Je länger er es mit sich herumtrug, umso intensiver wurde es. Es hatte sich im Laufe der letzten Jahre zur Sucht entwickelt. Dieses Gefühl, dieser aufkommende Zwang, es tun zu müssen. Er hatte gelernt, seinem Gefühl schnell Folge zu leisten, bevor es ihn krank machte. Vor Jahren wäre er fast daran zerbrochen. Viele schlaflose Nächte lagen hinter ihm, weil er sich nicht überwinden konnte. Nun machte es ihm sogar Spaß. Nicht, dass es ihn sexuell erregte, doch es befriedigte in gewisser Weise sein Selbstwertgefühl. Danach ging es ihm wesentlich besser. Die quälenden Kopfschmerzen blieben aus. Früher hatte er immer so lange gewartet, bis er die Schmerzen nicht mehr ertragen konnte. Heute gab er sich dem Zwang gleich hin, er konnte sich der Sucht ohnehin nicht entziehen. So bereitete er sich schon bei den ersten Anzeichen in aller Ruhe vor. Die Zeitabstände, in der ihn die Vergangenheit einholte, wurden immer geringer. Das Gefühl der Trauer lag fest in seinem tiefsten Inneren verwurzelt. Damals musste er sich von etwas trennen, was niemand jemals ersetzen könnte. Er hatte sich gewissermaßen von seinem Leben getrennt. Nur die eine Hälfte in ihm konnte ein gewöhnliches Leben führen, der andere Teil kämpfte mit dem Trennungsschmerz, den die Vergangenheit hinterlassen hatte. Seine wahre Persönlichkeit konnte er nur entfalten, wenn ein Auserkorener einen Teil seiner selbst abgab, wenn diese Person etwas opferte. Der Mann, der nur auf diese Art und Weise seine Vergangenheit bewältigen konnte, wurde von Kindheit an Stelze genannt und näherte sich langsam der Kreuzung.

Die Ampel zeigte auf Rot. Stelze stoppte den Lieferwagen, sah dann in Richtung der beiden Frauen, wobei sich sein Magen zusammenzog, als die Blonde mit den langen Haaren kurz zu ihm herüberblickte. Sie konnte nicht viel erkennen, dessen war sich Stelze sicher, außerdem trug er eine Perücke, die sein Aussehen erheblich veränderte. Doch eins wurde ihm in diesem Augenblick bewusst, sie würde es sein, die seine innere Unruhe besänftigen sollte. Er griff die Opfer nie wahllos auf. Etwas in ihm wusste genau, welche Person für sein Vorhaben in Frage kam. Die Ampel sprang auf Grün. Stelze ließ den Wagen langsam anrollen. Im Rückspiegel beobachtete er, wie die eine Frau die Kreuzung überquerte und die blonde Frau daraufhin weiter der Straße folgte. Soweit er erkennen konnte, fuhr kein weiteres Fahrzeug hinter ihm. Er vergewisserte sich noch einmal, ob die junge Frau auch weiterhin in seine Richtung ging. Nun musste er nach einer geeigneten Stelle Ausschau halten, die sich in unmittelbarer Nähe befand. Sein Opfer könnte jederzeit die Straßenseite wechseln. Vor ihm tauchte die Eisenbahnunterführung auf. Stelze sah nochmal kurz in den Rückspiegel. Die Frau befand sich noch außer Sichtweite. Er stoppte den Wagen direkt vor der Unterführung und stellte den Motor ab. Stelze holte aus dem Handschuhfach eine luftdicht verschlossene Plastikdose, öffnete sie und entnahm das mit Chloroform getränkte Tuch. Eilig griff er nach der Sturmhaube, die auf dem Beifahrersitz lag, und stieg aus. Er sah sich hastig nach einem geeigneten Versteck um und entschied sich für eine Betonsäule, die kurz vor dem Ende des kurzen Tunnels stand. Hinter der runden Säule stehend blickte er die Straße entlang. Tatsächlich tauchte die Frau in seinem Sichtfeld auf. Stelze hoffte nur, dass ihr niemand folgte, oder ein Auto in diese Richtung fuhr. Er brauchte nur wenige Minuten, wenn alles reibungslos verlief. Nur wenige Minuten, in denen er ungestört bleiben musste. Die junge Frau näherte sich der Brücke. Als sie den Lieferwagen erreichte, wich sie über die Straße aus. Sie ging einen weiten Bogen und beschleunigte ihre Schritte. Stelze stülpte die Sturmhaube über seinen Kopf. Ein letzter Blick nach rechts und links, niemand war zu sehen. Als die Frau die Betonstütze passierte, sprang er mit wenigen Schritten auf zu. Er bekam sie gleich fest in den Griff, presste ihren Oberkörper gegen seine Brust und hielt ihr das Tuch vor den Mund. Er hatte es so dosiert, dass das Chloroform möglichst schnell wirkte. Die blonde Frau trat mit den Füßen nach ihm und traf mehrfach sein Schienbein. Doch ihre Gegenwehr ließ schnell nach. Von einem Moment zum anderen erschlaffte ihr Körper in seinen Armen. Stelze schleifte die Frau zum Lieferwagen. Die Sturmhaube klebte an seinem verschwitzten Kopf. Mit einer Hand öffnete Stelze die Heckklappe des Transporters. Er griff um Oberkörper und Beine der Frau und wuchtete sie auf die Ladefläche. Dann stieg er selber ein und positionierte den leblosen Körper auf der rechten Seite der Ladefläche. Er nahm eine Decke zur Hand, womit er sein Opfer verhüllte. Mehrere Umzugskartons, die mit alter Kleidung befüllt waren, verteilte er wahllos im Frachtraum. Zwei dieser Kartons verkeilte er auf der bewusstlosen Frau. Außerdem öffnete er eine große Tüte mit Weingummis und warf sie auf die Decke. Wenige Augenblicke später schloss er die Klappe des Transportes und setzte sich ans Steuer. Stelze riss schwer schnaufend die schweißdurchtränkte Haube vom Kopf und griff hinter den Fahrersitz. Dort befand sich eine kleine Gasflasche, dessen Ventil er öffnete. Ein dünner Schlauch führte nach hinten. Das Chloroform-Sauerstoff Gemisch sollte ihn vor unangenehmen Überraschungen bewahren. Den süßlichen Duft im Fahrzeuginneren konnte er erklären, wenn es sein musste. Stelze öffnete eine weitere Tüte Gummibärchen, steckte ein Grünes in den Mund und startete den Motor.

Die Fahrt verlief ohne Zwischenfälle. Nach etwas weniger als einer Stunde bog er links auf den Schotterweg ab. Der Mais ragte zu dieser Zeit nur einige Zentimeter aus dem geeggten Ackerboden. Stelze fuhr durch den kleinen Wald und erreichte den Hof. Vor drei Jahren hatte er das Grundstück mit dem noch vorhandenen Stallgebäude zurückerworben. Als einzigen Erben hatten seine Großeltern ihm einen beträchtlichen Geldbetrag hinterlassen. Wofür er das Geld verwenden würde, war ihm sofort klar. Er wollte sich das zurückholen, was seinen Eltern und ihm genommen worden war. Auf dem elterlichen Hof störte ihn niemand, der erste Nachbar wohnte über einen Kilometer entfernt. Im Ort war er als Eigenbrötler bekannt, es interessierte keinen, was er auf dem abgelegenen Hof machte. Die Bank hatte das zerstörte Wohnhaus abreißen lassen, doch über all die Jahre nie einen potenziellen Käufer für das Grundstück gefunden. Stelze hatte nach dem Erwerb keinerlei Problem gehabt, um eine Baugenehmigung für die Errichtung eines Eigenheimes zu erhalten. Auch bei der Finanzierung kam ihm die Bank entgegen. Vielleicht unterlagen sie ja auch nur einem schlechten Gewissen, weil sie seine Eltern damals nicht unterstützt hatten. Er beauftragte eine Baufirma, die unter Aufsicht eines Architekten ein schlüsselfertiges Wohnhaus nach seinen Wünschen errichtete. Nach dem Einzug investierte Stelze viel Zeit in das Stallgebäude. Auch den Glockenturm, den sein Vater über den stillgelegten Brunnen gebaut hatte, restaurierte er. Der Turm stand rechts neben der Stallung und war der ganze Stolz seines Vaters gewesen. Die Glocke, die unter dem mit Schieferschindeln verkleideten Spitzdach an einer Kette hing, hatte sein Großvater eigenhändig geschmiedet. Stelze wunderte sich, dass in all den Jahren niemand die Glocke entwendet hatte. Anno 1924 stand auf dem unteren Kranz. Stelze imprägnierte die vier Stützen aus Eichenholz neu und trug anschließend eine Lasur auf. Die vierkantigen Balken trugen in etwa drei Meter Höhe das Gebälk, an dem die schwere Glocke hing. Er ersetzte außerdem einige der gemauerten Feldsteine des alten Brunnens. In den Ecken der ein Meter hohen Brüstung waren die Holzständer fest verankert. Stelze wollte das Erbe seines Vaters so lang wie möglich bewahren. Sein eigener Stolz war schon lange gebrochen, doch die Arbeit ließ seine rastlose Seele ruhen. Das Stallgebäude diente jetzt für Dinge, die er tun musste, um nicht in den Strom der Depression zu geraten.

Stelze steuerte den Lieferwagen auf das alte Fachwerkgebäude zu, dann stieg er aus, entriegelte das Schloss und öffnete das zweiflügelige Holztor. Er fuhr den schwarzen Wagen in die Remise. Erst nachdem er das Tor wieder geschlossen hatte, schaltete er das Licht an und stellte den Motor aus. Die großräumige Diele wurde beidseitig von Betonstützen flankiert, die alle durch runde Stahlstangen miteinander verbunden waren. Auf den dahinter befindlichen Spaltplatten hatten damals die Rinder gestanden. Auf der linken hinteren Seite gab es noch ein paar Schweineboxen. Dort hatte sein Vater einige Schweine gehalten, die er selber für den Eigenbedarf geschlachtet hatte. Stelze wandte sich dem massiven Eichenschrank zu, der auf der Stirnseite der Diele stand. Er öffnete eine der mittleren Türen und schob einige kleinere Kartons beiseite. Mit wenigen Handgriffen löste er ein Teil der Schrankwand. Dahinter verborgen befand sich ein Schaltkasten mit diversen Sicherungen und einem rot leuchtenden Knopf. Stelze drückte auf den runden Schalter, woraufhin es unter dem Dielenboden zu summen anfing. Wie von Geisterhand hob sich mitten in der Diele ein etwa ein mal zwei Meter großes Feld der roten Klinkerpflasterung. Stelze ging auf das sich öffnende Loch zu und beobachtete, wie ein großer Hydraulikzylinder die schwere Stahlkonstruktion mit den Steinen schräg in die Höhe hob. Diese Vorrichtung zu bauen hatte ihn viel Zeit und Mühe gekostet. Sein Verständnis für Technik und sein in die Wiege gelegtes handwerkliches Geschick, führten letztendlich zum Erfolg. Nach der Fertigstellung verspürte er einen Anflug von Stolz. Der Hydraulikmotor verstummte, als die massive Klappe ihre Endposition erreicht hatte. Eine verzinkte Metalltreppe führte in den verborgenen Keller. Stelze ging die Treppe nach unten und gelangte in den Vorkeller, wo zwei Holztüren abzweigten. An den Wänden standen Regale mit unterschiedlichsten Dingen, wie Töpfe, Einmachgläser, Holzkisten und diverse Werkzeuge. Geradeaus vor dem Treppenabsatz befand sich ein Regal mit großen Pappkartons, die die Wand fast vollständig verdeckten. Stelze schob das Regal beiseite, woraufhin eine dritte Tür zum Vorschein kam. Eine verzinkte Stahltür. Stelze öffnete sie. Ein großer heller Raum tat sich vor seinen Augen auf.

Stelze ging wieder nach oben und montierte die falschen Nummernschilder ab, erst dann öffnete er die Heckklappe des Transporters. Ein süßlicher Geruch schlug ihm entgegen, der sich aber schnell verflüchtigen würde. Stelze stellte die Umzugskartons an die Seite und widmete sich anschließend der Frau. Er trug sie, noch mit der Decke verhüllt, die Treppe herunter. In der Mitte des weiß gekachelten Raumes stand ein imposanter Tisch, der komplett aus Edelstahl bestand. Dort legte er die immer noch betäubte Frau ab. Stelze fühlte nach ihrem Puls. Sie würde seiner Meinung nach noch für einige Zeit ohne Bewusstsein bleiben. Er ging in Seelenruhe zum Schaltkasten und betätigte einige Knöpfe, woraufhin oben in der Diele das Licht erlosch und die schwere Klappe sich senkte. Unten erhellten Leuchtstoffröhren den sterilen Raum. Es standen einige Regale mit technischen Geräten und sonderbaren Werkzeugen vor den gefliesten Wänden, sowie ein verschlossener Schrank und ein Keramikwaschbecken. Gegenüber der verzinkten Stahltür befanden sich zwei weiß lackierte Türen. Dahinter verborgen lagen weitere Räume, die Stelze für seine Zwecke umgestaltet hatte. Aus dem einen Raum hatte damals eine Holztreppe nach oben geführt. Die Treppe hatte er rausgerissen und die Türöffnung zugemauert. Der andere Raum wurde damals als Lager für Fleisch und Eingemachtes genutzt. In dem großen Keller hatten sein Vater und Großvater früher selber geschlachtet, die Schweine zerlegt, und das Fleisch zubereitet. Jetzt nutzte er die Räumlichkeiten, um seinen krankhaften Zwang zu stillen. Stelze ging in den ehemaligen Lagerraum.

Als er wenige Minuten später zurückkam, trug er grüne Operationskleidung und eine schwarze Latexmaske. Die Maske schmiegte sich an seinen Kopf wie eine zweite Haut. Nur Mund, Nasenlöcher und Augen waren durch passgenaue Öffnungen sichtbar. Zielstrebig, mit starrem Blick, schritt Stelze auf den Tisch zu. Er zog der bewusstlosen Frau das Oberteil aus und positionierte den schlaffen Körper mit abgespreizten Armen und Beinen. Er öffnete zwei Klappen am Fußende des Tisches und zog aus jeder Öffnung eine Schlaufe. Er legte die Fesseln um die Fußknöchel und spannte das Seil, das unter der Edelstahlplatte befestigt war. Seitlich des Tisches verbargen sich zwei weitere Schlingen, die er um die Unterarme der Frau legte. Zufrieden drehte Stelze sich ab und holte einen Rollcontainer mit drei Schubladen zum Opferaltar, wie er seinen Edelstahltisch gerne nannte. Dann setzte er sich auf einen runden Hocker und wartete.

Etwa eine viertel Stunde später regte sich die junge Frau, indem sie zaghaft an den Fesseln zog. Sie blickte zur Seite, sah den Mann mit der schwarzen Maske und begann zu schreien, dabei zerrte sie ruckartig an den festgezurrten Schlaufen. Stelze legte den linken Zeigefinger vor seine Lippen, die sich rot schimmernd von der Maske abhoben. Da sich die Frau nicht beruhigte, hielt er ihr mit der anderen Hand den Mund zu. Nur langsam schien sie ihre ausweglose Situation zu erkennen. Ihre angsterfüllten Schreie verstummten. Stelze stand auf und ging zu der Spüle. Oberhalb des Waschbeckens hing ein gläserner Schrank. Er nahm eine Ampulle heraus und zog den Inhalt in eine Spritze auf. Zurück am Opferaltar umfasste er den Unterarm der blonden Frau, fixierte eine hervorgetretene Vene und führte die Nadel mit ruhiger Hand ein. Als er das Serum in ihre Ader drückte, versuchte die junge Frau, sich aufzurichten, was die Fesseln jedoch schmerzhaft verhinderten. Sie sah ihrem Widersacher mit entsetzlich weit aufgerissenen Augen an. In ihrer Panik brachte sie kein Wort über die Lippen. Erst als der maskierte Mann die obere Containerschublade öffnete und ein Skalpell, sowie eine kleine, leicht gebogene Säge auf die Ablage legte, fing sie wieder an zu schreien.

2015

Ich mochte Weihnachtsmärkte. Das Aroma von gebrannten Mandeln, den Geruch vom Glühwein in der Luft, die festliche Beleuchtung und die staunenden Kinder, die ihre Eltern von einem Stand zum anderen zogen. Ich war alleine unterwegs, auf der Suche nach einem Geschenk für meine Frau. Wie immer hatte ich keine Idee, wartete darauf, dass der Groschen beim Durchstreifen der Stadt und des Marktes fiel. Bislang blieb die Erleuchtung aus. Der Abend war bereits hereingebrochen, es wurde bitterkalt. Lust verspürte ich keine mehr, weil mein Stumpf unter der Prothese zu jucken begann. Das war bei Kälte nichts Ungewöhnliches, doch recht unangenehm. Ich beschloss, nach Hause zu fahren. Um den Weg zu meinem Auto abzukürzen, ging ich durch eine schmale Einkaufsgasse. Alte Gebäude flankierten die Einbahnstraße aus Kopfsteinpflaster. Nur wenige Schaufenster wiesen auf ein Geschäft hin. Kurz bevor die Straße endete, stieß ich auf einen Antiquitätenladen. Im Schaufenster standen zwei kleine Kommoden und diverse Lampen. Eine Nachttischlampe! Der Groschen war gefallen. Anja beschwerte sich ständig über ihre moderne Lampe am Bett. Den weit ausschweifenden Leuchtmittelträger hatte sie schon einige Male versehentlich zu Boden befördert. Außerdem konnte sie sich für alte Sachen begeistern, sie ließ keinen Flohmarkt in unserer Nähe aus. Eine antike Lampe hatte sie meines Erachtens nach nie erworben. Vor der massiven Eingangstür befanden sich zwei Stufen. Ich setzte den Gehstock auf die erste Schwelle und ließ mein künstliches Bein folgen. Eigentlich benötigte ich den Stock nicht, doch er vermittelte mir in gewisser Weise Sicherheit. Ich drückte die Klinke nach unten und schob die schwere Tür auf. Über meinem Kopf erklang ein Glockenspiel. Ich schloss die Tür hinter mir, woraufhin es erneut anfing zu Bimmeln. Es roch in dem Laden irgendwie muffig, was an den Teppichen liegen konnte, die in verschiedensten Farben und Formen den Boden bedeckten. Nur an wenigen Stellen lugten alte Bodendielen hervor. Durch eine Nebentür betrat ein älterer Mann den Raum, wahrscheinlich vom Glockengeläut aufgeschreckt, denn er sah aus, als habe er gerade ein Nickerchen gehalten. Die gräulichen Haare standen wirr vom Kopf ab und er versuchte, sie mit den Händen zu glätten, als er auf mich zuging. Er setzte eine Brille auf, die an einem Lederband um seinen Hals hing.

„Wie kann ich Ihnen behilflich sein“, fragte er mich, wobei er mit den Fingern über seinen gepflegten Schnauzbart wischte.

„Mir sind die Lampen im Schaufenster aufgefallen, die ich mir gerne näher ansehen möchte“, erwiderte ich.

„Sehr gerne. Ich hole sie, dann können Sie sie sich in aller Ruhe anschauen. Es sind wirklich ein paar schöne Stücke dabei. Wenn Sie weiter nach rechts gehen, finden Sie auf der großen Kommode noch weitere Lampen“, meinte der Verkäufer und verschwand durch eine Luke im Schaufensterbereich.

Ich folgte seiner Anweisung und wandte mich nach rechts. Nur wenige Schritte weiter stand ich vor besagter Kommode, die aus dunkel gebeiztem Holz geschreinert worden war. Zwei Nachttischlampen standen auf dem Schränkchen, die mir beide nicht wirklich zusagten. Mein Augenmerk richtete sich viel mehr auf den Wecker, der ganz Linksaußen stand. Die Faszination, die von dem antiken Glockenwecker ausging, nahm mich gleich gefangen. Das Gehäuse bestand aus mattem Messing. Die beiden ebenfalls aus Messing gefertigten Glocken hingegen glänzten im Licht der nebenstehenden Lampe. Beide Glocken waren mit einem Bügel verbunden. Das beigefarbene Zifferblatt hatte einen arabischen Zifferring mit dunklen Minutenstrichen. Der Stunden - und Minutenzeiger schienen aus Kupfer geformt zu sein, während der schlanke Sekundenzeiger wiederum aus Messing gefertigt war. Das hammerförmige Schlagwerk ruhte zwischen den Glocken und hatte auf deren Innenseite punktuelle Spuren hinterlassen. Das Glas des Weckers wies einige Kratzer auf. Vorne stützten zwei kleine abgespreizte Beine den Wecker ab, hinten ruhte der runde Korpus auf der Kommode. Die nostalgische Uhr schien eine magische Ausstrahlung zu haben. Ich konnte meinen Blick nicht abwenden. Je länger ich ihn ansah, umso mehr hatte ich das Gefühl, dass mit dem Wecker etwas nicht stimmte. Etwas war anders, nur erkannte ich es nicht auf Anhieb. Ähnlich, wie wenn man vier gleiche Bilder vor sich hat und bei einem ist ein Fehler versteckt. Oftmals findet man ihn erst nach minutenlangem Hinsehen. Dann, wenn man den Unterschied entdeckt hat, ist er so offensichtlich, dass man sich wundert, warum man es nicht gleich erkannt hat. So in etwa ging es mir mit dem antiken Wecker, doch dann fiel wieder der berühmte Groschen, der mich in das Geschäft geführt hatte. Der Sekundenzeiger barg den Fehler in sich. Wahrscheinlich auch die beiden anderen Zeiger, nur konnte man das in der kurzen Zeitspanne nicht erkennen. Der Sekundenzeiger lief eindeutig rückwärts. Ich wollte gerade nach dem Wecker greifen, als der Verkäufer auf mich zukam. Im Arm trug er drei Lampen.

„Der Wecker ist nur Dekoration! Möchten Sie sich jetzt die Lampen ansehen?“

Er stellte die Lampen auf einen Tisch, der links von der Kommode stand. Ich sah mir alle drei genau an. Eine, mit aus gedrechseltem Eichenholz bestehender Säule, fand ich sehr schön. Der Schirm war aus hauchdünnem Schweinsleder, fein mit geschwungenen Mustern bestickt. Eine goldfarbene Kordel rundete den oberen und unteren Rand ab.

„Was wollen Sie für diese Lampe haben?“, fragte ich.

„180 Euro!“

„Ist das nicht ein wenig happig?“

„Echte Handarbeit, etwa fünfzig Jahre alt, unter dem kann ich sie nicht herausgeben“, beschwor der Verkäufer, der nun hellwach zu sein schien.

„Was ist, wenn ich den Wecker dazu nehme, können Sie mir dann mit dem Preis entgegenkommen?“, wollte ich wissen.

„Wie bereits gesagt, der Wecker ist eigentlich nur Dekoration und nicht zu verkaufen! Warum interessieren Sie sich für den Wecker?

„Ich finde ihn ausgesprochen schön, würde gut zur Lampe passen.“

„Das ist alles, Sie finden ihn nur schön? Das glaube ich Ihnen nicht. Meinen Sie nicht, der Wecker ist etwas Besonderes? Ihre Augen, wie Sie ihn ansehen, sagen mir, dass Sie es wissen. Ich glaube sogar, der Wecker hat Ihnen schon einmal gehört, wenn auch nur für kurze Zeit. Ich glaube, Sie haben ihn mir vor die Tür gelegt und wollen ihn nun zurückhaben“, schloss der Antiquitätenhändler und sah mich mit fragendem Blick an.

Der Mann wurde mir langsam unheimlich.

„Ich habe noch nie solch einen Wecker besessen, ganz zu schweigen davon, dass ich ihn vor Ihrer Tür abgelegt haben soll. Wann soll denn das gewesen sein und wie kommen Sie überhaupt auf diese absurde Behauptung?“