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Das Mittelalter – eine tausend Jahre dauernde Ära nur für Männer? Ja und nein. Ideal waren diese Zeiten nicht gerade für Frauen. Zumindest nicht für jene, die mehr wollten, als treusorgend in Haus und Hof zu wirken oder sich widerspruchslos und vor allem schweigsam hinter Klostermauern zurückzuziehen. Und doch gab es sie: Herrscherinnen, die höchst aktiv in der Politik mitmischten, Dichterinnen und Philosophinnen, die das Schreiben keineswegs allein den Männern überließen. Mystikerinnen, die mit ihren ekstatischen religiösen Visionen weit über die Grenze ihres Klosters hinaus bekannt wurden. Von ihnen erzählt dieses Buch. Von Brunichild und Fredegunde aus dem frühen Mittelalter und ihrer erbitterten Rivalität. Von der großen skandinavischen Herrscherin Margarethe, von Christine de Pizan und ihrem »Buch von der Stadt der Frauen«. Und von zahlreichen anderen. Sie alle werden in einzelnen Porträts dargestellt, so dass sich am Ende ein anschauliches Bild weiblicher Lebensläufe aus den 1000 Jahren ergibt, die wir heute als das »mittlere Alter« zusammenfassen.
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Seitenzahl: 206
Anja Stiller
Weibsbilder – Außergewöhnliche Frauen des Mittelalters
1. Auflage 2023
© 2023 Regionalia Verlag,
ein Imprint der Kraterleuchten GmbH,
Gartenstraße 3, 54550 Daun
Verlagsleitung: Sven Nieder
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Bruno Hof
Korrektorat: Tim Becker
Titelbild:
Bartolomeo Veneto – »Portrait of a Young Lady, once thought to be Lucrezia Borgia (1480–1519)«
Gestaltung, Satz, Umschlag: Björn Pollmeyer
ISBN E-Book: 978-3-95540-511-3
ISBN Hardcover: 978-3-95540-338-6
www.regionalia-verlag.de
Vorwort
Das Mittelalter – ein Überblick
Früh-, Hoch- und Spätmittelalter: die Binneneinteilung
Das Frühmittelalter
Das Hochmittelalter
Das Spätmittelalter
Das Ende des Mittelalters
Die Frau im Mittelalter
Oberste Autorität: die Bibel
Von Natur aus überlegen: die 4-Säfte-Lehre
Die rechtliche Stellung der Frau
Und was ist mit der Minne?
Die Ausbildung junger (adeliger) Mädchen
Die Frau und die Stadt
Bekannte Frauen aus dem Mittelalter
Frauen in der Politik
Brunichild und Fredegunde
Bertrada
Theophanu
Eleonore von Aquitanien
Margarethe von Norwegen
Isabella von Kastilien
Fromme Frauen
Die Beginen
Radegunde – von der Königin zur Heiligen
Die Universalgelehrte: Hildegard von Bingen
Marguerite Porete
Katharina von Siena
Gar nicht fromm: Anna Laminit
Das Bauernmädchen und der Krieg: Jeanne d‘Arc
Dichterinnen des Mittelalters
Die Allererste: Roswitha von Gandersheim
Christine de Pizan
Berühmte Liebespaare
Das Skandalpaar von Paris – Abaelard und Heloïse
Agnes Bernauer
Lucrezia Borgia
Anhang
Weiterführende Literatur
Romane, Filme und mehr
Personenverzeichnis
Abbildungsnachweis
Die Autorin
Der Mann muß hinaus
Ins feindliche Leben,
Muß wirken und streben
(…)
Muß wetten und wagen,
Das Glück zu erjagen.
(…)
Und drinnen waltet
Die züchtige Hausfrau,
Die Mutter der Kinder,
Und herrschet weise
Im häuslichen Kreise.
Diese Gedichtzeilen stammen zwar nicht aus dem Mittelalter, sondern aus dem späten 18. Jahrhundert, genau genommen aus Friedrich Schillers »Lied von der Glocke«. Aber sie spiegeln wider, wie wir uns die typische Rollenverteilung zwischen Mann und Frau im Mittelalter beziehungsweise in der gesamten voremanzipatorischen Ära normalerweise vorstellen: Er fährt die Erfolge ein, sie hütet Heim und Herd. Eigentlich ist es ein biedermeierliches Bild, und wem es gefällt, der beziehungsweise eher die kann natürlich auch heute noch danach leben. Einen Haushalt samt Kindern in Schuss zu halten, ist alles andere als bequem, sondern bedeutet im Gegenteil viel Arbeit. Auch als Modell der Arbeitsteilung funktioniert die Zuordnung »Mann draußen – Frau drinnen« oft gar nicht schlecht. Man kann sich natürlich fragen, ob es für Frauen erfüllend ist, auf einen Beruf zu verzichten, aber das muss jede für sich beantworten. Nur eines erlangt eine Frau auf diese Weise definitiv nicht: Bekanntheit.
Kein Mensch, egal ob Mann oder Frau, hat es jemals mit Wäschewaschen und Fußbodenputzen in die Geschichtsbücher geschafft. Dafür muss man tatsächlich ins »feindliche Leben« gehen, und sei es auch, wie Friedrich Schiller selber, vom heimischen Schreibtisch aus.
Und betrachtet man die Geschichte, so wird schnell deutlich, dass es tatsächlich vor allem die Männer waren, die »gewettet und gewagt« haben, Geschichtsschreibung, erst recht die des Mittelalters, handelt in der Mehrheit von den Taten, den (Kunst)Werken, den mal mehr, mal weniger großen Gedanken der Männer.
Und die Frauen? Insgesamt wird dem Mittelalter eine ausgeprägte Misogynie, also Frauenfeindlichkeit bescheinigt. Und tatsächlich war das Frauenbild in vieler Hinsicht alles andere als gut, die Möglichkeiten einer Frau, »hinaus ins feindliche Leben« zu gehen, stark begrenzt. Und doch gab es sie, Frauen, die von sich reden gemacht haben, die der Nachwelt in Erinnerung geblieben sind.
Ihnen widmet sich dieses Buch in – je nach der Fülle an überliefertem Material – kurzen oder längeren Einzelporträts. Es zeigt sich dabei, dass es bestimmte Wirkungsräume sind, in denen wir die Frauen häufig antreffen, und dass ihnen andere Bereiche des öffentlichen Lebens nahezu völlig verschlossen blieben. Allerdings darf man sich die wenigsten von ihnen als »Frauenrechtlerinnen des Mittelalters« vorstellen, ein Hinterfragen der eigenen Geschlechteridentität dürfte es kaum gegeben haben. Insofern begehrten die wenigsten bewusst gegen die ihnen zugedachte Rolle auf, sie blieben bei allem, was sie geleistet haben, innerhalb des gesellschaftlich gesteckten Rahmens.
Bei dieser Gelegenheit noch eine Bemerkung zur »Frauenfeindlichkeit«: Mit diesem Begriff verbinden wir heute in der Regel die fehlende Möglichkeit für Frauen, ein Leben nach den eigenen Wünschen und Vorstellungen zu führen. Sich für oder gegen eine Ehe, für oder gegen einen Beruf zu entscheiden, in der Berufswahl freie Hand zu haben. Meist schwingt auch die fehlende Möglichkeit zur »Selbstverwirklichung« mit. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet waren aber die Männer im Mittelalter nicht weniger in Rollenbildern gefangen. Herkunft, sozialer Stand und nicht zuletzt die Erwartungen der Gesellschaft zwangen auch Männer in ein Leben, das ihnen wenig Möglichkeit zur individuellen Entfaltung ließ. Ohnehin ist dieser Wunsch eine Errungenschaft unserer Zeit, das Mittelalter kannte das Bedürfnis nach »Selbstverwirklichung« nicht, weder für Männer noch für Frauen.
Und zum Schluss noch eine Anmerkung zum Vollständigkeitsanspruch dieses Buches in Sachen Frauenforschung des Mittelalters: Es gibt keinen! Die Wissenschaft fördert ständig neue Erkenntnisse in diesem Bereich zutage. Außerdem gestalten sich je nach Region die rechtlichen Voraussetzungen für Frauen etwas anders. Ohnehin darf man nicht vergessen, dass das Mittelalter fast 1000 Jahre umfasst. Das ist ein zu langer Zeitraum, um von dem einen, statischen Rollenbild auszugehen. Natürlich änderte sich in diesen 1000 Jahren vieles, zum Guten wie auch zum Schlechten.
In diesem Buch möchte ich exemplarisch von Frauen und ihren Schicksalen erzählen. Es sind Geschichten über mutige Frauen, es sind traurige Lebenswege genauso wie aufregende. Im Großen und Ganzen aber sind es Einzelschicksale. »Die« Frau des Mittelalters gab es so wenig, wie es »die« Frau unserer Gegenwart gibt. Es gibt gewisse Konstanten, die für die 1000 Jahre vom Ende der Spätantike bis zum Beginn der Neuzeit prägend sind. Allzu pauschale Verallgemeinerungen sollte man jedoch nicht vornehmen, vor allem nicht, wenn man bedenkt, dass Wissenschaft ein lebendiges Unterfangen ist und ständig neue Erkenntnisse das Bild vervollständigen.
Und nun wünsche ich viel Spaß beim Ergründen weiblicher Lebenswege im Mittelalter.
Anja Stiller
Salzburg, im Herbst 2022
Bevor wir uns daranmachen, das ganze Ausmaß an Misogynie im Mittelalter zu zeigen, soll hier zunächst einmal die Zeitspanne skizziert werden, in der wir uns bewegen, wenn wir so pauschal von »dem« Mittelalter sprechen. Denn es sind immerhin 1000 Jahre, und in denen hat sich die Gesellschaft natürlich entwickelt.
Zwischen dem Ende der Antike (dem 6. Jahrhundert) und dem Beginn der Neuzeit (15./16. Jahrhundert) liegt das »medium aevum« (= mittleres Zeitalter), das Mittelalter.
Den zeitlichen Einschnitt markiert das Jahr 476 n. Chr.: Das weströmische Reich geht unter, das Byzantinische Reich im Osten bleibt dagegen erhalten. Innerhalb des alten Westreichs bilden sich neue Gebiete wie etwa das Frankenreich, das Westgotenreich (iberische Halbinsel) und die Reiche der Angelsachsen. Außerhalb diejenigen der Slawen in Ost- und Südosteuropa und die der Skandinavier. In all diesen Gebieten leben zum einen die alteingesessene, bereits romanisierte Bevölkerung und neue, mit der Völkerwanderung eingewanderte Gruppen. Zu letzteren zählten unter anderem die germanischen Stämme. Das bedeutet auch, dass ein Teil dieser neuen Reiche, der antike Kernraum, bereits christianisiert ist, die anderen dagegen erst im Laufe der Zeit zum Christentum »bekehrt« werden. Dem Gedanken christlicher Nächstenliebe entspricht dieser Prozess bekanntermaßen nicht immer.
Die 1000 Jahre, die das Mittelalter ausmachen, sind, wie nahezu alle historischen Epochen, gekennzeichnet von einer Vielzahl an Kriegen. Die Machtverhältnisse und damit die gegenseitigen Abhängigkeiten wechseln, Territorien verändern sich, werden kleiner oder größer, auch die Gesellschaft durchläuft einen Wandel, der noch dazu von Region zu Region etwas variiert. Insofern kann der folgende Abschnitt nur einen groben Überblick geben und dazu dienen, die Porträts der Frauen ein bisschen besser in ihr zeitliches Umfeld einzuordnen.
Vorherrschende Wirtschaftsform des Mittelalters ist der Feudalismus, die Gesellschaft ist nach Ständen geordnet, und über allem steht als Grundprinzip das Christentum. Man spricht hier auch von einem »christozentrischen« Weltbild, also einem weltanschaulichen Modell, das die christliche Lehre in den Mittelpunkt allen Denkens stellt. Wissenschaft, Literatur, Architektur, Kunst und Kultur, alles steht in deren Zeichen, die Bildungssprache ist das Lateinische. Diesem Weltbild entsprechend sehen die Menschen des Mittelalters ihre Zeit allerdings nicht als zwischen den Epochen liegende, also »mittlere« Zeit. Sondern man empfindet sich gegenüber allen anderen Zeitaltern, insbesondere der Antike, als heilsgeschichtlich überlegen, als »aetas christiana« (= christliches Zeitalter).
Das Kreuz als Symbol prägt das gesamte Mittelalter. Hier: Gabelkreuz St. Maria im Kapitol, Köln 1304 - wikimedia commons, cc by-sa 3.0 Hans Peter Schaefer
Die Bezeichnung als »medium aevum« wurde erst im 14. Jahrhundert von den Humanisten Italiens geprägt. Die nun folgenden zwei Jahrhunderte versteht man hier, in Italien, dementsprechend als »Wiedergeburt«, als »Renaissance«: Das christozentrische Weltverständnis verliert an Bedeutung, man besinnt sich wieder der griechisch-römischen Antike. Nun bekommt die »mittlere Zeit« auch ihren Beinamen »aetas obscura« (dunkles Zeitalter), der sich bis heute als »finsteres« Mittelalter erhalten hat. Ob zu Recht oder nicht, darüber herrscht nach wie vor keine Einigkeit. Das Mittelalter hat eigene Leistungen hervorgebracht, deren Bedeutung man nicht kleinhalten sollte. Und inzwischen erfreut sich diese Epoche wieder ausgesprochener Beliebtheit. Folkloristische Mittelaltermärkte genauso wie eine Fülle an zwar meist historisch eher inkorrekter, aber vielgelesener Unterhaltungsliteratur sind nach wie vor populär. Und der Umstand, dass im Jahr 1986 Agent OO7 alias Sean Connery höchstpersönlich in einem dunklen Kloster in den Alpen detektivische Arbeit leistet, hat der Popularität dieser »finsteren« Epoche definitiv auch nicht geschadet.
Das Frühmittelalter wird vom 6. bis zum Anfang/Mitte des 11. Jahrhunderts datiert. Es schließt die Epochen der Merowinger, der Karolinger und der Ottonen ein. Als Bindeglied zwischen Antike und Mittelalter gilt dabei die Völkerwanderung. Deren Ende markiert der Einfall der Langobarden in Italien im Jahr 568. Europa und der Mittelmeerraum trennen sich von nun an in einen islamischen und einen christlichen Teil, und dieser christliche selber gliedert sich wiederum in einen lateinischen und einen orthodoxen Kulturkreis (letzterer umfasst den byzantinischen Raum). Wo die Bevölkerung nicht schon christianisiert ist, wird das nun im Laufe der Zeit nachgeholt, wenn nötig (und es war oft nötig), mit Gewalt. Etwa um das Jahr 500 tritt der Frankenkönig Chlodwig I. mit seinem gesamten Adel zum katholischen Christentum über. Unter den Merowingern entwickelt sich das Frankenreich, das schließlich eine Vorherrschaftsstellung in West- und Mitteleuropa einnimmt. Vom 7. bis zum 10. Jahrhundert sind es die Karolinger, die die fränkischen Könige stellen. Höhepunkt dieser Entwicklung ist die Krönung Karls des Großen an Weihnachten des Jahres 800 zum Kaiser. Nach Karls Tod im Jahr 814 zerfällt das Frankenreich jedoch wieder. Aus der westlichen Hälfte entsteht das spätere Frankreich, aus der Osthälfte das Ostfrankenreich und daraus schließlich im Hochmittelalter das Heilige Römische Reich. Gegen Ende des Frühmittelalters (ca. 800 bis 1050) haben die skandinavischen Wikinger ihren großen Auftritt. Unter ihnen leidet vor allem die Bevölkerung der britischen Inseln und des heutigen Frankreichs.
Das späte Mittelalter, auch als »Herbst des Mittelalters« bezeichnet, dauert ungefähr von 1250 bis ca. 1500. Es ist die Zeit der Häuser Luxemburg, Habsburg und Wittelsbach. Der Übergang zur frühen Neuzeit gestaltet sich dabei allerdings als fließend. Martin Luther (1483–1546) etwa markiert mit dem Anschlag seiner 95 Thesen im Jahr 1517 zwar den Beginn der Neuzeit. Er selber ist allerdings zutiefst dem mittelalterlichen Denken verhaftet. Was heute gerne übersehen wird: Der ehemalige Augustinermönch Luther will ursprünglich nichts anderes als die katholische Kirche von innen heraus reformieren. Es hat ursprünglich nie zu seinem Plan gehört, eine neue Konfession zu begründen (die spätere evangelische Kirche), die für viele als nahezu symbolisch für die Neuzeit gilt.
In Italien wird der Beginn der Frührenaissance vielfach bereits im 14. Jahrhundert gesehen, einer Zeit, als nördlich der Alpen noch in jeder Hinsicht vom Spätmittelalter gesprochen werden muss.
In diese letzte Phase des Mittelalters fallen einige gravierende Einschnitte. Zu ihnen gehören unter anderem Hungersnöte – die größte zwischen 1315 und 1317 – und die Pest, die von 1347 bis 1353 wütete. Beide, Hungersnöte und Schwarzer Tod, reduzieren die Bevölkerung Europas etwa um die Hälfte. Damit verbunden ist eine Änderung der bisherigen sozialen Strukturen: Das Rittertum verliert an Bedeutung, das Bürgertum (der Städte) gewinnt. Soziale Unruhen und Bürgerkriege prägen das Geschehen im Gebiet des heutigen Englands und Frankreichs. Die Jahre von 1337 bis 1453 sind gezeichnet durch den Hundertjährigen Krieg, bei dem die englischen Könige ihren Anspruch auf den französischen Thron geltend machen wollen.
Am Ende der Kreuzzüge (ca. 1291) ist das Byzantinische Reich zu einer Regionalmacht herabgesunken. Dagegen gewinnt das Christentum auf der iberischen Halbinsel ab dem Jahr 1212 immer mehr an Bedeutung. Infolge dieser »Reconquista« (der Rückeroberung der von Mauren besetzten Gebiete der iberischen Halbinsel durch die Christen) entstehen die nun christlichen Königreiche Spanien und Portugal. Die Macht der Könige nimmt immer weiter ab im Heiligen Römischen Reich, die der zahlreichen weltlichen und geistlichen Landesherren erstarkt dagegen.
Kleine und große Städte
Wenn wir im Mittelalter von einer Stadt sprechen, dann haben wir dabei andere Dimensionen vor Augen als heute: Eine kleine Stadt umfasst in dieser Zeit etwa 2500 Einwohner (nach gegenwärtigen Maßstäben wäre das gerade mal ein durchschnittlich großes Dorf). Bedeutendere Städte zählen schon 20.000 Einwohner. In den heutigen Millionenstädten wie London oder Neapel wohnen im Mittelalter immerhin schon 50.000 Menschen. Zu den Metropolen des Mittelalters mit 100.000 Einwohnern gehören Paris, Venedig oder Mailand.
Die Kreuzzüge, so kritisch man sie aus heutiger Sicht auch beurteilen kann, erweitern den Blick des heutigen Europas: Denn auf diese Weise kommt man in Kontakt mit Byzanz (dem heutigen Istanbul). Und diese Stadt ist so eine Art Markt, auf dem es alles gibt. Vor allem all das, was im Europa des Mittelalters bis dahin unbekannt war: Seide, fremdländische Gewürze, Spiegel … Damit aber entwickeln sich der Fernhandel und die Geldwirtschaft immer weiter. Es bilden sich nun die ersten Handelskompanien, einzelne Financiers wie die Familien der Fugger in Augsburg oder der Medici in Florenz unterstützen sogar Kriege der Herrschenden mit ihrem Geld, das reiche Bürgertum gewinnt zunehmend an Macht und damit auch an politischem Einfluss. Aber nicht nur Import fremder Güter findet nun statt, es werden auch eigene Waren exportiert: Korn, Flachs, Wolle, Salz … Handelsflotten entstehen, Städte wie Venedig und Genua profitieren ungemein von dem regen Ost-West-Handel. Hinzu kommen neue Fertigungsmethoden für Stoffe oder Metalle. Die Händler schließen sich zu Interessensverbänden zusammen, sie vereinbaren Preise für Waren, sichern aber auch die Transporte. Der wohl bekannteste Verband dieser Art ist die im Jahr 1254 gegründete Hanse. Entlang der entstehenden Handelswege gründen sich neue Städte.
» Stadtluft macht frei …«
… und zwar »nach Jahr und Tag« (der Zeitraum eines Jahres) – so lautet ein Rechtsgrundsatz ab dem 11. Jahrhundert. Das heißt, dass ein entlaufener Unfreier, der es schafft, für diesen Zeitraum in einer Stadt zu leben, ohne von seinem Dienstherrn gefunden zu werden, danach ein freier Stadtbewohner wird.
Tatsächliche Freiheit bedeutet das allerdings keineswegs in jedem Fall. Denn das Bürgerrecht muss man sich, sofern man es nicht erbt, gegen Gebühr erkaufen. Für viele bedeutet dieser Umstand keineswegs die erträumte Freiheit, sondern eine Anstellung als Dienstbote, Knecht oder Magd – nun eben in der Stadt.
Einen großen Aufschwung erhält auch das Universitätswesen. Ins 13. Jahrhundert fallen unter anderem die Gründungen der Universitäten von Bologna, Padua, Paris, Oxford und Cambridge. Es gehört sozusagen zum guten Ton, große Gelehrte und Studenten an die Universitäten zu locken und damit das Ansehen der Stadt zu steigern.
Unbedingt erwähnt werden muss außerdem das sogenannte Große Abendländische Schisma während der Jahre von 1378 bis 1417. Bereits seit dem frühen 14. Jahrhundert war das Papsttum immer mehr unter den Einfluss der französischen Krone gekommen, bis endlich im Jahr 1309 der Sitz des Papstes von Rom nach Avignon verlegt wird. Im Jahr 1376 geht schließlich Papst Gregor XI. (1329–1378) wieder zurück nach Rom. Sein Nachfolger Urban VI. (1318–1389) erweitert das bisher 16-köpfige Kardinalskollegium (dem fast nur Franzosen angehören) um 29 weitere Kardinäle. Damit aber ist die alte, französisch dominierte Garde gar nicht einverstanden, sie wählen den Franzosen Clemens VII. (1342–1394) zum Gegenpapst. Das Schisma ist vollzogen.
Der Papstpalast in Avignon - wikimedia commons, cc by-sa 2.0 Chimigi
Auch von politischer Seite wird fleißig Partei ergriffen, Frankreich und Schottland unterstützen den Papst in Avignon, England und Rom den in Italien. Ein erster Versuch, der Misere beizukommen, scheitert im Jahr 1409 beim Konzil in Pisa: Die beiden Nachfolger Gregor XII. (Rom) und Benedikt XIII. (Avignon) werden für abgesetzt erklärt. Neuer Papst sei ab jetzt Alexander V. (1340–1410). Nur akzeptieren weder der eine noch der andere ihre Amtsenthebung. Mit dem Resultat, dass es ab jetzt sogar drei Päpste in der katholischen Kirche gibt. Erst beim Konzil von Konstanz (1414–1418) und hier durch die Vermittlung Kaiser Sigismunds kann der Konflikt wirklich beigelegt werden. Einziger Sitz des Papstes ist nach gutem altem Brauch wieder Rom, einziger Papst der Italiener Martin V. (1368–1431, mit bürgerlichem Namen Oddo di Colonna). Damit endet am 11. November 1417 das Schisma.
Aber … Die innerkirchliche Spaltung ist zwar beigelegt, durch die zahlreichen Differenzen ist jedoch ein Fundament geschaffen für Kritik an der Catholica und damit auch der Grundstein gelegt für Reformbestrebungen.
John Wyclif
Jan Hus (Zeichnung von Johann Acricola, 1562)
John Wyclif (ca. 1330–1384) in England fordert, als einzige Autorität in kirchlichen Fragen sei die Bibel anzusehen, die er auch ins Englische übersetzt. Zölibat und Ablässe lehnt er ab. Er und seine Anhänger, die Lollarden, nehmen zwar viele der späteren Lehren Luthers vorweg, werden aber unterdrückt. Aufbauend auf den Lehren Wyclifs tritt im Gebiet des heutigen Tschechien Jan (auch Johannes) Hus (1370–1415) in Erscheinung. Seine Anhänger, die Hussiten, haben zwar einigen politischen Einfluss. Dennoch endet Hus, als er sich während des Konzils von Konstanz weigert, seine Lehren zu widerrufen, als Häretiker auf dem Scheiterhaufen.
Martin Luther (Zeichnung von Lucas Cranach d. Ä.)
Und schließlich noch Martin Luther: Seine Zeit zählt nicht mehr zum Spätmittelalter, sondern markiert den Beginn der Neuzeit. Luther führt, so könnte man sagen, das Werk seiner Vorgänger zu Ende: Er gilt als Begründer einer neuen Konfession. Zwar hatte er ursprünglich nichts dergleichen im Sinn, dennoch beenden Luther und die Reformation endgültig die Einheit der Westkirche, die als ein wesentliches Merkmal des Mittelalters gilt.
Schisma oder Kirchenspaltung?
Das Wort »Schisma« leitet sich aus dem Griechischen ab und bedeutet auf Deutsch »Glaubensspaltung«. Nach kanonischem Recht versteht man unter einem Schisma die Aufkündigung der kirchlichen Einheit.
Martin Luther als Schismatiker par excellence? Nein, genau das ist er nicht. Denn, und das ist entscheidend, bei einem Schisma bilden sich nicht gleichzeitig neue theologische Auffassungen oder Glaubensinhalte. Die Trennung vollzieht sich stattdessen innerhalb einer bestehenden etablierten Glaubensgemeinschaft. Im Falle des Reformators und der protestantischen Kirche, die sich im Zuge der Neuerungen entwickelt hat, müsste man dagegen von einer »Kirchenspaltung« sprechen. Denn hier ändert sich auch der institutionelle Rahmen und damit die Kirchenverfassung.
Luther, der Kirchenspalter? Ja, in gewisser Weise durchaus. Aber Diplomatie klingt anders. Deshalb nun noch ein dritter Begriff: Im Fall der Trennung von katholischer und evangelischer Konfession spricht man im Sinne des ökumenischen Dialogs und damit gleichzeitig im Sinne einer friedlichen Koexistenz beider Kirchengemeinschaften inzwischen etwas abgeschwächter von einer »Kirchentrennung«.
Damit sind wir am Ende des Mittelalters angekommen. Da aber historische Epochen erst nachträglich definiert werden, ist man sich in der Forschung nicht vollkommen einig, wann die eine Zeit, das Mittelalter, endet und wann die neue beziehungsweise die »Neuzeit«, wie sie allgemein genannt wird, beginnt. Einmal wird die Erfindung des modernen Buchdrucks im Jahr 1450 als Zeitenwende festgesetzt. In einem anderen Modell ist es die Entdeckung der Neuen Welt durch Christoph Kolumbus im Jahr 1492. Häufig aber ist es die Reformation, deren Beginn man auf das Jahr 1517 datiert, mit der das Mittelalter seinen Abschluss findet. Insgesamt kann man den Wechsel vom mittleren in das neue Zeitalter also auf die Jahre zwischen 1450 und 1517 eingrenzen.
War das Mittelalter eine frauenfeindliche Epoche? Ja, aber nicht nur.
Ja, denn im allgemeinen Frauenbild dieser Epoche finden wir aus heutiger Sicht nicht unbedingt viel Achtung vor dem weiblichen Geschlecht. Nicht nur, weil neueste Forschungen inzwischen ein etwas differenzierteres Rollenbild zeigen.
Insgesamt bleibt es aber bei der Tatsache, dass das Mittelalter den Frauen ihren Platz zuweist, und es ist fraglich, ob Männer den gerne und vor allem, ob sie ihn freiwillig eingenommen hätten.
Wenn für die Menschen des Mittelalters eine Quelle existiert, die maßgeblich über alle wichtigen Fragen Auskunft gibt, dann ist es die Bibel. Was aber, wenn man auch hier unterschiedliche Aussagen findet? Die Schöpfungsgeschichte aus dem Alten Testament ist das beste Beispiel dafür:
» So schuf Gott die Menschen nach seinem Bild, als Gottes Ebenbild schuf er sie und schuf sie als Mann und Frau.« (Gen. 1,27)
Hier ist die Lage recht eindeutig. Mann und Frau sind beide Ebenbilder Gottes und stehen dabei gleichberechtigt nebeneinander. Aber:
» Da nahm Gott, der HERR, Staub von der Erde, formte daraus den Menschen und blies ihm den Lebensatem in die Nase. So wurde der Mensch ein lebendes Wesen.« (Gen.2,7)
» Gott, der HERR; dachte: ›Es ist nicht gut, dass der Mensch so allein ist. Ich will ein Wesen schaffen, das ihm hilft und das zu ihm passt.‹ So formte Gott aus Erde die Tiere des Feldes und die Vögel. Dann brachte er sie zu den Menschen, um zu sehen, wie er jedes einzelne nennen würde; denn so sollten sie heißen. Der Mensch gab den Vögeln ihre Namen, doch unter allen Tieren fand sich keins, das ihm helfen konnte und zu ihm passte. Da versetzte Gott, der HERR, den Menschen in einen tiefen Schlaf, nahm eine seiner Rippen heraus und füllte die Stelle mit Fleisch. Aus der Rippe machte er eine Frau und brachte sie zu dem Menschen. Der freute sich und rief: ›Endlich! Sie ist’s! Eine wie ich! Sie gehört zu mir, denn von mir ist sie genommen.‹ (Gen 2,18–23)
Und schon ist der Sachverhalt nicht mehr ganz so eindeutig. Die Frau ist aus der Rippe des Mannes erschaffen, und zwar einzig zu dem Zweck, ihm zur Seite zu stehen. Diesem Schöpfungsmodell schließt sich auch der Apostel Paulus an: