Weihnachten mit Thomas Mann - Thomas Mann - E-Book

Weihnachten mit Thomas Mann E-Book

Thomas Mann

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Beschreibung

»Denn es ist doch merkwürdig, welche Verklärung die Dinge durch das Weihnachtskerzenlicht erfahren, für Klein und Groß. So ein Spazierstock, eine Frühstückstasse, ein Taschenmesser, oder was es sei, hört auf, Ware zu sein und wird ›Gabe‹, etwas vom Himmel und von der Liebe Kommendes, das einem lieb bleibt durch die Art des Empfangs.« Thomas Mann

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Seitenzahl: 170

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Thomas Mann

Weihnachten mit Thomas Mann

Anthologie

Herausgegeben von Sascha Michel

 

 

 

 

 

 

Inhalt

An Frieda L. Hartenstein

An Heinrich Mann

Weihnachten bei den Buddenbrooks

An Samuel Fischer

An Heinrich Mann

An Heinrich Mann

An Hans von Hülsen

An Richard Dehmel

Tagebücher 1918/19

[1918]

Dienstag den 24. XII. 18.

Mittwoch den 25. XII. 18. 1. Weihnachtstag.

Donnerstag den 26. XII. 18. (Zweiter Weihnachtstag).

[1919]

Mittwoch den 24. XII. Weihnachtsabend.

Donnerstag den 25. XII. 19. 1. Weihnachtst.

Freitag den 26. XII. 2. Weihnachtstag

An Ernst Bertram

An Klaus Pringsheim

Briefe aus Deutschland [II]

Weihnachten auf dem Zauberberg

An Erika Mann

An Hermann Hesse

An Ernst Bertram

Tagebücher 1933–1939

[1933]

Sonntag den 24. XII. 33

Montag den 25. XII. 33.

Dienstag den 26. XII. 33

[1934]

Montag den 24. XII. 34. Weihnachtsabend.

Dienstag den 25. XII. 34. Erster Weihnachtstag.

Mittwoch den 26. XII. 34. Zweiter Weihn. Tag

[1935]

Dienstag den 24. XII. 35. Weihnachtsabend,

Mittwoch den 25. XII. 35. Erster Weihnachtstag.

Donnerstag den 26. XII. 35. Zweiter Weihnachtstag.

[1936]

Donnerstag den 24. XII. 36. Weihnachtsabend

Freitag den 25. XII. 36. Erster Weihnachtstag.

Sonnabend den 26. XII. 36 zweiter Weihnachtstag

[1937]

Freitag den 24. XII. 37. Weihnachtsabend.

Sonnabend den 25. XII. 37. Erster Weihnachtstag.

Sonntag den 26. XII. 37. Zweiter Weihnachtstag.

[1938]

Princeton, Sonnabend den 24. XII. 38

Princeton, Weihnachts-Sonntag den 25. XII. 38

Princeton, Weihnachts-Montag den 26. XII. 38

[1939]

Princeton, Sonntag den 24. XII. Weihnachtsabend

Princeton, Montag den 25. XII. 39. Erster Weihnachtstag.

Princeton, Dienstag den 26. XII. 39. Zweiter Weihnachtstag.

Briefe an Agnes E. Meyer – Tagebücher 1940–1945

[An Agnes E. Meyer]

[Aus dem Tagebuch 1940]

Princeton, Dienstag den 24. XII. 40. Weihnachtsabend

Princeton, Mittwoch den 25. XII. 40. Weihnachtstag

Princeton, Donnerstag den 26. XII. 40

[An Agnes E. Meyer]

[Aus dem Tagebuch 1941]

Pacif. Palisades, Mittwoch den 24, XII. 41. Weihnachtsabend

Pacif. Palisades, Donnerstag den 25. XII. 41. Weihnachtstag

Pacif. Palisades, Freitag den 26. XII. 41

[An Agnes E. Meyer]

[Aus dem Tagebuch 1942]

Pacif. Palisades, Donnerstag den 24. XII. 42

Pacif. Pal. Freitag den 25. XII. 42. Weihnachtstag

Pacif. Palis. Sonnabend den 26. XII. 42

[An Agnes E. Meyer]

[Aus dem Tagebuch 1943]

Pacif. Palis., Freitag den 24. XII. 43/Weihnachtsabend/

Pacif. Palis., Sonnabend den 25. XII. 43/Weihnachtstag/

Pacif. Palis., Sonntag den 26. XII. 43

[Aus dem Tagebuch 1944]

Pacif, Palis., Sonntag den 24. XII. 44. Weihnachtsabend.

Pacif. Palis., Montag den 25. XII. 44. Weihnachtstag.

Pacif. Palis., Dienstag den 26. XII. 44

[An Agnes E. Meyer]

[Aus dem Tagebuch 1945]

Pacif. Palis., Montag den 24. XII. 45

Pacif. Palis., Dienstag den 25. XII. 45. Weihnachtstag

P.P. Mittwoch den 26. XII. 45

Einleitung für die Christmas Book Section der »Chicago Daily News«

[5. Dezember 1945]

Die Entstehung des Doktor Faustus

Tagebücher 1947–1952

[1947]

P.P. Mittwoch den 24. XII. 47. Weihnachtsabend

P.P. Donnerstag den 25. XII. 47, Weihnachtstag

P.P. Freitag den 26. XII. 47

[1948]

P.P. Weihnachtsabend 1948

P.P. Weihnachtstag 1948

P.P. Sonntag den 26. XII. 48

[1949]

P.P. Sonnabend den 24. XII. 49. Weihnachtsabend

P.P. Sonntag den 25. XII. 49. Weihnachtstag

P.P. Montag den 26. XII. 1949

[1950]

P.P. Sonntag den 24. XII. 50

P.P. Montag den 25. XII. Weihnachtstag 1950

P.P. Dienstag den 26. XII. 50

[1951]

P.P. Montag den 24. XII. 51 Weihnachtsabend

P.P. Dienstag den 25. XII. 51 Weihnachtstag.

P.P. Mittwoch den 26. XII. 51

[1952]

Zürich, Mittwoch den 24. XII. 52. Heil. Abend.

Erlenbach, Donnerstag den 25. XII. 52. Weihnachtstag

Erlenbach, Freitag den 26. XII. 52. Zweiter Weihnachtstag

An Agnes E. Meyer

Tagebücher 1953/54

[1953]

Erlenbach, Donnerstag den 24. XII. 53. Weihnachtsabend.

Erlenbach, Freitag den 25. XII. 53. Erster Weihnachtstag

Erlenbach, 26. XII. 53, Sonnabend

[1954]

Kilchberg, Freitag den 24. XII. 54. Weihnachtsabend

Kilchberg, Sonnabend den 25. XII. 54. Weihnachten

Kilchberg, Sonntag den 26. XII. 54

ANHANG

Quellenverzeichnis

Daten zu Leben und Werk

Thomas Mann

An Frieda L. Hartenstein

Lübeck d. 2 Januar 1890.

Liebes Fried!

(Bei der Anrede soll es bleiben.) Ich kann es doch nicht unterlassen, Ihnen, wenn auch etwas spät, meine herzlichsten Glückwünsche zum neuen Jahre darzubringen.

Sollten Sie sich nicht mehr in Ölznitz befinden, so wird Ihnen hoffendlich dieser Brief nachgesendet werden, und Sie werden die Güte haben mir Ihrige jetzige Adresse zu melden, damit ja unser Briefwechsel nicht aufgehoben wird.

Wir haben hier in Lübeck ein sehr fröhliges Weihnachtfest gehabt und erhielten alle schöne Geschenke sowohl von Mama und Papa, als auch von Großmama. Papa hatte allerdings Weihnachtsabend schon die Influenza, aber es war doch sehr schön. Hoffendlich waren Sie auch recht vergnügt Weihnachten!

Bekamen Sie auch Neujahr einen schriftlichen Glückwunsch vom Fridele? Wissen Sie! Mit 8 Siegeln. Fürstlich! Wir haben hier alle ein Wenig die Influenza gehabt, Gottlob dauert sie nie lange. Geht sie in Ölznitz auch um? Es wäre schade um das gesegnete Städchen! Ich lese jetz[t] immer sehr fleißig in Schillers Werken, welche ich zu Weihnachten bekam, und war eben gerade bei dem Gedicht: »Hecktors Abschied von Andromache«, da fiel mir der Abschied vor Ihrem Wagon ein an dem Morgen, wo Sie abfuhren. Das war doch wirklich eine dramatisch rührende Scene, alsob die guten Damen mit Schiller sagen wollten: »Hecktors Liebe stirbt im Lethe nicht!«

Sonnabend fängt die Schule wieder an. Denken Sie sich: Sonnabend! Welch ein Blöd!! Ich glaube jedoch ganz gut mit Arbeiten fertig zu werden. Aber jetzt will ich schließen, liebes Fried. Viele Grüße von Papa, Mama, Lula und Karla.

Gott erhalte sie so gesund, wie Sie hoffendlich sind

Ihr dankbarer

ToMann.

An Heinrich Mann

München, den 29. XII. 1900

Lieber Heinrich:

Herzlichen Dank für die beiden Bilder, das interessante Napoleon-Kupfer und den wunderschönen Murillo. Beides soll nett gerahmt werden und die Madonna sogar als Staffeleibild auf meinen Tisch kommen. Mir ist es gegangen, wie, glaub’ ich, auch voriges Jahr: ich habe es schließlich aufgegeben, Dir was zu schicken. Denn was auch wohl? Von Italien aus ist gut Geschenke machen; aber die Frauentürme als Tinte- und Streusandfaß oder Ähnliches – das geht doch nicht gut.

Hast Du heil Weihnachten mit Hartungens verlebt? Bei uns war es ganz friedlich und hübsch; die Löhr’schen Herrschaften waren da, es gab gut zu essen, und daß ich aus dem fürchterlichen Handel mit Dr.von Staat so glimpflich davongekommen, stimmte mich weich und glücklich. Heute habe ich noch einmal Uniform getragen und bin als zur Zeit dienstuntauglich zur Disposition der Ersatzbehörde entlassen worden. Das bedeutet mutmaßlich, daß ich nächstes Jahr noch einmal vor der Ober-Ersatz-Commission zu erscheinen habe, was hoffentlich nicht viel mehr als eine Formalität ist, denn erstens bin ich ja schon ein ziemlich alter Herr und zweitens kann ich ja so viele Atteste »beibringen« wie die Herren nur wünschen.

[…]

Herzlich

Dein

T.

Weihnachten bei den Buddenbrooks

Die Sonntage aber und die Ferien verlebte Tony in der Mengstraße oder draußen bei den Großeltern. Welch Glück, wenn am Ostersonntag gutes Wetter war und man die Eier und Marzipanhasen in dem ungeheuren Krögerschen Garten suchen konnte! Welche Sommerferien an der See, wenn man im Kurhause wohnte, an der Table d’hôte speiste, badete und Esel ritt! Auch wurden in einigen Jahren, wenn der Konsul Geschäfte gemacht, Reisen von größerer Ausdehnung unternommen. Aber welch Weihnachtsfest, vor allem, mit drei Bescherungen: zu Hause, bei den Großeltern und bei Sesemi, woselbst an diesem Abend der Bischof in Strömen floß … Am herrlichsten aber war dennoch der Weihnachtsabend zu Hause, denn der Konsul hielt darauf, daß das heilige Christfest mit Weihe, Glanz und Stimmung begangen ward. Wenn man in tiefer Feierlichkeit im Landschaftszimmer versammelt war, während die Dienstboten und allerlei alte und arme Leute, denen der Konsul die blauroten Hände drückte, sich in der Säulenhalle drängten, dann erscholl dort draußen vierstimmiger Gesang, den die Chorknaben der Marienkirche vollführten, und man bekam Herzklopfen, so festlich war es. Dann, während schon durch die Spalten der hohen, weißen Flügelthür der Tannenduft drang, verlas die Konsulin aus der alten Familienbibel mit den ungeheuerlichen Buchstaben langsam das Weihnachtskapitel, und war draußen noch ein Gesang verklungen, so stimmte man »O Tannebaum« an, während man sich in feierlichem Umzuge durch die Säulenhalle in den Saal begab, den weiten Saal mit den Statuen in der Tapete, wo der mit weißen Lilien geschmückte Baum flimmernd, leuchtend und duftend zur Decke ragte und die Geschenktafel von den Fenstern bis zur Thür reichte. Aber draußen, auf dem hartgefrorenen Schnee der Straßen musizierten die italienischen Drehorgelmänner, und vom Marktplatz scholl der Trubel des Weihnachtsmarktes herüber. Außer der kleinen Clara beteiligten sich auch die Kinder an dem späten Abendessen in der Säulenhalle, bei dem es Karpfen und gefüllten Puter in übergewaltigen Mengen gab …

***

Unter solchen Umständen kam diesmal das Weihnachtsfest heran, und der kleine Johann verfolgte mit Hülfe des Abreißkalenders, den Ida ihm angefertigt, und auf dessen letztem Blatte ein Tannenbaum gezeichnet war, pochenden Herzens das Nahen der unvergleichlichen Zeit.

Die Vorzeichen mehrten sich … Schon seit dem ersten Advent hing in Großmamas Eßsaal ein lebensgroßes, buntes Bild des Knecht Ruprecht an der Wand. Eines Morgens fand Hanno seine Bettdecke, die Bettvorlage und seine Kleider mit knisterndem Flittergold bestreut. Dann, wenige Tage später, nachmittags im Wohnzimmer, als Papa mit der Zeitung auf der Chaiselongue lag und Hanno grade in Gerocks »Palmblättern« das Gedicht von der Hexe zu Endor las, wurde wie alljährlich und doch auch diesmal ganz überraschender Weise ein »alter Mann« gemeldet, welcher »nach dem Kleinen frage«. Er wurde hereingebeten, dieser alte Mann, und kam schlürfenden Schrittes, in einem langen Pelze, dessen rauhe Seite nach außen gekehrt, und der mit Flittergold und Schneeflocken besetzt war, ebensolcher Mütze, schwarzen Zügen im Gesicht und einem ungeheuren weißen Barte, der wie die übernatürlich dicken Augenbrauen, mit glitzernder Lametta durchsetzt war. Er erklärte, wie jedes Jahr, mit eherner Stimme, daß dieser Sack – auf seiner linken Schulter – für gute Kinder, welche beten könnten, Äpfel und goldene Nüsse enthalte, daß aber andererseits diese Ruthe – auf seiner rechten Schulter – für die bösen Kinder bestimmt sei … Es war Knecht Ruprecht. Das heißt, natürlich nicht so ganz und vollkommen der Ächte und im Grunde vielleicht bloß Barbier Wenzel in Papas gewendetem Pelz; aber soweit ein Knecht Ruprecht überhaupt möglich, war er Dies, und Hanno sagte auch dieses Jahr wieder, aufrichtig erschüttert und nur ein- oder zweimal von einem nervösen und halb unbewußten Aufschluchzen unterbrochen, sein Vaterunser her, worauf er einen Griff in den Sack für die guten Kinder thun durfte, den der alte Mann dann überhaupt wieder mit sich zu nehmen vergaß …

Es setzten die Ferien ein, und der Augenblick ging ziemlich glücklich vorüber, da Papa das Zeugnis las, das auch in der Weihnachtszeit notwendig ausgestellt werden mußte … Schon war der große Saal geheimnisvoll verschlossen, schon waren Marzipan und Braune Kuchen auf den Tisch gekommen, schon war es Weihnacht draußen in der Stadt. Schnee fiel, es kam Frost, und in der scharfen, klaren Luft erklangen durch die Straßen die geläufigen oder wehmütigen Melodien der italienischen Drehorgelmänner, die mit ihren Sammetjacken und schwarzen Schnurrbärten zum Feste herbeigekommen waren. In den Schaufenstern prangten die Weihnachtsausstellungen. Um den hohen gotischen Brunnen auf dem Marktplatze waren die bunten Belustigungen des Weihnachtsmarktes aufgeschlagen. Und wo man ging, atmete man mit dem Duft der zum Kauf gebotenen Tannenbäume das Aroma des Festes ein.

Dann endlich kam der Abend des dreiundzwanzigsten Dezembers heran und mit ihm die Bescheerung im Saale zu Haus, in der Fischergrube, eine Bescheerung im engsten Kreise, die nur ein Anfang, eine Eröffnung, ein Vorspiel war, denn den Heiligen Abend hielt die Konsulin fest in Besitz, und zwar für die ganze Familie, so daß am Spätnachmittage des Vierundzwanzigsten die gesamte Donnerstag-Tafelrunde, und dazu noch Jürgen Kröger aus Wismar, sowie Therese Weichbrodt mit Madame Kethelsen, im Landschaftszimmer zusammentrat.

In schwerer, grau und schwarz gestreifter Seide, mit geröteten Wangen und erhitzten Augen, in einem zarten Duft von Patschouli, empfing die alte Dame die nach und nach eintretenden Gäste, und bei den wortlosen Umarmungen klirrten ihre goldenen Armbänder leise. Sie war in unaussprechlicher stummer und zitternder Erregung an diesem Abend. »Mein Gott, du fieberst ja, Mutter!« sagte der Senator, als er mit Gerda und Hanno eintraf … »Alles kann doch ganz gemütlich vonstatten gehen.« Aber sie flüsterte, indem sie alle Drei küßte: »Zu Jesu Ehren … Und dann mein lieber seliger Jean …«

In der That, das weihevolle Programm, das der verstorbene Konsul für die Feierlichkeit festgesetzt hatte, mußte aufrecht erhalten werden, und das Gefühl ihrer Verantwortung für den würdigen Verlauf des Abends, der von der Stimmung einer tiefen, ernsten und inbrünstigen Fröhlichkeit erfüllt sein mußte, trieb sie rastlos hin und her – von der Säulenhalle, wo schon die Marien-Chorknaben sich versammelten, in den Eßsaal, wo Rieckchen Severin letzte Hand an den Baum und die Geschenktafel legte, hinaus auf den Korridor, wo scheu und verlegen einige fremde alte Leutchen umher standen, Hausarme, die ebenfalls an der Bescheerung teilnehmen sollten, und wieder ins Landschaftszimmer, wo sie mit einem stummen Seitenblick jedes überflüssige Wort und Geräusch strafte. Es war so still, daß man die Klänge einer entfernten Drehorgel vernahm, die zart und klar wie die einer Spieluhr aus irgend einer beschneiten Straße den Weg hierherfanden. Denn obgleich nun an zwanzig Menschen im Zimmer saßen und standen, war die Ruhe größer, als in einer Kirche, und die Stimmung gemahnte, wie der Senator ganz vorsichtig seinem Onkel Justus zuflüsterte, ein wenig an die eines Leichenbegängnisses.

Übrigens war kaum Gefahr vorhanden, diese Stimmung möchte durch einen Laut jugendlichen Übermutes zerrissen werden. Ein Blick hätte genügt, zu bemerken, daß fast alle Glieder der hier versammelten Familie in einem Alter standen, in welchem die Lebensäußerungen längst gesetzte Formen angenommen haben. Senator Thomas Buddenbrook, dessen Blässe den wachen, energischen und sogar humoristischen Ausdruck seines Gesichtes Lügen strafte; Gerda, seine Gattin, welche, unbeweglich in einen Sessel zurückgelehnt und das schöne weiße Gesicht nach oben gewandt, ihre nahe bei einander liegenden, bläulich umschatteten, seltsam schimmernden Augen von den flimmernden Glasprismen des Kronleuchters bannen ließ; seine Schwester, Frau Permaneder; Jürgen Kröger, sein Cousin, der stille, schlicht gekleidete Beamte; seine Cousinen Friederike, Henriette und Pfiffi, von denen die beiden ersteren noch magerer und länger geworden waren, und die letztere noch kleiner und beleibter erschien, als früher, denen aber ein stereotyper Gesichtsausdruck durchaus gemeinsam war, ein spitziges und übelwollendes Lächeln, das gegen alle Personen und Dinge mit einer allgemeinen medisanten Skepsis gerichtet war, als sagten sie beständig: »Wirklich? Das möchten wir denn doch fürs Erste noch bezweifeln« …; schließlich die arme, aschgraue Klothhilde, deren Gedanken wohl direkt auf das Abendessen gerichtet waren: – sie Alle hatten die Vierzig überschritten, während die Hausherrin mit ihrem Bruder Justus und seiner Frau gleich der kleinen Therese Weichbrodt schon ziemlich weit über die Sechzig hinaus war, und die alte Konsulin Buddenbrook, geborene Stüwing, sowie die gänzlich taube Madame Kethelsen, sich schon in den Siebzigern befanden.

In der Blüte ihrer Jugend stand eigentlich nur Erika Weinschenk; aber wenn ihre hellblauen Augen – die Augen Herrn Grünlichs – zu ihrem Manne, dem Direktor, hinüberglitten, dessen geschorener, an den Schläfen ergrauter Kopf mit dem schmalen, in die Mundwinkel hineingewachsenen Schnurrbart sich dort neben dem Sofa von der idyllischen Tapetenlandschaft abhob, so konnte man bemerken, daß ihr voller Busen sich in lautlosem aber schwerem Atemzuge hob … Ängstliche und wirre Gedanken an Usancen, Buchführung, Zeugen, Staatsanwalt, Verteidiger und Richter mochten sie bedrängen, ja, es war wohl Keiner im Zimmer, dem diese unweihnachtlichen Gedanken nicht im Sinne gelegen hätten. Der angeklagte Zustand von Frau Permaneders Schwiegersohn, das Bewußtsein der gesamten Familie von der Gegenwart eines Mitgliedes, das eines Verbrechens gegen die Gesetze, die bürgerliche Ordnung und die geschäftliche Ehrenhaftigkeit geziehen und vielleicht der Schande und dem Gefängnis verfallen war, gab der Versammlung ein vollständig fremdes, ungeheuerliches Gepräge. Ein Weihnachtsabend der Familie Buddenbrook mit einem Angeklagten in ihrer Mitte! Frau Permaneder lehnte sich mit strengerer Majestät in ihren Sessel zurück, das Lächeln der Damen Buddenbrook aus der Breitenstraße ward um noch eine Nüance spitziger …

Und die Kinder? Der ein wenig spärliche Nachwuchs? War auch er für das leis Schauerliche dieses so ganz neuen und ungekannten Umstandes empfänglich? Was die kleine Elisabeth betraf, so war es unmöglich, über ihren Gemütszustand zu urteilen. In einem Kleidchen, an dessen reichlicher Garnitur mit Atlasschleifen man Frau Permaneders Geschmack erkannte, saß das Kind auf dem Arm seiner Bonne, hielt seine Daumen in die winzigen Fäuste geklemmt, sog an seiner Zunge, blickte mit etwas hervortretenden Augen starr vor sich hin und ließ dann und wann einen kurzen, knarrenden Laut vernehmen, worauf das Mädchen es ein wenig schaukeln ließ. Hanno aber saß still auf seinem Schemel zu den Füßen seiner Mutter und blickte gerade wie sie zu einem Prisma des Kronleuchters empor …

Christian fehlte! Wo war Christian? Erst jetzt im letzten Augenblick bemerkte man, daß er noch nicht anwesend sei. Die Bewegungen der Konsulin, die eigentümliche Manipulation, mit der sie vom Mundwinkel zur Frisur hinaufzustreichen pflegte, als brächte sie ein hinabgefallenes Haar an seine Stelle zurück, wurden noch fieberhafter … Sie instruierte eilig Mamsell Severin, und die Jungfer begab sich an den Chorknaben vorbei durch die Säulenhalle, zwischen den Hausarmen hin über den Korridor und pochte an Herrn Buddenbrooks Thür.

Gleich darauf erschien Christian. Er kam mit seinen mageren, krummen Beinen, die seit dem Gelenkrheumatismus etwas lahmten, ganz gemächlich ins Landschaftszimmer, indem er sich mit der Hand die kahle Stirne rieb.

»Donnerwetter, Kinder«, sagte er, »das hätte ich beinahe vergessen!«

»Du hättest es …« wiederholte seine Mutter und erstarrte …

»Ja, beinah vergessen, daß heut’ Weihnacht ist … Ich saß und las … in einem Buch, einem Reisebuch über Südamerika … Du lieber Gott, ich habe schon andere Weihnachten gehabt …« fügte er hinzu und war soeben im Begriff, mit der Erzählung von einem Heiligen Abend anzufangen, den er zu London in einem Tingel-Tangel fünfter Ordnung verlebt, als plötzlich die im Zimmer herrschende Kirchenstille auf ihn zu wirken begann, so daß er mit krausgezogener Nase und auf den Zehenspitzen zu seinem Platze ging.

»Tochter Zion, freue dich!« sangen die Chorknaben, und sie, die eben noch da draußen so hörbare Allotria getrieben, daß der Senator sich einen Augenblick an die Thür hatte stellen müssen, um ihnen Respekt einzuflößen, – sie sangen nun ganz wunderschön. Diese hellen Stimmen, die sich, getragen von den tieferen Organen, rein, jubelnd und lobpreisend aufschwangen, zogen Aller Herzen mit sich empor, ließen das Lächeln der alten Jungfern milder werden und machten, daß die alten Leute in sich hineinsahen und ihr Leben überdachten, während Die, welche mitten im Leben standen, ein Weilchen ihrer Sorgen vergaßen.

Hanno ließ sein Knie los, das er bislang umschlungen gehalten hatte. Er sah ganz blaß aus, spielte mit den Fransen seines Schemels und scheuerte seine Zunge an einem Zahn, mit halbgeöffnetem Munde und einem Gesichtsausdruck, als fröre ihn. Dann und wann empfand er das Bedürfnis, tief aufzuatmen, denn jetzt, da der Gesang, dieser glockenreine a capella-Gesang die Luft erfüllte, zog sein Herz sich in einem fast schmerzhaften Glück zusammen. Weihnachten … Durch die Spalten der hohen, weißlackierten, noch fest geschlossenen Flügelthür drang der Tannenduft und erweckte mit seiner süßen Würze die Vorstellung der Wunder dort drinnen im Saale, die man jedes Jahr aufs Neue mit pochenden Pulsen als eine unfaßbare, unirdische Pracht erharrte … Was würde dort drinnen für ihn sein? Das, was er sich gewünscht hatte, natürlich, denn das bekam man ohne Frage, gesetzt, daß es einem nicht als eine Unmöglichkeit zuvor schon ausgeredet worden war. Das Theater würde ihm gleich in die Augen springen und ihm den Weg zu seinem Platze weisen müssen, das ersehnte Puppentheater, das dem Wunschzettel für Großmama stark unterstrichen zu Häupten gestanden hatte, und das seit dem »Fidelio« beinahe sein einziger Gedanke gewesen war.