Weihnachtsanektötchen – Spannende Geschichten aus Hannover - Susanne Schieble - E-Book

Weihnachtsanektötchen – Spannende Geschichten aus Hannover E-Book

Susanne Schieble

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Beschreibung

Die Weihnachtszeit ist die schönste Zeit des Jahres: besinnlich, fröhlich, versöhnlich. So könnte es auch in Hannover sein. Doch beim Geschenkekauf, während der Familientreffen, bei Winterspaziergängen und unter den Lichtern des Weihnachtsmarktes tun sich wahre Abgründe auf. Das Böse lauert überall: Egal ob in der Eilenriede, am Kröpcke, im Zoo oder im größten Kaufhaus der Stadt – aus den unterschiedlichsten Gründen schlägt es zu und fordert seine Opfer. Während also von überall her noch festlich die Weihnachtsmusik dudelt, könnte irgendwo längst schon eine Leiche verborgen liegen.

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Die Kurzgeschichten spielen hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Die Figuren dieser Kurzgeschichten sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über https://www.dnb.de© 2024 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comEPub-Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8730-7

WeihnachtsanektötchenSpannende Geschichtenaus Hannovervon Susanne Schieble

Ihr Kinderlein kommet

„Kaschperl, wo bist du?“

Gesine fuhr sich durch ihre dunkelbraunen Haare, wickelte sich eine ihrer kurzen Locken um den Finger und seufzte. Den ganzen Tag ertönte der Ruf nach dem Kasperl zu ihr ins Büro. Genau unter ihrem Fenster war das Kasperltheater des Weihnachtsmarktes aufgebaut worden. Sie kannte inzwischen alle Stücke auswendig. Das obligatorische Rufen nach der Hauptfigur war in jeder Aufführung vorhanden. Mehrfach.

Das war natürlich nicht der einzige Lärm, der vom Weihnachtsmarkt in ihr Büro im Alten Rathaus drang, das über das Jahr wunderbar ruhig und ein Hort der Gelassenheit und konstruktiven Arbeit war. Gesine war als Eventmanagerin des Alten Rathauses hohem Stress ausgesetzt, umso wichtiger war es für sie, dass sie sich in ihrem Büro auf ihren Job fokussieren und alles andere ausblenden konnte. Das funktionierte auch sehr gut, nur die letzten fünf Wochen vor Weihnachten war es aufgrund des Lärmpegels vor dem altehrwürdigen Gebäude schwierig. Der Weihnachtsmarkt an der Marktkirche erstreckte sich nun einmal bis zum Alten Rathaus und war einer der beliebtesten der Stadt. Insofern war buchstäblich die Hölle los. Während am Nachmittag die Familien mit Kindern die Angebote genossen, waren es am Abend die Freundes- und Frauengruppen mit blinkenden Nikolausmützen auf dem Kopf, Arbeitskollegen, die nach Büroschluss einen heben, und Reisegrüppchen aus dem Umland, die in der niedersächsischen Landeshauptstadt etwas erleben wollten.

Wieder seufzte Gesine. Ausgerechnet in der Adventszeit war der Stress noch etwas mehr als sonst, denn viele Firmen und Institutionen führten große Veranstaltungen und Weihnachtsfeiern durch, für die das Alte Rathaus den passenden Rahmen bildete. Sie waren bis Weihnachten voll ausgebucht und hatten alle Hände voll zu tun. Nicht nur Gesine, auch ihre Kollegen arbeiteten bis zum Anschlag und machten Überstunden. Sie sehnte sich daher nach der ruhigen Zeit an den Feiertagen und zwischen Weihnachten und Neujahr. Sie würde zu ihrer Schwester und ihrem Schwager an die Mosel fahren. Besonders freute sie sich auf ihre Nichte. Die dreijährige Felicitas war einfach zuckersüß und warf sich vor Freude in ihre Arme, wann immer „Tante Gesi“ es schaffte, sich ein paar Tage loszueisen und die kleine Familie zu besuchen.

Gesines Blick streifte liebevoll das Bild eines jungen Mädchens auf dem Schreibtisch. Sie hatte keine eigenen Kinder, sodass die Kleine für sie etwas ganz Besonderes war, fast wie ein eigenes Kind. Große blaue Augen und kleine Milchzähnchen strahlten sie an, eine freche, blonde Haarlocke hatte sich in die Stirn gemogelt. Die Eventmanagerin, die in ihrem Beruf so tough sein musste, lächelte. Gott, wie sehr sie dieses Kind liebte!

Großes Geraune, Gelächter und anschließender Applaus rissen sie aus ihren Gedanken. Das Stück des Puppentheaters, das vor ihrem Fenster aufgeführt wurde, war anscheinend wieder einmal zu Ende: Der Gendarm hatte den Räuber mit der pfiffigen Hilfe des Kaspers und natürlich der Kinder gefasst.

In zehn Minuten ging alles wieder von vorne los.

Gesine beugte sich tiefer über das Angebot, das sie für eine Veranstaltung im Januar erstellen musste, und gab Zahlenkolonnen in den Computer ein.

Da wurde die Tür mit einem Ruck aufgerissen und ihre junge Kollegin Alissa stürmte herein. Rotblonde, halblange Locken wippten zu ihrem temperamentvollen Gang im Takt.

„So, Frau Neugeschwendter, ich habe alles erledigt!“, stieß sie aus, knallte einen Stapel Akten mitten auf Gesines Schreibtisch und auf ihre Kostenkalkulation und grinste schelmisch.

Gegen ihren Willen grinste Gesine zurück. Sie mochte ihre burschikose Kollegin, die zwar laut und oftmals sehr anstrengend war, aber sehr gute Arbeit verrichtete und mit ihrer guten Laune frischen Wind in die Abteilung gebracht hatte.

„Gut, Frau Willes. Machen Sie Schluss für heute, es ist ja schon spät“, sagte Gesine, nahm die Akten von ihrer Kalkulation herunter und legte sie an die Seite. Der sehnsüchtige Blick der jungen Kollegin durch das Fenster nach draußen war ihr nicht entgangen.

Alissa Willes sah sie erstaunt, aber mit einem freudigen Ausdruck in den Augen an.

„Wirklich?“, fragte sie hoffnungsvoll. „Aber wir haben noch so viel zu tun, und morgen ist die riesige Veranstaltung oben im Festsaal und …“

Gesine winkte ab. „Ach was, die ist doch vorbereitet und wird laufen, wenn wir alle zusammen anpacken und morgen früh alle pünktlich da sind. Machen Sie sich einen schönen Abend!“

„Danke, Frau Neugeschwendter, mache ich“, strahlte Alissa Willes, drehte sich mit Schwung um, dass die Locken flogen, hielt dann aber noch einmal inne und sah Gesine mit zerknirschtem Gesicht an.

„Und Sie?“, fragte sie zaghaft. „Wann machen Sie Schluss? Ich mein, Sie müssen sich ja auch mal erholen.“

„Ich mache noch das Angebot fertig, dann gehe ich auch nach Hause“, lächelte Gesine und wedelte mit den Armen. „Und nun ab mit Ihnen, bevor ich es mir anders überlege!“

Das ließ sich die junge Frau nicht zweimal sagen. Sie verabschiedete sich so schnell, dass Gesine der Verdacht kam, Alissa habe Angst, sie könne es sich tatsächlich anders überlegen.

Wieder lächelte sie. Sie beneidete die junge Kollegin um ihre Jugend und ihre Lebensfreude, aber sie gönnte es ihr auch. Arbeit musste sein, aber sie sollte auch ihr Leben genießen, nichts ließ sich wiederholen oder aufschieben, auch wenn viele Menschen genau das glaubten. Niemand wusste das besser als sie.

Nein, keine Erinnerungen jetzt, keine Wehmut, keine traurigen Gedanken. Gesine hatte gelernt, mit eiserner Disziplin die dunklen Stimmungen, die sie, immer seltener zwar, aber dann und wann immer noch, befielen, zurückzudrängen. Ganz ausbleiben würden sie wohl nie.

„Kaschperl, wo bist du?“

Gesine stöhnte. Sie kam sich vor wie Bill Murray in dem Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“.

Sie vertiefte sich in die Unterlagen. Stille hatte sich über das Gebäude gelegt, nach und nach hatten die Mitarbeiter Feierabend gemacht und das Alte Rathaus verlassen. Wahrscheinlich waren nur noch der Wachdienst und der eine oder andere Techniker im Haus. Eine Veranstaltung hatten sie heute als einzigen Tag in der Vorweihnachtszeit ausnahmsweise nicht. Diese stillen Stunden am Abend mochte Gesine ganz besonders. Wenn der Trubel des täglichen Geschäfts nachließ, konnte sie sich am besten konzentrieren und ohne Unterbrechungen arbeiten. Nur das Gegröle und natürlich das Kasperltheater störten sie im Moment. Sie versuchte, beides so gut es ging auszublenden.

Plötzlich vernahm sie ein leichtes Klappern. Es hörte sich an wie ein Türschlagen. Es war ganz leise, aber Gesine war so vertraut mit den Geräuschen in dem alten Gebäude, dass sie es sofort einordnen konnte. Es war die Tür des Lieferanteneingangs. War sie denn nicht verschlossen? Die Mitarbeiter hatten strikte Anweisung, sie abzusperren, denn sonst passierte genau das, was nicht passieren sollte, gerade jetzt in der Adventszeit: Unbefugte verschafften sich Zutritt, meistens Betrunkene auf der Suche nach einer Stelle, wo sie ihre Notdurft verrichten konnten. Zugleich wurde ihr bewusst, dass sie den obligatorischen Ruf „Kaschperl, wo bist du?“, das Gejauchze der Kinder, das Schreien und Grölen und das beständige Gesumme der Stimmen der Weihnachtsmarktbesucher schon eine ganze Weile nicht gehört hatte. Eine unheimliche Stille hatte sich nicht nur über das Alte Rathaus, sondern auch über den Platz gesenkt.

Gesine sprang auf und spähte aus dem Fenster. Sie sah Menschen mit ernsten weißen Gesichtern, die in der Dunkelheit zu schweben schienen. Sie standen wie erstarrt vor dem Kasperltheater, hell erleuchtet von den Buden ringsum, aber das Dach des Theaters verwehrte Gesine die komplette Sicht auf das Geschehen. Auch nahm sie ein bläuliches Blinken von Einsatzfahrzeugen wahr. Warum hatte sie keine Sirenen gehört? Sie musste wirklich sehr in ihre Arbeit vertieft gewesen sein. Gesine wusste, dass ihr das manchmal passierte. Wenn sie extrem fokussiert war, nahm sie nichts mehr um sie herum wahr.

Ein weiteres Mal vernahm sie ein Geräusch, und sie wandte sich abrupt vom Fenster ab. Es war ein Schlurfen, als wenn etwas über den Boden gezogen wurde. Gesines Körper wurde von einer Schockwelle überschwemmt. Sie stand stocksteif und lauschte. Da, da war es wieder! Ein Scharren, als ob … Gesine wagte nicht weiterzudenken. Es hörte sich an wie ein Körper, der über den Boden geschleift wurde. Da kam Leben in sie, und sie war mit zwei Schritten an ihrem Telefon und hatte den Hörer in der Hand. Der Sicherheitsdienst! Sie musste den Sicherheitsdienst informieren, er würde bestimmt …

„Legen Sie den Hörer auf, Lady, sofort!“, ertönte da eine schnarrende Stimme von der Tür her. Gesines Kopf ruckte hoch. Da stand ein Mann, nein, er lehnte schwer atmend gegen den Türrahmen und sah sie aus blutunterlaufenen Augen von unten nach oben an. Ihre Blicke trafen sich. Da war etwas in den Augen des Mannes …

Ihr gefror das Blut in den Adern. Entschlossenheit las sie, aber noch etwas anderes. Verzweiflung und eine Spur von Angst. Sie ahnte, dass diese Kombination von Empfindungen den Mann unberechenbar machen würde. Was sie aber noch mehr überzeugte, den Hörer ganz langsam zurückgleiten zu lassen, war die Waffe, die er in der Hand hielt und auf sie richtete. Sie sah riesig aus und gefährlich, ein gefräßiges, schwarzes Monster, dessen Maul genau auf sie zeigte.

Gesine konnte sich nicht bewegen, konnte auch nicht den Blick von der Mündung der Waffe abwenden. Der Mann machte eine ganz kleine Bewegung mit ihr und befahl gleichzeitig: „Kommen Sie von dem Schreibtisch weg, ganz langsam. Hier rüber.“

Zögernd kam sie der Aufforderung nach, sie fühlte sich wie eine Marionette, der man die Fäden durchgeschnitten hatte. Mechanisch bewegte sie sich auf den Mann zu, auch wenn sich ihr Innerstes dagegen sträubte. Er hatte die Argumente auf seiner Seite …

„Sie haben doch sicherlich ein Handy“, schnurrte der Mann und strich sich mit der anderen Hand, mit der er sich am Türrahmen festgehalten hatte, über das Gesicht. Als Gesine näher kam, sah sie, dass ihm der Schweiß auf der Stirn stand und seine Hand am Türrahmen einen blutigen Abdruck hinterlassen hatte. War er verletzt?

„J-ja“, antwortete sie zögernd, während sie Schritt für Schritt auf ihn zuging.

„Geben Sie es mir!“, forderte der Mann sie auf und streckte seine blutige Hand nach ihr aus. Unwillkürlich wich sie zurück, griff in ihre Handtasche, die über der Stuhllehne vor ihrem Schreibtisch hing, fischte das Handy heraus und händigte es dem Mann aus, der es in seine Jackentasche steckte.

Dann kam er auf sie zu, und da registrierte sie, dass der Mann sein rechtes Bein über den Boden zog. Es hinterließ eine Blutspur. Auch an der Tür und auf dem Gang zu ihrem Büro, so sah sie jetzt, war Blut. Er war tatsächlich verletzt. Das erklärte das Schleifen, das sie gehört hatte.

Trotz seiner Verletzung bewegte sich der Mann geschmeidig, war mit zwei, drei Schritten bei ihr und packte sie um die Hüften. Gesine stieß einen kleinen Schrei aus, während der Mann sie auf den Stuhl zurückdrängte und sie keine andere Wahl hatte, als sich darauf fallen zu lassen.

„Ruhig!“, schnarrte er wieder und legte ihr seine blutverschmierte Hand auf ihren Mund. Übelkeit stieg in Gesine hoch, als sie den metallischen Geschmack wahrnahm.

„Haben Sie Klebeband?“, fragte der Mann und nahm die Hand von ihrem Mund.

„In dem Rollcontainer“, keuchte Gesine und schnappte nach Luft. Während der Mann sie mit der einen Hand, in der er die Pistole hielt, auf dem Stuhl fixierte, öffnete er mit der anderen eine Schublade des Containers nach der anderen, bis er das Klebeband gefunden hatte.

„Halten Sie still“, stieß er aus, „ist besser für Sie. Ich will Ihnen nicht wehtun“. Schnell fesselte er sie und wickelte das Klebeband mehrfach um ihren Rumpf und die Stuhllehne, sodass sie sich nicht mehr bewegen konnte.

„Sind hier noch Leute im Haus?“, fragte er und drehte den Stuhl so, dass sie ihm in die dunkelbraunen Augen blicken musste. Wieder bemerkte sie den Hauch von Verzweiflung und eine abgrundtiefe Trauer in ihnen.

„N-nur der Wachdienst“, stotterte sie.

„Kommt der zu Ihnen hier rein?“

„Manchmal“, antwortete sie wahrheitsgemäß. Sie konnte ihn nicht anlügen, warum, wusste sie auch nicht so genau.

Plötzlich hielt er den Telefonhörer in der Hand. „Sie werden ihm sagen, dass sie nicht gestört werden wollen und er nicht hierherkommen soll, verstanden? Los!“, forderte er sie jetzt in barscherem Ton auf.

„5-7“, sagte sie und versuchte, ihrer Stimme einen festen Tonfall zu geben. Dennoch klang sie in ihren Ohren schrill.

„Was?“, grunzte er verständnislos zurück.

„Sie müssen 5-7 wählen, das ist die Nummer des Wachdienstes. Ich kann es ja nicht.“

Sie deutete mit dem Kopf auf das Klebeband.

Er antwortete nicht, sah ihr noch einen Moment forschend in die Augen, wählte die Nummer und hielt ihr den Hörer ans Ohr.

„Hallo, Hartmut? Ja, du, ich habe heute noch einiges zu arbeiten, und dazu brauche ich meine Ruhe. Du musst nicht bei mir reinkommen, okay? Ich schließe dann ab, wenn ich gehe, wie immer.“ Sie lauschte auf die Antwort und nickte dem Mann schließlich zu. Er legte auf.

„So, das haben wir“, sagte er leise. Es klang resigniert. Langsam richtete er sich auf und wischte sich wieder über das Gesicht, sodass ein blutiger Striemen auf seiner Stirn zurückblieb. Er betrachtete sein rechtes Bein. Die Hose war blutdurchtränkt, das Blut tropfte auf den Boden.

„Sie sind verletzt“, meinte Gesine leise.

Er winkte ab.

„Nicht der Rede wert. Ist nur ein Kratzer.“

Gesine schüttelte den Kopf.

„Vielleicht, aber Sie bluten stark. Das Bein sollte zumindest verbunden werden.“

„Ach was“, er wedelte mit seiner Pistole.

„Was ist denn passiert?“, bohrte Gesine ungeachtet seiner Abwehr nach. Sie wusste selbst nicht, was sie ritt, aber sie konnte einfach nicht anders.

„Eine Auseinandersetzung“, antwortete er kurz angebunden.

Red weiter, dachte Gesine, red weiter, versuch, sein Vertrauen zu gewinnen.

„Warum?“, fragte sie sanft.

„Weil …“, sein Blick schweifte ab, und er sah aus dem Fenster.

Es muss mit dem Vorfall vor dem Rathaus zusammenhängen, dachte Gesine, und die Erkenntnis rieselte wie kleine Kieselsteine durch ihr Bewusstsein.

„Was ist denn da draußen passiert?“, fragte sie nochmals.

Er gab sich einen Ruck und sah sie kalt an.

„Das geht Sie gar nichts an!“, herrschte er und war wieder mit zwei Schritten bei ihr.

„Das würde ich so nicht sagen“, antwortete sie. Woher sie den Mut nahm, ihm die Stirn zu bieten, konnte sie sich nicht erklären. „Sie dringen hier in mein Büro ein, fesseln mich und, mit Verlaub, besudeln es mit Ihrem Blut. Da wird man ja mal fragen dürfen!“

Sie hatte selbstsicherer geklungen, als sie sich fühlte.

Er antwortete nicht und wühlte in ihrer Handtasche herum, bis er eine Packung Papiertaschentücher gefunden hatte, und fummelte zwei davon heraus.

„Schluss jetzt!“, knurrte er, stopfte ihr die beiden Taschentücher in den Mund und fixierte sie mit dem Klebeband – so abrupt, dass sie vor Schreck erstarrte. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie ihn an.

„Hmmmhmmmmmmhmmm“, machte sie.

„Hallo, ich kann Sie nicht hören!“, höhnte der Mann und tat so, als ob er an seine Ohren fassen wolle. Dann wurde er schlagartig ernst, ging zum Fenster und spähte nach draußen, wobei er sich eng an die Wand drückte, um nicht gesehen zu werden.

„Sie sind da“, flüsterte er und schaute weiter angestrengt durchs Fenster, „aber sie wissen nicht, wo ich bin.“

Gesine hatte ihn nicht aus den Augen gelassen. Verrückt, vor einer halben Stunde war ihre größte Sorge, ob die Kalkulation stimmte, an der sie gearbeitet hatte, und dass die Veranstaltungen, die anstanden, gut über die Bühne gehen würden. Jetzt ging es um alles, es ging um ihr Leben. Sie spürte, der Mann war geladen wie ein Pulverfass und konnte beim kleinsten Funken explodieren. Sie hoffte nur, dass er vergessen hatte, die Tür zum Lieferanteneingang zu verschließen, als er sich ins Rathaus geflüchtet hatte.

Er sah sie an und bleckte die Zähne.

„Die Tür habe ich abgeschlossen.“

Konnte er ihre Gedanken lesen?

„Aber sie können das Blut sehen, das wird sie hierhinführen“, fügte er gedankenverloren hinzu.

Er sah an sich herunter und auf sein verletztes Bein. Dann blickte er hoch und ihr direkt ins Gesicht.

„Sie werden kommen.“

„Hmmmmmmmmmhmmmm“, machte sie.

Die Zeit verrann zäh. Genau Gesine gegenüber war die Bürouhr angebracht. Sie starrte auf die Ziffern und versuchte, den Zeiger zu hypnotisieren, schneller zu laufen. Doch es nützte nichts.

Die Zeit verrann zäh.