Welch unerhörte Lust zu leben - Petra Urban - E-Book

Welch unerhörte Lust zu leben E-Book

Petra Urban

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Beschreibung

Missbrauch ist ein einschneidendes Erlebnis, das das ganze Leben prägt. Petra Urban schreibt aus eigener Erfahrung darüber, wie man mit dem Erlebten umgehen kann. Sie zeigt, wie es ihr irgendwann gelang, sich aus den belastenden Fängen ihrer Vergangenheit zu befreien und ein Leben mit Freude und Erfüllung zu beginnen. Petra Urban macht Mut, dass wir aus dem Leid herauswachsen, stark werden und Flügel bekommen können.

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Petra Urban

Welch unerhörte Lust zu leben

Von großen Wunden und noch größeren Flügeln

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2017

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Marlene Fritsch

Umschlaggestaltung: wunderlichundweigand

Umschlagmotiv: © Irina Fürstenau

Satz und E-Book: Matthias E. Gahr

ISBN 978-3-7365-0078-5 (print)

ISBN 978-3-89680-994-0 (epub)

www.vier-tuerme-verlag.de

Inhaltsverzeichnis
Ein Wort vorab
Im Gleichgewicht
Atemlos I.
Herzensgespräche
Atemlos II.
Steh auf und geh!
Von der Vergebung
Sonne im Herzen
Hunger nach Leben
Zum guten Schluss
Quellen

Für Irina

Ein Wort vorab

Der Sommer hatte sich bereits dem Ende genähert, als durch die warme Luft ein Wort zu mir geflogen war, eine Art Zauberwort, wie ich im Nachhinein feststellte. Ich hatte im hohen Gras gelegen, die ziehenden Wolken beobachtet und mich plötzlich gefragt, was es eigentlich heißt, im Gleichgewicht zu sein. Und während ich darüber nachgedacht hatte, war mir eine Szene aus Kindertagen eingefallen. Eine Spielplatzszene: Zwei Mädchen auf einer Wippe, die händeringend versuchen, in die Balance zu kommen. Keine leichte Aufgabe, denn die beiden sind unterschiedlich groß und schwer. Schließlich aber schaffen sie es doch. Jubel ertönt, Freudengeschrei. Die Mädchen schäumen über vor Vergnügen. Ein Glücksmoment!

Ich hatte also im Gras gelegen an jenem Spätsommertag und darüber gestaunt, wie aus dem Ringen nach Gleichgewicht Glück entstehen kann. Und dieses »errungene« Glück interessierte mich plötzlich. Mich. Die ich durch Erlebnisse in meiner Kindheit mein inneres Gleichgewicht gänzlich verloren hatte.

Im Gleichgewicht

Wer zugleich

seinen Schatten und sein Licht wahrnimmt,

sieht sich von zwei Seiten,

und damit kommt er in die Mitte.

— Carl Gustav Jung

Vom Sternbild her bin ich eine Waage. Ein Tierkreiszeichen also, das nach Harmonie klingt, nach der schönen Kunst, mit sich selbst in Einklang zu sein. Bin ich aber nicht. Ganz und gar nicht. Solange ich denken kann, gehöre ich zu den unausgewogenen, den extremen Seelen.

Vielleicht ist das ja der tiefere Grund, weshalb mich das Thema »im Gleichgewicht sein« immer schon fasziniert. Und weshalb ich mich jetzt, da ein Großteil meines Lebens bereits hinter mir liegt, doch noch entschlossen habe, über die Waage in mir nachzudenken.

Lässt sich die Kunst der Balance, der Ausgeglichenheit eigentlich erlernen, so wie Eiskunstläuferinnen irgendwann die »eingesprungene Waage« beherrschen, jene wirbelnde Pirouette, bei der sich alles ums Gleichgewicht dreht?

Neulich las ich einen Witz in der Zeitung. Da spaziert ein Mann durch Wien und fragt einen anderen, ob er ihm sagen könne, wie er zu den Philharmonikern komme. Der Angesprochene schaut ihn lange und prüfend an, nickt schließlich und sagt: »Üben, üben, üben!« Wer weiß, vielleicht ist das auch die Antwort auf meine Frage. Vielleicht macht allein die Übung uns zu Meisterinnen der Balance.

Fest steht: Im Gleichgewicht zu sein ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Denn im Gleichgewicht zu sein bedeutet, in Balance mit mir und meinem Leben zu sein. Und das wiederum heißt, im Einvernehmen mit meiner Vergangenheit. Was nicht immer einfach ist.

Denn in vielen unserer Lebensgeschichten gibt es Schmerzhaftes, Allzuschmerzhaftes, vor dem wir gern die Augen verschließen. Verletzungen und Enttäuschungen aus früherer Zeit, kleinere und größere Wunden, die niemals wirklich verheilt sind. All dieses Unheile, dieses Vergangene, das nicht vergangen ist, verfügt über eine erstaunliche Haltbarkeit. Aber nicht nur das. Es verfügt auch über die Kraft, uns nach Jahren, mitunter nach Jahrzehnten noch aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Ich selbst hatte eine Zeit in meinem Leben, die von solch schwarzer, klebriger Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit war, dass sie mich fast verschlungen hätte. Es hat lang gedauert, sehr lang, bis ich verstanden habe, woher diese Traurigkeit, diese Sehnsucht zu sterben eigentlich kam. Wo sie ihren Ursprung hatte.

Wer im Gleichgewicht sein will, wer sein Leben im Hier und Jetzt von Herzen genießen will – diese Erfahrung habe ich zumindest gemacht –, kommt um das Wagnis eines Sprunges in die Vergangenheit nicht herum. Ein Springender aber, das weiß der Philosoph Søren Kierkegaard, wenn er vom »Sprung in den Glauben« spricht, braucht Mut. Warum? Ganz einfach: Weil er nie so genau weiß, wo und wie er landen wird. Auch ein Sprung in die Vergangenheit kann solch ein Wagnis sein, eine Ungewissheit, ein Risiko. Denn die eigenen Wunden anzuschauen, sich mit alten Verletzungen auseinanderzusetzen, erfordert Mut. Mut, den wir nicht immer aufbringen. Lieber verdrängen wir, was gewesen ist, verschließen die Augen davor.

Verdrängen aber, das hat uns die Psychoanalyse gezeigt, stellt auf Dauer keine Lösung dar. Denn Verdrängen kostet Kraft. Wertvolle Kraft, die uns an anderer Stelle fehlt. Gerade in Stresssituationen, wenn das Leben uns von allen Seiten bedrängt, meldet sich Verdrängtes gern zu Wort. Je nach Grad der Schwere bedroht, ja stört es unser seelisches und körperliches Gleichgewicht auf das Empfindlichste. Weshalb die Zeit gekommen sein kann, den Sprung zu wagen, sich die Wunden der Vergangenheit anzuschauen, sie nicht länger unter Verschluss zu halten. Denn unter Verschluss, das wissen wir alle, heilt nichts. Heilung der Seele aber ist die Voraussetzung für ein freudvolles Leben.

Immer wieder höre ich in Gesprächen das Argument, die Vergangenheit doch lieber ruhen zu lassen, so wie einen Verstorbenen, an dem wir schließlich auch nicht herumrütteln. Will heißen: Statt uns den Kopf über Gewesenes zu zerbrechen, sollten wir doch lieber das Gegenwärtige genießen. Klingt plausibel. Ist es aber nicht. Leider. Wenn etwas in unserem Leben so sehr nach Aufmerksamkeit verlangt, dass es uns körperliche Symptome schickt, wie es bei mir der Fall war, dann ist es höchste Zeit, allerhöchste Zeit, hinzuhören und hinzugucken.

Unser Körper ist ein wunderbares Instrument, eine Art Seismograf. Ein Frühwarnsystem, das auf kleinste Erschütterungen reagiert. Er spricht eine deutliche Sprache. Und er fordert uns auf, nötige Schritte zu unternehmen. Und doch neigen wir dazu, die Signale, die er uns sendet, zu überhören und zu übergehen.

Wir mögen sie nicht, alle diese ungeliebten Störungen, empfinden sie als Zumutung. Dabei wollen sie uns etwas Wichtiges mitteilen: dass wir Gefahr laufen, zum Beispiel, gefährlich abzustürzen, wenn wir so weitermachen wie bisher; dass wir krank werden, wenn wir die Warnungen länger missachten. Aber genau das wollen wir eben nicht hören. Weil es nicht in unseren bewegten Alltag, unsere pausenlose Geschäftigkeit passt. Unpässlichkeit, das ist doch wie Nachsitzen in der Schule. Das ist doch Strafe. Während die anderen alle schon auf und davon sind, hocken wir fest, verdonnert zu dieser verdammten Zwangspause.

Aber jede Unterbrechung, jede Aufmerksamkeit, die ein Körper einklagt, jede verschlüsselte Botschaft, die er sendet, kann genau das Gegenteil von Strafe sein. Chance nämlich. Angebot.

Eine Freundin von mir, die täglich mit dem Zug zur Arbeit fährt, musste sich eines Morgens von einer aufgebrachten Dame den Vorwurf gefallen lassen, dass der Platz, auf dem sie da sitze, ihr Platz sei. »Mag sein«, hat meine Freundin lächelnd geantwortet, »heute aber nicht!« Auch unser Körper zwingt uns mitunter, aus der Routine, aus dem Festgefahrenen auszuscheren und Dinge anders zu machen als gewohnt. Ob wir es wollen oder nicht.

Bei aller Verärgerung und Verzweiflung können sich körperliche Symptome am Ende aber als ein Segen entpuppen. Dann nämlich, wenn sie uns die Augen für Wesentliches öffnen: für Veränderung. Vielleicht ist es an der Zeit, eine neue Achtsamkeit, ein feineres Gespür dafür zu entwickeln, was unser Körper uns sagen will.

Stellen wir uns eine Seiltänzerin vor. Eine Art Primaballerina, die hoch oben in einer bunten Zirkuskuppel in einem glitzernden Kostüm leichtfüßig über das Seil balanciert. Das Allerwichtigste, um in dieser schwindelerregenden Höhe im Gleichgewicht zu bleiben, ist gar nicht so sehr der lange Stab, mit dem sie sich austariert, als vielmehr die ständige Bewegung, in der sie sich befindet. Würde sie in absoluter Ruhe auf dem Seil verweilen, so habe ich gelesen, würde sie stehenden Fußes in die Tiefe stürzen.

Auch wir, die wir allesamt Tänzerinnen auf unserem Lebensweg sind, Balancekünstlerinnen im besten Sinne des Wortes, tun gut daran, uns in der Selbstwahrnehmung zu üben. Um drohende Abstürze zu vermeiden, ist es wichtig, ja mitunter lebenswichtig, unser Gespür für feinste Nuancen und Schwingungen zu trainieren, um früh genug zu erkennen, was uns aus dem Gleichgewicht bringt, was nicht stimmig ist in unserem Leben, was uns über Gebühr belastet. Wo Vergangenes möglicherweise zu schwer wiegt, um es länger noch allein tragen zu können.

Atemlos I.

Die Lunge hat falsche Luft geatmet

es heißt eine neue Sprache finden.

— Rose Ausländer

Es war eine atemlose Zeit damals. Von seelischem Gleichgewicht keine Spur. Ich war nervös und unkonzentriert. Dazu so ungeschickt wie selten in meinem Leben. Bei einem Museumsbesuch meinte ich mein Schicksal in den Gemälden von Georg Baselitz zu entdecken, in seinen berühmten Umkehrbildern. Denn genau so kam ich mir vor: als hätte mich irgendwer am Kragen gepackt und kurzerhand auf den Kopf gestellt.

Schier alles, was ich anfasste, fiel mir aus den Händen. Ich weiß nicht, wie oft ich mich bücken musste, um irgendetwas aufzuheben, wie viele Male ich nach Handfeger und Kehrblech rannte, um zerschlagenes Glas oder Porzellan aufzukehren, und wie oft ich beim Essen aufsprang und zum Wasserhahn eilte, weil ich mich wieder einmal bekleckert hatte. Nichts, wirklich nichts schien damals sicher in meinen Händen. Und ich ärgerte mich maßlos über meine Missgeschicke, alle diese verpatzten Handgriffe, die nichts als Unmut und Unordnung in mein Leben brachten. Bisweilen fluchte ich so laut und böse, dass mich die Wucht meiner Worte regelrecht erschreckte. Dazu aber kam noch ein anderes, ungleich wesentlicheres Problem: Über Nacht hatte ich das Gefühl, nicht mehr richtig durchatmen zu können. Vor allem bei meinen Spaziergängen durch die Weinberge fiel es mir auf. Irgendetwas schien mir die Luft abzuschnüren. Beinah so, als hätte sich über Nacht eine Klammer um meinen Brustkorb gelegt, als würde etwas Unsichtbares ihn zudrücken.

Natürlich ging ich zum Arzt, genau genommen zu verschiedenen Ärzten. Und natürlich ließ ich allerlei Untersuchungen über mich ergehen. Schließlich ist die Atmung die wichtigste Funktion unseres Körpers, der Grundstoff unseres Lebens sozusagen, sprich Anfang und Ende.

Als Kind hatte ich eine Asthmatikerin miterlebt: Frau Müller, die Nachbarin meiner Großeltern auf dem Land. Eine lebenslustige Person in bunter Kittelschürze, die mich mit ihrer gleichbleibend guten Laune beeindruckt hat. Immer schwang ein Jubeln in ihrer Stimme mit. Und immer hat sie bei der Arbeit gesungen, im Haus und auch im Garten, beinah so, als wolle sie auf diese Art und Weise die Sorgengeister vertreiben. Später konnte sie nicht mehr singen. Nur noch lächeln und freundlich über den Zaun hinweg winken. Und noch später hat sie dann im Schlafzimmer gelegen, wo ich sie besuchen durfte und wo ich diese schrecklichen Erstickungsanfälle, dieses Kämpfen und Krampfen miterlebt habe.

Die Erinnerung an Frau Müller und ihre Krankheit zum Tode war es, die mich schließlich auch noch zu einem Lungenspezialisten führte. Am Ende aber blieben alle Untersuchungen ohne Befund. Ich hätte die Lunge einer Sportlerin, hieß es. Da war nichts, was meine Kurzatmigkeit erklärte. Und so lautete der Rat, den meine Hausärztin mir schlussendlich mit auf den Weg gab: Stress reduzieren. Das Leben ein wenig ruhiger und entspannter angehen.

Gemeinsam mit einer Freundin betrachtete ich meine vergangenen Wochen und Monate aus der Vogelperspektive. Gut, da waren einige private Turbulenzen gewesen, auch hatte sich das Karussell meiner Termine etwas schneller gedreht als gewöhnlich. Schließlich pendelte ich seit einiger Zeit zwischen zwei Städten hin und her. Aber stresste mich das? Nein. Ganz im Gegenteil. Mein randvolles, bewegtes Leben machte mir Spaß.

Etwas anderes musste mir den Atem rauben. Aber was? Ich hatte keine Ahnung. Und so oft ich mir die Frage auch stellte, ich fand keine Antwort. Grübelnd erforschte ich mein Innerstes, schenkte dem Thema jede Menge Aufmerksamkeit. Aber nichts. Weit und breit keine Antwort. Nur abgrundtiefes Schweigen.

Es war mir unerklärlich. Irgendetwas raubte mir die Luft, verschlug mir förmlich den Atem, und ich kam nicht darauf, was es sein könnte. Hilflos stand ich mir selbst gegenüber. Zutiefst verunsichert und zutiefst beunruhigt, weil im Lauf der Zeit auch noch üble Stimmungsschwankungen hinzukamen, und das mit einer Heftigkeit und Häufigkeit, wie ich sie lange nicht erlebt hatte.

Immer öfter sprach ich im Freundeskreis über das Thema »Atem«. Atem hat etwas mit Freiheit zu tun, erfuhr ich. Ja, und? Brachte mich das weiter?

Da ich als Literaturwissenschaftlerin davon überzeugt bin, dass von guten Worten eine gute Wirkung ausgeht, verordnete ich mir – neben regelmäßigen Entspannungsübungen, die ich mittlerweile machte – eine Portion Poesie. Lyrische Lebenshilfe sozusagen. Und ich wählte, was naheliegend war, Goethes berühmtes Gedicht von den »zweierlei Gnaden«:

Im Atemholen sind zweierlei Gnaden:

Die Luft einziehen, sich ihrer entladen;

Jenes bedrängt, dieses erfrischt;

So wunderbar ist das Leben gemischt.

Du danke Gott, wenn er dich presst,

Und dank ihm, wenn er dich wieder entlässt.

— Johann Wolfgang von Goethe

Ich las das Gedicht so oft, dass ich es bald schon auswendig aufsagen konnte. Und siehe da, die Verse wirkten anregend und inspirierend auf mich. Denn sie führten dazu, dass ich meinem Atem gegenüber aufmerksamer und achtsamer wurde, seinem Tempo und seinem Rhythmus nachspürte, seinem unermüdlichen Kommen und Gehen. Was im Umkehrschluss hieß, dass ich auch mir selbst gegenüber achtsamer und aufmerksamer wurde.

Goethe beim Wort nehmend, begann ich damit, meinem Schöpfer für dieses wunderbare Geschenk zu danken. Atem ist Leben und Leben ist Atem, ist ein Geschehen, »in dem ich mich rhythmisch ereigne«, wie es bei Rilke heißt. Mir fiel auf, dass der Atem, dieses Sinnbild des Lebens, mit Polarität zu tun hat. Ohne Einatmen kein Ausatmen. Ohne Spannung keine Entspannung. Ohne Leere keine Fülle. Das eine ohne das andere unmöglich. Das Leben demnach ein ewiger Wechsel, ein Spiel der Gezeiten, zweierlei Gnaden eben.

Da mir die poetische Beschäftigung mit meinem Atem wohltat, schaute ich mich schon bald nach neuen luftigen Worten um, stöberte in meinem Bücherregal herum und machte schließlich eine Entdeckung bei Rose Ausländer. »Im Atemhaus«, so der Titel eines Gedichts, das mir großartig zu passen schien.

Im Atemhaus

Unsichtbare Brücken spannen

von dir zu Menschen und Dingen

von der Luft zu deinem Atem

Mit Blumen sprechen

wie mit Menschen

die du liebst

Im Atemhaus wohnen

eine Menschblumenzeit

— Rose Ausländer

Das Wort »Atemhaus« gefiel mir. Nie zuvor hatte ich darüber nachgedacht, dass die Luft, die uns umgibt, dieses unsichtbare, vorzügliche Element, eine Art Haus sein könnte. Atemluft, die alles mit allem verbindet, die Beziehungen herstellt, unsichtbare Brücken spannt, von Mensch zu Mensch, von Tier zu Tier, von Pflanze zu Pflanze und immer so weiter – bis sie am Ende die ganze Schöpfung in einem riesigen Haus miteinander vereint. Atmend also sind wir in Kontakt mit der ganzen Welt. Atmend findet Berührung statt. Ein wirklich schöner Gedanke – der mich aber auch nicht weiterbrachte.

Zeit verging. Langsam geriet ich in Panik. Denn nach wie vor stellte ich mich so seltsam ungeschickt an. Und nach wie vor litt ich unter dieser verstörenden Atemlosigkeit und den Stimmungsschwankungen. Hinzu kam, dass ich bei allem, was ich tat, auf einmal das Gefühl hatte, mich beeilen zu müssen. Dabei gab es keinen Grund zu ständiger Eile, nichts und niemand hetzte mich, außer ich selbst eben. Und das tat ich gut.

Zum Glück mischte sich der Zufall, dieser göttliche Spaßvogel, in mein Leben ein. Weil mir – was nicht weiter verwunderlich war! – beim Aufräumen eines Schranks ein Karton aus der Hand gefallen war, hatte ich Fotos aufsammeln müssen, jede Menge über den Boden verstreute Fotografien. Dabei war ich auf eine Schwarz-Weiß-Aufnahme aus Kindertagen gestoßen. Kopf an Kopf hockte ich neben meinem Bruder im Sand, hielt ein Brennglas in der Hand, geduldig wartend, dass die Strahlen der Sonne es endlich schaffen würden, das Stückchen Papier zu unseren Füßen zu entzünden.

Je länger ich das Foto betrachtete, umso klarer war die Botschaft, die ich darin entdeckte: Kräfte bündeln ... Zentrieren ... Geduld haben. Und mir fiel ein, was meine Hausärztin mir beim Abschied gesagt hatte: Ich solle mir eine Atempause gönnen.

A t e m p a u s e. Eine Empfehlung, über die ich bisher nicht weiter nachgedacht hatte. Jetzt war das anders. Jetzt gab ich ihr Recht. Ja, ich brauchte eine Pause zum Atmen. Eine Verschnaufzeit. Eine Auszeit. Und ich wünschte mir einen Ort der Beruhigung, der Langsamkeit. Einen Ort, der im Gegensatz zu mir über einen langen Atem verfügte. Einen Ruhestifter sozusagen, der mir die Möglichkeit schenken würde, in aller Seelenruhe auf die Stimme meines Körpers zu hören. Denn dass er mir etwas zu sagen hatte, davon war ich überzeugt.

Führe mich auf einen hohen Felsen

und schaffe mir Ruhe.

—  Psalm 61

»Führe«, heißt es so schön in diesem Psalm. Aber ich ließ mich nicht führen. Trotz meiner Entschlossenheit, mir eine Ruhepause zu gönnen, dauerte es noch eine geraume Zeit, bis ich meine Idee endlich in die Tat umsetzte.

Unglaublich geradezu, wie Theorie und Praxis im Leben auseinanderklaffen können. Obwohl wir genau wissen, was uns guttun würde, tun wir es nicht. Überhören die Ratschläge von Ärzten und guten Freunden, und, was das Schlimmste ist, überhören die Stimme, die in uns selbst spricht. Jene leise Weisheitsstimme, die nichts anderes als unser Wohlbefinden, unser seelisches Gleichgewicht im Auge hat. Gerade wenn wir in eine emotionale oder körperliche »Schieflage« geraten sind, sollten wir tief und immer noch tiefer in uns hineinhorchen, um diese so wichtige Stimme zu vernehmen. Aber genau das tat ich nicht. Stattdessen fand ich immer neue Gründe, warum es mir gerade jetzt nicht möglich war, eine Auszeit zu nehmen. Warum ich gerade jetzt nicht in der Lage war, mich aus meinem Alltag zurückzuziehen, um mich in aller Ruhe um mein »Atemhaus« zu kümmern.

Als wolle mich das Leben an meinen guten Vorsatz erinnern, überraschte es mich eines schönen Tages mit einer genauso schönen Entdeckung: Bei einem Stadtbummel fiel mir ein Buch ins Auge, das ich unbesehen mitnahm. Aus dem einfachen Grund, weil mir der Titel so gut gefiel: »Kraft der Stille«, las ich im Vorübergehen. Freundlicher Zufall? Glücklicher Umstand? Ich weiß es nicht. Aber vielleicht ist es auch gar nicht so wichtig, immer genau zu wissen, warum etwas passiert. Vielleicht ist es viel wichtiger, sich vom Leben beschenken zu lassen. Das Herz zu öffnen und sich überraschen zu lassen.

Noch am Abend begann ich in dem Buch zu lesen. Besser gesagt, ich begann, darin herumzublättern. Denn ohne es zu merken, hatte ich einen Bildband gekauft. Ich staunte nicht schlecht, mit welch unglaublicher Geduld das Buch über viele Seiten hinweg Orte der Stille zeigte. Klöster, die in »rauschender Einsamkeit« lagen, Räume und Gärten in zauberhaftem Licht, und immer wieder die Gemeinschaft der Ordensleute, die sich hinter mächtige Klostermauern zurückgezogen hatten.

Mehrere Tage hintereinander saß ich an meinem Schreibtisch und stöberte in dem Buch herum. Dabei hatte ich das Gefühl, in die Bilder, die wie im Schneckentempo an mir vorüberkrochen, regelrecht einzutauchen. Ich bewunderte das konzentrierte Arbeiten der Mönche und Schwestern, die »wache Aufmerksamkeit ihres Herzens«. Unglaublich, mit welcher Sammlung, welcher Sorgfalt sie jeden ihrer Handgriffe verrichteten. Ganz egal, ob in der Kirche, in der Küche, im Arbeitszimmer oder im Garten. Auch bewunderte ich die Andacht, die Versunkenheit, mit der sie beteten. Nirgendwo Hetze. Nirgendwo Hektik. Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Und ich hatte das Gefühl, die Anwesenheit Gottes, seinen langen Atem in diesen Bildern des Friedens zu entdecken. Vor allem in den Gesichtern der portraitierten Menschen, die allesamt aussahen, als hätten sie nichts als Meeresstille im Herzen.

Die Impressionen dieses Buches begleiteten mich in den nächsten Tagen wie herrenlose Hunde, verfolgten mich auf Schritt und Tritt. Und da sie sich mit nichts vertreiben ließen, verfehlten sie ihre Wirkung nicht. Ganz plötzlich sehnte ich mich nach einer stillen, kontemplativen Zeit. Einer Zeit, in der sich mein Blick in aller Ruhe nach innen richten konnte. Weg von der Oberfläche, weg von allem Oberflächlichen.