Welt in Flammen - Benjamin Monferat - E-Book
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Welt in Flammen E-Book

Benjamin Monferat

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Beschreibung

Alle Mann an Bord … 25. Mai 1940: Während die deutschen Panzer unaufhaltsam westwärts rollen, bricht in Paris der Orient-Express zu seiner letzten Fahrt nach Istanbul auf. An Bord ist eine illustre Gesellschaft: der verbannte Balkankönig Carol von Carpathien, auf dem Weg, seine Krone wiederzuerlangen, Alexandrowitsch Romanow mit seiner Tochter Xenia, die einen Fremden heiraten soll, obwohl sie einen anderen liebt. Die junge Jüdin Eva, die ihr Leben riskiert, um ihren Geliebten zurückzuerobern … sowie mehrere Geheimagenten der Kriegsmächte: Denn im Zug befindet sich etwas, das der Führer unter allen Umständen in die Hände bekommen will. Und während der Himmel über Europa in Flammen aufgeht, rast der Orient-Express mit seinen Passagieren einem Schicksal entgegen, dessen Ausgang alles verändern könnte … »Eine Mischung aus Follett, Le Carré und Downton Abbey. Ein Schmöker für fast jedes Familienmitglied!« Karla Paul, ARD Ein fulminantes Historienepos für alle Fans von Jeffrey Archer und Ken Follett.

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Seitenzahl: 1108

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses Buch:

25. Mai 1940: Während die deutschen Panzer unaufhaltsam westwärts rollen, bricht in Paris der Orient-Express zu seiner letzten Fahrt nach Istanbul auf. An Bord ist eine illustre Gesellschaft: der verbannte Balkankönig Carol von Carpathien, auf dem Weg, seine Krone wiederzuerlangen, Alexandrowitsch Romanow mit seiner Tochter Xenia, die einen Fremden heiraten soll, obwohl sie einen anderen liebt. Die junge Jüdin Eva, die ihr Leben riskiert, um ihren Geliebten zurückzuerobern … sowie mehrere Geheimagenten der Kriegsmächte: Denn im Zug befindet sich etwas, das der Führer unter allen Umständen in die Hände bekommen will. Und während der Himmel über Europa in Flammen aufgeht, rast der Orient-Express mit seinen Passagieren einem Schicksal entgegen, dessen Ausgang alles verändern könnte …

Über den Autor:

Benjamin Monferat ist das Pseudonym des deutschen Bestsellerautors Stephan M. Rother. Der studierte Historiker war 15 Jahre lang als Kabarettist auf der Bühne unterwegs, bevor er sich im Jahr 2000 dem Schreiben widmete. Seitdem veröffentlichte er zahlreiche erfolgreiche Romane für Erwachsene und Jugendliche. Die Lebensgeschichte seines Großvaters, der im Dritten Reich am Bau luxuriöser Eisenbahn-Waggons beteiligt war und gleichzeitig im Widerstand gegen das Regime einsetzte, inspirierte ihn zu seinem Historien-Epos »Welt in Flammen«.

Die Website des Autors: magister-rother.de/

Bei dotbooks veröffentlichte Benjamin Monferat seine historischen Romane »Der Turm der Welt« und »Welt in Flammen«.

Unter seinem Klarnamen erscheinen die Thriller »Das Babylon-Virus«, »Die letzte Offenbarung«, »Sturmwelle« und »Im dunklen Holz«, sowie seine Fantasy-Trilogie DIE KÖNIGSCHRONIKEN mit den Einzeltiteln »Ein Reif von Eisen«, »Ein Reif von Bronze« und »Ein Reif von Silber und Gold«.

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eBook-Neuausgabe Januar 2025

Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Montasser Medienagentur, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrere Motive von ana / Sebastián Hernández / JERRY / Adobe Stock sowie mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (vh)

ISBN 978-3-98952-600-6

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Benjamin Monferat

Welt in Flammen

Roman

dotbooks.

VORWORT

Compiègne, Clairière de l’Armistice23. Mai 1940, 02:17 Uhr

Der Himmel im Osten war flüssiges Feuer.

Rötlich flackerte die gesamte Linie des Horizonts, greller getönt noch einmal über den Städten, in denen auch zu dieser Stunde Gefechte tobten.

François hielt sich zwischen den vordersten Reihen der Bäume und betrachtete das unheimliche Schauspiel über der nächtlichen Picardie.

Die Zerstörung. Den Zusammenbruch. Den Tod.

Das Geschützfeuer der Deutschen brach sich im flachen Tal der Aisne, doch noch waren sie nicht heran. Ein heftiger Einschlag ließ den Boden unter seinen Füßen erbeben. Der Donner folgte Sekunden später. Wie weit waren sie entfernt? Dreißig Kilometer? Vierzig? Würden sie in wenigen Tagen hier sein – oder waren es nur noch Stunden?

Das machte keinen Unterschied. Heute Nacht. Heute Nacht – oder niemals.

Er warf einen letzten Blick auf die apokalyptische Szenerie, dann drückte er die dunkle Ledertasche fester an seine Brust und suchte sich einen Weg durch das Dickicht der Bäume. Natürlich gab es einen Pfad, und aus Furcht vor feindlichen Fliegern war er in diesen Tagen gänzlich unbeleuchtet, doch selbst unter diesen Bedingungen erschien ihm das Risiko zu groß. Zwei Posten bewachten die Anlage. Nun, da die Front mit jedem Tag näher rückte, würden sie die Augen offenhalten.

Der Forêt de Compiègne mit seinen Eichen, Buchen und vereinzelten Zedern hatte einen einzigartigen, schweren Duft, und die warme Mainacht verstärkte ihn noch. François’ Finger strichen über die Rinde der Bäume, während er sich Schritt um Schritt vorantastete, bis sich die Dunkelheit vor ihm veränderte, die Umrisse der letzten Baumreihen sich von einer anderen Art Schwärze abhoben, und dann, von einem Schritt auf den anderen ...

Die Halle war ein klobiger Klotz, das dreifache Portal ein etwas höherer, kastenförmiger Umriss in den strengen Formen, die die Architektur seit dem Ende des Großen Krieges beherrschten.

François verharrte in der Deckung. Auch hier waren die elektrischen Lichter verloschen. Er wartete, während seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten. Ein Wachmann kam rechts hinter der Halle in Sicht, François erahnte ihn nur, lediglich der matte Schimmer einer Taschenlampe war zu erkennen. Ohne seine Geschwindigkeit zu verändern, passierte der Mann die Ecke des Gebäudes, schritt vor den Stufen des Portals entlang, bog dann nach rechts und bewegte sich langsam aus dem Blickfeld. François holte Luft.

Er hatte es geahnt, seit Tagen schon, dass diese Aufgabe ihm zukommen würde. Er war nicht der Jüngste in der Gruppe um den alten Victor, aber der Einzige, der keine Kinder hatte. Er liebte Claudine, doch wie sie alle liebte er auch sein Land. Wenn es getan werden musste, musste er es tun. Jetzt.

Der Posten war wieder mit der Dunkelheit verschmolzen. In den nächsten Sekunden würde sich der gewaltige Betonklotz zwischen ihm und dem Beobachter befinden.

François löste sich aus der Deckung, die Tasche an die Rippen gepresst. Seine eiligen Schritte waren auf dem Kies deutlich zu hören, erschreckend laut, doch er wagte es nicht, langsamer zu werden.

Achtzig Meter, fünfzig. Die Nacht war lau; die Atemzüge stachen in seinen Lungen, sein Puls war ein Brausen in den Schläfen. Dreißig Meter. Wo war der zweite Wächter? Wenn er in genau diesem Moment in seine Richtung schaute, war alles verloren.

Stolpernd erreichte François die breiten Stufen. Mit zwei Schritten war er oben, in der Hand den metallenen Nachschlüssel, den Victor beschafft hatte. Seine Finger waren eiskalt, zitterten. Das Schlüsselloch ... Er glitt ab, noch einmal. Der Posten, er musste jeden Augenblick ...

Mit einem Mal verschwand der Schlüssel in der Öffnung. Hektisch versuchte François ihn zu drehen. Er verkantete.

»Merde!« Er musste es schaffen! Wenn er jetzt die Flucht ergriff, würde er es niemals ungesehen zurück in die Deckung schaffen. Jetzt oder ... Der Schlüssel drehte sich, François presste sich gegen die Tür.

In diesem Moment hörte er die Schritte.

Schnell schob er sich ins Innere, drückte die Tür hinter sich ins Schloss, hielt keuchend inne.

Die Schritte! Waren die Schritte noch zu hören? Sein Schädel pochte, das Blut rauschte in seinen Ohren. Hatte der Mann ihn bemerkt? Ihn gehört? Er konnte ihn nicht gesehen haben, aber ... Der Schlüssel! Er hatte den Schlüssel nicht abgezogen. Wenn der Mann seine Taschenlampe auch nur beiläufig über die Tür gleiten ließ, musste er ihn entdecken!

François stand wie gelähmt. Aber nichts geschah.

Den Schlüssel doch noch an sich bringen? Zu gefährlich. Es kostete ihn alle Kraft, sich von der Tür zu lösen, sich langsam umzudrehen.

Dunkelheit. Im Innern der Halle war sie noch vollkommener als draußen, wo der Vollmond und der Widerschein der Gefechte eine Ahnung von Helligkeit gaben. Das Mauerwerk wurde nur von deckenhohen Fenstern durchbrochen, durch die etwas von dem Lichtschimmer den Weg ins Innere fand, sodass sich etwas Längliches, halb Erahntes aus der Finsternis schälte.

Auch das Innere war François vertraut. Er wusste, welchen Weg er nehmen konnte, ohne anzustoßen, hätte sich in vollständiger Dunkelheit bewegen können. Doch jetzt, im entscheidenden Moment, zögerte er.

Ich kann es nicht tun.

Mit einem Mal fielen ihm tausend Gründe ein, Argumente, die in der Gruppe wieder und wieder diskutiert worden waren. Die Nachricht aus dem deutschen Hauptquartier konnte falsch sein. Die Deutschen konnten ihre Pläne ändern – schließlich taten sie das andauernd. Wie sicher war es, dass die neuesten Informationen zutrafen?

Mit angehaltenem Atem trat er näher. Unter diesen Lichtverhältnissen war der Umriss nicht einmal als Eisenbahnwaggon zu erkennen, und doch kannte François jedes Detail. Seine Finger legten sich um das grobe Seil, das als Handlauf und Brüstung diente, fuhren leicht über die erhabenen goldenen Lettern: No 2419 D. Der Wagen wäre selbst dann eine Kostbarkeit gewesen, wenn er darüber hinaus keine besondere Bedeutung gehabt hätte.

Doch er hatte eine Bedeutung. Er war ein nationales Monument. Und er durfte den Deutschen nicht in die Hände fallen. Nicht, wenn Victors Informationen der Wahrheit entsprachen.

François würde ihre Pläne vereiteln. Sobald sie versuchten, den Wagen von der Stelle zu bewegen, würde der Sprengsatz zünden und Hitlers Schergen unter den Trümmern der Halle begraben. Eine solche Erschütterung musste einfach ausreichen.

Er holte Luft. Es gab keinen Grund mehr, noch länger zu zögern. Vorsichtig tastete er sich weiter vor, am Seil entlang. Zwölf, dreizehn, vierzehn Schritte. Dann der Einstieg.

Es war, wie Victor gesagt hatte: Der Zugang war nicht verschlossen. François schob sich in das schmale Entree des Wagens. Seine Finger glitten über die Innenwand, über das Glas des Durchlasses, hinter dem sich der einstige Salon befand.

Die Paneele unterhalb der Glasscheibe. François ging in die Hocke, zog einen Schraubenzieher aus der Tasche. Er konnte kaum glauben, dass es so einfach sein sollte, doch er brauchte nur Sekunden, bis er die kaum wahrnehmbare Vertiefung gefunden hatte, an der er ansetzen musste.

Ein letzter Atemzug, dann stemmte er sich mit aller Kraft gegen den Griff des Schraubenziehers.

Das Holz der Verkleidung löste sich – und polterte zu Boden.

Das Herz des jungen Mannes überschlug sich. Das mussten sie gehört haben.

Mit fliegenden Fingern stopfte er die Tasche in den Hohlraum. Sie passte, wie Victor es versprochen hatte. Die Holzplatte selbst, die die Öffnung wieder verschließen sollte ...

»Allô?« Laute Schritte.

»Merde! Un clef!«

Sie hatten den Schlüssel entdeckt! Hektisch unternahm er einen neuen Versuch, die Verkleidung wieder einzusetzen. Sie passte nicht, fiel ihm ein zweites Mal entgegen.

Als er für einen halben Atemzug innehielt, hörte er, wie eine Waffe gezogen wurde. Sie waren nah, ganz nah, schon in der Halle, aber noch draußen am Handlauf.

»Allô!«

François sog die Luft ein, als seine Finger zwischen Nut und Paneele gerieten, doch gleichzeitig schien der Mechanismus einzurasten.

»Allô ...«

Er federte hoch. Im selben Moment wurde im Einstieg ein Umriss sichtbar.

»Pas un geste!« Der Mann sah ihn sofort, wechselte im nächsten Moment ins Deutsche. Natürlich: Er musste François für einen Deutschen halten. »Keine Bewegung! Was tun Sie hier?«

François wusste nicht, was er tun, was er sagen sollte. Unter keinen Umständen durften die Posten das Versteck entdecken. Seine Hände fuhren über seine Jacke.

»Halt, sage ich!«

Es war eine bewusste Entscheidung. Wenn die Männer erkannten, dass er Franzose war, würden sie Schlüsse ziehen, etwas ahnen, ihn irgendwie zum Sprechen bringen. Das durfte nicht geschehen.

Ganz langsam, für den Mann deutlich sichtbar, glitt seine Hand ins Innere seiner Jacke.

Es gab keine letzte Warnung. François hörte den Schuss. Ein Gefühl, als hätte ihn jemand mit der flachen Hand fest vor die Brust gestoßen. Schmerz? Er war da, doch er war so kurz ...

»Claudine«, flüsterte er. Dann war da etwas Warmes, Zähflüssiges, das nach Eisen schmeckte und erbarmungslos seinen Mund füllte. »Claudine ...«

Dann nichts mehr.

TEIL EINS – LA FRANCE / FRANKREICH

Paris, 8e Arrondissement25. Mai 1940, 20:31 Uhr

Das bin nicht ich.

Eva Heilmann war eben im Begriff gewesen, einen Hauch Rouge aufzutragen. Jetzt ließ sie den Lippenstift sinken, betrachtete das Bild, das ihr aus dem Spiegel entgegenstarrte.

Das bin nicht ich.

Das schmale Gesicht einer jungen Frau, vielleicht noch jünger als die zwanzig Jahre, die Eva zählte. Die hohen Wangenknochen, die nach ihrem Gefühl ein wenig zu vollen Lippen, die Blässe der Haut, die durch den Tagespuder noch betont wurde. Alles war wie immer. Und doch gehörte das Gesicht einer Fremden.

Eva kannte diese Augenblicke. Momente der Unsicherheit, des Zweifels. Der Verwirrung. Am Anfang, während der ersten Monate in Paris, waren sie tatsächlich nur das gewesen: Momente. Wie konnte sie in Frage stellen, was sie war? Sie war eine nahezu klassische Schönheit mit dunklem Haar und mandelförmigen Augen. Um ihre Garderobe hätte sie manche Fürstin beneidet. Und sie war frei, frei, lebte in der aufregendsten Stadt Europas, traf die aufregendsten Menschen an den aufregendsten Orten. Carol las ihr jeden Wunsch von den Augen ab – schließlich war er ein König, wie er immer wieder betonte. Im Exil zwar, was er meistens vergaß zu erwähnen. Sie aber war seine Prinzessin.

So war es gewesen. In den ersten Monaten.

Das fremde Gesicht sah ihr aus dem Spiegel entgegen, und mit einem Mal war es vertraut, allerdings ohne dass es sich in ihr eigenes Gesicht verwandelt hätte. Es war das Gesicht ihrer Mutter.

Sie erinnerte sich an den Abend in der Villa in Dahlem, verborgen mittlerweile hinter hohen, halb verwilderten Hecken, denn arische Gärtner durften die Heilmanns schon seit Jahren nicht mehr beschäftigen. Sie erinnerte sich an die gespenstische Stimmung im Speisesaal, der so schrecklich leer wirkte, seitdem ihr Vater die Gemälde und den größten Teil des wertvollen Mobiliars hatte verkaufen müssen, um die Familie irgendwie über die Runden zu bringen.

Carols Angebot, dass Eva ihn begleiten könne, war aus heiterem Himmel gekommen. Schon sein bloßer Besuch war eine Überraschung gewesen: In dieser Zeit achteten die meisten Gäste aus dem Ausland, die etwas auf ihren Ruf bei den deutschen Machthabern hielten, sorgfältig darauf, unter keinen Umständen mit einer jüdischen Familie in Verbindung gebracht zu werden.

Doch Carol von Carpathien war davon überzeugt, dass für ihn andere Gesetze galten als für den Rest der Menschheit. Und irgendwie hatte er ja auch recht damit. Er war ein König. Nun, ein ehemaliger König zumindest.

Du musst gehen. Beschwörend hatten die Augen ihrer Mutter auf Eva gelegen, nachdem sich Carol für die Nacht in seine Suite im Adlon verabschiedet hatte. Dein Vater und ich kennen diesen Mann ein halbes Leben lang, und er hat immer seinen eigenen Kopf gehabt. Keiner von uns beiden hätte sich gewundert, wenn er nie wieder einen Gedanken an uns verschwendet hätte. Doch er ist hier, und ich habe gesehen, wie er dich angeschaut hat. Er wird dich auf Händen tragen und dir Paris zu Füßen legen. Er wird dich aus dem Land bringen, und du wirst leben wie eine Königin. Nur mit einem darfst du niemals rechnen.

Fragend hatte Eva ihre Mutter angesehen.

Du darfst niemals erwarten, dass seine Gefühle anhalten, hatte ihre Mutter gesagt.

Ein dumpfer Donner riss Eva aus ihren Gedanken. Sie widerstand dem Impuls, aufzuspringen, ans Fenster zu stürzen und nach der Qualmwolke, den Spuren der Detonation Ausschau zu halten. Nein, noch waren die Deutschen nicht da. Irgendwo bei Compiègne leisteten die Franzosen erbitterten Widerstand, und wenn die Gerüchte stimmten, die in der Stadt umgingen, bereitete Colonel de Gaulle einen letzten, verzweifelten Gegenschlag vor. Doch sie waren nah, und jeder wusste, dass Paris in den nächsten Tagen fallen würde. Demütigung und Unterdrückung warteten auf die Franzosen.

Auf Eva wartete Schlimmeres, wenn mit den Juden in Frankreich dasselbe geschehen würde, was mit ihnen in Deutschland geschehen war und, noch schrecklicher, seit dem letzten Jahr in Polen.

Noch wenige Minuten bis neun. Sie warf einen Blick auf die schwere Louis-seize-Uhr, die Carol gehörte, wie alles in dem verschwenderisch eingerichteten Appartement. Meine Kleider eingeschlossen, dachte Eva. Streng genommen hatte er sie ihr niemals geschenkt. Er hatte lediglich lächelnd den gewaltigen begehbaren Kleiderschrank aufgestoßen und sie aufgefordert, sich zu bedienen.

Alles gehört Carol, dachte sie, und ihr Blick kehrte zurück zum Spiegel. Auch ich gehöre Carol.

Selbst wenn sie eigenes Geld gehabt hätte: Es gab keinen Ort, an den sie hätte gehen können. Sie wusste nicht einmal, ob ihre Eltern noch am Leben waren. Keiner ihrer Briefe aus Paris war im letzten Jahr beantwortet worden, und Eva wusste, dass das ein Teil der Krankheit war, für die sie aber keinen Namen kannte. Keinen Namen als Müdigkeit, als Angst, als Schwäche.

Ich habe nur Carol, dachte sie. Wenn ich ihn noch habe. Denn sie hatte es gespürt, seit Monaten. Sein nachlassendes Interesse, seine Ausflüchte. Seine Komplimente waren beiläufiger geworden, während ein neuer Zug an ihm sichtbar geworden war: Ungeduld. Türen, die ihr in der ehemaligen Carpathischen Botschaft, in der Carol residierte, immer offen gestanden hatten, wurden ihr nun direkt vor der Nase zugeschlagen. Carol empfing Gäste, führte Verhandlungen, aber sie erfuhr nicht, mit wem. Hoffte er noch immer, irgendwann in sein Land zurückkehren zu können? Oder waren all diese Geheimnisse nicht mehr als eine billige Lüge? Gab es ... eine andere?

Eva spürte, wie sich das Herz in ihrer Brust zusammenzog. Seine veränderten Blicke waren ihr nicht entgangen. Er schätzte sie ab, und nichts entging ihm, nicht der kleinste Schatten um ihre Augen, nicht der Ansatz eines winzigen Fältchens, nicht die leiseste Mattigkeit ihrer Haut, die nicht einmal sie sehen konnte.

Sie hatte mittlerweile das eine oder andere erfahren – über die, die es vor ihr gegeben hatte. Alle waren sie jung gewesen. Sehr jung. Zu jung für einen Mann in den Dreißigern, selbst wenn er mit seinem schmalen Moustache etwas Verwegenes hatte wie der Schauspieler Errol Flynn. Ja, jedes junge Mädchen hätte sich in ihn verlieben können, auch wenn er nicht der König eines Landes gewesen wäre, von dem die meisten Leute nie gehört hatten.

Schließlich ist es mir nicht anders ergangen, dachte Eva. Nicht nur nach Paris – bis ans Ende der Welt wäre ich ihm gefolgt.

In Dahlem war sie ein junges Mädchen gewesen. Als sie ihm in der romantischen Wildnis des Gartens zum ersten Mal begegnet war, hatte sie einen alten, schneeweißen Hut ihrer Mutter getragen, der ihr auf ihrem glatten, feinen Haar viel zu groß gewesen war. Wie ein kleines Mädchen, das Dame spielte.

Das war es gewesen. Er hatte dieses kleine Mädchen in die große, atemberaubende Stadt Paris entführt. In den Louvre. Auf festliche Opernpremieren. Sie hatte Künstler kennengelernt, ja, sogar den Präsidenten der Republik, und am Ende war tatsächlich eine Dame aus ihr geworden.

Und damit war sie uninteressant geworden für Carol von Carpathien.

Ich bin zwanzig, dachte Eva. Ich werde zu alt für ihn.

Sie starrte auf das Bild im Spiegel und war sich fremder denn je.

Doch das durfte keine Rolle spielen. Mit mechanischen Bewegungen trug sie das Rouge auf die Wangen auf, das ihrem Teint eine Lebendigkeit verlieh, die sie nicht empfand. Mit einem tiefen Ton schlug die Louis-seize-Uhr neun Uhr abends. Es war Dienstag, ihr Jour fixe für das wöchentliche Treffen mit Carol. Wenn er verhindert war, gab er ihr vorher Nachricht.

Einer ihrer gemeinsamen Abende, und doch stand heute so unendlich viel mehr auf dem Spiel als bisher. Am nächsten Dienstag würden die Deutschen vielleicht schon in der Stadt sein, und Eva konnte sich nicht vorstellen, dass Carol die Ankunft der Wehrmacht abwarten würde. Er hielt sich zwar alle Türen offen, was seine diplomatischen Optionen betraf, doch für den Moment würde er sich an einen sichereren Ort absetzen, in die Schweiz vermutlich.

Eva musste ihn überzeugen, sie mitzunehmen.

Den Hut hatte sie eher zufällig entdeckt, vor ein paar Wochen erst, im hintersten Winkel des Kleiderschranks. Mit seiner breiten Krempe musste er irgendwann vor fünfzehn Jahren in Mode gewesen sein, doch als Eva ihn probehalber aufsetzte, stellte sie fest, dass er ihr Gesicht veränderte: Sie sah weniger schmal aus. Fröhlicher, jünger. Dem Mädchen aus Dahlem ähnlicher, als sie es wohl je wieder sein würde.

Nachdenklich prüfte sie ein letztes Mal das Bild. Vielleicht war es der Schatten über der Stirn, der ihr etwas Freches und Verschwörerisches gab. Carol würde es gefallen. Eva Heilmann betete darum, dass es ihm gefallen würde. Mein Leben, dachte sie, hängt an einem hässlichen Hut.

Sie griff nach ihrer Handtasche und zog die Wohnungstür hinter sich ins Schloss. Der Fahrer würde unten auf der Straße auf sie warten. So funktionierte ihre Übereinkunft: Eva wurde jede Woche pünktlich in der Residenz angeliefert, nicht anders als die Blumen aus dem Gewächshaus und die Stopfleber vom Balkan. Seit dem ersten Abend, als er ihr das Appartement präsentiert hatte – nur einen Steinwurf von den Champs-Élysées entfernt –, hatte Carol sie dort nie wieder besucht.

Ihre Schritte hallten im Treppenhaus wider. Die Wohnungen auf den unteren Etagen waren an höhere Angestellte mit ihren Familien vermietet. Anfangs hatte sich Eva einige Mühe gegeben, doch zu niemandem einen Draht gefunden. Keine Freunde, keine Familie. Nur Carol.

Sie trat auf die Straße und kniff die Augen zusammen. Im abendlichen Zwielicht hasteten Passanten scheinbar ziellos auf den Trottoirs hin und her. Seitdem die deutsche Offensive begonnen hatte, schien es jeder eilig zu haben. Als könnte hektische Betriebsamkeit das Unausweichliche irgendwie aufhalten. Eine mit Uniformierten besetzte Wagenkolonne bewegte sich rumpelnd stadtauswärts.

Das Automobil mit Carols persönlicher Standarte war nirgends zu sehen.

Eva sah auf ihre Armbanduhr, eines der wenigen Dinge, die wirklich ihr gehörten: ein Geschenk ihres Vaters zu ihrem vierzehnten Geburtstag. Sechs Minuten nach neun. Der Chauffeur hatte sich noch nie verspätet. Carol hatte kein Verständnis für Abweichungen von seinem persönlichen Protokoll.

Unschlüssig sah Eva in beide Richtungen. Die Botschaft war ganze zwei Häuserblocks entfernt. Selbst auf ihren hohen Schuhen war das nicht weit. Und im Achten Arrondissement mit all den Behörden und Regierungsgebäuden konnte sich eine junge Frau auch um diese Uhrzeit gefahrlos auf der Straße bewegen.

Es war etwas anderes. Ein merkwürdiges Gefühl, das in ihrem Magen erwacht war. Eine unangenehme Kälte. Nein, es war noch keine Ahnung, kein Verdacht oder etwas Derartiges, doch mit einem Mal wusste sie, dass sie unter keinen Umständen ins Haus zurückgehen und den Concierge bitten würde, ihr ein Taxi zu rufen.

Sie wollte zu Carol. Sofort.

Mit eiligen Schritten lief sie den Gehweg entlang. Auf der anderen Straßenseite umringte eine Gruppe von Gendarmen einen jungen Mann, und eine stetig wachsende Traube von Menschen umringte ihrerseits die Gendarmen. Die Angst vor Nazi-Spionen hatte sich in den letzten Tagen in Paranoia verwandelt. Eva ließ ein Militärfahrzeug passieren, bog dann um die Ecke in die Rue Vernet, in der sich die Carpathische Botschaft befand.

Sie erkannte auf der Stelle, dass etwas anders war, und konnte doch im ersten Augenblick nicht sagen, was es war. Dann, im nächsten Moment, überschlug sich ihr Puls.

Die Fahne war verschwunden.

Carols Banner über dem Portal der Residenz, das jedem Betrachter unmissverständlich klarmachte, dass in diesem palaisartigen Gebäude ein König lebte. Das Banner war nicht mehr da.

Eva war stehen geblieben, zu keiner Bewegung fähig. Es dauerte Sekunden, bis sie sich aus ihrer Erstarrung löste und mit steifen Schritten auf die große Freitreppe zuging, die sie bisher nur selten betreten hatte. Für gewöhnlich half der Chauffeur ihr am Hintereingang aus dem Wagen.

Die große Doppeltür war verschlossen, beim Näherkommen aber hatte Eva hinter einigen Fenstern im unteren Stockwerk Licht gesehen. Mit eisigen Fingern drückte sie den Klingelknopf. Sie wartete.

Gedämpfte Schritte irgendwo im Innern des Gebäudes. Eva holte Atem, kämpfte die Panik in ihrer Brust nieder. Es musste eine Erklärung geben, irgendeine andere Möglichkeit als den düsteren Umriss, der sich in ihrem Herzen abzeichnete.

Ein metallisches, schabendes Geräusch auf der anderen Seite der Tür, die jetzt einen Spaltbreit geöffnet wurde. Ein junger Mann, den Eva noch nie gesehen hatte. Er trug die Uniform des carpathischen Militärs: ein Unteroffizier. Während des letzten Jahres hatte sie gelernt, die Dienstränge auseinanderzuhalten.

»Ich ...«, begann sie, doch ihre Stimme versagte.

Der junge Mann sah sie an, nicht unfreundlich, eher verwirrt. »Ja? – Es tut mir leid, aber zu wem Sie auch wollen, es ist niemand mehr da.«

Eva tastete nach dem dunklen Stein des Portals. »Nie... Niemand?«

»Hatten Sie einen ...« Der Blick des jungen Offiziers glitt an ihr hinab. Selbst wenn er neu in der Stadt war, musste er in der Lage sein, ein Pariser Abendkleid zu erkennen. »Ich fürchte, alle Termine sind abgesagt worden.«

»Wo ist er hin?« Eva erschrak, als sie ihre eigene Stimme hörte.

»Er?«

»Carol. Wo ist er hin?«

Der junge Mann hob eine Augenbraue. »Leider bin ich nicht befugt, Ihnen ...«

»Was ist da los?«

Schritte, ein unregelmäßiger und schwerer Gang. Im nächsten Moment schob sich ein zweites Gesicht in den Türspalt, und dieses Gesicht kannte Eva. Mikhlava war in der Botschaft eine Art Köchin gewesen, allerdings nicht für die offiziellen Gäste und Empfänge. Für diese Anlässe hatte Carol teure französische Küchenchefs engagiert. Auf die carpathische Küche dagegen verstand sich niemand besser als diese alte Frau, die Eva immer anders begegnet war als Carols distanzierte offizielle Hofbeamte.

»Himmel! Kind!«

Eva sah Überraschung in Mikhlavas Augen, doch auch noch etwas anderes: Bestürzung.

»Sie sind tatsächlich noch hier«, flüsterte die alte Frau. »Er hat es wirklich getan.« Sie schien kurz davor, sich zu bekreuzigen.

Jede weitere Frage erübrigte sich. Carol war fort. Und er hatte Eva ihrem Schicksal überlassen.

Plötzlich spürte sie einen Schwindel in ihrem Kopf. Die beiden Gesichter in der Tür schienen ineinander zu verschmelzen, selbst das schwere Holz an Substanz zu verlieren, sich in zittrige dunkle Linien aufzulösen. Eva stand nicht länger auf dem Sandstein der Freitreppe, sondern an einem bodenlosen Abgrund – nein, in einem Morast, in dem sie versinken würde: tiefer und tiefer und ...

Eine knochige Hand schloss sich um ihre Schulter, hielt sie aufrecht.

»Kindchen?« Mikhlavas besorgte Augen waren direkt vor ihrem Gesicht. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«

Eva kniff die Augen zusammen, öffnete sie dann flatternd. Ihr Blick, vermutete sie, sagte genug.

»Es tut mir so leid«, murmelte die alte Frau. »Aber Sie sind noch jung, Mademoiselle. Sie haben so viele Möglichkeiten. Sie müssen irgendwie versuchen ...«

»Wann?«

Mikhlava blinzelte. »Was?«

»Wann ist er gefahren?«

Die alte Frau fuhr sich über die Lippen. »Kind, das macht doch keinen Unterschied.«

»Wann?«

Mikhlava ließ die Schultern sinken, schürzte einen Moment lang die Lippen und schien dann eine Entscheidung zu treffen. »Heute Abend«, sagte sie. »Die Ordonnanz hat in den letzten Wochen alles vorbereitet. Die politischen Dinge. Er selbst fährt heute Abend als Letzter, mit dem engsten Gefolge.«

In den letzten Wochen. Der Schwindel griff von neuem nach Eva, als sie die Tragweite dieser Worte erfasste. Also hatte Carols Entscheidung bereits festgestanden, als sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Und er war gewesen wie immer, vielleicht sogar eine Spur aufmerksamer als in den vergangenen Monaten. Er hatte gelächelt, seine Scherze gemacht, und als sie sich geliebt hatten, hatte Eva geglaubt, einen neu erwachten Hunger nach ihr zu spüren. Ja, sie hatte tatsächlich das Gefühl gehabt, ihn vielleicht – ja, vielleicht – zurückgewonnen zu haben. Aber es war eine Lüge gewesen. Die Lippen, die ihre Lippen berührt hatten und andere, geheime Orte ... Jedes Wort von diesen Lippen war eine Lüge gewesen, womöglich seit langer Zeit schon. Er hatte sich in Sicherheit gebracht. Ein neues Land – und vermutlich ein neues Mädchen. Eva dagegen ...

Ihr Gedankengang brach ab. Etwas, das Mikhlava gesagt hatte, ließ sie stutzen: Die politischen Dinge. Was für politische Dinge gab es zu klären, wenn er von einem Palais in Frankreich in ein Chalet in der Schweiz umzog? Und warum hatte er nahezu seinen gesamten Hofstaat mitgenommen? Sie sah der alten Frau in die Augen. Du kannst es mir nicht verschweigen.

Mikhlava nahm einen tiefen Atemzug. »Er kehrt nach Carpathien zurück. Das Volk ruft nach ihm.« Ein leises, trauriges Lachen. »An Köchinnen, die ihm seinen Bogratsch zubereiten, wird es dort keinen Mangel geben.«

Und an Mädchen, die zu jung für ihn sind, mit Sicherheit auch nicht, dachte Eva. Carol würde wieder König sein. Er brauchte sie nicht mehr.

Aber sie brauchte ihn. Weniger, weil er ein König war und sie aus dem Land bringen konnte. Nein. Sie konnte sich selbst nicht mehr sehen – außer durch seine Augen.

Heute Abend also. Es gab nur einen Zug, der Paris am späten Abend verließ und bis auf den Balkan durchfuhr. Jedes Kind kannte diesen Zug. Jedes Kind kannte den Orient Express. Es war jetzt kurz vor halb zehn. Sie war sich nicht sicher, wann genau der Zug abfuhr – irgendwann nach zehn. Der Gare de Lyon befand sich auf der anderen Seite der Stadt. Eine Sekunde lang überlegte Eva, Mikhlava zu bitten, ihr ein Taxi zu rufen, doch im selben Moment begriff sie, dass sie die wenigen Francs, die sie in der Tasche hatte, zusammenhalten musste, wenn sie irgendwie überleben wollte.

Sie zog ihre Schuhe von den Füßen und begann zu laufen.

***

Paris, Gare de Lyon25. Mai 1940, 21:47 Uhr

Mit einem tiefen Stöhnen prallten die Puffer der beiden Waggons ineinander. Ein dumpfer Laut, als die Sicherungen einrasteten.

Das Geräusch, mit dem Lieutenant-colonel Claude Lourdon den Atem ausstieß, hatte nahezu dieselbe Frequenz. Er beobachtete, wie zwei Bahnarbeiter sich geschickt ins Gleisbett gleiten ließen und die Verbindungen noch einmal sorgfältig prüften. Nichts wurde dem Zufall überlassen. Was er sah, hätte Anlass zur Beruhigung sein müssen, doch das Gegenteil war der Fall.

Lourdon drehte sich um. Gaston Thuillet, der Vertreter der Eisenbahngesellschaft, stand in seiner nachtblauen Uniform zwei Schritte hinter ihm und hatte das Manöver ebenfalls verfolgt. Der Mann hatte einen nervösen Tic; das Monokel in seinem rechten Auge zuckte unruhig hin und her.

»Ich mache Sie noch einmal darauf aufmerksam, dass alles hier auf Ihre Verantwortung geschieht, Lieutenant-colonel.« In Thuillets Stimme lag ein leichtes Zittern. »Ich habe getan, was ich konnte, Ihnen meine Bedenken darzulegen – als Repräsentant der Compagnie internationale des wagons-lits, aber mehr noch als ein Mann, der die Reise, die vor uns liegt, bereits Dutzende Male bestritten hat. Die Lokomotiven, die man unterwegs einsetzen wird, sind für die zusätzliche Last nicht ausgelegt, was allein schon eine Gefahr für die Sicherheit des gesamten Zuges darstellt. Und ich muss wohl kaum erwähnen, dass das Schienennetz auf dem Balkan seit dem letzten Krieg in einem Zustand ist, der ...«

»Das ist mir bekannt.« Lourdon nickte knapp. »Doch im Moment reicht es mir vollkommen aus, wenn Sie den Fahrdienstleiter nicht daran hindern, das Signal zur Abfahrt zu geben.«

Thuillet sah auf die Uhr. »In dreiunddreißig Minuten.«

Der Offizier neigte den Kopf. »Selbstverständlich.«

Er drehte sich wieder um, musterte den Zug. Der Orient Express – richtiger: der Simplon Orient Express, der seit dem Ende des Großen Krieges auf einer anderen Strecke verkehrte als sein legendärer Vorgänger – war eine Schönheit. Die Wagen aus glänzend nachtblau lackiertem Metall mit ihren Schriftzügen aus mattem Gold, die Ausstattung, die einem Luxushotel auf Rädern glich.

Die Lokomotive an der Spitze, eine stolze Pacific, würde auf der Reise mehrfach gewechselt werden. Doch der Rest: Wie die Glieder eines eleganten mechanischen Reptils fügten sich die Wagen aneinander. Hinter dem Gepäckwagen ein Schlafwagen aus der Lx-Serie, der schönsten und komfortabelsten, die überhaupt im Einsatz war, dann der salonartige Speisewagen, schließlich ein zweiter Schlafwagen, und dahinter ...

Es war unübersehbar, dass dieser Wagen nicht dazugehörte, obwohl auch er ein Schmuckstück war: dieselben goldglänzenden Schriftzüge, die gleichen Achsen, die gleiche Konstruktion. Doch hier endeten die Gemeinsamkeiten. Der Wagen war komplett mit edlem Teakholz verkleidet.

Ja, auch dieser Wagen hatte einmal zum Orient Express gehört. Vor einem Vierteljahrhundert.

Kritisch betrachtete Lourdon die erhabenen goldenen Lettern neben dem Einstieg: No 2413 D. Er hatte keinen Schimmer, ob ein Wagen mit dieser Nummer jemals existiert hatte, doch die Gießer hatten jedenfalls ganze Arbeit geleistet. Das matte Gold wies dieselbe Patina auf wie die übrigen Lettern auf dem Wagen. Und doch ... Jeder wird es sehen, dachte Lourdon. Jeder muss es sehen. Und zwei und zwei zusammenzählen.

Thuillet räusperte sich. »Mit Verlaub, Lieutenant-colonel, bei allem Verständnis für Ihre Situation ...«

Lourdon wandte sich um und musterte den Mann von oben bis unten. »Bei allem Verständnis für die Situation unseres Landes, wollten Sie vermutlich sagen.«

Thuillet straffte sich, zupfte an seiner Uniformjacke. »Ich trage eine Verantwortung, Lieutenant-colonel. Für diesen Zug und für die Menschen, die ihn in wenigen Minuten besteigen werden. Der Name meiner Gesellschaft und der Name Orient Express stehen seit mehr als einem halben Jahrhundert für absolute Zuverlässigkeit, für Komfort, wie es ihn auf der Welt kein zweites Mal gibt, und ja, für Sicherheit auf Reisen, die ihresgleichen sucht. Bei allem Verständnis für die Hoffnungen, die Sie und Ihr Colonel ...«

»Mein General«, murmelte Lourdon, dessen Augen zum Zug zurückgekehrt waren. »Seit gestern. Général de Brigade Charles de Gaulle.«

»Bei allen Hoffnungen, die Sie und Ihr General sich machen: Es muss doch eine Möglichkeit geben, die keine unschuldigen Menschen in Gefahr bringt!«

»Glauben Sie?« Lourdon drehte sich zu ihm um. »Das müsste dann eine Sorte Krieg sein, die ich noch nicht kenne. Denn das hier ist Krieg, Thuillet, und Krieg bedeutet nun einmal Gefahr für die Menschen. Auch für unschuldige Menschen. – Hören Sie mal hin!«

Er schwieg, ließ den anderen lauschen. Er war sich selbst nicht sicher, glaubte aber sogar über die Geräusche der belebten Bahnhofshalle, das Summen aufgeregter Gespräche, das An- und Abkuppeln der Züge und Lokomotiven hinweg den fernen Donner der deutschen Geschütze wahrzunehmen.

»Niemand hält die Deutschen mehr auf Paris wird fallen, Compiègne vielleicht heute oder morgen schon. Und Sie und ich wissen, warum Compiègne für Hitlers Schergen ein so einzigartiges Ziel darstellt.«

Obwohl die Gruppe Bahnarbeiter mehr als zehn Meter entfernt war, sprach er weiter mit gedämpfter Stimme. Selbst sein Nicken zu dem Wagen, der jetzt die Nummer 2413 D trug, war nur eine vorsichtige Andeutung.

»Dieser Wagen ist mehr als ein Museumsstück. Dieser Wagen ist ein Symbol der Größe Frankreichs. In diesem Wagen haben die Deutschen zähneknirschend eingestehen müssen, dass Frankreichs Waffen im Großen Krieg den Sieg davongetragen haben. CIWL 2419 D, der wagon de l’Armistice, Zeuge der größten Stunde unserer Nation. Selbst wenn ich es wüsste, würde ich Ihnen nicht verraten, woher unsere nachrichtendienstlichen Quellen ihre Informationen haben, doch es besteht nicht der geringste Zweifel an ihrer Richtigkeit: Hitler kennt die Macht der Bilder für seine Propaganda, und er will diesen Wagen. Dort, wo unser Land seinen größten Triumph erlebt hat, soll nun die Stunde unserer größten Demütigung schlagen. Sein Waffenstillstand. Sein Friedensvertrag, den er uns in ebendiesem Wagen aufzwingen will. Vor ein paar Nächten ist bereits einer seiner Spione in die Halle eingedrungen ...«

»Ein Deutscher?«

Zufrieden registrierte Lourdon, dass Thuillets Hand unwillkürlich an die Brust fuhr. Ein Funke Patriotismus glomm eben in jedem Franzosen. Offenbar selbst im Chef des Reisezugpersonals einer Schlafwagengesellschaft.

Betont beiläufig hob Lourdon die Schultern. »Die Wachen haben den Mann erschossen, bevor er verhört werden konnte.«

»Na... natürlich.« Thuillet schluckte. »Ich verstehe Sie ja auch. Ich verstehe, dass der Wagen verschwinden muss. Aber könnte er nicht irgendwo in einem Versteck ...«

Langsam schüttelte Lourdon den Kopf. »Welches Versteck wäre sicher, wenn die Deutschen das Land besetzen? Haben Sie nicht die Geschichten aus Polen gehört? Hitlers SS schlitzt den Menschen auf der Suche nach versteckten Juwelen die Bäuche auf. Nein, der Wagen muss fort aus dem Land, so weit fort wie möglich.«

Unverwandt betrachtete er das Gefährt. Mit der neuen Nummer versehen, hätte es jeder beliebige veraltete Wagen der CIWL sein können, wie sie auf Nebenstrecken noch immer unterwegs waren. Einer dieser Wagen hatte nun tatsächlich die Stelle des wagon de l’Armistice in Compiègne eingenommen. Hitler war unberechenbar. Unter keinen Umständen durfte ihm klarwerden, dass ihm seine Trophäe in Wahrheit entging. Sollte er seine Bilder bekommen. Nach Ende des Krieges würden die Franzosen das Original wieder hervorzaubern. Denn so dunkel die Zeiten auch waren, Lourdon glaubte fest daran: Am Ende musste dieser Krieg mit dem Sieg Frankreichs und seiner Verbündeten enden.

»Mögen wir im Moment auch geschlagen werden«, murmelte er. »Mag Frankreich den Deutschen in die Hände fallen, von den Bergen bis ans Meer, so besitzen wir noch immer unsere Kolonien und Mandatsgebiete. Ist der Wagen erst einmal in Istanbul, werden wir auch eine Möglichkeit finden, Syrien zu erreichen oder den Libanon.« Er nickte grimmig. »Der Wagen steht auf den Schienen. Das ist der erste Schritt.«

Und der war schwer genug, dachte er. Tatsächlich war der Transport nach Paris ein Albtraum gewesen. Da die Halle in Compiègne nicht mehr an das Gleisnetz angeschlossen war, waren seine Mitarbeiter gezwungen gewesen, den Wagen auf Geschützlafetten zu transportieren, sodass er zumindest bis Paris vermutlich sanfter gerollt war als jemals zuvor in seiner Geschichte.

Doch konnte das bizarre Unternehmen tatsächlich gelingen? So vieles schien dagegenzusprechen. Ein Wagen, wie er seit einem Jahrzehnt und länger nicht mehr auf dieser Route verkehrte, musste einfach Verdacht erregen. Und jeder Mensch in Europa hatte vom Wagen von Compiègne gehört.

»Lieutenant-colonel?«

Lourdon registrierte, dass Thuillet ihn fragend ansah. Der Vertreter der CIWL musste irgendetwas gesagt haben.

Jetzt wies er mit einem Nicken auf den Bahnsteig. »Unsere ersten Fahrgäste.«

***

Paris, Gare de l’Est26. Mai 1940, 22:09 Uhr

Von einer Bank in der Wartezone aus hatte Ingolf Helmbrecht das komplizierte Manöver beobachtet, mit dem ein zusätzlicher Wagen an den Express angekuppelt wurde. Ein faszinierender Anblick, diese Giganten aus Stahl. Absolut unverfänglich, wenn einer der Fahrgäste einfach nur dasaß und den Vorgang bestaunte.

Das zumindest hoffte er.

Ingolf atmete flach. Solange er sich möglichst wenig bewegte, hielten sich die Schmerzen in Grenzen. Wenn man bedachte, was er in den letzten achtundvierzig Stunden durchgemacht hatte, war es fast überraschend, wie gut es ihm ging. Wesentlich besser als Löffler jedenfalls. Löffler, den er kaum gekannt hatte und nun auch nicht mehr besser kennenlernen würde, weil er mit dem Gesicht nach unten in der Marne trieb. Vorausgesetzt, die französischen Soldaten, die wie aus dem Nichts aufgetaucht waren und auf sie gefeuert hatten, hatten ihn inzwischen nicht aus dem Fluss gefischt.

Wenn Ingolf recht darüber nachdachte, waren die Dinge in letzter Zeit etwas anders verlaufen, als er sich das vorgestellt hatte. Im Grunde schon seit Kriegsbeginn. – Schlecht. Für Europa und für ihn. Wäre es nach ihm gegangen, hätte er jetzt in seiner Berliner Studentenbude gesessen und die Faksimileausgabe der spätstaufischen sizilischen Staatspapiere jener wirklich gründlichen Prüfung unterzogen, auf die die Wissenschaft seit mehr als einem halben Jahrhundert vergeblich wartete. Was nun nicht Ingolf Helmbrecht anzulasten war, der von diesem halben Jahrhundert nur die letzten dreiundzwanzig Jahre miterlebt hatte.

Stattdessen aber saß er auf einer Bank im Gare de Lyon und zerbrach sich den Kopf, wie er mit seinem gefälschten Pass durch die Kontrolle kommen sollte, ohne mit dem Doppelticket zusätzliches Aufsehen zu erregen. Denn Ingolf Helmbrecht hielt sich schon in seinem Gesellschaftsanzug für einigermaßen auffällig – die durchweichte und mit Löfflers Blut bespritzte Reisegarderobe hatte er in einem Gebüsch zurückgelassen. Und dass er in diesen Zug musste, war keine Frage. Admiral Canaris war kein Mann, der mit sich spaßen ließ. Wenn er einen Auftrag erteilte, erwartete er, dass dieser Auftrag ausgeführt wurde. Ob Löffler nun tot war, spielte dabei keine Rolle.

Und wenn er bis zur letzten Sekunde wartete? Der Orient Express war bekannt dafür, dass er auf die Sekunde pünktlich abfuhr. Hatte er in diesem Moment der Hektik nicht die besten Chancen? Doch auf dem Bahnsteig wimmelte es von Uniformierten, ohne dass Ingolf sagen konnte, wer von ihnen zur Militärpolizei gehörte, zum Zoll oder zum Tross dieses lächerlichen Adelsfatzkes mit dem Moustache, der vor allen anderen in den Zug gestiegen war und den Ingolf irgendwann einmal in einer Illustrierten gesehen haben musste. Mit absoluter Sicherheit war nur der Schaffner zu erkennen.

Weniger als zehn Minuten bis zur Abfahrt.

Weitere Reisende näherten sich mit eiligen Schritten. Ein junges Ehepaar. Amerikaner, keine Frage – kein Europäer würde freiwillig einen solchen Anzug tragen. Hinter den beiden eine ganze Familie, die Kinder sahen nicht begeistert aus, und dahinter ...

Ingolf blinzelte, nahm seine Nickelbrille von der Nase. Musste dringend geputzt werden. Doch selbst ohne Brille ... Das Mädchen war eine Schönheit. Dunkelhaarig, soweit er es erkennen konnte, was nicht ganz einfach war, denn sie trug einen ziemlich grauenhaften Hut. Deutlich zu sehen war dagegen ihr rötlich gesunder Teint, wobei er sich gerade fragte, was genau diesen Teint hervorgerufen hatte, denn das Mädchen lief barfuß, schien etwas zu humpeln und schob sich hastig an der Familie vorbei.

»Bitte!« Schwer stützte sie sich auf das Metallgeländer vor dem Kontrollschalter. »Bitte, ich muss zu ihm!«

Ingolf hatte den Schalterbeamten bereits beobachtet. Der Mann trug die Nase mindestens so hoch wie die meisten der Fahrgäste. Schon der Blick, mit dem er die junge Frau musterte, wirkte überlegen. »Mademoiselle?«

»Bitte, ich muss sofort ...«

»Selbstverständlich. Wenn Sie mir einfach Ihr Billett reichen würden?«

»Mein ...«

»Wenn Sie bitte einen Moment zur Seite treten würden, ja? – Eure kaiserliche Hoheit?«

Der Mann an der Spitze der Familie nickte ihm knapp zu und reichte ihm einige Blätter Papier. Die Geste, mit der der Schalterbeamte ihn und seinen Anhang aufforderte zu passieren, war beinahe eine Verbeugung.

»Ich muss in diesen Zug!« Die Haltung des Mädchens hatte sich verändert. Zitterte sie? Ingolf konnte nicht mit Sicherheit sagen, warum er aufgestanden war, näher herantrat, den Koffer unter dem Arm, sodass er gegen seine lädierten Rippen drückte.

»Gewiss, Mademoiselle«, versicherte der Kontrolleur in einem Tonfall, dem man die Wichtigkeit seiner Person deutlich anhörte. »Überhaupt kein Problem. Wenn Sie mir dann bitte einfach Ihr Billett ...«

»Ich habe kein Billett! Er hat ...«

»Mademoiselle.« Der Mann sah über die Schulter, wechselte einen Blick mit dem Schaffner, der drei Finger hob. Noch drei Minuten. »Es tut mir fürchterlich leid, Mademoiselle, aber unter diesen Umständen darf ich Sie wirklich nicht passieren lassen.«

»Bitte! Ich muss ...«

Ja, sie zitterte. Ihre Stimme zitterte. Sie stützte sich auf die Absperrung. Ingolf begriff, dass sie sich nicht vom Geländer lösen konnte, ohne auf der Stelle umzukippen. Das junge Mädchen war verzweifelt, und, ja, sie war wunderschön, selbst in diesem Moment.

»So leid es mir tut.« Der Tonfall des Mannes hatte sich verändert. Ein knappes Nicken. Zwei der Uniformierten setzten sich in Bewegung, kamen auf das junge Mädchen zu, das die Hände jetzt doch von der Sperre löste, einige Schritte zurückstolperte.

In diesem Moment traf Ingolf Helmbrecht eine Entscheidung.

»Chérie!«

Mit zwei Schritten war er bei ihr, im selben Moment wie die Bahnpolizisten, die überrascht stehen blieben.

Das Mädchen stolperte. Mit einer raschen Bewegung fing Ingolf sie auf. Das Gefühl in seinen Rippen war unbeschreiblich, doch gleichzeitig roch er ihren Duft, spürte die Wärme ihrer Haut. Sie schwitzte wie im Fieber. Eine Sekunde lang trafen sich ihre Augen, doch im selben Moment begannen ihre Lider zu flattern.

Er biss die Zähne zusammen. Um Himmels willen nicht ohnmächtig werden!

»Bitte entschuldigen Sie.« Er nickte den Bahnbeamten zu. »Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, dass meine ... Verlobte es nicht pünktlich schaffen würde.«

Einer der beiden hob skeptisch die Augenbrauen, doch Ingolf spürte, dass sein verzweifelter Plan im Begriff war zu gelingen. Diese Männer waren Pariser, und Paris war die Stadt der Galanterie. Bestimmte Aussagen zweifelte man ganz einfach nicht an. Automatisch wichen sie ein Stück zurück.

»Was ...«, flüsterte das Mädchen.

»Wenn Sie in den Zug wollen, spielen Sie mit!«, zischte Ingolf.

Er stützte sie, zog sie mit sich zum Schalter. Unter Anstrengung gelang es ihm, das doppelte Billett aus der Tasche zu ziehen. »Bitte«, sagte er freundlich.

In diesem Moment ertönte ein Signal, und der Beamte sah sich um. Der Schaffner tippte überdeutlich auf die Armbanduhr. Der Mann am Schalter warf nicht mehr als einen Blick auf Ingolfs Papiere, ausgestellt auf den Namen Ludvig Mueller, Amerikaner mit deutschen Wurzeln, wohnhaft in Michigan. Nach den Papieren des Mädchens fragte er erst gar nicht, schließlich galt das Billett für zwei.

»Der hintere Schlafwagen. Wenn Sie sich bitte beeilen würden, Monsieur?«

Nichts lieber als das, dachte Ingolf Helmbrecht. Und nichts schwerer als das. Das Mädchen war schlank, doch auf seinen Arm gestützt schien es plötzlich Zentner zu wiegen.

Am Einstieg nahm sie ein junger Zugbegleiter in Empfang, half ihnen die steile Metallstiege hinauf. Unmittelbar hinter ihnen wurde die Tür geschlossen. Zwei Sekunden später, und der Orient Express ruckte an.

***

Zwischen Paris und Vallorbe25. Mai 1940, 22:24 Uhr

CIWL WL 3425 (Hinterer Schlafwagen). Kabinengang.

»Hast du ihre Beine gesehen?«, flüsterte Raoul.

Sein Kollege Georges fuhr in einer fließenden Bewegung herum, die man einem Mann mit seinem Leibesumfang nicht zugetraut hätte. Wie ein Elefant, der eine Pirouette dreht, dachte Raoul nicht zum ersten Mal. Ein Elefant in dunkler Uniform mit glänzenden goldenen Knöpfen – der Uniform eines Kabinenstewards der Compagnie internationale des wagons-lits, der CIWL.

»Beine!« Georges stieß das Wort hervor wie etwas Unanständiges, nahezu Erschreckendes. »Habt ihr jungen Burschen denn keine Sekunde etwas anderes im Kopf als Beine? – Nein!«

»Das habe ich gar nicht gemeint«, wisperte Raoul. »Jedenfalls diesmal nicht«, schob er etwas schuldbewusst nach, hauptsächlich um dem aufgesetzt entrüsteten Georges nicht den Spaß zu verderben. Vorsichtshalber warf er einen Blick an seinem Kollegen vorbei. Doch, die Tür des Abteils war fest verschlossen. »Ihre Strümpfe! Von denen war kaum noch was übrig!«

»Ach?« Übertrieben hob Georges eine Augenbraue. »Ich würde sagen, so sieht man eben aus, wenn man quer durch die Stadt gelaufen ist, weil man den Express noch erwischen will. Was glaubst du wohl, wie deine Füße aussehen würden, wenn du ...«

Raoul holte bereits Luft, doch er kam nicht dazu, zu antworten.

Thuillet besaß die Fähigkeit, sich völlig lautlos zu bewegen. Mit logischen, physikalischen Erklärungen konnte man dem nicht beikommen. Der Vorgesetzte des Bordpersonals schien sich aus dem Schatten, ja, aus dem Nichts heraus materialisieren zu können. Wobei er in diesem Fall vermutlich nur die Toiletten am Ende des Wagens inspiziert hatte. Die Toiletten, in denen Raoul vor Beginn der Fahrt mehr als eine Stunde zugebracht hatte, um Messing, Mahagoni und Porzellan auf Hochglanz zu polieren.

»Die Herren scheinen die Einweisung unserer Fahrgäste beendet zu haben.«

Georges straffte sich. »Ja, Maître. Abteil 10 war das letzte, und ...«

»Dann können Sie ja jetzt damit beginnen, im vorderen Wagen die Nachtkonfiguration vorzubereiten. So werden wir in den nächsten Tagen bitte immer verfahren: Die Herrschaften im Lx haben besondere Wünsche, und sie haben einen besonderen Preis dafür bezahlt.«

»Na... Natürlich.«

»Was nicht bedeutet, dass Sie den übrigen Passagieren mit auch nur einem Funken weniger Respekt und Diskretion zu begegnen hätten.« Thuillet hatte einen stechenden, unangenehmen Blick, den sein Monokel noch verstärkte, und jetzt bezog er Raoul mit ein. »Was uns anbetrifft, ist jeder der Fahrgäste ein König, den Sie auch so behandeln werden. Haben wir uns verstanden?«

»Ja, Maître.« Georges schluckte. Raoul nickte nur stumm.

»Noch einmal so eine Szene ...« Thuillet hob die Stimme nur minimal. »Und Ihre Namen landen auf dem Tisch der Direktion.«

»Ja, Maître.«

Georges war bereits im Begriff, sich umzuwenden, doch Raoul lag noch etwas auf der Zunge. »Und der neue Wagen?«, fragte er. »Also der neue alte Wagen. Der, den wir eben noch angekoppelt haben?«

Thuillet zögerte einen Moment. »Ein diplomatisches Fahrzeug unserer Regierung«, sagte er schließlich knapp. »Mit eigenem Personal. Also nichts, was Sie zu interessieren hat. Was ich in Bezug auf unsere Passagiere gesagt habe: Für diesen Wagen gilt es doppelt.«

Raoul nickte, nicht unglücklich, der Verantwortung enthoben zu sein. Schon die Sonderwünsche im Lx-Wagen würden eine Menge zusätzliche Arbeit bedeuten. Ohne ein weiteres Wort wandten die beiden Stewards sich in Richtung vorderes Zugende um, froh, aus Thuillets Reichweite verschwinden zu können.

»Der hat ja besonders miese Laune heute«, murmelte Georges, als sie das Fumoir, den Raucherbereich des Speisewagens, durchquerten.

Raoul antwortete nicht. Doch da war ein Gedanke, der ihn nicht losließ: Der Maître hatte ihr Gespräch belauscht. Er musste sich hinter dem Wandvorsprung gehalten haben, wo sich der Kabinengang zu den Toiletten hin weitete. Thuillet hasste es, wenn die Stewards sich über die Fahrgäste äußerten, noch dazu auf dem Gang vor den Abteilen, wo es immer möglich war, dass eine Tür nicht richtig geschlossen war. Ein Risiko also, wenn man dachte wie Thuillet. Und doch war er es in diesem Fall eingegangen und hatte nicht eingegriffen, sondern schweigend abgewartet. Fast als hätte er es unter allen Umständen darauf angelegt, ihnen eine grundsätzliche Mahnung zu erteilen.

Warum hatte er das getan?, fragte sich Raoul. Schließlich hatten sie bereits am Nachmittag nahezu wortgleiche Verhaltensanweisungen erhalten, wie jedes Mal vor Beginn der Fahrt. Keiner der Stewards hörte überhaupt noch richtig hin, so oft hatten sie die Litanei schon über sich ergehen lassen müssen. Thuillet liebte solche Rituale. Doch nun dieser unerwartete Überfall.

Das passt nicht, dachte Raoul. Irgendwie passt das nicht. Es gab keine Erklärung dafür, es sei denn ... Seine Stirn legte sich in Falten.

Konnte es sein, dass Thuillet Angst hatte?

***

Zwischen Paris und Vallorbe25. Mai 1940, 22:41 Uhr

CIWL Lx 3509 (Vorderer Schlafwagen). Doppelabteil 6/7.

Großfürstin Katharina Nikolajewna Romanowa saß kerzengerade auf den Polstern und blickte durch die Fensterscheibe in die Nacht. Das Stampfen des Zuges auf den Gleisen war ein monotoner, schwermütiger Gesang, den sie nach wenigen Minuten nicht mehr bewusst wahrgenommen hatte. Dort draußen lag Paris. Unsichtbar im Dunkel, um den deutschen Fliegern ein schwereres Ziel zu bieten. Unmöglich zu sagen, wo die Stadt endete, das flache Land begann.

Und war es nicht gleichgültig?, überlegte sie. War es nicht gleichgültig, wo sie sich befanden? War es nicht gleichgültig, vor wem sie diesmal davonliefen?

Sie schloss die Augen. Von Petersburg in den Osten, in der schrecklichen Nacht, als der Mob mit seinen roten Fahnen über den Newski-Prospekt geströmt war. Als die Schreie ihrer Zofen das Entree des Stadtpalais erfüllt hatten, geschändet von fünf, acht, zwanzig Rotarmisten, während Katharina selbst mit dem kleinen Alexej durch den Hintereingang entwichen war. Später dann, als eine Provinz des zerbrechenden Zarenreiches nach der anderen in die Hände der Bolschewiki gefallen war, über das Meer, zu den Amerikanern. Katharina dachte heute oft darüber nach, ob sie in Amerika vielleicht hätte glücklich werden und die Vergangenheit hinter sich lassen können. Anderen Russen war das gelungen, doch Constantins Stolz hatte das nicht zugelassen.

Sein Stolz, dachte sie und suchte aus dem Augenwinkel nach dem Gesicht ihres Mannes: grau, die Haut wie auch der penibel gestutzte Bart, die steilen Falten von Jahr zu Jahr tiefer eingegraben. Er sah starr geradeaus. Stolz, dachte sie, oder Sturheit. Die Unfähigkeit, den Kopf zu drehen und in eine andere Richtung zu sehen als zurück, ewig nur zurück. Passenderweise saß er tatsächlich entgegen der Fahrtrichtung. Doch es war lange her, dass ein solcher Gedanke die Macht gehabt hatte, Katharina zu amüsieren.

Nun lag also auch Paris hinter ihnen, die Stadt, die den Kindern in den entscheidenden Jahren ihres Lebens eine Heimat gegeben hatte. Constantin hatte sich von der russischen Exilgemeinde ferngehalten – natürlich, nach den Erfahrungen in den Vereinigten Staaten –, sodass die Kinder wie selbstverständlich die Sprache des Landes gelernt hatten. Einige Jahre lang hatte Katharina sich tatsächlich vorgestellt, dass sie eines Tages echte Franzosen werden könnten, die sich ihrer russischen Vorfahren zwar bewusst waren, aber eben auch lernen konnten, dieses neue Land zu lieben. Es eines Tages Heimat zu nennen.

Doch die Kinder waren schon keine Kinder mehr. Alexej nicht, mit seinen fast dreiundzwanzig Jahren, und auch Xenia nicht, die im Herbst fünfzehn wurde. Einzig Elena ... Der Anblick ihres kleinen Mädchens, das zwischen Xenia und ihr auf den Sitzpolstern saß und versonnen mit den Beinen baumelte, war das Einzige, das noch ein müdes Lächeln auf Katharinas Lippen zu zaubern vermochte.

Es erlosch auf der Stelle, als sich die Tür der anderen Abteilhälfte öffnete. Für eine Sekunde war vom Gang her die gedämpfte Unterhaltung der Stewards zu hören, dann ging die Tür wieder zu, und Katharinas Augen trafen auf die ihres Sohnes, der aus dem Waschraum zurückkehrte. Der Moment dauerte keine Sekunde, dann war Alexej aus ihrem Blick verschwunden. Der Fensterplatz auf der gegenüberliegenden Seite war für Katharina unsichtbar. Nur ein schmaler Durchlass verband die beiden Abteile zur Suite.

Sie sah nur Constantin, doch das genügte. Vielleicht ein halber Meter trennte Alexej und seinen Vater, doch es hätte auch der halbe Erdumfang sein können.

Großfürst Constantin, reglos wie eine Wachsfigur, nahm seine Hälfte des Polsters durch seine schiere Gegenwart ein. Nein, Katharinas Sohn würde sich nicht an das Fenster pressen, so weit weg von seinem Vater wie möglich in der Enge des Abteils, das für die kommenden zwei Tage und drei Nächte ihr gemeinsames Gefängnis sein würde. Aber es würde sich so anfühlen für ihn.

Es würde schlimmer sein als in Paris. Sehr viel schlimmer, nachdem Vater und Sohn ihre Kräfte gemessen hatten – und Alexej unterlegen war.

Wieder senkte Katharina die Lider. Sie wollte nicht an den Abend zurückdenken, wenige Tage nachdem der Vorstoß der Deutschen – ihr Blitzkrieg – begonnen hatte und deutlich geworden war, dass niemand sie daran hindern konnte, zur Küste vorzudringen und Paris von der Hauptmacht seiner Verteidiger abzuschneiden. Es waren die Tage gewesen, in denen die jungen Männer in Scharen zu den Rekrutierungsstellen gelaufen waren, vom Straßenjungen bis zu dem dunkelhäutigen Garçon in Katharinas Stammcafé – und bis zu Alexej.

Plötzlich hatte er in seiner neuen Uniform in der Tür ihres Appartements gestanden. Alle im Raum waren erstarrt. Katharina selbst, Xenia, die in einer Illustrierten geblättert hatte. Constantin hatte in seinem Stuhl gesessen, ein Buch in der Hand, das er ganz langsam auf den Tisch gelegt hatte, bevor er ruhig aufgestanden und auf seinen Sohn zugegangen war. Eine weit ausholende Handbewegung ... Ja, Alexej musste gesehen haben, wie die Hand auf ihn zukam, doch er hatte keinen Versuch unternommen, den Fingern seines Vaters auszuweichen, die mit einem Geräusch, das Katharina niemals vergessen würde, seine Wange getroffen hatten. Die schmale Narbe, wo seine Haut über dem Jochbein aufgeplatzt war, war noch immer zu sehen.

»Unser Sohn wird keine Uniform tragen«, hatte Constantin festgestellt, die Stimme vollständig ruhig und kontrolliert. Sie besaß keinen anderen Ton. »Er wird keine Uniform tragen, solange es keine russische Uniform gibt, die er in Ehren tragen kann. Wenn du das da anziehst, dann bist du nicht mehr unser Sohn.«

Katharina, die ebenfalls aufgestanden war, hatte die Hände vor den Mund gepresst, unfähig, ein Wort zu sagen. Keiner von ihnen hatte in diesem Moment ein Wort sagen können, bis die kleine Elena angefangen hatte zu weinen und Katharina mit ihr aus dem Raum geflohen war, um das Mädchen zu trösten.

Constantin hatte nicht zugelassen, dass sie an diesem Abend mit Alexej sprach, doch das war auch nicht nötig gewesen. Sie hatte die hitzigen Redegefechte zwischen Vater und Sohn seit Monaten verfolgt – hitzig natürlich nur auf Alexejs Seite. Es gab nichts, das Constantin aus seiner unmenschlichen Ruhe bringen konnte. Katharina kannte die Argumente ihres Sohnes: Frankreich hatte ihnen Zuflucht gewährt. Es war eine Frage der Ehre, Frankreich zu verteidigen. Und, waren die Angreifer nicht Deutsche, und war Deutschland nicht seit dem Überfall auf Polen mit dem sowjetischen Regime verbündet, das den grausamen Tod so vieler Romanows zu verantworten hatte? Wenn Constantin die Sowjets so sehr hasste, hätte er dann nicht den Kampf gegen die Deutschen auch als einen Kampf für die Ehre der Romanows betrachten müssen?

Katharina wusste, dass ihr Ehemann nichts davon gelten ließ. Dann bist du nicht mehr unser Sohn. Wenn Alexej in den Kampf zog, wie seine Freunde von der Universität es taten, war er kein Romanow mehr. Kein Verwandter der den Märtyrertod gestorbenen Zarenfamilie. Kein Angehöriger derer mehr, die Russland waren.

Doch ihr Sohn war Russe und würde immer Russe bleiben. Hätte es Katharina nicht stets in ihrem Herzen gewusst, hätte sie es am nächsten Morgen begriffen, als Alexej in seinem Studentenanzug am Frühstückstisch gesessen hatte, schweigend, so wie jetzt. Die Uniform hatte sie nie wieder zu Gesicht bekommen. Dass er seine Familie begleiten würde, war danach keine Frage mehr gewesen. Er konnte nicht in Paris bleiben, als Feigling, als den alle seine Freunde ihn betrachten mussten.

Ihr Sohn war Russe, und Katharina Nikolajewna Romanowa kannte die Seele der Russen nur zu gut. Alexej würde niemals aufhören, seinen Vater zu hassen.

***

Zwischen Paris und Vallorbe25. Mai 1940, 22:54 Uhr

CIWL WL 3425 (Hinterer Schlafwagen). Abteil 10.

Sie haben sich nicht zufällig schon einmal mit den sizilischen Staufern beschäftigt? Also den späteren?

Das hatte er tatsächlich gefragt.

Eva war klar, dass sie draußen am Bahnsteig kurz davor gewesen war, das Bewusstsein zu verlieren. Und mit Sicherheit wäre genau das auch geschehen, und ihre Zeit in Paris hätte mit einer jener dramatischen Szenen geendet, wie die Stadt sie liebte.

Stattdessen war ihr persönlicher Ritter in weißer Rüstung erschienen, wobei dieser Ritter in Evas Fall ungefähr in ihrem Alter war und mittelgroß, eine Nickelbrille trug und dazu einen Anzug, wie man ihn möglicherweise in die Oper getragen hätte – vor zehn oder zwölf Jahren.

Nachdem der jüngere der beiden Zugbegleiter ihnen das Abteil gewiesen und versprochen hatte, in einer Stunde wieder vorbeizukommen, um alles für die Nacht vorzubereiten, hatte ihr Retter sie nachdenklich betrachtet. Und dann diese Frage gestellt: Sie haben sich nicht zufällig schon einmal mit den sizilischen Staufern beschäftigt?

Mehrere Sekunden lang hatte er sie erwartungsvoll angeschaut, bevor er mit einem entschuldigenden Lächeln nach seinem Reisekoffer gegriffen und nach einigem Hantieren ein Buch zum Vorschein gebracht hatte. Seitdem las er, den Titel konnte Eva nicht erkennen. Alle paar Minuten blickte er kurz für ein weiteres, unsicheres Lächeln auf und vertiefte sich dann wieder in die Seiten.

Eva saß neben ihm. Er hatte ihr den Fensterplatz gelassen, was im Moment keinen großen Unterschied machte. Draußen war Nacht.

Sie versuchte noch immer zu begreifen, was in der letzten Dreiviertelstunde geschehen war. Der junge Mann hatte sie als seine Verlobte ausgegeben. Aus irgendeinem Grund reiste er mit einem Doppelticket, und fast schien es, als habe er einzig auf sie gewartet. Doch eine Reise im Simplon Orient kostete ein Vermögen ... Nein, nichts davon ließ sich vernünftig erklären.

Doch kam es darauf überhaupt an? Ich bin im Zug. Erst ganz allmählich bahnte sich diese Erkenntnis einen Weg in ihren Verstand. Eva Heilmann hatte Paris verlassen, das Stampfen der Zugmaschine übertönte bereits das ferne Feuer der Geschütze, das Meile um Meile hinter ihnen zurückblieb. Sie fuhr der Freiheit entgegen und, was so viel wichtiger war: Sie saß im selben Zug wie Carol.

Vom ersten Tag an hatte Carol sie wie ein bloßes Anhängsel behandelt, das zu keiner Entscheidung, keiner eigenen Handlung fähig war. Wie ein Schoßhündchen. Eins, das man gernhatte und mit feinen Pralinen fütterte und sogar stolz vorzeigen konnte – und das doch umgekehrt zu nichts verpflichtete. Jede einzelne Sekunde seit ihrer ersten Begegnung im verwilderten Garten ihres Zuhauses in Dahlem war sie von seiner Großmut abhängig gewesen.

Er hatte sie geliebt, daran gab es keinen Zweifel, am Anfang mit Sicherheit. Doch konnte eine Liebe anhalten, konnte sie wachsen, wenn die Karten so ungleich verteilt waren? Bei ihrer ersten Begegnung war Eva ein kleines Mädchen mit einem zu großen Hut gewesen, dem er Schutz gewährt hatte. Unter seiner Anleitung war sie zu einer Dame geworden, wie so viele vor ihr. Ja, Carol konnte auch diesmal mit seiner Arbeit zufrieden sein, doch das Ergebnis war – vorhersehbar. Es war immer dasselbe, bei einem jeden jungen Mädchen wieder, und so verlor er das Interesse, wenn das Ergebnis feststand.

Eva sah an sich herab. Ihre Seidenstrümpfe bestanden nur noch aus Fetzen. Ihre Beine waren bis an die Knie mit Schlamm und Staub bedeckt, und an der linken Ferse klebte verkrustetes Blut. Sie besaß nichts als das, was sie am Leibe hatte.

Mit einer langsamen Bewegung nahm sie den Hut ab, griff nach ihren Schuhen, die sie in der Handtasche verstaut hatte, und streifte sie über die Füße.

Warte ab, Carol von Carpathien.

»Diesmal könntest du eine Überraschung erleben«, flüsterte Eva.

Ein Rascheln. »Sie kennen sie tatsächlich?« Ruckartig wurde das Buch gesenkt.

»Was?« Eva blinzelte. »Wen kenne ich?«

»Die späten sizilisch... – Oh. Entschuldigung. Ich wollte nicht ...« Ihr Retter machte Anstalten, sich sofort wieder hinter den Buchdeckeln zu verstecken.

»Halt!« Eva biss sich auf die Lippen. »Ich meine: Es war meine Schuld. Ich habe laut gedacht und ...« Sie schüttelte den Kopf. »Ich ... Ich wollte mich bedanken, und ...« Mit einer raschen Bewegung strich sie ihr Kleid glatt.

»Eva Heilmann«, sagte sie und streckte ihm die Hand entgegen. »Aus – Paris.«