WENDIGO ROAD - Doug Goodman - E-Book

WENDIGO ROAD E-Book

Doug Goodman

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Beschreibung

 Der Weg nach Hause führt durch das Reich der Wendigos.  Um zu seiner Frau und seinem Sohn zurückkehren zu können, bricht ein Krieger der Schwarzfuß-Indianer zu einer selbstmörderischen Reise durch ein postapokalyptisches Amerika auf – bevölkert von Monstern aus der Folklore der amerikanischen Ureinwohner. Begleitet von einigen getreuen Soldaten schickt Doug Goodman seinen Protagonisten, Häuptling Oran, auf eine von Homer inspirierte Odysee, ersetzt die griechische Mythologie durch Fabelwesen der Indianer Nordamerikas und schafft auf diese Weise eine völlig eigenständige und faszinierend endzeitliche Welt voller Gefahren und Wunder.

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Wendigo Road

Doug Goodman

This Translation is published by arrangement with SEVERED PRESS, www.severedpress.com Title: WENDIGO ROAD. All rights reserved. First Published by Severed Press, 2018. Severed Press Logo are trademarks or registered trademarks of Severed Press. All rights reserved.

Impressum

Überarbeitete Ausgabe Originaltitel: WENDIGO ROAD Copyright Gesamtausgabe © 2024 LUZIFER Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert Übersetzung: Elena Helfrecht Lektorat: Manfred Enderle

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2024) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-583-5

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Inhaltsverzeichnis

Wendigo Road
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Epilog
Über den Autor

Kapitel 1

Die Kabine des Flugzeugs füllte sich mit Rauch. Orans Körper versteifte sich in seinem improvisierten Sitz. Ein altes Metallica-Shirt, krude an ein Holzbrett getackert, diente als Polster. Metal Up Your Ass forderte es trotzig. Es war ein Statement, ein Manifest. Oran Old Chief hätte gelacht, wäre er nicht zu sehr damit beschäftigt gewesen, sich Sorgen um seinen langsamen Erstickungstod zu machen.

Er konnte kaum das Ende der Kabine sehen, wo der Steward saß. Die Stimme des Stewards rauschte, als er ins Mikrofon bellte: »Ja, offensichtlich haben wir Rauch in der Kabine! Bewahrt Ruhe!«

Oran blickte sich um. Ungefähr die Hälfte aller Sitze in der Bombardier-Maschine waren noch da, von denen wiederum die Hälfte von Soldaten besetzt war. Gestählte Krieger auf der Rückkehr von der kanadischen Kriegsfront. Asiaten, Weiße, ein paar Cheyenne, sogar ein oder zwei Kainai. Oran war der einzige Piikani. Diejenigen mit Gasmasken hatten ihre Ausrüstung bereits angelegt, was sie seltsam außerirdisch erscheinen ließ, mit Fliegenaugen und Kanistern statt Mündern. Ihre Uniformen waren genauso zusammengeschustert wie die ganze Armee, Oran eingeschlossen. Lederjacken, Jagdmesser, alles, was als Munition taugte und wahllose Camouflage. Seit die Wendigos aufgetaucht waren, fiel die Welt des weißen Mannes auseinander. Es gab keine Firmen für Rüstungen und keine Unternehmen für Waffen mehr, nur Menschen, die gegen die Wendigos kämpften und solche, die es nicht taten.

Der Soldat in der Reihe vor Oran sagte: »Ich will nicht sterben.«

»Beruhige dich«, sagte Oran. »Panik hilft hier niemandem, atme tief ein und aus.«

»Ich hab keine Panik!«

Oran hätte mit den Augen gerollt, wusste aber, dass das die Situation nur verschlimmern würde.

»Bleib ruhig, hör auf den Steward.« Aber der Mann schnappte nach Luft.

»Zieh deine Jacke aus, vielleicht hilft das.«

»Okay«, sagte er. Er zog seinen Parka aus, atmete tief ein und hustete, während er den Kopf schüttelte. Dann stammelte er an Oran gewandt: »Ich weiß genau, was du denkst. Irgend so ’ne Pussy, die nicht mal ein bisschen Rauch verträgt. Was macht der in der Armee? Aber ich bin kein Feigling. Ich hab an der Front gekämpft. Bin nur nicht sonderlich von der Vorstellung begeistert zu sterben, bevor ich nach Hause komme.«

Der Kapitän erschien auf dem Bildschirm. Seine Stimme klang blechern, die Verbindung war schlecht. »Wir haben ein Problem. Es gibt eine Dichtung im hinteren Teil des Flugzeugs, die die Abgase aus der Kabine fernhält. Diese Dichtung geht manchmal kaputt.«

»Dann reparier’ sie, verdammt noch mal!«, brüllte einer der Cheyenne.

Der Pilot, der nichts aus der Kabine hörte, fuhr fort: »Die gute Nachricht ist, dass die Abgase nicht giftig sind. Das ist kein normaler Rauch. Das passiert nicht zum ersten Mal, wir werden klarkommen. Die schlechte Nachricht ist, dass wir es nicht rechtzeitig nach Browning schaffen werden. Wir ändern die Route stattdessen nach Spokane. Tut mir leid. Ich weiß, ihr werdet anderswo erwartet. Legt eure Gurte an, bis wir in ein paar Minuten landen.«

Der Schriftzug Fasten Seat Belts leuchtete auf, woraufhin die Glühbirne dahinter sofort durchbrannte und das Licht erstarb. Oran drückte den Schalter, was nichts änderte.

»Spokane?«, schrie der Mann vorn empört. »Aber da ist Krieg! Wendigos plündern die Stadt seit letzter Woche, wir können dort nicht hin!«

»Tja, entweder dort oder hier, wir haben keine Wahl«, sagte Oran und drückte seinen Daumen gegen die Scheibe, während er versuchte, ruhig zu bleiben. Er war sich nicht ganz sicher, ob er das sagte, um den Mann oder sich selbst zu beruhigen. Die Kabine war nun über und über mit dichtem Rauch gefüllt.

Oran öffnete die Fensterblende. Der modifizierte Bombardier-Jet befand sich noch immer oberhalb der Wolkenlinie und die Sonne lauerte bedrohlich über ihren Köpfen. Sie war strahlend gelb, ihre gewaltigen Lichtstrahlen schlugen wie Wellen über den Himmel. Durch den Rauch in der Kabine erschien die Sonne milchig weiß.

Der Flügel des Flugzeugs glich einem schmutzigen, grauen Messer, das durch den blauen Himmel schnitt und die Sonne schon fast beleidigte.

Oran sprach ein Stoßgebet und dachte an sein Zuhause, an seine Frau und seinen Sohn in Browning. Der Krieg mit den Wendigos erschien ihm viel zu lang. Er hatte in unzähligen Schlachten gekämpft und viele Siege errungen. Nun war es endlich Zeit, sich zur Ruhe zu setzen. Er übergab seinen Krieg an andere Leute, jetzt wollte er sich das Blut von den Händen waschen und ein Leben weit vom Krieg entfernt führen.

Der Rauch kitzelte Orans Lunge. Er hustete ein wenig.

Rauch stieg auch unter den Wolken zum Flugzeug auf. Die halbe Welt stand in Flammen. Ein leichter Brandgeruch erfüllte die Luft, selbst bei 9 Kilometern Höhe. Immerhin war es die Welt, die brannte, nicht das Flugzeug. Wenn etwas Feuer gefangen hatte, gab es irgendeinen Grund für den Piloten, ihnen die Wahrheit zu sagen? Oran bezweifelte das, was ihm Unbehagen bereitete.

Die Soldaten an Bord waren von Narben gezeichnet, Melanomnarben über ihren Narben aus dem Krieg, und wo keine Narben waren, waren roboterhafte Prothesen.

Jemand anderes hustete. Oran erschien die Kabine verschwommen, als wären seine Augen noch trübe vom langen Träumen, aus dem er soeben erwacht war.

Viele der anderen Soldaten streckten ihre Köpfe fragend aus den Reihen. Sie alle waren lange im Krieg gewesen. Sie wussten, wann sie nach einer Antwort suchen konnten und wann sie sich besser wegduckten.

»Ich hab sicher nicht drei Jahre lang im Krieg gekämpft, um jetzt in einem gottverdammten Flugzeug zu sterben«, schimpfte ein Mann in der Reihe gegenüber.

»Ich glaube nicht, dass wir die Wahl haben«, sagte Oran. Er wickelte sich sein Bandana um den Mund.

Der Rauch verdichtete sich. Mehrere Soldaten husteten.

Oran kam zum Schluss, dass er in der Falle saß und dass er, anders als sonst in seinem Leben, absolut keine Kontrolle darüber hatte, was zwischen hier und Spokane geschah.

Biologie, Physik und die Fähigkeiten des Piloten würden darüber entscheiden, ob er leben oder sterben würde. Dieser Kontrollverlust war schwer für ihn zu ertragen. Er hatte viele Truppen in den Kampf geführt, in Sieg und Niederlage. Er war derjenige, der entschied, wohin sie marschierten und wie sie siegten. Nun war er dazu gezwungen, stillzusitzen und andere über sein Schicksal entscheiden zu lassen.

Der Rauch wurde noch dicker. Der Steward verschwand aus seinem Sichtfeld.

Oran zweifelte langsam an der Erklärung des Kapitäns, denn der Rauch kam nicht nur aus dem hinteren Teil des Flugzeugs, sondern stieg jetzt auch zwischen den Sitzen empor.

»Ich will nicht sterben«, wiederholte der Soldat vor ihm. Sein Gesicht ähnelte dem Orans, völlig verdreckt von vergangenen Kampfmissionen. Sie hatten keine Zeit, um anzuhalten und zu duschen. Als die Maschine landete, ließen sie alles liegen und stehen und rannten zum Transport. Oran schaffte es um Haares Breite, bevor sich das Flugzeug gen Süden erhob.

»Bleib ruhig«, sagte Oran, »Keine Panik. Das hilft keinem von uns.«

»Ich hasse Flugzeuge. Diese scheißengen Blechbüchsen. Ich brauche Platz, muss mich bewegen, brauch verdammt noch mal frische Luft.«

»Hör auf zu reden, atme lieber. Wir schaffen das.«

Dann gab es einen lauten Stoß, gefolgt von einer massiven Explosion in der Kabine, wie der Schuss eines großen Kalibers oder die Detonation einer kleinen Bombe. Im selben Moment fielen die Sauerstoffmasken herunter.

»Jesus!«, schrie der Mann vor Oran.

Oran schnappte sich die Maske und zog die gelbe Schale über seinen Mund. Er zog sein Bandana herunter und zerrte leicht am Schlauch. Der Sauerstoffbehälter füllte sich nicht. Der Mann vor ihm kämpfte mit dem gleichen Problem. Auf der anderen Seite des Flugzeuges waren die Beutel dick mit Sauerstoff gefüllt. Irgendwie schienen die Masken auf ihrer Seite defekt zu sein.

»Sorry«, sagte der Kapitän über die Ansage. »Die Masken sind Standardprozedur. Das liegt außerhalb meiner Kontrolle. Ich versichere euch, dass ihr den gottverdammt besten Piloten in ganz Washington im Cockpit habt. Ich tue alles, um uns bald heil vom Himmel zu holen.«

»Werden wir es überhaupt so weit ohne Sauerstoffmasken schaffen?«, fragte der Soldat vor ihm.

»Bleib ruhig«, wiederholte Oran, aber er fühlte selbst eine leichte Panik in sich aufsteigen.

»Hey«, wandte sich der Soldat zur nächsten Infanterie, »ihr habt den Sauerstoff. Gebt mir eine von euren Gasmasken.«

Der Soldat mit der Gasmaske streckte ihm seinen Mittelfinger entgegen.

Plötzlich schnallte sich der Mann vor Oran ab und stand auf.

»Bitte hinsetzen«, rief der Steward aus dem Nebel. Oran konnte ihn noch immer nicht sehen.

»Ich brauche Luft!« Die Stimme des in Panik geratenen Mannes war unheimlich schrill. Oran erkannte den Klang von überwältigender Angst, der Feind einer jeden guten Einheit.

Der ängstliche Mann griff sich eine Sauerstoffmaske von der anderen Seite der Maschine und streifte sie sich übers Gesicht.

Oran lief ihm nach, legte seine Hand auf die Schulter des Mannes und drückte ihn mit ruhiger Gewalt in seinen neuen Sitzplatz. »Steh nicht auf«, sagte Oran. Alle Soldaten im Flugzeug, vierzig in etwa, sahen ihn an, gespannt, was er als Nächstes tun würde. Oran zog sein Bandana wieder über die Nase und setzte sich zurück auf seinen Platz. Die Stimme des Kapitäns erklang aus den Lautsprechern: »Wir haben die Erlaubnis einer vorgezogenen Notlandung. In ein paar Minuten haben wir wieder Boden unter den Füßen.«

Oran war erleichtert. Er konnte nicht weiter als vier Reihen vor oder hinter sich schauen. Viele der Soldaten auf seiner Seite der Maschine husteten wie er. Oran streckte seine Hand erneut nach der Fensterblende aus und spürte währenddessen den Druck des rapide absinkenden Flugzeuges. Er fasste nach dem Gurt, erinnerte sich dann aber daran, dass sein Sitz keinen hatte. Damals, in einer Welt mit Staat und Regierung, wäre so etwas unmöglich gewesen.

Keinem Flugzeug wäre es je erlaubt gewesen, ohne Sicherheitsgurte zu fliegen, aber das war vor dem Krieg mit den Wendigos. Damals gab es Regeln und Behörden. In den ersten Jahren des Konflikts flogen Soldaten mit Militärflugzeugen, aber die Wendigos zerstörten sämtliche Vorräte und Maschinen. Jetzt verkam das Militär zu Plünderern, auf der Suche nach jedem fahr- und fliegbaren Untersatz, der ihnen im Krieg von Nutzen war. Manchmal hieß das eben, einem geschenkten Gaul nicht ins Maul zu schauen. In neuntausend Metern Höhe sah das Maul nur wirklich verdammt schlecht aus, dachte Oran.

Er öffnete die Fensterverdunkelung, aber keine Sonne strömte herein. Sie sanken unter die Wolken, die ebenso dicht waren wie der Rauch in der Kabine.

Es fühlte sich an, als würde er von einem Traum in einen Albtraum fallen, ohne Boden, nur im freien Fall, aus der Welt hinaus.

Sein Kriegsspeer war über ihm verstaut, genauso wie die Büffelhaut, die seine Frau für ihn angefertigt hatte. Er schloss seine Augen und atmete tief ein und aus, unterdrückte sein Husten und dachte an seine Frau und sein Kind. Jodi war eine wunderschöne Frau und lachte gern mit ihm oder, falls nötig, über ihn. Sie war so clever wie er. Sein Sohn, Daniel, ging ständig auf Entdeckungstouren und geriet dabei oft in Schwierigkeiten. Oran fürchtete ein wenig um seinen Sohn, als er wegging, denn Daniel war die Art von Kind, die man häufig in der Notaufnahme sah – sei es, weil er vom Trampolin fiel oder vom Hausdach, nachdem sie das Trampolin entfernt hatten. Seine Frau und sein Sohn waren sein ganzes Glück.

»Ich will nicht sterben«, jammerte der verängstigte Mann erneut. Er zog sich die Sauerstoffmaske vom Gesicht, hyperventilierte. Oran streckte seinen Arm aus, um die Maske zurück auf sein Gesicht zu setzen, aber der Soldat schlug seine Hand weg. Sein Oberkörper wiegte bei jedem Atemzug vor und zurück, während seine Lungen um Luft rangen, die nicht mehr vorhanden war. Oran nutzte die Gelegenheit, um sich in den Sitzplatz vor dem Soldaten zu quetschen, und zog die Maske über seinen Mund. Er sog gierig den reinen Sauerstoff ein und fühlte sich sofort besser.

Der verängstigte Mann stand auf: »Wir werden sterben!«

»Hinsetzen!«, blaffte der Steward irgendwo von vorne. Auch er verlor langsam die Nerven. Wie er den Soldaten in den Reihen sehen konnte, war Oran unbegreiflich.

»Setz’ deinen Arsch gefälligst hin!«, befahl ein anderer Soldat – aber Panik hörte nicht zu.

»Ich muss hier raus!«

Verzweifelt streckte er sich und öffnete sein Gepäckfach. Das Flugzeug kippte und sein Inhalt segelte durch die Kabine, darunter auch Orans Speer.

Der in Panik geratene Mann schaute die Waffe fragend an, dann griff er danach, doch Oran erreichte sie zuerst. Als der andere Soldat versuchte, sie zu schnappen, versetzte Oran ihm einen Kinnhaken und er taumelte zurück. Der Mann beobachtete Oran für eine Weile verwirrt. Er lehnte sich zurück in seinen Sitz, sein Atem nun tiefer und ruhiger.

Ein lautes Ächzen verriet Oran, dass die Flügel auf die Landung vorbereitet wurden. Sein Körper spürte, wie der Sinkflug langsam endete und die Maschine mehr und mehr parallel zum Untergrund flog. Er war erleichtert, bald wieder zurück auf dem Boden zu sein.

Als das Flugzeug mit der Landung fortfuhr, rief der Steward: »Bereitet euch auf die Notlandung vor! Verlasst die Maschine durch die Türen und Notausgänge nacheinander in einer geordneten Reihe, sobald sie sich nicht mehr bewegt. Wenn ihr wieder auf dem Boden seid, rennt zum Terminal, dort sind Barrikaden. Die Soldaten werden euch evakuieren.«

»Ach du Scheiße! Schau mal hier!«, schrie einer der Soldaten aus den hinteren Reihen. »Gehts noch schlimmer?«, murrte ein anderer. Oran hatte bereits einen Verdacht. Er lehnte sich zur Seite und schaute aus dem gegenüberliegenden Fenster. Sonnenstrahlen bohrten sich vereinzelt durch die Wolken. Zwischen den Strahlen bewegte sich ein gewaltiges Ungeheuer. Die Soldaten schnappten nach Luft.

Wendigos.

Die Soldaten, die gegen sie kämpften, nannten sie oft Wendys. Vor einer halben Ewigkeit erschienen Monster wie die Wendys überall auf der Welt. Sie kamen aus den Bergen, aus den Mooren und manchmal sogar aus dem Ozean – riesig, mächtig und komplett immun gegen moderne Waffen, was die Armeen der Welt nicht davon abhielt, sie zu bekämpfen. Aber wie gewinnt man einen Krieg gegen etwas, das einen einfach nur fressen will? Bösartig, intelligent und gefräßig, war mit ihnen nicht zu verhandeln und nichts konnte sie stoppen. Länder versanken im Chaos. Staaten brachen auseinander. Die Menschen flohen wie die Ratten und versuchten, sich unter der Erde in U-Bahn-Tunneln und in Kellern zu verstecken, oder sie flohen in die Prärie, wohin die Wendys ihnen nicht folgten.

Dieser Wendy war gut zwanzig Meter groß und überragte den Flughafen und seine Umgebung um Längen. Verglichen mit ihm erschien sogar der Flughafenturm wie ein Zwerg. Die Kreatur war kräftig gebaut, mit gigantischen Klauen und Hufen. Blut und Eingeweide tropften vom Gebiss seines Schädels. Dunkelrote Fleischgirlanden hingen in seinem Geweih wie dicker Schleim. Der Wendigo fegte die Soldaten, die den Flughafen verteidigten, mit einem einzigen Schlag fort. Acht Menschen flogen über die Landebahn, wo sie ihre Operation geplant hatten. Die anderen fuhren damit fort, auf den Wendigo zu schießen, was keinerlei Wirkung zeigte. Die Kugeln prallten einfach von seinen freigelegten Rippenknochen ab.

Der Wendigo rannte auf das landende Flugzeug zu und brüllte in gottlosem Zorn.

Oran wusste nicht, ob das Flugzeug landen konnte. Nur ein winziger Schubs genügte, um sie alle ins Verderben zu reißen.

»Wir werden es nicht schaffen«, sagte einer der Soldaten, während ein anderer fluchte.

Statt einer Antwort ballte Oran die Faust fester um seinen Speer. Falls sie es schafften zu landen, konnte er das Ruder wenden. Er betete zur Sonne für seine sichere Rückkehr. »Natosi, beschütze mich. Ich werde alles tun, um zu Jodi und Daniel zu gelangen. Ich schwöre, ich werde zu ihnen zurückkehren, bring nur meine Stiefel zurück auf den Boden.«

In genau diesem Moment schien der Wendigo Oran zu bemerken und sah ihm hasserfüllt in die Augen. Das Monster bewegte sich schneller und holte mit doppelter Geschwindigkeit auf. Als das Flugzeug kurz davor war, auf dem Boden aufzusetzen, streckte der Wendigo seine ausgebreiteten Finger nach der Bombardier. Seine Krallen berührten den Flügel kaum, aber das war bereits ausreichend. Der hintere Teil der Maschine drehte ab. Das erste Rad berührte den Boden, dann prallte das zweite auf den Asphalt. Tosender Wind erhob sich um sie herum, zusammen mit dem lauten Geräusch von Gummi auf Teer. Die Soldaten schrien, aber ihre Schreie gingen in der gewaltigen Kakofonie um sie herum unter. Das Flugzeug schwenkte erst in die eine, dann in die andere Richtung, als es gefährlich von der Landebahn abglitt und wieder zurückdriftete, über das Gras hinweg.

Die Maschine erzitterte, dann begann der hintere Teil, sich zu heben. Sie bremste ab, überschlug sich aber dabei. Der eine Flügel hob sich, während der andere in der Erde versank und eine klaffende Wunde im Boden hinterließ. Alle Soldaten, die nicht angeschnallt waren, krachten mit voller Wucht in das Gepäckfach über ihren Köpfen. In letzter Sekunde gewann die Schwerkraft die Kontrolle zurück und das Flugzeug schlug hart auf dem Boden auf, wobei die Streben des Fahrwerks brachen.

Der Jet blieb zitternd stehen. Oran war auf dem Boden. Ein Schnitt auf seiner Wange zeugte von seiner Begegnung mit dem Gepäckfach, aber er befand sich endlich sicher auf festem Boden. Er riss sich die Sauerstoffmaske vom Gesicht. Während die Soldaten zusammen mit dem dicken Rauch aus den Ausgängen quollen, sah Oran nach dem, der vorher in Panik geraten war. Er lag mit dem Gesicht nach unten in einer anderen Reihe. Die Kräfte des Flugzeugs hatten ihn wie eine Puppe herumgeschleudert. Oran fühlte sich für das Schicksal des Mannes verantwortlich. Er drehte den Soldaten um. Das Blut lief in Strömen aus seiner Nase und Oran ging davon aus, dass sie ihm vom Gepäckfach gebrochen wurde. Sein Wangenknochen war ebenfalls zertrümmert. Nichts, was die Ärzte nicht wieder hinkriegen würden, solange der Mann noch am Leben war. Oran legte die Hand an seine Nase und spürte einen leichten Luftzug. Er atmete, also legte Oran ihn über seine Schulter und trug ihn aus dem Flugzeug. Er rief zwei Soldaten vom Flughafen um Hilfe.

»Der Mann ist verletzt«, sagte Oran.

Die beiden Soldaten griffen ihm unter die Armen und Oran begann zu husten. Sie trugen den verängstigten Soldaten weg. Oran ging zurück in den Rumpf und half weiteren Soldaten heraus. Keiner von ihnen war verletzt, aber sie alle husteten wie Oran. Er hatte vorher nicht bemerkt, wie sehr seine Lungen vom Rauch in der Kabine brannten. Die meisten der aus dem Flugzeug strömenden Soldaten rannten auf die Terminals zu, die von einer Barrikade aus spitzen Gegenständen verteidigt wurden. Ein M1-Abrams-Panzer raste über die Landebahn hinweg auf sie zu. Nein, nicht zu uns, bemerkte Oran. Hinter dem Flugzeug rannte der Wendigo in Richtung des Flughafens. Seine schweren Schritte ließen den Boden erbeben.

Oran runzelte frustriert die Stirn, als er dabei zusah, wie der Panzer in die Schlacht preschte. Wendys verloren selten einen Kampf auf offener Ebene.

Ein frontaler Angriff war reiner Selbstmord. Die Soldaten, die den Panzer steuerten, waren entweder noch unerfahren oder dumm.

Die Ketten des Panzers wühlten den weichen Boden auf, als er das Gras erreichte, dann hielt er plötzlich auf der anderen Seite des Flugzeuges an. Der Wendigo kam näher. Beim Feuern wirbelte der Panzer Dreck und Geröll auf, verursachte aber kaum Schaden. Der Wendigo sprang direkt wieder auf die Beine und rammte den Panzer von der Seite. Der M1-Abrams wog sicher an die 60 Tonnen, was jedoch keine Herausforderung für einen Wendigo darstellte. Er schob seine Klauen unter das Gefährt und hob an. Der Panzer wirbelte ruckartig in einer Sechzig-Grad-Drehung durch die Luft. Schnaubend drehte der Wendigo den Panzer ganz auf den Rücken. Oran zog eine Grimasse. Es gab eine einfachere Lösung. Er rannte vor den Bombardier-Jet. Er schlich das Fahrwerk entlang und versuchte, nah am Boden zu bleiben. Der Wendigo hatte Probleme damit, kleine Bewegungen wahrzunehmen. Oran hörte, wie die Hufe des Wendigos auf die andere Seite des Flugzeugs stampften, wo er nur Momente vorher selbst gestanden hatte. Die Schritte wurden langsamer und gezielter. Die Kreatur suchte nach Überlebenden. Ihr Hunger war unersättlich. Ein lautes Ächzen sagte ihm, dass der Wendigo nun das Fahrwerk auseinandernahm. Er sprang auf den Flugzeugflügel und bereitete sich auf den Kampf vor. Das Flugzeug kippte in Richtung Himmel und fiel zurück auf den Boden. Die armen Soldaten, die noch immer im Flugzeug waren, schrien auf.

Versteckt im aufsteigenden Rauch zog sich Oran das Bandana wieder über Nase und Mund und kroch auf das Flugzeug. Durch den Rauch beobachtete er das Gelage des Wendigos. Er hielt einen Mann in voller Winterausrüstung in beiden Händen und riss seinen Körper in zwei Teile. Dann hielt der Wendigo den geöffneten Torso des Soldaten über seinen Mund und saugte die Gedärme heraus, um im Anschluss das Blut von den Rippen zu lecken. Oran blickte finster drein. An der Kriegsfront sah er das gleiche Spektakel immer und immer wieder, die Wendigos siegten fast immer. Er hoffte darauf, dieses abstoßende Bild zusammen mit dem Krieg für immer hinter sich zu lassen. Nie wieder, dachte er. Nicht hier. Oran rannte das Fahrwerk entlang und sprang den zusammengekauerten Wendigo an, während er »Ki-yi!« schrie. Er schwang seinen Speer.

Der befiederte Kriegsspeer versank zwischen den freiliegenden Rippen des Monstrums und durchbohrte sein Herz. Die Kreatur brüllte auf. Sein Schrei klang wie eine Kreuzung aus einem sterbenden Elch und einem kreischenden Vampir. Das Monster erhob sich und spuckte die Gedärme des Soldaten aus, die es vorher so gierig verschlungen hatte, dann stürzte es tot in die Überreste des zerstörten Flugzeuges.

Kapitel 2

Oran griff zwischen die Rippen des Wendigos und zog seinen Speer heraus. Blut spritzte auf den Boden. Oran wischte das Blut mit einem Stück Stoff von der Klinge, das er speziell für diesen Zweck bei sich trug. Er sprach ein Dankgebet an die Sonne und die Vier Winde, dann holte er seinen Beutel aus dem Inneren des Flugzeugs und band die Büffelhaut an die Rückseite seines Gürtels. Als er heraustrat, kamen ihm bereits die Soldaten entgegen, die vorher den Flughafen verteidigt hatten.

Der Mann, der ihn begrüßte, war ein Weißer mit nacktem Oberkörper. Seine Haut war so ledrig und gebräunt wie Dörrfleisch. Brand- und Melanomnarben übersäten seinen Körper. Das Tattoo, das auf seinem linken Brustmuskel prangte, verriet, dass er ein Kommandant sein musste.

»Ich bin Hauptmann Barrett Matthews«, stellte sich der Mann vor. Seine Stimme klang sanft, aber bestimmt. »Ich bin froh, dass Sie hier sind.« Die Männer schüttelten sich die Hand. »Wer sind Sie?«, fragte Barrett.

Als Antwort zog Oran ein Stück Papier aus einer Büffelhaut und reichte es dem Kommandanten. Während Barrett aufmerksam las, versammelte sich eine kleine Gruppe Schaulustiger um Oran, um den großen Krieger zu bewundern, der es mit dem riesigen Wendigo aufgenommen hatte. Viele der Männer und Frauen schüttelten Oran die Hand und dankten ihm. Oran nickte anerkennend. Ein hässlicher Haufen, die Hälfte der Soldaten bestand aus Metall und Maschinenteilen. Sie mochten vielleicht nie an der Front gewesen sein, blieben aber von den Anblicken der Katastrophe nicht verschont.

»Ich bin auf dem Weg nach Hause«, sagte Oran zu Barrett.

»Sie sind Oran Old Chief«, stellte Barrett fest und konnte die Bewunderung in seiner Stimme nicht verbergen. Er salutierte vor Oran und die anderen Soldaten taten es ihrem Kommandanten gleich.

»Hab schon viel von Ihnen gehört.«

»Ah, ich versichere Ihnen, vieles ist übertrieben«.

Ein Mann neben Oran klopfte ihm mit seiner Metallhand auf die Schulter und deutete auf den toten Wendigo. »Das glaub ich nicht.«

»Zurücktreten, Riddarck«, wies ihn der Kommandant ärgerlich zurecht. »Mit deinem Dienstgrad hast du nicht mal das Recht, die gleiche Luft zu atmen, kapiert? Dieser Soldat reist nach Hause.«

»Bei allem Respekt, Hauptmann, aber sie machen Witze«, sagte Riddarck. »Haben Sie das gesehen? Er hat den Wendigo regelrecht hingerichtet.« Dann wandte er sich an Oran. »Kommen Sie schon. Wir sind verzweifelt. Wir könnten Sie hier echt gebrauchen.«

Bevor Riddarck ihn weiter anstacheln konnte, unterbrach ihn der Kommandant. »Dieser Mann hat sich seinen Ruhestand redlich verdient.« Barrett reichte Oran seine Papiere. »Unterhalten wir uns im Quartier.«

Während einige Männer die Kapuzen über ihre Köpfe zogen und zur Bergung der Panzerfahrer eilten, kehrte der Rest in die Baracken zurück, die unter dem Terminal aufgebaut waren. Oran folgte Barrett zu seinem persönlichen Quartier, oben in den alten Flughafenbüros.

Der Kommandant bot ihm einen Stuhl und eine Tasse Kaffee an, was Oran beides dankend annahm. Barrett zuckte nervös, als Oran auf die Kaffeekanne zuging.

»Das übernehme ich schon. Warum setzen Sie sich nicht?«

»Okay«. Der Kommandant lehnte sich in seinen Stuhl zurück und seufzte.

»Wie geht es Ihnen, Hauptmann?«

Er antwortete nicht. Stattdessen rutschte er unruhig auf seinem Stuhl hin und her, bis er die richtige Position gefunden hatte, dann hob er die Tasse an die Lippen, die Oran ihm reichte. Die Flüssigkeit ölte die Stimme des Kommandanten.

Barrett setzte an: »Ich wollte nur sagen, was für eine Ehre es ist, Sie zu treffen. In Ihren Dokumenten steht, Sie sind Oran Old Chief. Und wenn ich mir so ansehe, was Sie mit dem Wendy hier angestellt haben, dann würde ich wetten, Sie sind der Mann aus der Schlacht bei Mount Tecumseh. Ich kann Ihnen nicht viel anbieten, aber was ich auch habe, es gehört Ihnen. Sagen Sie nur ein Wort.«

»Alles, was ich will, ist nach Hause zu gehen.«

»Ich hab gehört, wie schlimm es im Norden ist. Aber Sie werden bald sehen, dass der Süden nicht viel besser dasteht, seit Sie gegangen sind. Hungersnöte, Krankheiten, Flächenbrände und natürlich die Wendigos plagen den ganzen Nordwesten. Es ist, als wollte uns die Welt verschlingen. Und als wäre das nicht genug, verlieren wir jeden Tag Ärzte und Ingenieure und mit ihnen Fähigkeiten, die wir niemals zurückbekommen, fürchte ich. Wir sind zurück im Mittelalter.«

Oran nahm einen Schluck von seinem Kaffee.

Barrett fuhr fort: »In ihren Papieren steht, Sie wollen raus nach Browning. Das ist die andere Seite der Rockies. Ich kann Sie heute nicht dorthin fliegen. Piloten sind Mangelware. Das ist eine der wertvollen Fähigkeiten, die uns immer mehr abhandenkommt. Bald kreisen am Himmel nur noch Vögel und Geister. Unsere üblichen Flüge gehen nach Alberta, aber wenn Sie warten können, kann ich Ihnen einen neuen Flug in ein oder zwei Wochen besorgen.«

»Bei allem Respekt, ich würde lieber gleich aufbrechen. Ich kenne die Berge, ich hab lang genug gewartet.« Er setzte seinen Kaffee ab.

»Warten Sie. Bevor Sie gehen, muss ich sicherstellen, dass Sie wissen, worauf Sie sich einlassen.« Er deutete auf die Wand hinter sich, an der eine alte Karte von Montana hing. »Dort gibt es mehrere Kilometer lange Gebirgszüge, die vom Militär als Wendigo-Revier eingestuft wurden. Gerüchten zufolge hausen dort sogar üblere Kreaturen. Und dann noch die Brände. Niemand geht dort freiwillig hin. Ich kann eine Eskorte organisieren, die einen Umweg um die Berge geht. Es wird etwas länger dauern, ist dafür aber wesentlich sicherer.«

»Ich bin ein Blackfoot, Hauptmann. Meine Leute wurden in diesen Bergen geboren. Noch vor dem Wendigo und dem weißen Mann waren wir es, die dort wohnten und jagten. Ich werde den Bergen nicht ausweichen.«

Der Kommandant stieß einen verzweifelten Seufzer aus. »Ich verstehe. Ich will nur nicht der Grund dafür sein, dass Sie sich umbringen.«

»Sind Sie nicht.«

Nach einem kurzen Moment der Stille, fragte Oran: »Wie lange haben Sie noch, wenn ich fragen darf?«

»Wir sind im Krieg gegen die stärkste Macht, die die Welt je gesehen hat. Ich habe keine Zeit dazu, mich vor dem Tod zu fürchten.«

»Wir sind im Krieg gegen die Sonne.«

Barrett streckte seine verbrannten Arme aus. »Ich trage kein Shirt mehr, seit es mir egal ist. Hab die Behandlung abgebrochen. Sie wollen mich nach Hause schicken, aber dort will ich nicht sterben. Ich will in der Schlacht fallen, für die Menschheit. Ich glaube, ich habe mir mein Ende verdient, genauso wie Sie Ihres.«

Sie gaben sich zum Abschluss die Hand, dann führte ihn der Kommandant zurück zu den Baracken und zum Hauptterminal. Die Flammen erstrecken sich über den ganzen westlichen Horizont und reichten bis zur Sonne hinauf, die mit einem stillen, blendend hellen Kriegsschrei antwortete.

In der Garage angekommen, zeigte Barrett ihm die Fahrzeuge, größtenteils Pick-ups und Jeeps, die mit Betonblöcken, Metallspitzen und Wasserkanistern ausgerüstet waren.

»Sie haben freie Wahl«, sagte der Kommandant, »aber wenn ich Sie wäre, würde ich den Chevy nehmen. Gute Reifen, genug PS, Allrad, sollte Sie auf dem Weg nach Browning nicht im Stich lassen. Kann ich nicht vom Rest der Panzerdivision hier behaupten.«

Oran entschied sich für den Chevrolet Silverado. Der Hauptmann bestellte Proviant und Wasser für Oran, das zunächst gründlich auf Radioaktivität geprüft wurde. Während das Wasser zum dritten Mal überprüft wurde, näherten sich sechs Soldaten. Hauptmann Barrett hob eine Augenbraue, als sein Blick auf sie fiel. Die Truppe war gefechtsbereit. Sie salutierten, der Kommandant erwiderte den Gruß. »Der Spähtrupp?«, fragte Barrett, »Na, das ist ja eine Überraschung.«

Ein Mann mit den drei Metallfingern trat nach vorn. Er hatte einen abgewetzten Cowboyhut in seine Uniform integriert.

»Wir möchten Oran nach Hause begleiten, Hauptmann.«

»Ihr habt aber Verpflichtungen hier.«

»Bei allem Respekt, das Aufklärungsteam wurde in den letzten sechs Wochen kein einziges Mal gebraucht. An der Front sind wir von größerem Nutzen.«

»Aha, das ist also ein Akt reiner Ehre und Güte«, fragte Barrett, »oder habt ihr Familie im Osten?«

Der Anführer der Gruppe bewegte sich zu seinem Team. »Ja, Sir, haben wir. Und manche von uns haben schon seit geraumer Zeit nichts von ihnen gehört. Aber wir wollen vor allem dem Teufel von Tecumseh helfen. Er ist eine lebende Legende und es wäre uns die größte Ehre, ihn nach Hause zu begleiten.«

»Das klingt ja regelrecht nobel. Haben Sie das vorher einstudiert, Teller?«

Teller wandte sich Oran zu: »Familie ist das Wichtigste im Leben eines Soldaten. Die Familie im Dienst und die Familie zu Hause; noch viel wichtiger als Training und Munition. Wir wollen diese Werte in Ihrem Dienste ehren.«

»Definitiv einstudiert«, stellte Barrett fest und schaute Teller in die Augen.

»Bei allem Respekt, Kommandant Barrett, aber das ist nicht das Zwanzigste Jahrhundert. Der Krieg hat sich verändert. Das Militär hat sich verändert. Wir dienen gern unter Ihrem Kommando und werden mit Freuden zurückkehren, sobald wir diesen Helden sicher nach Hause gebracht haben.«

»Ihr geht ohne meinen Befehl nirgendwo hin, Offizier«, sagte Barrett geradeheraus. Er wartete, bis er die ungeteilte Aufmerksamkeit hatte, dann musterte er die sieben Aufklärer, wobei er jedem von ihnen prüfend in die Augen schaute. »Stimmt ihr dem zu? Dass dies ein Aufruf zum Kampf ist?« Die zusammengewürfelte Truppe nickte zustimmend. Hauptmann Barrett dachte kurz über ihre Forderung nach.

»Wir haben weder genügend Ressourcen noch Feuerkraft und was am schlimmsten ist, keine ausgebildeten Soldaten. Ich kann nicht jede Einheit, die sich gerade langweilt, auf Wandertag schicken. Allerdings gab es östlich der Rocky Mountains vermehrt Angriffe durch die Wendigos und ihr seid mein Aufklärungstrupp. Späht das Wendigo-Gebiet aus und meldet euch bei mir zurück, sobald ihr diesen Mann sicher nach Browning gebracht habt.«

Kapitel 3

Oran führte sie aus der Stadt heraus, aber sie kamen nicht weit. Mit Einbruch der Dunkelheit tauchten die ersten Wendigos auf, also beschloss die Truppe, kurz nach Spokane die Zelte aufzuschlagen und auf die Morgendämmerung zu warten, um weiter in Richtung der Rockies zu fahren.

»Tagsüber fahren heißt viel Strahlung«, erklärte Teller. Er reichte Oran eine kleine schwarze Flasche und sagte: »Wir brauchen genug Jod, um das auszuhalten.«

Als sich jeder am Lagerfeuer über seine Notration hermachte, fuhr Teller fort: »Ich möchte Sie mit Ihrer Eskorte bekanntmachen. Wie Sie schon wissen, ist mein Name Teller. Ich komm aus Texas, falls Sie’s nich’ mitbekomm’ haben.« Den letzten Teil des Satzes betonte er mit dickem Akzent.

»Der Blechschädel hier ist Troy.« Lange Metallkabel hingen wie Tentakeln aus Troys Hinterkopf. »Er ist unser Kommunikationsexperte. Die Dinger helfen ihm dabei, sämtliche Signale im Umkreis aufzunehmen.«

»Piikani?«, fragte Oran.

»Cheyenne, Masikota, um genau zu sein«, antwortete Troy. »Troy Hopkins.« Sie schüttelten sich die Hand.

»Willkommen«, sagte Oran.

»Hotamitaniu?«, fragte Troy. Er hob seine Hand und entblößte die weißen und schwarzen Streifen, die auf seinen Arm tätowiert waren.

»Crazy Dog. Hab mit den Hotamitaniu am Mount Tecumseh gekämpft. George St. Cloud und Billy Mendez.«

Troy lachte. »Ich erinnere mich an George! Der beste Aufbauspieler unter eins-fünfzig, der mir je begegnet ist. Hab fünfzig Kröten bei ’ner Wette gegen ihn verloren. Wie gehts ihm?«

»Hält Leute wie mich mit seinen Tricks arm. Schön, dich dabeizuhaben, Troy.« Hinter Troy stand ein großer Mann mit breiten Schultern, der offensichtlich eine schlimme Verletzung erlitten hatte. Sein rechtes Bein wurde vollständig durch Metall ersetzt und seine rechte Gesichtshälfte war schrecklich vernarbt. Das Gesicht des Mannes war komplett entstellt und sein linkes Auge sah aus, als würde es vom Gesicht rutschen. Oran versuchte, die Verletzungen des Mannes nicht anzustarren. Im Krieg hatte er viele Gelegenheiten, das zu üben. »Das ist mein Kumpel, Iain Phelps. Geboren in Schottland, kam hierher, nachdem Edinburgh gefallen ist, um die Wendys zu bekämpfen. Haben uns ganz am Anfang kennengelernt und sind seitdem unzertrennlich.«

»Jeder nennt mich Molotow«, lachte der Mann. Er sprach mit einem dicken schottischen Akzent. Schief lächelnd fuhr er fort: »Ratet mal warum.« Oran grinste. Er würde sich prächtig mit ihm verstehen.

»Ironie des Schicksals – dafür hab ich ein Händchen für Chemie.« Molotow tätschelte das Gerät, das mit seinem Rucksack verbunden war. »Ich bin euer Flammenwerfer.«

»Ich bin froh, dass du dabei bist. Danke.«

Nach einem Handschlag mit Molotow ging Teller mit ihm zur anderen Seite des Lagerfeuers. Dort hielten sich zwei Leute auf. Der eine trug einen Helm, der seinen kompletten Kopf verdeckte, die andere hatte ihre Wirbelsäule mit Implantaten verstärkt.

Teller sagte: »Der Typ mit dem Helm besteht drauf, dass man ihn Nobody nennt.«

»Der Helm schützt meine Birne vor der Sonnenstrahlung.« Er war komplett in Schwarz gekleidet.

»Die Glatzköpfige mit den Stacheln am Rücken ist Ghost. Sie ist die ultimative Aufklärerin, das ganze Team wurde um sie herum aufgebaut. Sie bewegt sich lautlos.«

»Ich sorge dafür, dass wir wissen, wo die Monster sind.« Ihr Gesicht war voller Metall und sie hatte zusätzliche Augen- und Nasenimplantate.

»Den Letzten hier haben wir vor einer Weile aufgegabelt, sein Name ist Jack. Dachte schon dran, ihn Jack-Off zu nennen, weil ich seinen Namen so Scheiße finde. Wer zum Teufel nennt sich Jack, wenn man Ghost, Molotow, Troy oder Nobody sein kann?«

»Oder Teller«, sagte Oran. »Heißt du wirklich so oder ist das ebenfalls ein Spitzname?«

»Ich kam als Barabas Helmick Teller zur Welt.«

»Dann also Teller.«

Oran fiel auf, dass Jack abseits von den anderen ein paar Eier aß. Er erkannte ihn als den Mann aus dem Flugzeug wieder, der in dem Parka.

»Ich kenne ihn. Er hatte Panik, als Rauch im Flugzeug war.«

Teller zuckte mit den Schultern. »Du kennst ihn? Uns hat er erzählt, er wollte nur Spokane verlassen. Sollten wir uns Sorgen machen?«

Orans Augen verengten sich. Seine Schläfen fingen an zu schmerzen.

»Nein.«

»Also, das sind wir, die Aufklärer. Troy, Molotow, Nobody, Ghost und ich.«

»Irgendwelche Spezialisierungen?«, fragte Oran, etwas abgelenkt von dem Mann im Parka. »Neben dem Flammenwerfer, so viel hab ich verstanden. Außer Speeren ist Feuer das Einzige, das ihnen was anhaben kann.«

»Unsere ausschließliche Spezialität ist es, den Wendigos aufs Maul zu hauen.« Oran rümpfte die Nase. Etwas ernster setzte Teller nach: »Keine Spezialisten hier, Sir. Wir sind alle nur Fußsoldaten.«

»Als Erster töten, als Letzter sterben. Die Philosophie hat mich bisher nicht im Stich gelassen.«

»Entschuldigen Sie die Frage, Sir, aber was ist ihr Dienstgrad? Sind Sie Oberst, Gefreiter? Wie sollen wir Sie ansprechen?«

Er zögerte.

»Einfach nur Oran.«

»Hurra«, jubelte Teller.

Am nächsten Morgen brachen sie früh auf und fuhren in den Norden, Richtung Idaho. Sie konnten nur langsam fahren und hatten einen langen Tag vor sich. Der Beton machte die Autos um eine Tonne schwerer und obwohl die Radaufhängungen verstärkt waren, verlangsamte sie das zusätzliche Gewicht massiv. Auf offener Straße kamen sie nur an die hundertfünfzig Kilometer weit, mit häufigen Zwischenstopps, um leerstehende Autos von der Straße zu schieben und das Gebiet vor ihnen auszukundschaften. Obwohl Wendigos normalerweise nachtaktiv waren, zeigten sich manche von ihnen auch tagsüber und man war gut damit beraten, sie zu meiden. Sie erreichten Idaho und fuhren am Pend Oreille Lake vorbei. Von der Straße aus sah Oran den Wald von Couer d’Alene brennen. Die Feuersbrunst hatte sich bereits bis zum See ausgebreitet. Die Bäume auf seiner anderen gegenüberliegenden Seite ragten wie die Nadeln eines toten Stachelschweins empor. Oran war traurig über den Verlust und die Zerstörung.

Der Konvoi hielt außerhalb von Sandhill Point an, von wo aus Ghost sich die ehemals touristische Kleinstadt näher ansah. »Nichts als Leichen. Ein Wendy muss die Stadt vor ein paar Monaten zerstört haben.«

Tote Männer, Frauen und Kinder lagen überall blutgetränkt auf den Straßen und Stränden verstreut. Manchmal fehlte ein Kopf oder Arm, aber größtenteils waren die Körper aufgerissen, sodass die Wendigos an die Gedärme kamen. Oran dachte an den Soldaten, der zurück in Spokane am Flughafen gefressen wurde. Einige Gebäude waren umgestoßen. Riesige, rote Handabdrücke zierten die anderen. Ein typisches Verhalten, mit dem Wendigos die von ihnen zerstörten Reviere markierten.

Außerhalb von Sandhill Point stießen sie auf ihr erstes Problem. Die Brücke war zerstört. Ein massiver Einschnitt teilte die Brücke in eine Gabelung auf, die Oran und den Aufklärungstrupp von der anderen Seite abschnitt.

»Sollen wir umkehren?«, fragte Teller. »Es gibt hier nicht so viele Straßen. Das könnte uns ein, zwei Tage kosten.«

»Die Wendigos zerstören die Straßen gezielt«, sagte Oran. »Eine ihrer Strategien. Je weniger Straßen, desto mehr Verkehr auf den verbliebenen, was die Jagd auf Menschen erleichtert. Die Passage durch die Bitterroot Mountains im Süden ist eine Falle. Nein, wir müssen die Brücke hier überqueren.«

»Aber wie?«, erklang Nobodys Stimme aus dem Inneren seines Helms. »Das sind mindestens fünf Meter. Nie im Leben kriegen wir die Autos dort rüber.«

»Vielleicht sollten wir uns ein Boot zulegen«, schlug Molotow vor.

Troy versetzte ihm einen Schlag auf die Schulter und zeigte ihm den Vogel.

»Das ist ein Feriendorf, Molotow«, erklärte Teller. Mit dreißig war er der älteste der Männer, die mit Oran aufbrachen. »Die Boote, die wir hier finden, sinken schon mit nur einem Auto.«

»Wir bauen eine Straße«, sagte Oran.

Er führte sie zurück in die Stadt, wobei er beide Straßenseiten überprüfte. Nach einer Weile fand Oran das, wonach er suchte, bei einem Autohaus. Es parkte am Straßenrand.

»Ein Autotransporter?«, fragte Teller ungläubig.

»Klar. Wir nehmen den Sattelschlepper. Der sollte lang genug sein, um die Lücke zu schließen.«

»Na, so ein Glück«, fluchte Molotow sarkastisch, »und wie kriegen wir das Scheißding über die Brücke? Und selbst wenn wir es über die Brücke bekommen haben, wie zur Hölle verhindern wir, dass es auf der anderen Seite wieder wegrutscht?«

»Da habe ich die ein oder andere Idee«, sagte Oran. »Bringt den Sattelschlepper zur Brücke, ich kümmer mich um den Rest.« Er ging in Richtung Stadt.

Eine Stunde später fuhr Oran in einem riesigen Kran die Straßen entlang zurück. Er stellte ihn neben den Soldaten und dem Sattelschlepper ab, den sie zum Abgrund gebracht hatten. Als Oran das Fenster heruntergekurbelt hatte, fragte Teller ungläubig: »Ein Kranfahrer bist du also auch?«

»Nein, aber man arrangiert sich.«

»Hab ich über dich gehört. Du arrangierst dich.«

Oran grinste. Er bewegte den Kranarm und das daran baumelnde Seil nach unten, wo Ghost und Molotow den Haken an der Verlängerung des Sattelschleppers festmachten. Oran manövrierte den Transporter vorsichtig in die richtige Position. Wegen der Räder kippte er leicht zum Kran hin, aber er passte genau. Die Gruppe betrat vorsichtig die neue Brücke, um zu sehen, ob sie ihr Gewicht trug. Als Nobody anfing, auf und ab zu springen, schritt Jack ein: »Bist du völlig bescheuert? Sei kein Arschloch, Mann!«

Ein Brüllen irgendwo aus der Innenstadt signalisierte der Truppe, dass es Zeit war, sich zu bewegen. Teller und Ghost setzten zuerst über. Oran hatte sich dafür freiwillig gemeldet, aber sie weigerten sich, ihn gehen zu lassen. »Deshalb sind wir doch hier, oder nicht? Um dich in Sicherheit zu bringen?«, sagte Teller.

Oran fuhr als zweiter mit seinem Chevy über die Brücke, gefolgt vom letzten Vehikel, einem Sedan, in dem der Rest der Truppe saß. Sie waren erleichtert, auf der anderen Seite zu sein, denn ein gigantisches, gehörntes Monstrum bewegte sich nun durch das Stadtzentrum. Für den Rest des Nachmittags fuhren sie die State Road 200 entlang. Als sie an einem Straßenschild vorbeikamen, das sie in Montana willkommen hieß, machte Orans Herz einen kleinen Sprung. Er war zurück im gleichen Staat wie seine Frau und sein Sohn. Er fragte sich, wie es ihnen zuhause ging. Arbeitete Jodi noch immer so viel im Garten, half Daniel ihr jetzt? Als Oran fortging, war Daniel acht Jahre alt; nun war er zwölf. Hatte er sich verändert? Würde er Oran als seinen Vater anerkennen?