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Ein Mord bricht die Idylle auf der malerischen Insel Capri. In der Funicolare, der berühmten Zahnradbahn, wird eine Leiche entdeckt, grausig zugerichtet. Der Bürgermeister ist überfordert, schon seit vielen Jahren gibt es auf Capri keine eigene Polizeiwache mehr, da auf der Insel der Reichen und Schönen sonst nie etwas passiert. Die Polizei in Neapel ist überlastet und beordert Commissario Marco Tomasini aus dem Ruhestand zurück in den Dienst, um vor Ort zu ermitteln. Kann er den „Schlitzer von Capri“ zur Strecke bringen?
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Seitenzahl: 188
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Ernesto Rosso
Wenn bei Capri die Toten im Meer versinken
Kriminalroman
Düstere Geheimnisse im Paradies Die malerische Insel Capri wird von einem blutigen Mord erschüttert. Als in der Funicolare, der historischen Zahnradbahn, eine Leiche gefunden wird, deren Gliedmaßen und Organe mit chirurgischer Präzision entfernt wurden, ist der Bürgermeister der Insel überfordert. Eine eigene Polizeiwache gibt es auf Capri schon seit vielen Jahren nicht mehr, weil auf der Insel der Reichen und Schönen nie irgendwas passiert. Die Polizei in Neapel ist überlastet und beordert den pensionierten Commissario Marco Tomasini zurück in den Dienst, um das schreckliche Verbrechen aufzuklären. Als eine weitere Leiche entdeckt wird, findet sich Tomasini in einem Wettlauf gegen die Zeit und gegen die Dämonen seiner eigenen Vergangenheit wieder. Die Ermittlungen führen ihn durch Capris enge Gassen, in sündhaft teure Luxushotels und in die weltberühmte Grotta Azzurra. Kann Tomasini die Morde aufklären, bevor der Killer erneut zuschlägt?
Ernesto Rosso ist das Pseudonym eines deutschen Autors, der in seinen Krimis die Liebe zu Italien mit seiner Leidenschaft für spannende Geschichten kombiniert. Sein Markenzeichen: knorzige Figuren und unerwartete, rasante Wendungen.
Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Satz/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung von: © Illustration Lutz Eberle nach einem Foto von Balate Dorin / iStock.com
ISBN 978-3-7349-3308-0
Alle Figuren und die Handlung in diesem Krimi sind fiktiv. Einige der Schauplätze existieren wirklich, andere Orte sind frei erfunden. Die Ereignisse und Handlungen, die in dem Buch beschrieben werden, haben jedoch an keinem der Orte jemals stattgefunden.
*
Der Soundtrack zum Capri-Krimi
Alle Songs aus dem Buch in einer Spotify-Playlist.
https://open.spotify.com/playlist/3tlzK1xOTHPPjENwgBHNBc?si=i2Njer7AQGO5esFoleUACg&pi=a-Pfio2vN_Royp&nd=1&dlsi=cd70768f1f1d4ebd
Capri. Funicolare. Hafen Marina Grande
Der 23. März war der Tag, an dem die Insel Capri ihre Unschuld verlor.
Es war 5.30 Uhr in der Früh, und Gianni, der Seilbahn-Wart der traditionsreichen Funicolare, war auf dem Weg zu seinem Arbeitsplatz am Hafen Marina Grande. Die Insel erwachte gerade. Es war noch dunkel; nur der Schein der Straßenlaternen beleuchtete das Ufer. Gianni ging die Promenade entlang, wo die Fischerboote friedlich vor Anker lagen und zwei Möwen elegant ihre Bahnen zogen. Er passierte die kleinen Geschäfte und grüßte die wenigen Einheimischen, die zu dieser frühen Stunde schon unterwegs waren. Die schmalen Gassen von Capri am frühen Morgen – für den Seilbahn-Veteranen war das jeden Tag aufs Neue ein magischer Moment. Schließlich erreichte Gianni die Station, wo er seine Schicht beginnen wollte. Doch was war das? Die historische Standseilbahn, die den Hafen Marina Grande mit der Piazza Umberto verband, zog ratternd ihre Bahnen. Sie bewegte sich unablässig zwischen den Haltestellen, obwohl Gianni den Strom für die Seilbahn am Abend zuvor um 22.30 Uhr ordnungsgemäß ausgeschaltet und den Zugang zur Station verschlossen hatte. Wie jeden Abend. Wie war das möglich? Das hatte der Mann, der die Funicolare seit über 40 Jahren morgens ein- und abends wieder ausschaltete, noch nicht erlebt. Er hastete durch das ovale Tor in das Innere der Hafen-Haltestelle und sah die Bahn oben von der Piazza langsam auf sich zu kommen. Das Innere der Seilbahn war nicht beleuchtet. Gianni riss einen kleinen Stahlschrank in der Station auf und holte eine Taschenlampe hervor. Die Bahn brauchte fünf Minuten pro Strecke; fünf Minuten, die ihm in diesem Moment wie eine Ewigkeit vorkamen. Endlich stoppte der rot-weiße Zug quietschend an der Haltestelle, der Wart legte den Schalter für die Stromzufuhr um – und es wurde still.
Mit feuchten Händen hielt Gianni die Taschenlampe, der Lichtstrahl zitterte, sein Atem ging schnell. Er musste sich förmlich zwingen, die Taschenlampe zu heben und in den Wagen zu leuchten, so ängstlich war er. Das Innere gab zunächst nichts preis, bis das Licht auf die entsetzliche Szenerie an der Rückwand traf. Die Frau, die dort angekettet war, schien in ihren letzten Momenten etwas Unfassbares durchlebt zu haben. Die Brutalität der Tat war unaussprechlich – Hände und Füße waren von ihrem Körper getrennt und separat an die Wand genagelt, ein Akt menschlicher Grausamkeit. Das Gesicht der Frau war schmerzverzerrt, so als habe sich das Leiden, das man ihr zufügte, für immer dort eingebrannt. Sie trug eine blutverschmierte Seidenbluse, die bis an den Hals komplett zugeknöpft war. Der Seilbahnwart stolperte rückwärts aus dem Waggon, seine Taschenlampe knallte auf den Boden. Dann rannte er aus der Station und schrie: »Dio aiutami! Gott steh mir bei!«
Ein Schrei, der so laut war, dass man ihn über dem ganzen Golf von Neapel hören konnte.
Zwischen den Faraglioni, den eindrucksvollen Felsen, die wie zu Stein gewordene Ritterburgen aus dem Tyrrhenischen Meer herausragten, ging langsam die Sonne auf. Eine Melange aus Rottönen, so schön und friedlich, dass man denken könnte, Gott persönlich habe die Szenerie mit Ölfarben auf eine Leinwand gepinselt.
Marco, Giannis Azubi, der erst vor wenigen Tagen von Palermo nach Capri gezogen war, um hier seine Ausbildung zum Seilbahn-Wart anzutreten, traf an der Hafenhaltestelle zum Frühdienst ein; bereit, die ersten Fahrgäste zu empfangen und in der Funicolare, vorbei an Gruppen von Zitronenbäumen, nach oben auf die Piazza zu schicken. Er fand den alten Mann weinend und paralysiert in sich zusammengesunken.
»Um Himmels willen, was ist passiert?«, fragte Marco verstört.
Nur mühsam, hyperventilierend und unter Tränen, brachte Gianni die Worte heraus:
»Eine Tote … in der Bahn.«
»Oh mein Gott, haben Sie die Polizei gerufen?«
»Ich … ich …«
Der alte Seilbahn-Wart konnte nicht weitersprechen.
Marco durchforstete hastig die Liste mit allen wichtigen Kontaktnummern auf dem Zettel an der Wand des Kontrollraums, konnte darauf aber keinen Polizeinotruf entdecken. Er wandte sich an Gianni:
»Wo steht die Nummer der Polizei? Ich finde sie hier nicht.«
Gianni versuchte zu sprechen, brachte aber immer noch keinen Ton heraus. Dann deutete er auf eine Spalte auf der Liste mit den Telefonnummern. Dort stand der Kontakt des Seilbahn-Managers, Signore Isanto. Zitternd nahm Marco den Hörer des grauen Telefons, das an der Wand hing, wählte die Nummer, und ein hörbar verärgerter Isanto meldete sich am anderen Ende:
»Was zum Teufel … um diese Uhrzeit … Ich hoffe, Sie haben einen verdammt guten Grund, mich zu solch unchristlicher Stunde aus dem Bett zu klingeln. Ich hatte noch keinen Espresso!«
Marco versuchte, sich zusammenzureißen und berichtete stammelnd von der Leiche im Waggon. Dann fügte er stotternd hinzu:
»Ich … ich finde hier keine Nummer der Polizei, Signore.«
»Mein Junge«, tönte es aus dem Telefonhörer, »es gibt schon seit 20 Jahren keine Polizeiwache mehr auf Capri.«
Vor dem Tor der Funicolare sammelte sich eine immer größer werdende Menschenmenge. Die Einheimischen, die zur Arbeit nach oben wollten, verstanden die Welt nicht mehr. Die Seilbahn, die normalerweise verlässlich wie ein Schweizer Uhrwerk ihren Betrieb versah, stand still. Es war ein geradezu unerhörtes Ereignis, das niemand auf Capri je erlebt hatte. Die Bahn fuhr, und zwar immer. Die aufgebrachten Fahrgäste hämmerten mit Fäusten und flachen Händen gegen das verschlossene Tor.
»Merda! Was ist hier los? Macht das Tor auf, Stronzi!«
Innen im Kontrollraum der Station saßen Seilbahn-Manager Isanto, der alte Wart Gianni und sein junger Kollege Marco beisammen, umgeben von einer Stille, die nur von Giannis gedämpften Schluchzern durchbrochen wurde.
»Keine Polizeiwache? Das kann doch nicht sein!«, sagte Marco fassungslos.
»Ragazzo, das hier ist Capri. Hier gibt es keine Straftaten. Also gibt es auch keine Polizei«, belehrte Isanto den jungen Mann, der einen Augenblick lang nicht recht wusste, was ihn mehr schockierte: die Tote in der Bahn oder die Tatsache, dass es auf Capri keine Polizei gab.
»Aber was ist mit den Polizeibeamten, die jeden Abend auf der Piazzetta herumlaufen? Die mit den schicken Paradeuniformen. Die waren bisher jeden Abend da, seit ich auf die Insel gezogen bin. Erst gestern habe ich sie gesehen.«
»Alles nur Show. Für die Touristen«, erklärte Isanto nüchtern. »Statisten, mein Sohn«, fügte er hinzu, »jedes Jahr vor Beginn der Saison neu gecastet von der Agenzia Campania Turismo. Das sind keine echten Polizisten, sondern Darsteller. Schauspieler. Verstehst du? Die müssen nur schick aussehen in ihren Uniformen, das ist alles. Ein bisschen Show, damit die Reichen und Schönen was zu gucken haben, während sie ihren Limoncello Spritz trinken. Mehr nicht.«
»Das … also … das gibt’s doch nicht«, sagte Marco leise.
»Auf Capri gibt’s so was schon«, erklärte Isanto weiter, »wie gesagt: Hier hat es schon seit 20 Jahren keine einzige Straftat mehr gegeben. Alle benehmen sich anständig. Da wird nicht mal unkontrolliert ein Furz gelassen. Bis heute war das jedenfalls so.«
Währenddessen saß der alte Seilbahn-Wart Gianni zusammengekauert auf einem Stuhl in der Ecke des Kontrollraums, das Gesicht in den Händen vergraben.
»Sollen wir? Also, sollen wir einen Blick in den Wagen werfen?«, fragte Marco zögerlich.
Isanto machte eine kurze Pause, man sah ihm an, wie seine Gedanken in seinem Kopf ratterten. Dann sagte er schließlich mit fester Stimme: »Nein, mein Sohn. Wir müssen die Polizei in Neapel verständigen.«
Capri war immer noch in ein mildes Licht getaucht. Von außen sah es aus wie jeden Morgen im Paradies. Eine schöne Kulisse für noch schönere Menschen in sündhaft teuren Kleidern. Aber an diesem Morgen stand das perfekte Panorama in krassem Gegensatz zu dem schockierenden Tatort im Waggon der Seilbahn.
Anderthalb Stunden nach dem schrecklichen Fund war ein Ermittlerteam der Neapolitanischen Kripo eingetroffen, zusammen mit dem Bürgermeister von Capri, Davide Dionisi, den Isanto direkt nach seinem Anruf bei der Polizei aus dem Bett geklingelt hatte.
»Das ist ein absoluter PR-Albtraum!«, konstatierte der Bürgermeister mit näselnder Stimme und nahm das Einstecktuch aus seinem Sakko, um sich damit die Stirn zu trocknen.
Die Wortwahl des Bürgermeisters, die eher einer Marketingkampagne als einem Kriminalfall angemessen schien, irritierte Isanto zutiefst.
»PR? Eine Frau wurde ermordet. In meiner Seilbahn!«, erwiderte er empört.
»Das darf auf gar keinen Fall an die Öffentlichkeit«, fuhr Dionisi fort, ohne auch nur einen Hauch auf Isanto einzugehen. »Wir haben anderthalb Monate, bevor die ersten Touristen auf die Insel kommen. Wenn durchsickert, dass hier auf Capri ein Mörder sein Unwesen treibt, sind wir gefickt.«
Das Wort »gefickt« schien in dem sonst so gepflegten Vokabular des Bürgermeisters äußerst deplatziert und ließ ihn selbst kurz innehalten; fast so, als wäre er selber verblüfft, dass sich dieses Wort für einen Moment in seinen Mund verirrt hatte.
»Signore Dionisi, mit dem größten Respekt …«, versuchte Isanto einzuhaken, doch er wurde von Dionisi jäh unterbrochen:
»Wir sind so was von am Arsch! Kein Tourist wird nach Capri kommen wollen.«
Der Einsatzleiter aus Neapel trat aus dem Seilbahn-Waggon und nahm seine Polizeimütze ab, unter der seine zurückgegelten grauen Haare zum Vorschein kamen. Hinter ihm sah man Beamte der Spurensicherung, die jedes Detail der grauenhaften Tat dokumentierten.
»Wer hat die Tote gefunden?«, erkundigte sich der Einsatzleiter, der den Dienstgrad eines Capitano hatte.
»Das war unser dienstältester Seilbahn-Wart Gianni. Ich habe ihn nach Hause geschickt, Commissario«, antwortete Isanto.
»Capitano. Nicht Commissario. Wie können wir ihn erreichen?«
»Ich weiß nicht, ob er schon in der Lage ist zu sprechen. Die Sache hat ihn ziemlich mitgenommen«, sagte Isanto.
Doch Bürgermeister Dionisi, dessen Gedanken scheinbar nur um das Image der Insel kreisten, mischte sich wieder ein:
»Commissario, wie lange werden Sie brauchen, um das hier aufzuklären und den Mörder dingfest zu machen?«
»Capitano. Nicht Commissario. Wir werden hier gar nichts aufklären und auch niemanden dingfest machen. Wir haben jetzt erst mal nur die Spuren gesichert. Für die weiteren Ermittlungen haben wir in Neapel keine Kapazitäten.«
Dionisi konnte kaum glauben, was er da hörte.
»Was heißt denn keine Kapazitäten? Auf unserer schönen Insel hat ein Mord stattgefunden!«
Der Capitano, in dessen wettergegerbtem Gesicht man nun eine Spur von Sarkasmus erkannte, wiederholte seine Aussage.
»Ihre schöne Insel … Ihr Capri der Reichen, Ihr Capri Capitalisti ist für uns irrelevant. Verstehen Sie? Ir-re-le-vant! Jeder verfügbare Beamte wird gebraucht, um die Camorra in Neapel zu bekämpfen. Die Mafia geht brutaler ans Werk als jemals zuvor. Die Menschen in der Stadt leben in Angst und Schrecken und erwarten Schutz von uns. In Neapel regiert das Chaos.«
»Das verstehe ich ja«, sagte Dionisi beschwichtigend, aber seine Worte klangen hohl. Langsam dämmerte ihm, dass der Glanz von Capri vielleicht nicht ausreichte, um die Aufmerksamkeit der Polizei von den drängenden Problemen in Neapel abzulenken.
»Wissen Sie, Bürgermeister, wegen einer Toten …«, der Capitano suchte nach den richtigen Worten, »eine Tote – das ist in Neapel der Gruß aus der Küche. Ein Amuse-Bouche, mehr nicht. Wir müssen schauen, wen wir für die Ermittlungen nach Capri schicken können. Ich kann aber nichts versprechen.«
Mit diesen Worten überreichte er Isanto seine Visitenkarte. »Bitte sagen Sie Ihrem Mitarbeiter, dass er sich bei mir melden soll. Hier ist meine Karte. Ich muss zurück nach Neapel. Meine Herren, ciao a tutti.«
Dann setzte der Capitano seine Mütze auf, drehte sich um und eilte mit schnellen Schritten davon.
Dionisi, Isanto und Marco standen da, völlig baff von der Kaltschnäuzigkeit des Capitano.
»Was für ein Desaster!«
Dionisi tupfte sich wieder mit dem Einstecktuch die Stirn und schien zu zittern bei dem Gedanken, dass Capri nun sich selbst überlassen war.
Dann wies er Isanto und Marco an:
»Das bleibt hier alles erst einmal unter uns, haben Sie verstanden? Ein technischer Defekt! Deshalb kann die Funicolare heute Vormittag nicht fahren. Und den Fahrgästen erzählen Sie, dass die Polizei nur hier ist, um eine mögliche Sabotage der Bahn auszuschließen. Sobald die Spurensicherung im Waggon fertig ist und die Leiche abtransportiert wurde, läuft hier wieder alles nach Fahrplan.«
»Aber Bürgermeister …«, wollte Isanto einwenden, wurde aber wieder von Dionisi unterbrochen:
»Nach Fahrplan! Ein ganz normaler Tag auf der Isola di Capri. Alles ganz normal. Ist das klar? Dir auch, mein Kleiner?«, fragte er und blickte zu dem jungen Kollegen.
Marco nickte verstört.
»Und – Isanto! Auch von Ihrem Kollegen, der die tote Frau gefunden hat, kein Sterbenswörtchen. Zu niemandem!«
Isanto nickte ergeben.
Dionisi fuhr fort: »Wir müssen jetzt alle einen kühlen Kopf bewahren. Das ist das Wichtigste. Ich werde mit dem Speedboot nach Neapel fahren und der Polizei dort Dampf machen.«
Isanto schaute besorgt zu seinem jungen Kollegen, als der Bürgermeister in Richtung Ableger davonlief. Er wusste, dass es schwierig sein würde, diesen Mord unter Verschluss zu halten. Es waren nur wenige Wochen, bis die erste Welle von Touristen über die Insel schwappen würde. Aber das war nicht alles:
»Wir müssen vorsichtig sein«, sagte Isanto leise. »Der Mörder ist vielleicht noch hier auf der Insel.«
Neapel. Palazzo della Questura (Polizei Hauptquartier), Via Medina
In einem schmucklosen Büro des Palazzo della Questura saß Bürgermeister Davide Dionisi. Sein Herz klopfte. Er wartete darauf, Signore Sala, den Direttore Generale der Polizei in Neapel, davon zu überzeugen, seine besten Leute nach Capri zu schicken, um dort den grausamen Mord zu untersuchen. Der Raum roch nach altem Papier und Staub, und Dionisi fühlte sich in seinem perfekt sitzenden Anzug komplett fehl am Platz in dieser Welt abgegriffener Akten.
Als Sala endlich das Büro betrat, schien jeder Zentimeter seiner eng anliegenden schwarzen Uniform Autorität und Disziplin auszustrahlen. Seine Schritte waren schnell und bestimmt; kaum in seinem Büro angekommen, schaute er auf die Uhr, als ob jede Sekunde, die er im Gespräch mit Dionisi verbrachte, eine verlorene Zeit war. Dionisi erhob sich hastig, um den Direttore zu begrüßen. Sala nahm seine massive Mütze mit dem rot-goldenen Wappen ab.
»Signore Dionisi, wie ich höre, gibt es Schwierigkeiten auf Paradise Island«, sagte Sala mit einem militärischen Stakkato in der Stimme.
»Schwierigkeiten … nun ja, das scheint mir nicht die richtige Beschreibung zu sein. Es gab einen Mord«, antwortete Dionisi mit trockenem Mund.
»Willkommen in meiner Welt, Dionisi. Also, was wollen Sie?«, fragte Sala, der keine Zeit für Umschweife zu haben schien.
Dionisi schluckte und tupfte sich über die Stirn, bevor er antwortete: »Direttore, wir haben weniger als anderthalb Monate, bis die ersten Touristen nach Capri kommen. Ich habe ein großes Interesse daran, dass der Mörder bis dahin hinter Gittern sitzt und unsere Besucher sich sicher fühlen können.«
»Soso …« Salas »Soso« war so trocken, dass es beinahe im Raum staubte.
»Hören Sie, ich habe auch ein großes Interesse daran, dass sich die Menschen hier in Neapel sicher fühlen können. Aber die Camorra hat andere Pläne«, erklärte Sala.
»Ja, ich hörte davon«, antwortete Dionisi mit brüchiger Stimme. »Dann wissen Sie ja auch, dass ich hier gerade niemanden entbehren kann.« Sala schaute erneut auf die Uhr, als wolle er andeuten, dass dieses Gespräch bereits zu lange dauerte.
»Direttore, ich bitte Sie. Nein, ich flehe Sie an!«
Dionisis Stimme zitterte vor Verzweiflung.
Sala rollte mit den Augen.
»Bitte, Direttore, schicken Sie ein Ermittlerteam, um diesen grausamen Mord aufzuklären«, fuhr Dionisi fort.
Sala atmete tief ein und schaute aus dem Fenster. Schließlich sagte er: »Nun, ich werde sehen, was ich tun kann. Und nun entschuldigen Sie mich bitte. Ich habe ein Meeting mit unserer Camorra-Taskforce.«
*
Später am Nachmittag, im gleichen schmucklosen Büro im Palazzo della Questura.
Ein Polizist mit etwas weniger Glitter an der schwarzen Uniform saß Direttore Sala gegenüber. Der Beamte hatte den Dienstgrad eines Commissario Capo und schaute besorgt über seine Halbbrille. An seiner Brust prangte sein Namensschild: »Calabrese«.
»Wen können Sie nach Capri schicken, um dort wegen des Mordes in der Funicolare zu ermitteln?«, fragte Sala.
»Mit dem größten Respekt, Direttore, Sie wissen, dass wir nicht mal genug Personal haben, um hier in Neapel alle …«
Sala schnitt ihm das Wort ab.
»Natürlich weiß ich das, Sie Stehlampe! Ersparen Sie mir Ihr Gejammer, Calabrese. Also, wen können Sie schicken?«, fragte Sala erneut, sichtlich ungehalten.
Der Beamte nahm die Brille ab, legte die Stirn in Falten und wusste nicht, was er sagen sollte.
»Commissario Capo, ich habe nicht ewig Zeit«, drängte Sala.
»Ja … ich … was soll ich …«
Man merkte, wie Calabrese um eine Antwort rang, die den Direttore zufriedenstellte.
»Also die einzige Idee, die ich im Moment habe ist, ähm … ist … Tomasini«, stotterte der Beamte.
»Bitte was? Meinen Sie Tomasini? Commissario Marco Tomasini? Machen Sie Witze?«, fragte Sala unwirsch.
»Ja … ähm, genau: Tomasini. Und nein, ich mache keine Witze, Direttore.«
»Der Mann ist im Ruhestand. Meine Güte, jetzt machen Sie mal einen Punkt!«
»Korrekt, der Commissario ist im Ruhestand. Dann müssen wir ihn … ähm … Direttore, ich denke, wir müssen ihn aus dem Ruhestand in den Dienst zurückbeordern«, antwortete der Polizist vorsichtig.
»Zurückbeordern?«, rief Sala so laut, dass man seine Stimme auf dem ganzen Flur hören konnte.
»Genau. Zurück in den … äh … in den Dienst. Nur für diese eine Ermittlung auf Capri, Signore Direttore. Danach kann er … ähm … also er kann dann sofort zurück in Rente.«
Sala schüttelte ungläubig den Kopf.
»Sie haben ganz offensichtlich den Verstand verloren, Calabrese. Raus aus meinem Büro!«
»Jawohl, Signore. Verzeihen Sie meine …«
»Raus!«, schrie Sala, und der Commissario Capo lief gebeugt aus der Tür.
»Kommen Sie sofort zurück, Sie Flimmerfibrille!«, rief Sala ihm von seinem Schreibtisch aus hinterher, bevor Calabrese aus dem Büro verschwinden konnte. Er winkte Calabrese zurück an seinen Schreibtisch.
»Also gut, kontaktieren Sie Tomasini. Aber nur für diesen einen Fall auf Capri. Und sehen Sie zu, dass er mir hier nicht unter die Augen kommt!«
»Jawohl, Signore!«
Der Beamte nickte und verließ das Büro.
Neapel. Sinclair Scottish Pub, Via Guido Menzinger. 11 Uhr vormittags
Vor dem Sinclair, einem urigen Pub mitten in Neapel, fuhren zwei Polizisten vor. Ein älterer Beamter und ein unsicherer junger Mann, der offensichtlich gerade frisch von der Polizeischule kam. Sie öffneten die schwere Holztür und betraten die verrauchte Kneipe.
Drinnen sah es aus wie in einer Schiffskajüte: viel dunkles Holz auf engem Raum. An den Wänden waren Metallschilder mit Bierreklamen montiert. Um die Bar herum waren dunkelbraune Barhocker mit in die Jahre gekommenen grauweißen Sitzpolstern gruppiert. Zwei Deckenleuchten mit Glasornamenten spendeten nur ein spärliches Licht. Um diese Zeit fanden die Polizisten nur zwei Gäste vor: Ein alter Knabe mit weißem Rauschebart war auf der Bar eingeschlafen. Zwei Barhocker neben ihm ein Mann im dunklen Nadelstreifenanzug, der so aussah, als sei er dem Träger mindestens eine Nummer zu groß. Der Mann trug ein Hemd, eierschalfarben, die gepunktete Krawatte hing locker und windschief. Er hatte volles graues Haar. Erstaunlich voll für sein Alter. Vor ihm stand ein Whiskyglas, dessen Inhalt er beim Anblick der beiden Polizeibeamten in einem Zug hinunterstürzte.
»Was wollt ihr denn hier? Ist es nicht ein bisschen zu früh für einen Drink? Ich meine, für euch ist es zu früh. Für mich nicht«, rief er den beiden Polizisten zu. Dann wandte er sich an die Frau hinter der Bar: »Noch einen, Katia!«
»Wie heißt das?«, antwortete die Frau mit einer Reibeisenstimme, die von Jahrzehnten in der Gastronomie erzählte.
»Per favore«, sagte der Mann mit gespielter Höflichkeit.
»Na also, geht doch, Marco«, antwortete Katia, und ihr rauchiges Lachen ging in einen Husten über.
»Die Bestellung ist hiermit storniert, Signora«, sagte der ältere Polizist.
»Die Bestellungen storniert hier nur einer – und das bin ich«, konterte der Mann im Anzug.
»Marco, tut uns leid, dass wir deine Solo-Party hier beenden müssen, aber du musst mit uns aufs Präsidium kommen«, sagte der Beamte.
»Einen Dreck muss ich. Ich bin im Ruhestand!«
»Nicht mehr, Marco. Direttore Sala beruft dich zurück in den Dienst.«
»Zurück?«
Der Mann runzelte die Stirn. Sein Gesicht war faltig. Erstaunlich faltig für sein Alter. Er schaute die beiden Beamten ungläubig an.
»Zurück in den Dienst?«, wiederholte er.
»Ja, Marco, du bist wieder im Einsatz. Und zwar mit sofortiger Wirkung«, sagte der alte Beamte trocken, und sein junger Kollege fügte stotternd hinzu: »Commissario Tomasini, also bitte kommen Sie jetzt, also … bitte seien Sie doch so gut und kommen Sie mit uns mit.«
»Was will das Jüngelchen denn hier? Der hat ja noch seine Milchzähne«, ätzte Tomasini.
»Lass mal gut sein, Marco, wir haben alle mal angefangen«, nahm der erfahrene Polizist seinen jungen Kollegen in Schutz.
Die Wirtin stellte ein weiteres Glas auf die Theke.
»Marco, mach es uns nicht so schwer. Wir wollen doch hier in deiner Stammkneipe keine unschöne Szene veranstalten«, sagte der alte Beamte, jetzt in deutlich strengerem Ton.
Tomasini nahm das Glas und stürzte auch diesen Drink hinunter.
»Ist schon gut. Ist ja schon gut.«
Tomasini erhob sich langsam vom Barhocker, konnte aber das Gleichgewicht nicht halten. Mit einem Stöhnen ließ er sich zurück auf den Hocker fallen.