Wenn der Mond im Meer versinkt - Erwin Plachetka - E-Book

Wenn der Mond im Meer versinkt E-Book

Erwin Plachetka

4,8

Beschreibung

Ein Mann lernt in einem Kunstmuseum eine Frau kennen, die ihm nicht mehr aus dem Sinn gehen will. Doch ihr Wiedersehen endet anders, als von ihm erhofft.Zwei alte Jugendfreunde wollen sich in Boulogne nach Jahren wiedersehen, aber viele Hindernisse stehen ihnen im Weg.Und wenn sich zwei verzweifelte Männer in einer Bar in Helsinki treffen, dann kann es passieren, dass Ihnen auf der Straße ein Elch begegnet.Sein Vater hatte ihm gesagt, wenn der Mond im Meer versinkt, ist es das Ende der Welt. Und nun sah er den Mond sich dem Meer nähern. Seine Welt schien dem Ende nah.Plachetkas Erzählungen fesseln den Leser, nehmen ihn mit auf eine fantastische Reise durch Gefühlswelten, kuriose Begebenheiten, reale Daseinskämpfe und kriminelle Machen-schaften.

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Seitenzahl: 250

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Inhalt

Eine flüchtige Bekanntschaft

Katzenaugen

Abraham

Zwei Kerle und ein Elch

Jagdfieber

Der Elefantentritt

Ausrangiert

Das erste Stück Kuchen

Der Pfefferminzprinz

Kein Zimmer frei

Tante Uschi, meine Schwester und ich

Der Musikdiktator

Der Profi

Schattenbewegung

Die Kinder von Joseph und Anna

Dreizehn Bohnen und vierzehn Tassen

Ein unwiderstehlicher Coup

Eine unbeschwerte Kindheit

Joko und die Beichte

Verlorene Murmeln

Fußballfieber

Onkel Helmut

Loch Lomond

Mieses Karma

Und das alles nur aus Liebe

Hormontango

Verschwundene Erinnerung

Wenn der Mond im Meer versinkt

Literatentreffen in Lappland

Bitte warten

Kuddel kommt nach Hause

Abgang eines Kajauklers

Kennen Sie Delmendaddel

Über den Autor

Eine flüchtige Bekanntschaft

Die Zugbremsen quietschten. Er stand auf, nahm seinen kleinen Koffer aus dem Gepäcknetz und reihte sich in die Schlange der Aussteigenden ein. Ein Jahr war es her, dass er in dieser Stadt weilte. Der Aufenthalt hatte sein ganzes nachfolgendes Leben beeinflusst, voller Unruhe und Sehnsucht. Schuld daran war sie, diese Frau in der Kunsthalle, die wie eine Fata Morgana in sein Leben trat, seine Sinne vernebelte und ihn wie mit einem süßen Gift infizierte.

Und während er durch die Bahnhofshalle schritt, durchlebte er noch einmal die Begegnung mit ihr, als würde es gerade eben passieren. Er hatte sie durch eine Unachtsamkeit beim Betreten der Ausstellungsräume angerempelt, wobei ihr das Programmheft aus der Hand auf den Boden fiel. Er hatte nur etwas fallen bemerkt und sich instinktiv danach gebückt. Fast wären sie dabei mit den Köpfen zusammengestoßen. Erst da hatte er sie bewusst wahrgenommen und in diesem Moment, da sich ihre Blicke trafen, setzte sein Herz für einen Bruchteil einer Sekunde aus zu schlagen, sein Atem stockte und es war ihm, als würde er einen Engelchor das „Halleluja“ singen hören.

Er errötete, entschuldigte sich und reichte ihr die Broschüre, obwohl ihre zarte Hand sie auch bereits ergriffen hatte. Aber er konnte nicht loslassen und sie zog am anderen Ende und lachte. Dabei bildeten sich kleine Grübchen in ihren Wangen und ihre dunklen Augen strahlten wie funkelnde Sterne. „Sie dürfen jetzt loslassen“, sagte sie mit einem Lächeln.

Er stammelte noch einmal eine Entschuldigung. Sie amüsierte sich über seine Verwirrtheit und war sich sehr wohl bewusst, dass sie diese hervorgerufen hatte.

Sie betraten gemeinsam den Ausstellungsraum, blieben Seite an Seite vor den ersten Bildern stehen. Sie bewunderte die Art und Weise, wie der Maler die Lichtverhältnisse dargestellt hatte und wies auf ein paar Eigenheiten der Bilder hin. Eigentlich war er extra wegen dieser Ausstellung angereist, aber nun traten die Bilder irgendwie in den Hintergrund und diese Frau erfüllte seine ganze Aufmerksamkeit. Sie beeindruckte ihn nicht nur mit ihrem Erscheinungsbild, auch schien sie über viel Fachwissen, was Malerei betraf, zu verfügen.

Erst im zweiten Ausstellungsraum legte sich seine Befangenheit und er wurde lockerer, beteiligte sich an der Bewertung und Interpretation der Gemälde. Und als sie das Ende der Hallen erreicht hatten, wagte er es, sie zu einem Kaffee einzuladen. Zu seiner Freude willigte sie ein.

Eine bimmelnde Straßenbahn schreckte ihn aus seinen Gedanken. Ruckartig trat er einen Schritt zurück und ließ sie passieren. Sein Hotel lag dem Bahnhof schräg gegenüber. Er hatte sich ein Einzelzimmer für eine Nacht reserviert. Museums- und Stadtbesuch hatte er eingeplant. Insgeheim hatte er aber die Hoffnung, diese Frau, die ihm nicht aus den Gedanken gehen wollte, wieder zu treffen. Wie wohl er wusste, dass die Chancen dazu äußerst gering waren. Der Portier an der Rezeption überreichte ihm die Schlüsselkarte für sein Zimmer und wünschte ihm einen angenehmen Aufenthalt. Im Fahrstuhl sah er sie wieder in seinen Gedanken ihm gegenüber im Café sitzen. Er erinnerte sich an die vertraute Atmosphäre, die zwischen ihnen herrschte. Es war so, als würden sie sich schon lange kennen. Sie erzählte ihm, dass sie selbst Malerin wäre und demnächst ihre erste eigene Ausstellung habe. Dafür müsse sie aber noch viel arbeiten. Sie wolle mindestens noch zwei Bilder fertig bekommen. Drei Jahre habe sie Kunst studiert. Eigentlich wollte sie Lehrerin werden, aber das Image dieses Berufes habe sie abgeschreckt. Mittlerweile haben ja weder Eltern noch Kinder Respekt vor Lehrern. Also habe sie sich ganz der Kunst gewidmet. Aber das Leben als freischaffende Künstlerin sei hart. Kein geregeltes Einkommen, also müsse sie hin und wieder jobben, wie sie sagte, kellnern, Ladenregale befüllen. Ab und zu gebe sie in der VHS Malkurse, aber da träfe sie zu sehr auf verspinnerte Möchtegernmaler, die ihr, so sie denn einen hätte, auf den Sack gingen. Dabei lachte sie recht herzlich und er hätte sie am liebsten in seine Arme geschlossen.

Auf seinem Zimmer packte er seinen Koffer aus und machte sich frisch. Aus dem Fenster sah er auf den Bahnhofsvorplatz. Straßenbahnen und Busse fuhren unaufhörlich am Hotel vorbei. Aber das Zimmer war gut isoliert, wenig von dem Lärm da draußen drang zu ihm. Er hatte ihr lange zugehört, hing an ihren vollen, roten Lippen, bewunderte ihre strahlenden Augen und genoss ihre Begeisterung für ihren Beruf, die aus ihren Erzählungen quoll. Als sie ihn plötzlich und unvermittelt fragte, was er denn so mache, erschrak er förmlich. Was war sein Leben schon gegen das ihrige. Er war ein langweiliger Kaufmann, der sich zwar für Kunst interessierte, aber nichts besonderes darstellte. Also druckste er herum, überlegte, wie er sich interessanter machen könnte, aber auch darin war er schlecht. „So schlimm?“, hörte er sie fragen, als er zu lange mit der Antwort zögerte. Er stieß ein verlegenes Lachen aus und verneinte. Er sei eben nur einfacher Kaufmann, Angestellter in einem mittelständischen Betrieb. „Das hat doch auch was“, lachte sie, „ein geregeltes Einkommen, keine Sorgen, wovon man nächsten Monat die Miete, Strom und Gas bezahlt.“ Ja, da hatte sie recht, aber irgendwie hatte er sich sein Leben auch anders vorgestellt und er beneidete sie so ein wenig für ihr Leben. Er hatte sich schon immer den Künsten hingezogen gefühlt, besuchte Kunstausstellungen, las gerne ein Buch und war auch hin und wieder Gast einer Autorenlesung, hatte ein Abonnement für das städtische Theater seiner Kleinstadt. Oft schon hatte er sich gefragt, ob er nicht auch … Aber er wagte den Gedanken nicht zu beenden. Und nun saß sie ihm gegenüber, eine begeisterte und dazu noch bezaubernde Künstlerin, die alles das lebte, wo von er träumte. Die Straßenbahn brachte ihn dem Kunstmuseum näher. Sie hatten sich im Café so verquatscht, dass sie nicht gemerkt hatten, dass sie die letzten Gäste waren und die Kellnerin sehnsüchtig darauf wartete, in den wohlverdienten Feierabend gehen zu dürfen. Erst ein deutliches Räuspern der jungen Frau ließ sie die Situation erkennen. Seine Tischnachbarin kramte in ihrer Handtasche, zog ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber hervor und schrieb ihre Adresse und Telefonnummer auf. „Hier“, sagte sie und reichte ihm die Notiz, „wenn du – sie hatte tatsächlich das erste Mal das vertraute Du benutzt – das nächste Mal in der Stadt bist, besuch mich in meinem Atelier, ruf aber vorher an.“ In seinem Kopf war sofort die Suche nach einem baldigen Termin entbrannt und am liebsten wäre er gleich da geblieben und mit ihr gegangen, aber berufliche Verpflichtungen ließen das nicht zu. So hatten sie sich vor dem Kunstmuseum verabschiedet, sie hatte ihm einen Kuss auf die Wange gegeben und war dann gegangen. Er hatte ihr noch lange nachgeschaut, wäre ihr am liebsten nachgelaufen, hätte sie gerne umarmt und nicht mehr losgelassen. Erst als sie seinem Blickfeld entschwunden war, trat auch er seinen Weg zum Hotel an.

Nun stand er wieder hier, blickte in die Richtung, in der sie vom Häusermeer verschluckt wurde. Menschen strömten in die Kunsthalle, in der eine Max Liebermann Ausstellung gezeigt wurde, die auch er besuchen wollte. Als er damals im Hotel ankam und den Zettel mit ihrer Adresse und Telefonnummer aus der Tasche ziehen wollte, musste er zu seinem großen Schrecken feststellen, dass er ihn verloren hatte. Er hatte Tränen der Wut in den Augen, wäre am liebsten sofort den Weg zurückgegangen, um danach zu suchen, aber das war ein hoffnungsloses Unterfangen. Und warum hatte er sich nicht ihren Namen und ihre Anschrift eingeprägt. Er hatte nicht einmal auf den Zettel geschaut und sie hatten sich nicht mit Namen vorgestellt. Er war der Verzweiflung nahe. Wie nur konnte ihm so etwas passieren?!

Nachdem er den ersten Schock überwunden hatte, beruhigte er sich damit, dass er sie bestimmt, wenn er wieder zu Hause wäre, im Internet finden würde. Aber das bewahrheitete sich nicht. Die Frau schien nicht zu existieren und er zweifelte an seinem Verstand, glaubte bald, dass die Begegnung mit ihr nur ein Trugbild seiner Fantasie war. Und trotzdem hatte sich ihr Bild in ihm festgebrannt.

Als er den Ausstellungsraum betrat, hatte er das Gefühl, sie würde an seiner Seite stehen und ihm die Bilder erklären. Aber er war alleine im Strom der vielen Besucher. Immer wieder ertappte er sich dabei, wie er seinen Blick durch die Hallen wandern ließ, um nach ihr Ausschau zu halten. Er musste sich zusammenreißen, sich auf die Gemälde und Erläuterungen zu konzentrieren. Und doch zog es ihn unaufhaltsam zum Café, in dem er die schönsten Stunden seiner letzten Jahre verlebt hatte. Mit Herzklopfen ging er die Treppen hinunter. Wie würde er, ja, wie würde vor allem sie reagieren, wenn sie sich dort wiedertreffen würden? Angespannt blieb er vor der Glastür stehen und spähte hindurch. In der rechten Ecke war noch ein Platz frei. Sie sah er nicht. Er beeilte sich, den freien Platz zu belegen und bestellte sich einen Kaffee. Am Tisch neben ihm saß ein, aus seiner Sicht, junger Mann, der ungeduldig auf jemanden zu warten schien. Ständig reckte er seinen Kopf zur Eingangstür und sackte wieder in sich zusammen, wenn seine Hoffnung nicht erfüllt wurde. Dann aber setzte sich ein freudiges Lächeln in sein Gesicht und er stand auf, breitete seine Arme aus und nahm die von ihm erwartete Person in seine Arme.

Da brach für den Mann auf dem Eckplatz eine Welt zusammen. Er wünschte sich, im Boden zu versinken, unsichtbar und nicht hierher gekommen zu sein. Die Frau in den Armen des anderen war die von ihm Angebetete. Er wollte spontan aufstehen und fliehen, aber er war wie gelähmt und schon hörte er wie von weitem ihre Stimme, die über ein Jahr in seinen Ohren geklungen hatte. Er wagte nicht aufzublicken, er schämte sich. Wie konnte er sich Hoffnungen machen? „Hallo“, beugte sie sich zu ihm, „kennen wir uns nicht?“, fragte sie freudig. Er versuchte überrascht und erfreut zu tun, aber das misslang aufs Peinlichste. „Ich hatte gehofft, Sie würden sich mal melden“, sagte sie. Und zu ihrem Begleiter gewandt, erklärte sie, dass das der Mann sei, von dem sie ihm mal erzählt habe, dass sie sich so nett hier im Café unterhalten hätten.

Das war dem Mann auf dem Eckplatz dann doch zu viel. Er gab vor, es eilig zu haben, verabschiedete sich und verließ zu tiefst enttäuscht das Café.

Katzenaugen

Katzenaugen!, dachte er. Diese Frau hat Katzenaugen. Irgendwie eine Schönheit und doch flöste sie ihm Unbehagen ein. Ihre selbstsichere, fast arrogante Art, und dann diese Katzenaugen. Er fühlte sich von ihr angezogen und gleichzeitig verunsichert. Er wollte seinen Blick von ihr wenden und sie nicht weiter beachten, doch immer wieder ertappte er sich dabei, wie er zu ihr hinüberschaute und sie schweigend beobachtete. Noch hatte sie seine aufdringlichen Blicke nicht bemerkt, noch war der Beobachter unbeobachtet.

Ein offenes BMW-Cabrio rollte langsam näher, parkte in einer Parkbucht neben dem Café. Ein schwarzlockiger, gebräunter Typ in dunklem Nadelstreifenanzug stieg elegant aus und bewegte sich geschmeidig auf die Katzenaugen zu. Hartmuts Blick wanderte zwischen Frau und Mann hin und her. Er erkannte ein mattes Lächeln auf den dunkelroten Lippen der blondierten Katzenaugenträgerin. Es gab eine herzliche Begrüßung seitens des Galans mit Umarmung und Küsschen hier und Küsschen da. Widerlich, wie Hartmut fand. Dabei wäre er selbst gerne der BMW-Fahrer gewesen und hätte dieser Frau in den Armen gelegen. Aber gleichzeitig widerstrebte es ihm, der Frau zu nahe zu treten. Was geht sie dich an!, schalt er sich. Was geht dich diese fremde Frau an?! Er wollte die Kellnerin herbeiwinken und bezahlen, aufstehen, wieder an die Arbeit gehen. Aber irgendwie kam er nicht los von diesem Anblick, von dieser Beobachtung. So muss es einem Detektiven gehen, der die untreue Ehefrau eines Klienten observiert, durchzuckte es ihm. Und schon sah er in dem geschniegelten Lackaffen den heimlichen Liebhaber, der sich hier verbotener Weise in der Mittagspause mit seiner verheirateten Geliebten traf. Oder war er verheiratet und sie seine Gespielin?

Hartmut schaute zu, wie der Typ sie anhimmelte und sie in einer merkwürdigen Distanziertheit mit einem matten Lächeln, das nicht in die Katzenaugen steigen wollte, die Bewunderungen ihres Anhimmlers entgegennahm. Schon keimte Mitleid in Hartmut für seinen Geschlechtsgenossen auf. Lass es sein, wollte er ihm zurufen, die interessiert sich nicht für dich. Die liebt nur sich selbst. Aber warum trafen sie sich hier? Was war ihr Interesse an diesem Mann? Jetzt, ganz plötzlich, bohrten sich ihre Katzenaugen in Hartmuts Blick, für einen Wimpernschlag. Hartmut erschrak und er spürte Hitze in sich aufsteigen, obwohl der winzige Moment des Zusammentreffens ihrer Blicke ihn hätte zu Eis erfrieren lassen können. Verstohlen versuchte er einen erneuten Blickkontakt, aber sie widmete sich ganz ihrem Verehrer, schien ihm mit ausdrucksloser Miene etwas zu erzählen, das ihn in Verzückungen versetzte. Er gurrte wie ein brünftiger Täuberich um sie herum, setzte sich schließlich ihr gegenüber, ergriff ihre Hand, küsste und streichelte sie.

Hartmut konnte den Blick nicht von dem Paar lassen. Und wieder richteten sich die Katzenaugen auf ihn. Ihm schien, Verärgerung in ihnen zu erkennen. Plötzlich stand die blonde Frau energisch auf, ließ ihren Bewunderer sitzen und stolzierte resolut auf Hartmut zu. Dieser glotzte sie mit großen Augen an. Und eh er sich versah, schlug sie ihm ihre Handtasche um die Ohren, giftete ihn an, was er denn so glotze, drehte sich wieder um, sagte ihrem Liebhaber ein paar schnippische Worte und stöckelte in ihren hochhackigen Schuhen davon.

Abraham

Hektische Betriebsamkeit herrschte am Kai von Boulogne. Menschen liefen zusammen, starrten auf den leblosen Körper, den man aus dem öligen, dreckigen Wasser des Hafenbeckens gezogen hatte. Polizei und Krankenwagen waren mit Sirenengeheul herbeigeeilt, aber zumindest der Rettungswagen hatte seinen Weg umsonst gemacht, denn für den vom Wasser aufgedunsenen Körper kam jede Hilfe zu spät.

Ich kümmerte mich nicht sonderlich um das Spektakel, das sich dort abspielte, beobachtete eher gelangweilt das bunte, aufgeregte Treiben, denn meine Konzentration galt Abraham, den ich hier nach Jahren der Trennung wiedertreffen sollte. Abraham, das war mein Freund aus früher Jugend bis hin zum jungen Mannesalter, aber er war noch mehr, er war ein Teil meines Lebens.

Sollte ich heute nachvollziehen, warum sich unsere Wege trennten, könnte ich keinen Grund sagen. Es geschah halt so. Ich war verheiratet, er zog nach England, und nachdem wir uns noch ein paar Mal trafen oder miteinander telefonierten, verloren wir uns aus den Augen. Unvorstellbar, bedachte ich, was uns verband, was wir zusammen erlebten und wie innig unsere Freundschaft gewesen war.

Trotzdem war ich verwundert, erstaunt und doch natürlich von Freude erfüllt, als er mich vor einer Woche plötzlich anrief.

„Hey“, sagte er, „wie geht's, alter Kumpel. Alle Zähne noch zusammen?“ Das war der alberne Schnack, mit dem wir damals die ältere Generation spöttisch zu belegen pflegten. Ich war vor Freude sprachlos, endlich nach Jahren seine Stimme wieder zu hören.

„Hey!“, rief er in den Hörer, „kennst du meine Stimme nicht mehr?“

„Doch, doch“, bemühte ich mich, schnell zu antworten, „ich bin nur perplex, dich nach so langer Zeit wieder zu hören.“

„Was ist, wollen wir uns treffen? Hast du Zeit?“

Er stellte mich erneut vor ein Rätsel. Da waren Jahre ins Land gegangen, ohne dass ich ein Lebenszeichen von ihm erhielt, ohne dass meine Briefe beantwortet oder meine Telefonanrufe entgegengenommen wurden, und nun innerhalb weniger Sekunden hörte ich seine Stimme und sollte ich ihn wiedersehen.

„Wo bist du? Von wo aus rufst du an?“, fragte ich.

„Ach, ich bin mal wieder in good old England“, antwortete er und konnte einen leichten englischen Akzent nicht verbergen.

„Wo hast du gesteckt? Warum hast du dich nicht gemeldet?“ Er lachte. „Du tust gerade so, als wären wir verheiratet. Also, was ist, wollen wir uns in Boulogne treffen?“

„In Boulogne?“

„Ja, in Boulogne. Ich komme Montag aufs Festland rüber, muss über Frankreich nach Genua.“

„Was willst du denn da?“

„Darüber können wir dann sprechen. Sag mir erst zu, dass du kommst. Wir können uns am Kai an dem Zeitungskiosk treffen.“

„Ich kenn mich da nicht aus.“

„Du wirst das schon finden, ist nicht zu verfehlen. Also, Montag in Boulogne am Zeitungskiosk um elf Uhr. Sei pünktlich.“

Es knackte in der Leitung, die Verbindung war zusammengebrochen. Mir schien das Ganze mysteriös, sehr sonderbar. Wenn ich seine Stimme nicht mit Sicherheit wiedererkannt hätte, ich hätte das alles für einen makabren Scherz gehalten. So aber stand ich nun vor der Gewissensentscheidung, dieser merkwürdigen Einladung zu folgen oder nicht. Hanna, meine Frau, riet mir ab. Der Weg sei doch viel zu weit, und wer weiß, wer sich da nicht doch einen Scherz erlaubt hätte. Außerdem sei das doch sehr sonderbar, ja fast beängstigend.

„Lass es lieber sein. Wenn er was von dir will, wird er sich schon wieder melden. Er kann ja auch herkommen, er weiß doch, wo wir wohnen.“

Aber die leiseste Chance, Abraham wiederzusehen, ließ mich die nächsten Nächte unruhig schlafen und die Tage voller zwiespältiger Gefühle durchleben. So entschloss ich mich doch, trotz aller Warnungen, die weite Strecke nach dem französischen Kanalhafen auf mich zu nehmen.

Ich sehe ihn noch heute, wie ihn unsere Lehrerin in der dritten Klasse uns vorstellte. Er war ein kleiner, schmächtiger Junge mit spiddeligen Beinen, die aus einer schwarzen, kurzen Samthose ragten, die Hosenträger konnten das viel zu große, weiße Hemd nicht enger an den Körper drücken. Seine schwarzen Haare waren wellig und mit Pomade glänzend in eine eigenwillige Form gelegt.

„Das ist Abraham“, sagte Frau Weitel, „er kommt aus München zu uns, nehmt ihn gut bei euch auf.“ Dann wies sie ihm den freien Platz neben mir zu. Ich beäugte ihn misstrauisch, machte er mir doch einen sehr fremden Eindruck, und alles was fremd war, war verdächtig Aber kindliche Neugier trieb uns schließlich dazu, ihn auszufragen und in den Mittelpunkt unseres Interesses zu stellen. Und da er, obwohl er aus München kam, keinen bayerischen Akzent sprach, wurde er von allen sehr schnell akzeptiert.

Es war wohl unser Schicksal, dass Frau Weitel ihn damals zu mir setzte, jedenfalls erwuchs aus diesem Zufall die innigste Freundschaft, die man sich denken konnte. Wir durchliefen unseren Schulweg gemeinsam, absolvierten den Militärdienst zusammen und entschlossen uns ebenfalls für die selbe Universität, an der wir allerdings verschiedene Fachrichtungen belegten. Aber, das war für uns keine Frage, natürlich wohnten wir zusammen.

Aus dem kleinen, schmächtigen Jungen wurde ein kräftiger, großer Bursche, bei dessen Anblick die Mädchenherzen höher schlugen. Er war ein Sonnyboy, aber auch ein Bruder Leichtfuß, den ich oft bremsen musste, damit er nicht über die Strenge schlug und sein leichtfertiges Handeln später bereuen musste. Dafür war er mein Motor, ständig trieb er mich an, machte mir Mut und nahm mich mit seinem unerschöpflichen Elan in eine nie an Erlebnissen armen Zeit.

Dieses alles endete plötzlich, als er nach dem Studium eine Arbeit bei einem deutschen Konzern in London annahm. Er zog auf die Insel und hinterließ ein großes Loch an meiner Seite. Gewohnt, jemanden neben mir zu haben, der mich aktivierte, verfiel ich in eine dumpfe Lethargie, die erst Hanna wieder vertrieb. Abraham sollte unser Trauzeuge werden, aber er hatte sich nicht frei machen können. So kam er erst nach der Trauung, und damit hatten die „guten, alten Zeiten“ ein Ende gefunden.

Sie trugen die Wasserleiche in einen Zinksarg und verfrachteten diesen in einen schwarzen Citroen-Lieferwagen. Die neugierigen Menschen verließen den Ort des Geschehens. Vom Kanal kommend tuckerten zwei Fischerboote in den Hafen. Es war bereits zwölf Uhr. Abraham war noch immer nicht da. Dabei konnte ich mich erinnern, dass er ein äußerst pünktlicher Mensch war, der die Unpünktlichkeit hasste. Also doch auf einen blöden Gag hereingefallen? Da hatte sich wohl jemand einen bösen Scherz mit mir erlaubt.

„Warum heißt du eigentlich Abraham?“, hatte ich ihn einmal gefragt.

„Warum heißt du Holger? Weil dein Vater es so wollte. Nicht anders ist es bei mir.“

„Ja, aber Abraham ... ist das nicht ein jüdischer Name?“

„Und wenn schon. Stört es dich?“

„Nein, nein, das nicht ...“

„Aber es kommt dir komisch vor, nicht wahr?“

„Ja. Ich frage mich schon lange, warum gerade Abraham?

Hast du deinen Vater mal gefragt?“

„Nein, er hat es von selber erklärt.“

„Und?“

„Er hatte eine eigensinnige Erklärung in seinem gläubigen Eifer. Abraham bedeutet Vater der Menge oder des Volkes. Ich, so glaubte mein Vater, werde eines Tages die Macht über viele Menschen haben, aber ich werde auch für meinen Glauben, was immer er damit gemeint hat, bereit sein, ein großes, mir schmerzliches Opfer zu bringen. Darum also Abraham.“ Ich lächelte bei diesem Gedanken. Wie sehr Eltern doch falsche Erwartungen in ihre Kinder stecken und ihren Nachwuchs dadurch drangsalieren können. Dass Abraham je Macht über andere haben sollte, war mir fremd. Er war auch nicht der Typ dazu. Und wie vermessen von einem Vater, voraussehen zu wollen, dass sein Kind eines Tages ein schmerzliches Opfer für seinen Glauben zu erbringen habe. Was war das für ein Mann? Ich lernte ihn nie kennen, und Abraham schwieg stets, wenn er vor die Frage gestellt wurde, wo denn sein Vater sei.

Am Kai herrschte jetzt nur noch das normale Treiben, die Menschenansammlung hatte sich aufgelöst. Polizei, Krankenwagen und der schwarze Transporter mit dem Zinksarg hatten den Hafen verlassen. Ich saß immer noch auf der Kaimauer neben dem Zeitungskiosk und wartete auf Abraham. Überlegungen, nun doch langsam aufzubrechen, machten sich in mir breit. Was aber, wenn er durch irgendeinen Umstand aufgehalten wurde und doch noch käme? Nein, ich war die Hunderte von Kilometern nicht gefahren, um so schnell aufzugeben.

Noch bestand die Möglichkeit, dass er die Fähre verpasst hatte und mit dem nächsten Schiff eintreffen würde. Ich schlenderte zum Fähranleger, um an einem Fahrplan abzulesen, wann die nächste Fähre ankommen sollte. Meine spärlichen Französischkenntnisse erlaubten mir, zwischen den Ankunfts- und Abfahrzeiten zu unterscheiden. Aber erst in vier Stunden sollte die nächste Fähre eintreffen. Das schien mir zu lang, hier am vereinbarten Treffpunkt auszuharren. Also ging ich zu meinem Auto zurück, überlegte mir dabei, ob ich ein Hotelzimmer mieten sollte, denn immerhin bestand ja die Möglichkeit, dass er auch mit dem nächsten Schiff nicht erscheinen würde. Und für eine umgehende Rückfahrt fühlte ich mich nicht fit genug.

Als ich mich meinem Wagen näherte, fluchte ich innerlich, als ich etwas Weißes unter einem der Scheibenwischer entdeckte. Ich war mir nicht bewusst, falsch geparkt zu haben, und doch schien die Polizei mich mit einem Strafzettel bedacht zu haben. Doch je näher ich kam, um so fragender wurde mein Blick. Das war kein Strafzettel, der da untergeklemmt war, es war ein gefalteter Briefbogen. Hastig riss ich das Papier aus seiner Befestigung, entfaltete es und las: „Haben uns wohl verpasst. Komme ins Hotel Belle Epoche in der Rue Batiston, ich erwarte dich da.“

Ich schüttelte mit dem Kopf. Wenn wir uns verpasst hätten, warum wartete er dann nicht hier an meinem Auto, wenn er das schon gefunden hatte? Merkwürdig. Äußerst merkwürdig! Hanna sollte doch wohl nicht Recht behalten? Wurde hier nur ein böses Spiel mit mir getrieben? Ich ging zurück zum Hafen, weil ich dort einen Stadtplan in einem Schaukasten gesehen hatte und suchte nach der Rue Batiston. Sie lag nicht weit entfernt, war nur schwierig wegen der vielen Einbahnstraßen zu erreichen. Nach langem Gekurve konnte ich endlich mein Auto vor dem Hotel parken.

An der Rezeption stand eine etwas ältere Dame, blond, chic und mit sehr viel Würde. Ich kramte in meinem französischen Wortschatz und fragte nach einem Zimmer. Sie lächelte mich an und fragte mich, ob ich deutsch spreche. Das bejahte ich erleichtert und fragte sofort nach Abraham. Sie fragte mich nach meinem Namen und als ich ihr meinen Pass vorzeigte, nickte sie, griff nach hinten und holte aus einem Fach einen gefalteten Briefbogen hervor.

„Dann ist der für Sie“, sagte sie mit einem Lächeln und reichte mir das Papier.

Noch auf der Treppe zu meinem Zimmer las ich Abrahams Zeilen und fand das Ganze nun doch mehr als merkwürdig. Ich muss gestehen, dass Wut in mir aufstieg, da ich mich von meinem Freund richtig gehend veräppelt fühlte. „Musste noch mal dringend weg. Treffen uns um 19 Uhr im Hotelrestaurant. Abraham.“

Ich war drauf und dran umzukehren, das Zimmer abzubestellen, meine Reisetasche im Wagen zu verstauen und den beschwerlichen Weg zurück nach Deutschland anzutreten. Aber irgendwie brachte ich die Kraft nicht auf, hatte mit einem Male ein unsagbar müdes Gefühl, sodass ich mich in meinem Zimmer aufs Bett legte und unvermittelt einschlief.

Als ich wieder erwachte, war es bereits viertel vor sieben. Ich beeilte mich mit dem Frischmachen und Umziehen und stand pünktlich um 19 Uhr im Hotelrestaurant. Doch von Abraham war nichts zu sehen. Ich ließ mich vom Ober an einen Tisch führen und bestellte ein Glas Rotwein. Mit der Speisekarte tat ich mich schwer. Zu viel französisch ohne deutsche Übersetzung. Als auch um halb acht Abraham immer noch nicht erschienen war, bestellte ich mir etwas, von dem ich hoffte, es zu mögen. Zum dritten Glas Rotwein erhielt ich dann irgendetwas Vogelartiges, Huhn oder Pute war es nicht. Es hätte Fasan sein können, aber sicher war ich mir da nicht.

Das nächste Mal, als ich wieder auf die Uhr schaute, war es bereits halb neun. Abraham hatte mich versetzt. Ich trank noch ein Glas Rotwein, bezahlte und erkundigte mich an der Rezeption, ob eine Nachricht für mich vorläge. Aber mit Bedauern wurde dies verneint. So ging ich noch einmal nach draußen, spürte plötzlich meine vier Glas Rotwein im Kopf, machte aber trotzdem noch einen Spaziergang zum Hafen, dorthin, wohin mich Abraham bestellt hatte. Irgendwie kam es mir vor, als würde ich beobachtet, als folge mir jemand. Aber wenn ich mich zur Vergewisserung umdrehte, sah ich niemanden, fand mich ganz alleine in den Gassen.

Am Hafen herrschte dann wieder regeres Treiben. Fischerboote fuhren zum Nachtfang raus. Im Fährhafen lag eine Fähre abfahrbereit nach England. Der Kiosk, an dem ich auf Abraham gewartet hatte, war geschlossen. Keine Zeitungen mehr in ihren Ständern, keine Ansichtskarten, von denen ich Hanna eine hätte schicken können. Erst jetzt kam es mir in den Sinn, sie anzurufen. Doch als ich nach dem Handy tastete, musste ich feststellen, es in der anderen Jacke gelassen zu haben. Nun gut, dann würde ich sie eben später anrufen. Der frische Wind vom Meer durchkühlte mich und ich entschloss mich, zurück zum Hotel zu gehen. In der Rezeption saß jetzt ein alter Mann, der wohl den Nachtwächter abgeben sollte. Ich grüßte knapp und wollte die Treppe zum ersten Stock hochlaufen, aber der Alte rief mich zurück, erzählte mir viel, von dem ich nichts verstand. Erst als der Mann merkte, dass sein Bemühen vergeblich war, schrieb er eine Zahl auf einen Zettel, reichte mir diesen und zeigte zum Telefon. Nun verstand ich. Ich sollte die mir gereichte Zimmernummer anwählen.

In meinem Zimmer angekommen, nahm ich sofort das Telefon und wählte die dreistellige Nummer, die mir der Nachtwächter gereicht hatte. Es dauerte einige Zeit, bis sich eine verschlafene Stimme meldete. Ich erkannte sie nicht sofort, aber als ich mich mit Namen meldete, wurde die Stimme lebendiger und ich erkannte sie wieder.

„Mensch, was für ein Spiel treibst du hier mit mir?“, fragte ich verärgert.

„Tut mir leid“, antwortete Abraham gähnend, „das ist heute alles ziemlich verquer gelaufen. Können wir uns morgen früh um acht beim Frühstücken treffen? Ich bin ziemlich kaputt, brauch jetzt meinen Schlaf.“

„Okay“, antwortete ich zögerlich, „wenn du meinst. Aber versetz mich nicht wieder.“

„Ganz bestimmt nicht. Ich erklär dir morgen dann auch alles.“ Und schon hatte er aufgelegt und ich stand da, mit dem Hörer am Ohr und wusste nicht, ob ich das alles hier nur träumte oder das doch die Realität war.

Hanna hatte mich mehrfach auf dem Handy angerufen und war ebenfalls bereits sehr genervt. So stand unser Gespräch unter keiner günstigen Voraussetzung, zumal sie sich dann auch noch dazu hinreißen ließ, rechthaberisch mir Vorhaltungen zu machen, von wegen lange Reise, Arbeit vernachlässigen und das alles nur wegen eines unzuverlässigen, ehemaligen Freundes. Irgendwie hatte sie ja Recht, aber ich wollte mir das jetzt nicht anhören und beendete meinerseits das Gespräch mit der faulen Ausrede, der Akku sei leer.

Trotz meiner Müdigkeit konnte ich nicht schlafen. Immer wieder fragte ich mich, was das alles solle? Wieso versetzte er mich ständig, wenn er es doch war, der ein Treffen hier vorgeschlagen hatte? Sein Verhalten war mir mehr als rätselhaft. Über all dem Grübeln war ich dann doch eingeschlafen und wurde erst wieder morgens durch das Geschnarre meines Weckers geweckt.