Das verlorene Leben - Erwin Plachetka - E-Book

Das verlorene Leben E-Book

Erwin Plachetka

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Beschreibung

In den Kriegswirren des finnischen Fortsetzungskrieges 1942-44 verliebt sich der deutsche Wehrmachtsoffizier Walter Müller in die junge Finnin Terttu Salminen. Trotz aller Widerstände halten sie zueinander, bis die deutsche Wehrmacht gezwungen wird, das unterstützte Land fluchtartig zu verlassen. Erst im sehr hohen Alter erfährt Walter Müller, dass aus dieser Beziehung ein Sohn entstanden ist. Er beauftragt den Freizeitjournalisten Peter Plage, den Sohn ausfindig zu machen und nach Deutschland zu bringen. Plage reist nach Finnland und wird durch übersetzte Tagebuchaufzeichnungen in die Kriegsjahre 1942 bis 44 zurückversetzt, erfährt von der innigen Liebe, aber auch von Ängsten und Nöten der damaligen Zeit. Zurück in Deutschland führt Plage Sohn und Vater zusammen und muss dabei ein schreckliches Geheimnis lüften.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

1.

Bei hellen Nächten habe ich Probleme zu schlafen. Und hier, fast am Ende der Welt, wurde es nachts nicht dunkel. Ich habe es gewusst. Dennoch sitze ich nun mitten in der Nacht, starre in den nachthellen Himmel und finde keinen Schlaf.

Aber vielleicht sollte ich damit anfangen, wie alles begann und warum ich hier im Hotel Riekonlinna weit nördlich vom Polarkreis in heller Nacht auf den nächsten Tag warte.

Nach meiner Pensionierung hatte ich hin und wieder für unsere örtliche Lokalzeitung, wenn Not am Mann war, ausgeholfen und über verschiedene Anlässe Artikel geschrieben. So wurde ich vor ein paar Wochen gebeten, einen Hundertvierjährigen, der in unserem Kreiskrankenhaus am Blinddarm operiert wurde, zu interviewen und einen kleinen Bericht über ihn zu schreiben.

Ein Hundertvierjähriger, der am Blinddarm operiert wurde, war schon eine Seltenheit. So machte ich mich also mit einem kleinen Schmunzeln auf den Lippen auf den Weg. War gespannt, wie fit der alte Herr noch war. Erwartete eher einen alten Tattergreis, der mir wenig zu erzählen hat und in seinem Bett ermattet von der Operation dahindämmert.

Ich sollte mich vor der Visite beim Stationsarzt melden. Der würde mich einweisen und mich zu seinem Patienten begleiten. Im Krankenhaus fand ich eine aufgeräumte Betreuungsmannschaft vor, die mich, als ich meinen Wunsch, den Hundertvierjährigen zu interviewen, vortrug, freudig begrüßte. Man bat mich, vor dem Schwesternzimmer zu warten, Dr. Martysiak würde gleich Zeit haben.

Ich mag diese Krankenhausatmosphäre nicht. Sie wirkt beklemmend auf mich, das viele Leid, das hier zuhause ist, macht mich krank. Ich unterdrückte meine Phobie, versuchte mich in der Wartezeit abzulenken, grüßte jeden freundlich, der an mir vorbeikam, und redete auf mich ein, mich nicht so anzustellen.

Nach einer mir schier lang vorkommenden Wartezeit rauschte ein junger Arzt mit wehendem weißen Kittel auf mich zu, blieb abrupt vor mir stehen, schaute mich an und seine Frage kam bei mir mehr als Feststellung an: »Sie sind der Mann von der Zeitung?!«

Ich bejahte und ergriff die mir entgegengehaltene Hand. Ich weiß nicht warum, aber gegen Ärzte wie ihn hege ich seit den vielen Arztserien im Fernsehen ein, wie mir scheint, gesundes Misstrauen. Können die wirklich etwas? Entstammen die nicht einer Generation, die weder die Rechtschreibung beherrscht, noch problemlos lesen kann? Menschen, die nicht lesen, sind sowieso vertrauensunwürdig. Und dieser Arzt vor mir sah mir aus wie einer aus diesen Fernseharztserien. Dunkles, volles Haar, gebräunte Haut, trainierter Körper. Der lief bestimmt jeden Tag zehn Kilometer durch den Stadtpark. Noch so eine Eigenschaft, die mein Misstrauen erweckt.

Er sah mich mit so einem überlegenen Lächeln an, das mir signalisieren sollte, wer hier der Platzhirsch ist. Ich, der alte Mann von der Zeitung, mindergebildet und zweite Wahl. Es hätte mich jucken sollen, tat es aber nicht. Ich lächelte zurück, strammte meinen über siebzig Jahre gebeutelten Körper, dass ich einen halben Kopf größer wirkte, als er und blickte auf ihn herab. Er verlor sein überlegenes Lächeln, wurde geschäftsmäßig.

»Also«, begann er, »der Herr Müller ist ja immerhin schon einhundertundvier Jahre alt und da ist es sehr ungewöhnlich, bei so einem alten Menschen noch eine Blinddarmoperation durchzuführen. In unserem Krankenhaus ist dieses der erste Fall, habe ich mir sagen lassen. Herr Müller hat die OP gut überstanden, ist aber noch sehr geschwächt. Ich bitte Sie, darauf Rücksicht zu nehmen. Und bitte, nicht zu lange, der alte Herr braucht seine Ruhe.«

Er wartete meine Antwort nicht ab, klopfte mir auf den Arm, als Zeichen, ich solle ihm folgen, und rannte den Flur voraus. Die blonde Krankenschwester, die mich bat, auf den Jungarzt zu warten, hielt sein Tempo mit, während ich mit meiner schmerzenden Hüfte Schwierigkeiten hatte, ihnen zu folgen. Sinnigerweise hatten sie den Patienten in das Zimmer 104 einquartiert. Dort blieb das vor mir eilende Krankenhauspersonal abrupt stehen, wartete, bis ich gleichgezogen hatte, klopfte an die Tür und stürmte, ohne eine Antwort abzuwarten, in das Krankenzimmer.

Dr. Martysiak stellte sich neben das Bett, ergriff den Arm des alten Mannes und fühlte seinen Puls, während er ihm mitteilte, dass der Mann von der Zeitung da wäre. Er wüsste doch, sie hätten darüber gesprochen. Mich ärgerte der Ton, in dem der Jungarzt mit dem Hundertvierjährigen sprach. Dieser Tonfall wurde benutzt, um mit Kleinkindern oder Senilen zu sprechen. Noch hatte ich den alten Mann nicht gesehen, der Arzt und die Krankenschwester versperrten mir die Sicht auf den Patienten. Also schob ich mich an ihnen vorbei ans Bettende. Ich sah einen alten Mann, der trotz seines hohen Alters und einer eben überstandenen Operation noch einen rüstigen Eindruck machte. Gut, sein Gesicht war mager und voller Falten, hatte eine etwas kränkliche Färbung angenommen und seine Arme, die aus der Bettdecke herauslugten, waren dünne Streichhölzer, sehnig und schlaff ohne erkennbare Muskeln. Aber seine Augen strahlten Witz und Lebensfreude aus. Er versuchte sich etwas aufzurichten, lenkte seinen Blick vom Arzt zu mir und räusperte sich. Je mehr er zu sich kam, vermittelte er mir den Eindruck eines aufgeweckten Mannes mit einem schelmischen Lächeln um die Lippen. Ich war mir sofort sicher, dieser Mann hatte den Tonfall des Arztes nicht verdient. Aus seinen Augen blitzte noch der scharfe Verstand eines lebenserfahrenen Mannes.

Dr. Martysiak drehte sich mir zu, sah auf seine Armbanduhr, tippte darauf und sagte: »Zehn Minuten.« Dann drehte er sich ruckartig um, schob die blonde, etwas korpulente Krankenschwester vor sich her und verließ das Zimmer. Ich atmete auf. Über das Gesicht des Alten huschte ein weiteres Lächeln. »Wie fühlen Sie sich?«, fragte ich, um das Gespräch in Gang zu bringen.

»Gut«, antwortete er, um eine feste Stimme bemüht, die jedoch seines Alters entsprechend brüchig klang. Er versuchte, im Bett noch ein Stück höher zu rutschen. Als ich aufstand, um ihm helfen zu wollen, wehrte er kraftlos durch Winken ab.

Ich setzte mich. »Für Ihr Alter ist das ja auch ein ganz schön gefährlicher Eingriff«, sagte ich und bemerkte selbst, wie ich den Tonfall annahm, den man mit Kindern und Senilen pflegte und den ich vor ein paar Minuten noch missfallend zur Kenntnis nahm.

Der alte Mann grinste übers ganze Gesicht. »Es muss ja immer weitergehen«, sagte er, »aufgeben gibt‘s nicht.« Er lachte jetzt laut und seine Augen bekamen einen glücklichen Glanz dabei. »Ist ja man auch alles gut gegangen«, fügte er hinzu.

Es muss ja immer weitergehen, hallte es in mir nach. Welch ein Satz eines Hundertvierjährigen. Der alte Mann begann, mich zu beeindrucken.

»Haben Sie denn Angehörige, die Sie besuchen?«, fragte ich.

»Nein«, antwortete er gedehnt, »sind doch alle tot. Und die Enkelkinder …« Er seufzte tief und seine Augen röteten sich.

Ich ließ ihn gewähren, wollte nicht so penetrant sein und nachhaken, wo ich doch sah, dass es ihn berührte. Er wischte sich mit dem Ärmel über die Augen, senkte den Blick und begann verlegen, seine knochigen Finger zu massieren. Dann seufzte er tief, hob seinen Blick und sah mich mit einem verschämten Lächeln an.

»Mit dem Alter wird man etwas sentimental«, sagte er, »und es ist doch schlimm, wenn man seine eigenen Kinder überlebt, nicht wahr?«

»Aber Sie haben noch Enkelkinder?«

»Ja, aber die leben weit weg …«, er sah an mir vorbei, schien seine Erinnerung durch das Fenster verstärkt wieder finden zu wollen.

»Was haben Sie beruflich gemacht?«, fragte ich, um ihn abzulenken.

Er schien mich nicht gehört zu haben, denn noch immer starrte er nach draußen in den blauen Himmel, als würde er da den Film seines Lebens sehen.

Ich erinnerte mich an die zehn Minuten, die mir vom Arzt gegeben wurden, konnte mich aber auch nicht überwinden, den alten Mann zur Eile zu mahnen. So ließ ich ihn gewähren, überprüfte meine Zeit mit einem scheuen Blick auf meine Armbanduhr.

»In meinem Alter ist jede Minute eine zusätzliche Zeit geschenkten Lebens«, sagte er plötzlich und wandte sich mir zu. »Und jede verlebte Minute ein dicker Abstrich in der noch verbleibenden Lebenszeit. Pläne zu machen scheint in Anbetracht, dass Gevatter Tod jederzeit auf der Matte stehen kann, sinnlos.«

»Gibt es denn noch etwas, auf das Sie sich freuen?«, fragte ich.

Er begann wieder, seine abgemagerten Finger zu massieren, lächelte vor sich hin und schien in Gedanken weit weg zu sein. Nach einiger Zeit sagte er mit belegter Stimme: »Ich würde gerne noch einmal meine Enkelkinder sehen und dann ist da noch ...«

»Ist das so schwierig?«, fragte ich. »Wo leben die denn?«

»Beide leben in den USA, diesem verrückten Land«, antwortete er.

»Verrückt? Wieso verrückt?«

»Na, ja, ist es das nicht?«

Die Tür wurde aufgerissen und die blonde Krankenschwester schaute herein, tippte auf ihre Armbanduhr und ermahnte mich, dass meine Zeit bald vorbei sei und Herr Müller seine Ruhe brauche.

Hundertvierjahre Menschenleben und dann nur zehn Minuten, das kam mir irgendwie pervers vor. Ich hatte noch so viele Fragen und nicht den Eindruck, dass der Patient am Ende seiner Kräfte war.

»Bitte«, flehte ich, »geben Sie mir noch etwas Zeit. Wir sind doch gerade erst ins Gespräch gekommen. Ich habe noch gar nichts, was ich schreiben könnte.«

Sie runzelte die Stirn, blickte, sich umschauend, hinaus auf den Flur, kam herein und schloss die Tür hinter sich.

»Ich kriege mit dem Doc Ärger, wenn ich seine Anweisung nicht befolge«, sagte sie, »also, sehen Sie zu, dass Sie fertig werden. Geht es Ihnen gut, Herr Müller?«, fragte sie und trat an das Bett ihres Patienten.

»Ja, ja«, bemühte sich der Alte zu antworten.

»Also gut, ich schau gleich wieder rein, so lange lasse ich Sie noch, nur dann braucht Herr Müller wirklich wieder Ruhe.« Sie tätschelte seine Hand, lächelte ihm zu und verließ das Zimmer.

Ich wartete einen Moment, überlegte, was für meinen Artikel noch wichtig war, obwohl ich bestimmt noch hundert Fragen an diesen Mann gehabt hätte. Erinnerte mich Gott sei Dank daran, das mir aufgetragene Foto von dem alten Mann in seinem Krankenbett zu machen. Dann setzte ich meine Befragung fort.

»Wo wohnen Sie, wenn Sie nicht im Krankenhaus liegen?«, war meine erste Frage, die mir einfiel und ich fühlte mich dabei gehetzt, eigentlich meinem Gegenüber angemessen in Anbetracht dessen, dass uns beiden auf verschiedene Weise die Zeit davonlief.

»In der Seniorenresidenz alleine ging es nicht mehr ohne Probleme«, antwortete er mit einem traurigen Unterton. »Aber es ist ganz in Ordnung, man kümmert sich um mich.«

»Hundertvier Jahre sind ein stolzes Lebensalter, da haben Sie sicherlich viel erlebt. Ich muss meine Frage von vorhin noch einmal wiederholen: Was haben Sie beruflich gemacht?«

Er sah mich mit einem leeren Blick an. Und ich wusste nicht - will er es mir nicht verraten oder erinnert er sich nicht mehr. Aber er schien mir nicht senil zu sein. Was also war der Grund für sein Schweigen?

»Ich war Ingenieur«, sagte er plötzlich. Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Vermessungsingenieur.«

Ich weiß nicht warum, aber mir fiel sofort bei diesem Wort mein ehemaliger Kamerad Hinnerk Onnen aus Ostfriesland ein, mit dem ich meine Bundeswehrzeit in einem Panzergrenadierzug verbrachte. Ein großgewachsener von der Statur her kräftiger Bursche. Der war Vermessungsingenieur und gab der Mörserpanzer-Besatzung die Zielkoordinaten so genau vor, dass die Burschen mit ihren Mörsergranaten punktgenau trafen. Von daher hatte ich Respekt vor seinem Können, aber auch das Wissen, wozu man diesen Beruf missbrauchen konnte. Ich ahnte also, wie mein Hundertvierjähriger dem Großdeutschen Reich gedient hatte, und vielleicht lag darin auch sein Zögern mit einer Antwort. Trotzdem musste ich nachfragen:

»Ein Beruf, der während des Kriegs bestimmt gut gebraucht wurde, oder?«

Er drehte sich auf die Seite, schien mit mir nicht mehr reden zu wollen.

»Ist das ein Thema, über das Sie nicht reden möchten?«, hakte ich nach.

Ich erhielt keine Antwort. Also erkundigte ich mich nach seinen Familienverhältnissen, nach seinen Eltern, Geschwistern und seiner Ehefrau.

Es brauchte eine Zeit, bis er sich wieder auf den Rücken drehte, mich ansah und schließlich antwortete: »Alle tot.«

»Geschwister und Ehefrau?«

»Ja.«

»Wie lange waren Sie verheiratet?«

»Fünfundfünfzig Jahre, drei Monate und vier Tage.«

»Das ist ja toll, wie genau Sie das noch wissen. Können Sie mir …«

»Jetzt ist aber absolut Schluss«, wurde ich von der wütenden Stimme Dr. Matysiaks unterbrochen, der in das Krankenzimmer hereingestürmt kam und sich vor mir aufbaute. »Ich hatte Ihnen zehn Minuten gegeben, schauen Sie auf die Uhr, wie unverschämt Sie überzogen haben. Herr Müller braucht Ruhe. Sie sollten etwas mehr Respekt vor seinem Alter haben.« Normalerweise hätte ich jetzt zurückgepoltert und dem Arzt seinerseits Respektlosigkeit vorgeworfen, aber ich schluckte meinen Zorn hinunter, stand auf, reichte dem alten Mann die Hand und verabschiedete mich.

Auf dem Gang erkundigte ich mich bei der blonden Krankenschwester, wie lange der Patient wohl noch im Krankenhaus bleiben müsse, denn ich war fest entschlossen, ihn noch einmal zu besuchen. Der Mann schien mir eine interessante Lebensgeschichte zu haben, von der ich gerne mehr gewusst hätte.

»Wenn keine Komplikationen entstehen, wohl noch drei bis vier Tage«, antwortete sie, »und hören Sie, Herr Plage, Sie müssen Dr. Matysiak entschuldigen, der Mann hat sechzehn Stunden Dienst hinter sich und ist am Ende seiner Kräfte.« Ich zeigte Verständnis, dachte mir meinen Teil über unser grandioses Gesundheitssystem und verließ das Krankenhaus.

2.

Riekonlinna, so wurde mir gesagt, heißt auf Deutsch Schneehuhnschloss oder -burg. Die Finnen sind schon ein seltsames, aber liebenswertes Völkchen, selbst im Hotelzimmer habe ich eine kleine Sauna mit Elektroofen, in der zwei Personen sitzen können. Nach außen hat das Zimmer einen kleinen Balkon, von dem aus ich über einen Wald auf die kahlen sanften Hügel der lappländischen Tundra blicken kann. Ich stelle mir vor, dass man von hier im Winter die Nordlichter am Himmel beobachten kann. All diese Gedanken gehen mir durch den Kopf, während ich um meinen Schlaf bange. Und dann bin ich wieder zurück, sehe mich vom Krankenhaus in die Redaktion fahren, um meinen Artikel über den Hundertvierjährigen zu schreiben.

Mit der Überschrift Es muss ja immer weitergehen erschien am nächsten Tag mein Bericht. Und ich hatte das Gefühl, da ist noch viel mehr rauszuholen. Dieser Mann hatte mir noch viel zu erzählen. So ein Mensch in seinem Alter hatte doch eine Menge erlebt: Geboren bei Ausbruch des ersten Weltkrieges, die Nazi-Diktatur, den zweiten Weltkrieg, Deutschlands Zusammenbruch und Wiederaufbau, das waren Zeiten, bis auf die letzten Jahre, die ich nicht miterlebt hatte. Mein Vater, nicht gesegnet mit dem hohen Alter des Hundertvierjährigen und im sechsundsiebzigsten Lebensjahr verstorben, hatte seine eigene Sicht auf diese Zeiten, und wir hatten viel zu wenig darüber gesprochen, weil ich in jungen Jahren nicht nachfragte und später es auch nicht weit über Allgemeinplätze hinausging.

Jetzt, mit meinen dreiundsiebzig Jahren, verspürte ich auf einmal das Verlangen, mehr von einem Leben in dieser Zeit zu erfahren. Also beschloss ich, noch einmal den alten Herrn im Krankenhaus zu besuchen. Anita, meine Frau, war darüber wenig begeistert, murrte etwas, wie wir wollten doch …, um zu verstummen und eine wegwerfende Handbewegung zu machen. »Mach doch, was du willst«, sagte sie schließlich, »ach, eh ich es vergesse, ich fahre mit den Mädchen übernächstes Wochenende in ein Wellnesshotel, wollen uns ein wenig verwöhnen lassen.« Mit den Mädchen meinte sie ihre gleichaltrigen Freundinnen.

Ich schaute etwas verdutzt aus der Wäsche. »So, so, das habt ihr mal so eben abgemacht, ohne dass du es mit mir absprichst«, empörte ich mich.

»Hätte ich dich um Erlaubnis bitten müssen?«, fragte sie gereizt.

»Nein, das nicht, aber …«

»Na, dann ist ja gut.«

Irgendwie fühlte ich mich verwirrt und orientierungslos. Wir hatten doch sonst immer alles gemeinsam geplant und besprochen. Was war ihr über die Leber gelaufen, dass sie mich auf diese Weise vor vollendete Tatsachen stellte?

»Ich geh dann mal«, sagte ich beleidigt und verabschiedete mich mit einem mehr als flüchtigen Wangenkuss.

Im Krankenhaus meldete ich mich nicht im Schwesternzimmer an, ging geradewegs zu meinem Hundertvierjährigen. Er lag eingekauert unter seiner Bettdecke, schien zu schlafen. Als die Tür etwas zu laut zufiel, schreckte er hoch, sah mich aus verschlafenen Augen an und als er mich erkannte, huschte ein spitzbübisches Lächeln über sein faltiges Gesicht.

»Ah, der Mann von der Zeitung«, begrüßte er mich und rutschte mühsam in seinem Bett etwas höher.

»Moin, Herr Müller, wie geht es Ihnen heute Morgen?«

»Gut, gut«, krächzte er, »es geht aufwärts.«

»Haben Sie die Zeitung gelesen?«, fragte ich und legte ihm ein mitgebrachtes Exemplar auf die Bettdecke, »Auf der dritten Seite - soll ich Ihnen die Zeitung aufschlagen?«

»Ja, bitte, und können Sie mir das Kopfteil etwas höher …?«

Ich half ihm, schlug die Zeitung auf und überreichte sie ihm. Zu meiner Überraschung brauchte er keine Brille. Er betrachtete das Bild und schmunzelte, dann überflog er die Zeilen mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen, senkte die Zeitung und seufzte. »Jo, dat mutt ja immer weitergohn.«.

»Zufrieden?«

»Jo«, antwortete er knapp und ich bemerkte, wie sich seine Augen röteten. »Schon alles merkwürdig«, sagte er plötzlich.

»Was meinen Sie damit?«

»Na, das Leben«, sinnierte er, »dass ich hier in meinem Alter … und sowieso … wo sind die Jahre geblieben?«

»Ja, das sagen Sie mal. Ich bin ja auch nicht mehr der Jüngste und wunder mich jeden Tag, wie rasend die Zeit verstreicht. Ein Tag, eine Woche, ein Monat, ein Jahr … was ist das schon!« Wir versanken in unsere Gedanken, bis wir von einer jungen Krankenschwester, die nach dem Rechten schauen wollte, hochgeschreckt wurden. Sie fühlte dem Patienten den Puls, schüttelte sein Kopfkissen auf, fragte nach seinen Wünschen und verließ uns wieder.

»Ja, Herr Müller«, begann ich zaghaft, »ich bin eigentlich gekommen, um so ein bisschen von Ihrem Leben zu erfahren. Haben Sie Lust, mir etwas zu erzählen?«

Er sah mich erstaunt an. »Was gibt’s da schon zu erzählen?«, sagte er, »Wollen Sie noch einen Artikel über mich …?«

»Nein, nein«, wehrte ich sofort ab, »es interessiert mich halt. Ein Mann in Ihrem Alter hat doch sicherlich viel erlebt.«

Er schmunzelte, schien in sich zu schauen und sein Leben Revue passieren zu lassen. Dann seufzte er und ohne aufzublicken, sagte er: »Ja, viele werden nicht so alt wie ich. Alle Angehörigen und Freunde haben sich vom Acker gemacht. Selbst meine Kinder habe ich überlebt, bis auf … Na, ja, …«

»Bis auf …? Was wollten Sie sagen?«, fragte ich vorsichtig nach.

Er winkte mit seinen knochigen Armen, an denen die Muskeln schlaff herabhingen, ab. »Was möchten Sie denn wissen?«, sah er mich fragend an.

Ich war etwas verwirrt. Es schien da also etwas zu geben, über das er nicht sprechen wollte. Ich unterließ es, nachzufragen. »Wo kommt Ihre Familie her? Was haben Ihre Eltern gemacht? Hatten Sie Geschwister?«

Er lachte und für sein Alter hatte er eine lebhafte Mimik, die ich ihm nicht zugetraut hätte. Auch seine Sprache, zwar langsam und ein klein wenig brüchig, ließ nicht erahnen, dass er im gesegneten Alter von einhundertundvier Jahren war. »Das sind ja schon viele Fragen.« Er versuchte sein Wasserglas zu ergreifen, was ihm aus seiner Lage nicht gelang. Ich half ihm und wartete, bis er getrunken hatte und mir das Glas zum Wegstellen reichte. »Die kamen doch alle irgendwie aus dem Osten«, sagte er schließlich, »man hatte ihnen Arbeit versprochen, was bedeutete, dass man aus dem Elend herauskam. Mein Alter kam mit meiner Mutter aus dem letzten Haus bei Grenze aus Schlesien. Er hatte in einer Weberei gearbeitet und sie war Schneiderin. Ihren Beruf durfte sie aber nach der Heirat nicht mehr ausüben. Damals gehörte die Frau an den Herd und war für die Kinder da. Davon hatten sie dann ja auch genug. Ich war der Jüngste von vier Brüdern und zwei Schwestern. Meinem Alten hatten sie Arbeit in der Norddeutschen Woll- und Kammgarnspinnerei versprochen. Aber als sie schließlich hier eintrafen, war keine Arbeit für ihn da. Also zogen sie nach Wilhelmshaven weiter, wo er als Kohlenschipper für die königliche Marine die Kreuzer mit Kohle belud. Neunzehnhundertundzehn kamen sie dann hierher. Er bekam die ihm versprochene Arbeit in der Fabrik und vier Jahre später war ich dann da.« Er machte eine Pause, bat mich, ihm das Glas zu füllen und zu reichen. Etwas Flüssigkeit rann seinem Kinn hinunter, als er trank. Ich reichte ihm ein Papiertaschentuch, mit dem er sein Kinn trocknete.

»Können Sie sich an das erinnern, was in Ihrem Geburtsjahr und in der Nachfolgezeit geschah?«, fragte ich.

»Selbst nicht, nur aus Erzählungen.«

»Was war mit Ihren Geschwistern?«

»Der Zweite hat sie mehr oder minder alle verschlungen.«

Ich sah ihn fragend an.

»Na ja, Hartmut und Bernd sind in Russland gefallen, Wilhelm in Frankreich, Heike ist in Dresden beim Feuersturm ums Leben gekommen, Günter ist zwar nach Hause zurückgekehrt, ist aber kurz nach dem Krieg bei einem Unfall ums Leben gekommen und Elsa hat einen Mann aus dem Osten geheiratet und ist zu ihm in die spätere DDR gezogen, wo sie vor … dreißig Jahren starb.«

»Und Sie?«

»Ich lebe«, lachte er.

»Nein, ich meine, wie ist es Ihnen während des Krieges ergangen?«

Er rieb sich die Hände, starrte auf die Decke, versuchte wieder, das Wasserglas zu erreichen. Ich half ihm und wartete geduldig.

»Während des Ersten war ich ja noch klein, hab das alles nicht so mitbekommen. Mein Alter blieb verschont. Irgendwie schaffte er es in dieser Zeit, ein Haus zu bauen, das war dann lange unser gemeinsames Zuhause. Bis dieser hergelaufene Österreicher die Welt wieder in Unordnung brachte.« Er lehnte sich auf sein Kissen zurück, beleckte die trockenen Lippen. Ich reichte ihm das Wasserglas und er nahm einen Schluck.

»Sie sagten, sie waren Vermessungsingenieur, dann haben Sie also studiert.«

»Ich hatte das Glück, gut im Umgang mit Zahlen zu sein. Hab an der TH studiert und gerade, als ich fertig war, konnte die Wehrmacht Leute wie mich gebrauchen. Also habe ich mich freiwillig gemeldet. Konnte nicht ahnen, wo das hinführen würde. Als der ganze Schlamassel anfing, war es zu spät, sich aus dem Staub zu machen. Hätte ja auch nichts genutzt, die hätten mich ja doch sowieso gezogen.«

Ich gönnte ihm die Pause, reichte ihm das Wasser, aber er lehnte ab. Also erzählte ich ihm von meinem Vater, der, wenn er überhaupt von früher etwas erzählte, ein Großteil des Tausendjährigen Reiches im Konzentrationslager verbracht hatte, weil er überzeugter Kommunist war, bei Kriegsende von den Amis befreit wurde, aber nicht den Mut fand, in das Bauern- und Arbeiterparadies des heranwachsenden sozialistischen Staates der DDR zu wechseln. Seine glühende Begeisterung für die Lehren von Marx kühlten mit den Erfahrungen des totalitären deutschen Oststaates schnell ab.

»Wo waren Sie stationiert?«, fragte ich schließlich.

Es dauerte seine Zeit, bis er seinen in sich gekehrten Blick mir zuwandte, sein Adamsapfel hüpfte seinen mageren Hals hoch und runter. »Nach verschiedenen Stationen gehörte ich der Operation Silberfuchs an. Wir sollten 1941 die Verteidigung Nordfinnlands übernehmen. Finnland hatte im Winterkrieg 39 bis 40 Teile seines Landes an die Russen verloren. Und sie glaubten, mit einer Waffenbrüderschaft die Gebiete zurückerobern zu können. Das passte der deutschen Führung ausgezeichnet in den Plan, wollte sie Russland doch sowieso angreifen. Über Stettin und Oslo wurden wir unter dem Kodenamen Blaufuchs in den Norden transportiert. Anfangs hatten wir auch große Erfolge, eroberten verlorenes Gebiet für die Finnen zurück, bis es zum Stillstand und einem Stellungskrieg kam.« Er legte sich erschöpft zurück. Ich bot ihm wieder Wasser an und er trank hastig. Ich spürte seine Aufgeregtheit. Die Erinnerungen schienen ihn doch emotional mitzunehmen. Ich schwankte zwischen Neugier und Einsicht, ihm eine Ruhepause zu gönnen und das Gespräch zu beenden. Gleichzeitig befürchtete ich, dass dieser junge Fernseharzt hereinstürmen und mich des Zimmers verweisen könnte. Aber es blieb alles still, ja fast zu still. Ich kramte in meinem Gedächtnis, was mir aus dieser Episode deutscher Geschichte in Erinnerung haften geblieben war. Die BegriffeWinter- und Fortsetzungskrieg waren mir im Zusammenhang mit dem nordöstlichen Land Europas irgendwie schon einmal begegnet. Und in einem Bericht hatte ich einmal gelesen, dass die Nickelerzvorkommen Finnlands für die deutsche Rüstungsindustrie wichtig waren. Merkwürdig, an was man sich erinnern kann. Ich sah den alten Mann vor mir. Er schien um einiges geschrumpft zu sein. Ich hatte ihn wohl doch kräftemäßig überfordert. Also beschloss ich, ihn in Ruhe zu lassen. Vielleicht würde er sich bis morgen erholt haben und mir weitererzählen können, wie sein Leben verlief.

Ich erhob mich und reichte ihm die Hand. Er sah mich überrascht an.

»Ich denke, es ist besser, ich lasse Sie jetzt mal in Ruhe. Wenn ich darf, komme ich morgen wieder. Dann können Sie mir …«

»Warten Sie«, beeilte er sich mit brüchiger Stimme zu sagen, »da ist noch etwas, was ich Ihnen gerne …«

Weiter kam er nicht, denn die Tür wurde aufgerissen und die blonde Krankenschwester rauschte mit viel Getöse herein, belegte uns beide mit einem Redeschwall, aus dem hervorging, dass jetzt Zeit für Körperpflege, sowohl für die äußere, als auch die innere, sei und der Patient danach dringend seine Ruhe benötige. Mir blieb also nichts anderes übrig, als den Rückzug anzutreten und mich zu verabschieden, wobei mich die Augen des alten Mannes enttäuscht ansahen. Ich versprach, am morgigen Tag wieder vorbeizuschauen.

3.

Wieso hast du dir das eigentlich aufgehalst?, frage ich mich, als ich nach einem kurzen Schlummerschlaf wieder hochschrecke. Irgendein Geräusch hat meinen leichten Schlaf beendet. Von Osten treffen die ersten Sonnenstrahlen auf die Baumwipfel. Ich hätte den Schlaf dringend nötig, denn ich habe mir für heute einiges vorgenommen, das meine Aufmerksamkeit erfordert. Die Entfernungen sind hier lang und die kilometerlangen geraden Straßen ermüden sehr schnell. Zudem muss man aufpassen, dass man keines der oft auf den Straßen stehenden Rentiere anfährt. Ich überlege mir, aufzustehen, kalt zu duschen und in den frühen Morgen hineinzulaufen. Dann aber erinnere ich mich an meine Ankunft, bei der ich gleich von einem Schwarm Mücken begrüßt wurde, die mein Blut als besonders schmackhaft erachteten. Und ich konnte mich nicht wehren, weil ich in beiden Händen meine Koffer trug. Das Ergebnis sah ich später im Spiegel. Ich glich einem Streuselkuchen im Gesicht.

An der Rezeption hatte man ein mitleidiges Lächeln für mich übrig und reichte mir eine Sprühdose OFF; mit dem Inhalt sollte ich mich einsprühen, es würde die Mücken fernhalten.

Waren die deutschen Soldaten, als sie diesen Landstrich erst gegen die Russen und dann sich selbst gegen die Finnen verteidigten, damit ausgerüstet? Lieferten sie der finnischen Airforce reichlich Nahrung, um deren Brut großzuziehen? Merkwürdige Gedanken, die mich durchzucken, die mich aber wieder zum Ursprung meines Besuches hier führen. Mein Hundertvierjähriger, der Blinddarmpatient, ist der Grund, er und seine Geschichte haben mich veranlasst, in den äußersten Nordosten Europas zu reisen. Also will ich erzählen, wie es dazu kam.

Am nächsten Tag hatte ich es nicht geschafft, ihn im Krankenhaus zu besuchen. Meine Frau fand es wichtiger, mich mit vielerlei Dingen zu beschäftigen. Sie ist recht gut, in Aufgaben zu verteilen. Mach dieses und mach jenes, wir müssen unbedingt einkaufen, der Rasen muss gemäht werden und hast du nicht gesehen, wie die Pergola aussieht, die muss dringend mal wieder gestrichen werden. Was zieht dich eigentlich ständig zu diesem Alten ins Krankenhaus? Du hast hier genug zu tun, kümmere dich um unsere Angelegenheiten. Und dann meldete sich auch noch mein Sohn, ich solle ihm bei irgendetwas helfen. So ging der Tag also drauf und ich konnte mein Versprechen, den Alten zu besuchen, nicht erfüllen.

Als meine Frau am nächsten Morgen sich mit ihren Damen von der Yoga-Truppe traf, sah ich meine Chance, mich von den häuslichen Fesseln zu befreien und ins Krankenhaus zu fahren. Ich erschrak, als ich das leere Krankenzimmer antraf, befürchtete, der alte Herr habe es doch nicht geschafft, und eilte zum Schwesternzimmer. Herr Müller sei heute Morgen nach der Visite entlassen worden. Die Seniorenresidenz habe einen Wagen vorbeigeschickt, um ihn abzuholen, hieß es. Wann das gewesen sei?, fragte ich. Die asiatische Krankenschwester sah auf ihre Armbanduhr, überlegte kurz und antwortete im akzentfreien Deutsch: »Vor einer halben Stunde.«

Ich verließ enttäuscht die Station und überlegte mir, was ich mit dem angebrochenen Vormittag anfangen könne. Und obwohl ich in meinem Alter genau darauf achten muss, was ich esse, um mein Gewicht zu halten, war es mir nach einem zweiten Frühstück. Ein Mettbrötchen und eine Tasse Kaffee wären gerade das Richtige. Als ich die Tür der Cafeteria des Krankenhauses öffnete, sah ich zu meiner Überraschung meinen Patienten mit einem jungen Mann an einem Tisch sitzen. Der junge Mann wischte sich gerade den Mund mit einer Serviette ab und war im Begriff aufzustehen. Ich beeilte mich, zu den beiden zu kommen. Als der alte Mann mich sah, hellte sich sein Gesicht auf, ja, seine Augen bekamen sogar einen freudigen Glanz. Der junge Mann sah mich verblüfft und fragend an. Ich begrüßte zunächst Herrn Müller und entschuldigte mich, dass ich den zugesagten gestrigen Besuch nicht wahrgenommen hatte. Dann stellte ich mich dem jungen Mann vor, der sich als Pfleger der Seniorenresidenz zu erkennen gab.

»Haben Sie es eilig?«, fragte ich.

»Jetzt ja«, antwortete er, denn er habe schon zu viel Zeit mit dem Frühstück verbracht.

»Ich habe es nicht eilig«, warf mein Hundertvierjähriger ein und kicherte dabei, »ins Heim komm ich noch früh genug.«

»Ich muss Sie da aber abliefern, Herr Müller, sonst bekomme ich Ärger«, entgegnete der junge Mann.

»Ich mach Ihnen einen Vorschlag«, mischte ich mich ein, »Sie bringen den Koffer des Herrn Müller ins Heim, sagen dort, dass ihn ein Verwandter bereits abgeholt hat und später bringen wird und ich verspreche Ihnen, dass Ihr Heimbewohner gesund und munter von mir persönlich zurückgebracht wird.« Ich tätschelte ihm aufmuntert den Arm.

Er sah erst mich und dann seinen vermeintlichen Fahrgast an. Der Alte nickte ihm zustimmend zu und ich fingerte aus meiner Jackentasche einen Zwanzigeuroschein und schob ihn diesen unauffällig in die Hand. Er kämpfte mit sich um Pflichtbewusstsein und Großzügigkeit. Sagen wir mal, dass die Großzügigkeit siegte. Müller feixte sich einen und wirkte wie ein kleiner Junge, dem ein außerordentlicher Streich gelungen war.

Wir warteten einen Moment, bis wir allein am Tisch waren. Die Augen des alten Mannes glänzten noch immer, als er mich verschmitzt ansah und ein Danke seinen Lippen entschlüpfte.

»So schlimm?«, fragte ich.

Er zuckte mit den Schultern. »Dort warte ich ja doch nur auf den Tod«, antwortete er.

Es machte mich betroffen, doch er fügte schnell hinzu, dass es in seinem Alter doch das Beste für ihn sei. Man kümmere sich um ihn, er bekäme seine Mahlzeiten, könne fernsehen oder lesen, aber es ist doch eben ein Heim und kein Zuhause. Mir ging es durch und durch. Wie würde es mir ergehen, wenn ich älter und klappriger werde, wenn ich, was ich nicht hoffe, alleine bleiben und Vereinsamung mir drohen würde? Meine Kinder könnten sich nicht ständig um mich kümmern. Die hatten ihren eigenen Lebenskampf zu bestehen. Irgendjemand hatte mal gesagt, alt werden ist nichts für Feiglinge. Wie recht er hatte. Was hatte man vom Leben noch zu erwarten? Es waren nur noch die Erinnerungen, die einem bleiben würden. Und wegen dieser Erinnerungen des alten Mannes war ich ja eigentlich hier.

»Kann ich Ihnen irgendetwas anbieten? Möchten Sie noch etwas essen oder trinken?«, fragte ich.

»Ein vernünftiger Bohnenkaffee wäre nicht schlecht, ohne Milch und Zucker«, antwortete er.

Ich ging also, bestellte zwei Kaffee, sah aber gleich, dass diese nur aus diesen neumodischen Maschinen zu bekommen waren, nicht das, was wir als Bohnenkaffee bezeichneten, der noch aus richtigen, gemahlenen Kaffeebohnen aufgebrüht wurde. Ich erinnerte mich an unsere Italienbesuche in den achtziger Jahren, wo an den Cafés Schilder mit der Aufschrift standen: deutscher Filterkaffee. Man bekam einen Kaffeefilter, in dem eine Filtertüte mit Kaffeepulver steckte, dieser wurde auf die Tasse gestellt und mit heißem Wasser gefüllt. Meine Mutter mahlte die Kaffeebohnen noch mit einer Handkaffeemühle, während wir zu Anfang unserer Ehe schon eine elektrische Kaffeemühle hatten. Ja, so ändern sich die Zeiten.

Meine Lust auf ein Mettbrötchen wurde auch nicht erfüllt. Sie hatten keines mehr. Also blieb es bei einem Mettwurstbrötchen.

Ich entschuldigte mich bei meinem Gesprächspartner, dass ich seinen Wunsch nach einem echten Bohnenkaffee nicht erfüllen könne, da es nur noch diese widerlichen Kaffeeautomaten gäbe.

»Widerlich ist das richtige Wort«, sagte er, »aber doch immer noch besser, als der Muckefuck der Kriegszeiten.«

»Damit haben Sie mir das Stichwort gegeben«, hakte ich ein. »Wir waren vorgestern genau da unterbrochen worden, als ich Sie nach diesen Zeiten fragte.« Dabei fiel mir ein, dass er mir etwas sagen wollte, als die Krankenschwester mich aus dem Zimmer komplementierte. »Sie wollten mir etwas sagen, erinnern Sie sich noch?«

»Ja? Wollte ich das?«

»Sie sagten: da ist noch etwas, was ich Ihnen gerne… Dann wurden wir unterbrochen.«

»Ja, da ist noch etwas, was ich Ihnen …«, wiederholte er meine Worte und schien in sich nach seinen Gedanken zu graben. »Was war das denn noch? Was war das … Ach ja. Lassen Sie uns das verschieben, bis Sie mich in die Seniorenresidenz gebracht haben. Ich muss Ihnen da etwas zeigen.«

»Gut«, sagte ich zögerlich. Mir war nicht klar, warum er mir nicht hier sagen wollte, um was es ging. Aber gut, er würde seine Gründe dafür haben.

Er nahm seine Tasse in beide Hände und führte sie vorsichtig an seinen Mund. Er wirkte wie ein kleiner Vogel, der an einer Tränke Flüssigkeit zu sich nahm. Während er den Kaffee vorsichtig schlürfte, hatte er seine Augen geschlossen. Sein faltiges Gesicht war von grauen Bartstoppeln übersäht. Es war wohl im Behandlungsplan nicht vorgesehen, ihn zu rasieren. Wie gingen wir nur mit unseren Menschen um! Alles war nur noch nach Kosten getaktet und der Mensch war ein einziger Kostenfaktor. Wie wundervoll wäre es für die da oben, das Volk abzuschaffen, damit es keine Kosten mehr verursachen könnte. Ich musste mich angewidert schütteln und meine Gedanken abstreifen. Was sollte ich mir darüber Gedanken machen? Mir ging es doch gut. Aber wie lange noch?

»Sie erzählten mir, dass Sie im Krieg in Finnland stationiert waren. Können Sie mir noch mehr darüber erzählen?«, lenkte ich das Gespräch wieder auf den eigentlichen Sinn meiner Anwesenheit.

Er sah mich über den Tassenrand an, hielt einen Moment inne, setzte die Kaffeetasse mit zitternden Händen vorsichtig ab, wobei er darauf zu achten schien, nichts zu verschütten. Er seufzte, lehnte sich zurück und schloss wieder die Augen. Ich ließ ihm die Zeit, wusste ich doch, dass er seine Gedanken ordnen musste, um mir zu antworten. So aß ich erst einmal den Rest meines Mettwurstbrötchens und wischte mir mit der Serviette den Mund ab.

»Tja«, begann er zögerlich, »das war ja man eine ganz vertrackte Sache. Ich weiß nicht, inwieweit Sie sich in der deutschfinnischen Geschichte auskennen?«

»Überhaupt nicht«, antwortete ich.

»Nun, schon vor dem ersten Weltkrieg hatte Preußen finnische Offiziere ausgebildet und so indirekt dazu beigetragen, dass Finnland 1917 seine Unabhängigkeit von Russland erlangte. Noch einmal halfen deutsche Truppen im finnischen Bürgerkrieg, die Roten zu besiegen, sodass Finnland seine Unabhängigkeit bewahrte. Als Finnland dann im Winterkrieg gegen Russland kämpfte, unterband Hitler zwar, dass Waffenlieferungen aus Italien Finnland erreichten, das aber war dann mit dem Fortsetzungskrieg seitens der Finnen vergessen und sie baten Deutschland, sie im Kampf gegen den übermächtigen Feind zu unterstützen.« Er machte eine Pause und wischte sich mit einem Taschentuch den Mund, beugte sich vor, griff zittrig nach seiner Kaffeetasse und nahm vorsichtig einen Schluck. Nachdem er die Tasse wieder abgestellt hatte, lehnte er sich stöhnend zurück, seufzte und lächelte mir zu. »Geschichte«, sagte er, »alles Geschichte.«

»Und Ihre Geschichte?«, fragte ich.

»Meine Geschichte?« Er lachte. »Ich war eines der kleinen dummen Rädchen, die glaubten, etwas Gutes zu tun, und doch dazu beitrugen, dass das Schlechte sich verbreiten konnte. Betrogen hat man uns und wir ließen es zu, dass man uns betrog.« Er schüttelte mit dem Kopf, dass ich Angst bekam, er könne sich ihn verrenken.

»Warum glaubten Sie, etwas Gutes zu tun?«

Er sah mich erstaunt an. »Warum ich glaubte, etwas Gutes zu tun?« Er lachte verächtlich. »Nun, nach dem verlorenen ersten Krieg wurde Deutschland gedemütigt. Und dann kam dieser Österreicher und holte uns aus dieser Depression heraus. Wir waren wieder jemand. Von all diesen Gräueltaten haben wir doch erst später erfahren. Und wenn du in diesem System drinsteckst, dann wirst du mitgerissen, schreist auch Hurra und wirst zum nützlichen Idioten. Mir gingen doch die Augen erst auf, als das mit Russland schieflief. Ich hatte nicht verstanden, warum wir auch noch unser Wort Russland gegenüber brachen und es angriffen. Wie kann man so bescheuert sein und gegen so ein riesiges Land antreten? Als ich da oben in Lappland hockte und sich abzeichnete, dass wir den Höhepunkt unserer Erfolge überschritten hatten, da kamen mir die ersten Zweifel. Als wir dann von den Finnen gezwungen wurden, uns zurückzuziehen und wir auf dem Rückzug uns wie die Barbaren benahmen, alles niederbrannten, was uns im Wege stand und selbst jegliche Menschlichkeit vergaßen, da habe ich mir schon meine Gedanken gemacht. Aber vergessen Sie nicht, es war Krieg.«

»Sie sagten, Sie wurden von den Finnen gezwungen, sich zurückzuziehen. Ich dachte, Sie hätten gemeinsam mit denen gegen die Russen gekämpft.«

»Als die Finnen merkten, sie würden den Krieg gegen die Russen nicht gewinnen können, zumal Deutschland immer mehr Schlachten in Russland verlor, Leningrad war verloren, die Russen auf dem Vormarsch, bemühte sich General Mannerheim um einen Frieden mit Russland, weil er um die Unabhängigkeit seines Landes fürchtete. Die Russen willigten unter der Bedingung ein, dass Finnland die deutschen Truppen auf finnischem Boden gefangen nahm oder vertrieb. Und damit begann für uns das große Dilemma. Aus Freunden wurden Feinde. Und du weißt«, er duzte mich tatsächlich, »dass so etwas schlimme Folgen haben kann.« Er blickte in seine Kaffeetasse und stellte fest, dass sie leer war.

»Noch einen Kaffee?«, fragte ich.

Er winkte dankend ab. »Können wir nicht von hier weg?«, fragte er unsicher. »Sind Sie mit dem Auto da?«

»Ja, wieso?«

»Hätten Sie Zeit, mich ein bisschen durch die Stadt zu fahren?«

»Wohin möchten Sie denn?«

»Ein bisschen die Plätze meines Lebens besuchen?«

»Sind das viele?«, fragte ich besorgt und sah auf meine Armbanduhr.

Er lachte. »Nein, nicht viele.«

»Okay, aber ich muss meine Frau informieren, dass ich nicht zum Mittag komme.«

»Nur zu«, antwortete er mit einem seligen Lächeln auf den Lippen.

Ich rief zu Hause an, aber meine Frau nahm nicht ab. Und so hinterließ ich ihr mit einem schlechten Gewissen eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter.

Er saß neben mir mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht neben mir, als hätte er gerade als Junge eines seiner ersehntesten Weihnachtsgeschenke bekommen. Aufmerksam verfolgte er die Umgebung, lenkte mich durch die Straßen, bis er mir auftrug, vor einem bestimmten Haus zu halten.

»Das war mein Elternhaus«, sagte er und zeigte auf das Haus rechts neben uns. »Hier bin ich geboren und aufgewachsen. Es hat den Krieg unbeschadet überstanden. Jetzt wohnen dort fremde Menschen. Ich hatte es als Letzter aus der Familie besessen, es aber vor …«, er kniff die Augen zusammen und versuchte sich zu erinnern, »vor … na, es müssen jetzt vierundsechzig, nein fünfundsechzig Jahre her sein. Schauen Sie, da oben habe ich noch die ersten Jahre zusammen mit meiner Frau gelebt. Die ist aber auch schon über zwanzig Jahre tot.« Er zog ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und schnäuzte sich, wischte seine feuchten Augen trocken. »Fahren Sie weiter«, befahl er mir.

Mir flog ein leichtes Grinsen über die Lippen. Er fühlte sich wohl als mein Befehlsgeber und ich wäre sein Fahrdienst. So wie ich es aus meiner Bundeswehrzeit kannte. Ich war Zugführerfahrer und Sprechfunker. Kutschierte meine Vorgesetzten durch die Gegend und befolgte brav ihre Befehle. Bis auf einmal. Wir kamen von einer Truppenübung zurück und fuhren Kolonne. Ich wollte nach Hause, hatte die Schnauze voll und es ging mir viel zu langsam. Also startete ich vom Rastplatz als Erster und überholte die Kolonne. Mein Uffz hatte da nichts mehr zu melden. Als Belohnung bekam ich eine Woche Ausgangsverbot, was mir so ziemlich am verlängerten Rückgrat vorbeiging. Nun aber saß mein Hundertvierjähriger glücklich neben mir und gab mir vor, was ich anzusteuern hatte. Er wusste viel von der Stadt. Erzählte mir vieles, vor allem, was er wo erlebt hatte. Schließlich landeten wir vor dem Haus, das er mit seiner Heike erbaut und bis zu seinem Wechsel ins Seniorenheim bewohnt hatte. Er stieg aus, ging auf das Haus zu, blieb vor der Pforte stehen, umfasste diese fast liebkosend und seufzte tief. »Mein Leben«, sagte er zitternd, »hier habe ich die glücklichsten, aber auch traurigsten Jahre meines Lebens verbracht. Als meine Heike noch lebte, war die Welt für mich in Ordnung. Aber alleine … Warum lebe ich noch? Und sie …?« Wieder holte er sein Taschentuch hervor, schnäuzte sich, wischte seine Augen und drehte sich langsam um. »Lassen Sie uns fahren«, sagte er und ging aufs Auto zu.

»Haben Sie Hunger?«, fragte ich, »ich lade Sie zum Essen ein. Auf was haben Sie Appetit?«

Er sah mich mit geröteten Augen an, als hätte er meine Frage zunächst nicht verstanden. Umständlich versuchte er, die Wagentür zu öffnen. Ich kam ihm zu Hilfe und hielt ihm die Tür auf. Als er sich auf den Beifahrersitz mit Gestöhne fallen ließ, sagte er: »Bratfisch und Kartoffelsalat. Mit Mayonnaise, Gurken und Ei.«

»Ihr Wunsch ist mir Befehl«, lachte ich und schlug die Wagentür zu. Bratfisch und Kartoffelsalat, wo gab es in der Nähe ein Restaurant, das dieses auf dem Speiseplan hatte? Es gab doch nur noch ausländische Gastronomie, denen die deutsche Küche fremd war. Mir fiel nur ein Imbiss ein, der das Gewünschte auf der Karte anzubieten hatte. Das war eigentlich nicht das, was mir vorschwebte. Aber nun gut, wenn ich ihn damit glücklich machen konnte, dann musste es das eben sein.

Während wir auf das Essen warteten – er hatte darauf bestanden, sich ein Bier bestellen zu dürfen, was mich befürchten ließ, er würde es nicht gut vertragen und mir damit Schwierigkeiten bereiten – versuchte ich, an unser Gespräch in der Krankenhaus-Cafeteria anzuknüpfen. »Waren Sie an Kriegshandlungen in Finnisch Lappland beteiligt?«, fragte ich.

Er sah mich verblüfft an, runzelte die eh schon faltige Stirn und sagte etwas unwirsch: »Natürlich! Was denken Sie denn, warum wir da waren?«

»Gegen die Russen und gegen die Finnen?«

Er biss sich auf die Lippen, griff mit zitternden Händen nach seinem Bierglas, ließ die Hände aber wieder sinken und schloss die Augen. »Terttu, hieß sie«, stieß er mit einem Mal hervor und schwieg.