Rattenerbe - Erwin Plachetka - E-Book

Rattenerbe E-Book

Erwin Plachetka

4,8

Beschreibung

Hans Lehmann wird durch die Einladung zu einer Testamentseröffnung aus seinem beschaulichen Leben gerissen. Denn sein als tot geglaubter Vater ist nach Kriegsende als ehemaliger SS-Offizier über die Rattenlinie nach Argentinien geflüchtet, wo er durch Rinderzucht ein Vermögen erwirtschaftet hat. Nun will er nach seinem Tod seinem Sohn ein Teil als Entschädigung vermachen, knüpft dieses aber an Bedingungen. Sollte er diese nicht erfüllen, wird den Erbteil eine rechtsgerichtete Organisation erhalten. Hans Lehmann will mit den Neonazis nichts zu tun haben, ihnen aber auch die im Testament aufgeführte Summe nicht überlassen und sieht sich ab da in einen Kampf um die Hinterlassenschaft hineingezogen, der ihn um sein Leben bangen lässt. Erwin Plachetka baut in seinem Roman Rattenerbe einen Spannungsbogen auf, der von Anfang an Neugierde erweckt und dem Leser in einen indizierten Handlungsstrang einbindet. Man wird Teilnehmer einer Geschichte, die reale Wahrnehmungen mit fiktiven Sequenzen in ein Verwirrspiel integriert, so dass der Leser das Gefühl hat, von Anfang an zugleich Beobachtender und Mitfühlender zu werden, dadurch motiviert ist, nachfolgenden erzählerischen Details nahe zu sein und er damit dem roten Faden des Romans beeindruckt zu folgen vermag. Der Autor versteht es, einen anspruchsvollen historischen Konsens in einen erzählerischen Ablauf gekonnt einzusetzen. Dr. Werner Seibel

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel

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Kapitel

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Kapitel

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Kapitel

1.

Mit der Mittagspost war der Brief einer Anwaltskanzlei aus Blankenese eingetroffen. Dr. Herbert von Oesen lud ihn zu einer Testamentseröffnung ein. Hans Lehmann hatte an einen Irrtum geglaubt. Seine Eltern waren längst gestorben und auch sonst besaß er wissentlich keine Verwandten oder Bekannten, die ihm hätten etwas vererben können. Er rief in der Kanzlei an, um den vermeintlichen Irrtum aufzuklären, aber der sich als Testamentsvollstrecker ausgebende Anwalt bestand auf seinem Erscheinen. Wenn er, Hans Lehmann, geboren in Hamburg am 19.05.1945, sei, dann liege hier kein Irrtum vor. Mehr wolle man ihm am Telefon nicht sagen. Er möge den Termin doch bitte wahrnehmen und seinen Personalausweis mitbringen.

Hans Lehmann spürte eine leichte Verwirrung. So sehr er sich auch anstrengte, ihm wollte kein Mensch einfallen, der ihm so nahe stand, dass er ihn mit einem Nachlass bedenken würde. Seine Eltern waren vor zwei Jahren kurz nacheinander gestorben, hatten ihm außer einem veralteten Hausrat, einer kleinen Unfallversicherung des Vaters und ein paar hundert Euro nichts hinterlassen. Und sein Bruder, der bereits sehr jung verstarb, hinterließ seinen Eltern und ihm nur Schulden, sodass sie das Erbe ablehnen mussten. Aus der Verwandtschaft war auch nichts zu erwarten, die war bereits bis auf einen Onkel gestorben. Und der Onkel erfreute sich noch bester Gesundheit. So fieberte Hans Lehmann dem Tag entgegen, da er zu dieser ominösen Testamentseröffnung geladen wurde. Es beschlich ihn ein merkwürdiges Gefühl, das sich aus Neugier, Hoffnung, aber auch aus Zweifel und Angst mengte. Warum Angst, konnte er nicht definieren, aber irgendwie sagte ihm der Verstand, dass hier etwas nicht stimmen könne und er mit etwas konfrontiert werden würde, mit dem er lieber nichts zu tun haben wollte. So schien es ihm auch ratsamer, zunächst mit keinem Menschen darüber zu sprechen. Sollten sich die Dinge doch erst einmal spruchreif entwickeln.

Das Haus des Notars in der Blankeneser Chaussee war ein dunkler Klinkerkasten, zurückgelegen hinter einer parkähnlichen Anlage. Im Hintergrund schimmerte die Elbe durch, die Einfahrt war mit einem riesigen Eisentor gesichert. An dem rechten Torpfosten, ebenfalls wie das Haus aus den dunklen Klinkern gemauert, war ein Messingschild mit der Aufschrift „Dr. Herbert von Oesen, Rechtsanwalt und Notar“ befestigt. Das Grundstück umgab ein hoher Eisenzaun und war zusätzlich elektronisch gesichert. Kameras überwachten Einfahrt und Gelände. Hans Lehmann klingelte und wurde nach kurzer Wartezeit aufgefordert, seinen Ausweis vor die Kamera der Torsprechanlage zu halten. Dann öffnete sich das Tor schwerfällig und quietschend. Der Kies des Weges zum Haus knirschte unter seinen Autoreifen. Hans Lehmann steuerte seinen Wagen vor das Portal des Hauses, wo er bereits von einem jungen Mann in weißem Hemd und schwarzer Hose empfangen wurde. Der Bursche machte auf Hans Lehmann einen beklemmenden Eindruck. Seine Haltung war militärisch straff und der kurze Haarschnitt mit rechtem Scheitel verlieh dem jungen Mann etwas Vergangenes.

„Herr Dr. von Oesen erwartet Sie“, sagte der Bursche, machte eine einladende Handbewegung in Richtung geöffneter Tür und ließ den Gast vorgehen.

Eine imposante Eingangshalle tat sich vor Hans Lehmann auf, dunkel und mit dem Mief einer vergangenen Epoche behaftet. An der rechten Seite führte eine mächtige Treppe zum oberen Stockwerk, das sich durch eine herausgezogene Empore über die Eingangshalle ausbreitete. Die harten Absätze des jungen Mannes hinter Hans Lehmann hallten durch das Haus.

„Bitte geradeaus“, sagte er und wies, nun neben ihm gehend, auf eine geöffnete Tür.

„Ah, Herr Lehmann“, wurde er von einem etwa fünfzigjährigen Mann im dunklen Anzug, weißem Hemd und roter Krawatte überfreundlich begrüßt. Der Mann war aufgesprungen und um den Schreibtisch geeilt. Die aufgesetzte Freundlichkeit versetzte Hans Lehmann einen kalten Schauer. Er spürte Unehrlichkeit von diesem Mann ausgehend, der seine dunkelbraunen Haare geölt und glatt nach hinten gekämmt trug. Das Lächeln auf seinem Gesicht hatte sich nicht auf die stahlgrauen Augen übertragen, die eher Eiseskälte widerspiegelten.

„Von Oesen“, stellte er sich vor und reichte Hans Lehmann die Hand, „Ihr Vater hat mich mit der Verkündung seines letzten Willens betraut.“

„Mein Vater ist bereits vor zwei Jahren verstorben. Es gab nichts, was da zu verteilen war“, sagte Hans Lehman und ließ sich von dem Notar zu einer Sitzgruppe führen.

Der junge Mann, der ihn in das Büro von Oesens geleitet hatte, stand mit den Händen auf dem Rücken und gespreizten Beinen vor der Eingangstür und wartete.

„Nun, Herr Lehmann, wenn ich von Ihrem Vater spreche, dann meine ich nicht Ihren Stiefvater, sondern Ihren leiblichen Vater.“ Von Oesen blickte auf und gab dem jungen Mann an der Tür ein Zeichen zum Gehen. Dieser befolgte in einer militärisch anmutenden Kehrtwende den Befehl und schloss die Tür hinter sich.

Hans Lehmann war verwirrt. Seinen „leiblichen Vater“ hatte er nie zu Gesicht bekommen. Der war, so hatte es ihm seine Mutter erzählt, Ende 1944 bei den Rückzugsgefechten in Russland gefallen. Seinen Stiefvater hatte er immer als den eigentlichen Vater betrachtet. Und da die Mutter ihn auch erst mit Erreichen der Volljährigkeit in dieser Sache aufgeklärt hatte, gab es für ihn keinen anderen Vater, als den Mann seiner Mutter, der ihm durch Adoption auch den Namen gab. 1944 lag siebenundsechzig Jahre zurück und damit fast genauso lange, wie er an Jahren zählte. Was sollte ihm ein vor so langer Zeit verstorbener Mann schon vererben?

„Sie sind über Ihre Herkunft nicht informiert?“, riss ihn der Notar aus seinen Gedanken.

„Was heißt: über meine Herkunft informiert? Mein … wie Sie ihn bezeichnen „leiblicher Vater“ ist laut meiner Mutter 1944 in Russland gefallen. Ich habe ihn genauso, wie er mich, nie gesehen“, antwortete Hans Lehmann.

Von Oesen setzte ein verschrobenes Lächeln auf. „Nun, das dürfte dann wohl nicht ganz den Tatsachen entsprechen. Ich habe hier einen Brief, den Ihr Vater mir übergab, und den ich Ihnen vor Eröffnung des Testamentes überreichen soll.“ Er zog aus einer Ledermappe einen braunen Briefumschlag und reichte ihn Hans Lehmann. Der zögerte, bevor er den gereichten Umschlag entgegennahm.

Auf dem Kuvert war mit dunkelblauer Tinte „Für Hans“ geschrieben. Der Umschlag war auf der Rückseite mit einem roten Siegellack verschlossen. Von Oesen gab Hans Lehmann einen Brieföffner. Ein zweiseitiger Brief, geschrieben in Sütterlinschrift, kam zum Vorschein. Hans Lehmann stutzte. Es war über fünfzig Jahre her, dass er das letzte Mal etwas in Sütterlinschrift gelesen hatte. In den ersten Klassen der Volksschule wurde er mit ihr konfrontiert. Danach nur noch in Büchern, die er in alten Kisten seiner Eltern fand. Es wäre ihm unmöglich, diesen Brief hier an Ort und Stelle in kurzer Zeit zu lesen. Er schüttelte mit dem Kopf und reichte von Oesen den Brief zurück.

„Können Sie ihn mir vorlesen?“, fragte Hans Lehmann.

Der Anwalt blickte auf das Geschriebene und schüttelte ebenfalls mit dem Kopf. „Tut mir leid, aber das sind für mich Hieroglyphen.“

„Muss ich den Brief jetzt hier unbedingt vor der Testamentseröffnung lesen? Oder kann ich das in Ruhe bei mir zu Hause tun?“, fragte Hans Lehmann.

„Ihr Vater hat bestimmt, dass Sie erst den Brief lesen sollen, bevor ich Ihnen im zweiten Schritt den Nachlass und die damit verbundenen Bedingungen eröffne“, antwortete von Oesen.

„Bedingungen? Was für Bedingungen?“

„Nun, Herr Lehmann, alles zu seiner Zeit. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Sie nehmen den Brief mit nach Hause, lesen ihn in Ruhe durch und morgen …“, er blätterte in seinem Terminkalender, „sagen wir um 16 Uhr?“ Er sah Hans Lehmann fragend an. Der nickte bejahend. „Also gut, morgen um 16 Uhr kommen Sie wieder und wir sehen, wie es weitergeht.“

Kaum hatte von Oesen die letzten Worte ausgesprochen, öffnete sich auch schon die Tür und der junge Lakai stand bereit, Hans Lehmann hinaus zu begleiten. Der sah von Oesen verwundert an, drückte die ihm entgegen gehaltene Hand und verließ im Schlepptau des Dieners das Büro.

Noch auf der Blankeneser Chaussee lenkte er seinen Wagen in eine freie Parkbucht und stellte den Motor ab. Zu viel war auf ihn in der letzten Stunde eingestürzt. Der Brief in seiner Sakkoinnentasche wog schwer, doch er fühlte kein Verlangen, die Zeilen zu lesen. Eher verwirrte ihn das Bewusstsein, ein Stück Lebenszeichen seines totgeglaubten Erzeugers bei sich zu tragen. Ein Wirrwarr aus Gefühlen prasselte auf ihn ein. Das Wort Bedingungen schwirrte durch seinen Kopf. Seine Mutter erschien in seinen Gedanken, wie sie damals, am Tag nach seinem einundzwanzigsten Geburtstag, verwirrt durch die Wohnung lief, wie sie es immer tat, wenn ihr etwas Unangenehmes bevorstand. Er hatte sie schließlich aufgefordert, sich zu setzen und mit dem unsinnigen Hantieren und Sortieren von irgendwelchen Dingen aufzuhören. Der Vater war in der Arbeit, wie es damals selbst auf einem Sonnabend noch üblich war. Hans Lehmann hatte sich frei genommen, weil er den Tag zuvor kräftig mit den Freunden gefeiert hatte.

„Was hast du?“, hatte er die Mutter gefragt.

Sie hatte sich schließlich zu ihm gesetzt, rumgedruckst und sich immer wieder die Hände in der Kittelschürze abgewischt, bis er ihr die Hände festhielt und sie nochmals aufforderte, mit der Sprache herauszukommen.

Seine Mutter hatte tief geseufzt, ihren Blick nicht von ihren Händen im Schoß gewandt und nach langem Zögern endlich angefangen zu sprechen.

„Hans, ich muss dir etwas sagen“, hatte sie begonnen, „Papa ist nicht dein richtiger Vater“, flüsterte sie fast.

Er hatte sie ungläubig angesehen und angefangen zu lachen.

„Was?“, hatte er gefragt und an eine momentane Verwirrung seiner Mutter geglaubt.

„Hast du dich nie gefragt, wieso du schon 1945 geboren bist, obwohl Papa und ich erst 1947 geheiratet haben?“ Sie seufzte, begann wieder ihre Kittelschürze zu bearbeiten. „Dein richtiger Vater ist 1944 in Russland gefallen. Er war Hauptmann einer Panzergrenadiereinheit.“

Hans Lehmann hatte sich das angehört, als erzählte seine Mutter ihm, dem Einundzwanzigjährigen, gerade ein Märchen. Er hatte betreten dagesessen und eigentlich nicht geglaubt, was ihm seine Mutter mitteilte. Es hatte irgendwie sein Weltbild zerstört. Und doch, wenn er sich nun auf seine Biographie besann, stimmte da einiges in seinem Lebenslauf nicht. Warum war ihm das vorher nicht aufgefallen? Warum hatte er es vorher nicht hinterfragt? Wieso war er so unkritisch mit seiner eigenen Geschichte umgegangen? Willi Lehmann war nicht sein richtiger Vater, ging es ihm durch den Kopf. Dann musste er doch eigentlich auch anders heißen. Wie konnten sie ihm das so lange verheimlichen? Und wieder fragte er sich, wieso ihm nicht früher aufgefallen war, dass sein Lebenslauf mit dem seiner Eltern nicht übereinstimmte? Wut perlte in ihm hoch und er war aufgesprungen und hatte das Haus verlassen. In Luis Kneipe hatte er sich volllaufen lassen, bis ihn der Wirt durch seinen Sohn nach Hause bringen ließ.

Wieder spürte er diese Wut wie damals. Er fühlte sich betrogen, hintergangen. Damals hatte er beschlossen, seinen leiblichen Vater ein zweites Mal sterben zu lassen. Er wollte ihn ignorieren. Aber so sehr er sich auch bemühte, das Bewusstsein trieb immer wieder die Frage in ihm auf: Wer und wie war sein wirklicher Vater? Schließlich hatte er es gewagt, seine Mutter nach seinem leiblichen Vater auszufragen. Aber sie war alles andere als redselig, wich immer wieder aus und wollte nichts erzählen. Immerhin hatte er erfahren, dass sein Vater einer SS-Einheit angehörte, eben nicht nur einer einfachen Panzergrenadiereinheit. Der Krieg hatte zunächst ihre planmäßige Heirat verhindert. Kennen gelernt hatten sie sich 1941 auf einem Dorffest in Neerstedt. Das war der Heimatort seines Vaters, Fritz Hegenbühl, dessen Familie Ländereien in der Umgebung von Dötlingen besaß. Als zweiter Sohn der Familie war ihm die Hofübernahme verwehrt. So suchte er schnell bei Kriegsausbruch sein Glück in der Reichswehr, wo er schließlich der SS beitrat und am Russlandfeldzug teilnahm. 1944 wurde er im Frühjahr verwundet und bekam zur Genesung Heimaturlaub. In dieser Zeit wurde er, Hans Lehmann - oder sollte er Hans Hegenbühl sagen? - gezeugt und die Ehe in einer Kurzzeremonie im Standesamt vollzogen. Dann musste sein Vater wieder an die Front, wo er angeblich im Dezember 1944 fiel. Er hatte somit seinen Sohn nie zu Gesicht bekommen.

Mehr hatte ihm seine Mutter nicht erzählt und auch von anderer Seite war nicht mehr über seinen Vater zu erfahren. Aber er hatte das Gefühl, dass an der Geschichte etwas nicht stimmte. Er konnte nicht sagen, warum, aber da das Gespräch immer wieder schnell auf andere Sachen gelenkt wurde, wenn er nach seinem leiblichen Vater fragte, vermutete er irgendein dunkles Geheimnis. Er besaß aber auch nicht die Hartnäckigkeit, dieses vermutete Geheimnis lüften zu wollen.

Sein angenommener Vater hatte ihn bei der Heirat der Mutter adoptiert und ihm somit auch den Namen Lehmann gegeben. Zudem hatte er seinem Stiefsohn nie das Gefühl vermittelt, nicht der eigene Sohn zu sein. Im Gegenteil, er hatte ihn immer wie seinen leiblichen Sohn behandelt und ihm alle Liebe und Aufmerksamkeit geschenkt, die ein Vater seinem Sohn geben kann.

All das ging Hans Lehmann durch den Kopf, als er in seinem Wagen saß und versuchte, die Ereignisse der letzten Stunden zu verarbeiten. Er nahm den Brief aus seiner Jackentasche, öffnete den Umschlag und entfaltete die zwei Seiten Briefpapier, die sein Vater in dieser altmodischen Schrift voll geschrieben hatte. Hans Lehmann widerstrebte es, sich dem Diktat seines Vaters zu unterwerfen und die Zeilen nicht zu entschlüsseln. Es war lange, sehr lange her, dass er etwas in dieser Sütterlinschrift gelesen hatte. Und das war auch noch gedruckt und nicht handgeschrieben. Es bereitete ihm Schwierigkeiten und so bemühte er sich nur, die ersten Zeilen zu entziffern:

Lieber Hans,

wenn Du diese Zeilen liest, haben wir die Chance verpaßt, uns kennen zu lernen. Wie gerne hätte ich Deinen Lebensweg begleitet, aber …

Hans Lehmann setzte den Brief ab. „Wenn du gewollt hättest, hätte dem nichts im Wege gestanden“, sagte er wütend und faltete den Brief wieder zusammen.

Wenn ihm jemand etwas über diesen Mann erzählen konnte, dann war es sein Onkel Paul, jüngerer Bruder seiner Mutter. Er und seine Mutter hatten immer ein enges Verhältnis gehabt. Ihm hatte sie sicherlich mehr anvertraut als irgendjemandem sonst. Selbst seinem Adoptivvater - ihm ging dieses Wort nur widerstrebend durch den Kopf - hat sie wohl kaum viel über ihren ersten Mann erzählt.

Hans Lehmann startete den Wagen und reihte sich in den fließenden Verkehr ein. Onkel Paul wohnte in Eimsbüttel, war neunundachtzig Jahre alt, aber immer noch sehr rüstig. Nach dem Tod seiner Frau Hilde lebte er alleine in der großen Wohnung und das jetzt schon zehn Jahre. Ihn musste Hans Lehmann befragen, von ihm würde er sicherlich Antworten bekommen.

Er musste lange um den Häuserblock fahren, bis er endlich einen Parkplatz fand. Seit er sich erinnern konnte, hatte sich an den grauen Wohnblocks nichts geändert. Auch das Treppenhaus fand er vor, wie er es als kleiner Junge erlebte. Die breite Holztreppe schlängelte sich an der Wand des Treppenflures hoch. Es gab immer noch keinen Fahrstuhl, obwohl das Haus vier Etagen hatte. Onkel Paul wohnte Gott sei Dank im ersten Stockwerk. Die Doppelwohnungstür mit ihrem Butzenfenstern aus geriffeltem Milchglas und dem grünen Ölfarbanstrich sah auch schon vor fünfzig Jahren so aus. Hans Lehmann blieb einen Moment vor der Tür stehen. Er atmete ein paar Mal kräftig ein und aus. „Familie Paul Marschank“ stand immer noch auf dem Messingtürschild. Er drückte den Klingelknopf und hörte, wie die Klingel laut und eindringlich schellte. Dann war alles still. Aus irgendeiner Wohnung hörte er lautes Schimpfen einer Frau. Die Treppe schien ob ihrer vielen Jahre zu ächzen. Hans Lehmann wollte gerade noch einmal den Klingelknopf betätigen, als er aus der Wohnung seines Onkels Geräusche hörte, dann eindeutig den schlurfenden Gang eines alten Mannes.

Es dauerte seine Zeit, bis sein Onkel das Schloss aufgeschlossen und mehrere Sicherheitsketten von ihrer Verriegelung befreit hatte. Dann öffnete sich die Tür und sein Onkel sah ihn aus schläfrigen Augen an.

„Hab ich dich geweckt?“, fragte Hans Lehmann, bevor er seinen Onkel begrüßte.

„Du?“, fragte dieser verwundert. „Ist jemand gestorben oder bin ich schon dran?“

Hans Lehmann lachte. Immer noch der alte Zausel, der immer einen Spruch auf den Lippen hat. Er tätschelte den Arm seines Onkels und ging an ihm vorbei in die Wohnung. Ein unangenehm miefiger Geruch empfing ihn, der darauf schließen ließ, dass die Wohnung schon lange nicht mehr gelüftet wurde.

„Was verschafft mir die Ehre? Du hast dich ja schon lange nicht mehr sehen lassen.“

Hans Lehmann ging seinem Onkel ins Wohnzimmer voraus.

„Hätte ich gewusst, dass du kommst, hätte ich vorher klar Schiff gemacht. Aber wer besucht mich denn schon! Willst du was trinken?“

„Nein, danke. Komm setz dich, ich muss mit dir reden“, sagte Hans Lehmann und wollte die Unordnung in dem Wohnzimmer ignorieren, aber ihm ging nicht aus dem Sinn, wie penibel seine Tante Hilde mit der Wohnung gewesen war. Da musste alles akkurat auf seinem Platz liegen, kein Staubkorn durfte sich sehen lassen und Essensreste im Wohnzimmer waren aufs Schärfste verboten. Es schien ihm, dass sein Onkel nun aus Trotz die Wohnung verkommen ließ.

Ächzend ließ sich Paul Marschank in seinen Sessel fallen. „Ich war beim Zeitungslesen eingeschlafen“, sagte er und faltete die auf dem Tisch liegende Bild-Zeitung zusammen. „Also, wer ist gestorben?“

„Warum muss jemand gestorben sein?“, fragte Hans Lehmann, obwohl das ja nun wirklich der Grund seines Besuches war.

„Nun, es scheint mir, dass wir uns nur sehen, wenn jemand zu Grabe getragen werden muss. Das letzte Mal, dass wir uns gesehen haben, war auf der Beerdigung deines Vaters“, antwortete der Onkel.

„Und genau um den geht es“, sagte Hans Lehmann. „Erzähl mir was über meinen Vater. Ich meine jetzt meinen richtigen Vater, nicht den letzten Mann meiner Mutter.“

Paul Marschank sah seinen Neffen verwundert an. „Was soll das heißen? Willi war dein Vater. Wenn du deinen Erzeuger meinst, den kannst du vergessen. Der ist doch ehrenvoll im großen Krieg des Gröfazes fürs Vaterland gefallen.“

„Eben wohl nicht. Der ist jetzt erst gestorben. Er scheint mir etwas vererbt zu haben.“

„Blödsinn“, entgegnete sein Onkel barsch, „der ist mit vollgeschissener Hose, als er vor den Russen wegrannte, abgeknallt worden, im Dezember vierundvierzig, kurz bevor der Spuk endlich vorbei war und dank des Gröfazes hier alles in Schutt und Asche lag.“

„Fritz Hegenbühl, mein Erzeuger, wie du ihn nennst, hat mir einen Brief und ein Erbe hinterlassen und ist erst, wenn ich das richtig verstanden habe, in der letzten Woche dem größten Führer aller Zeiten gefolgt. Du musst doch gewusst haben, dass sein Tod in Russland nur eine Legende war.“

Paul Marschank schwieg betroffen, vermied es, seinem Neffen in die Augen zu sehen.

„Was ist? Hat’s dir die Sprache verschlagen? Ihr müsst doch gewusst haben, dass er überlebt hat. Wozu aber diese ganze Inszenierung? Warum ist er nicht nach Hause gekommen? Warum hat er sich nicht um seine Frau und seinen Sohn gekümmert?“

Paul Marschank seufzte tief. „Fritz war ein Schwein!“, stieß er hervor. „Deine Mutter hat mir verboten, je über ihn zu reden.“

„Sie sind beide tot. Was gibt es da jetzt noch zu vertuschen? Ich bin alt genug, um die Wahrheit zu erfahren. Und auch wenn dieser Mensch sich jetzt noch in mein Leben drängen will, Willi Lehmann ist und war mein wirklicher Vater.“

„Ich weiß nicht - warum willst du das alles noch wissen? Es nutzt dir doch eh nichts mehr. Willi, wie du schon sagst, sollte dir als dein Vater in Erinnerung bleiben. Den anderen vergiss einfach.“

„Wenn das man so einfach wäre. Er hat sich nun einmal in mein Gedächtnis zurückgerufen. Und jetzt will ich endlich wissen, was für ein Mensch dieser Fritz Hegenbühl war“, sagte Hans Lehmann trotzig.

„Ich kann nichts Gutes über diesen Menschen berichten. Ich habe ihn nie gemocht, auch wenn ich ihm nur einmal 1940 nach Kriegsausbruch begegnet bin. Das eine Mal aber reichte schon. Ich hatte im Wohnzimmer auf dem Sofa geschlafen und er kam mit deiner Mutter rein, knallte die Hacken zusammen und schrie Heil Hitler. Ich erwiderte schlaftrunken nur: Ja,ja, stell ihn man in die Rumpelkammer. Da hat er einen Terz gemacht und wollte mich anscheißen und bei der Polizei anzeigen. Nur mit Mühe konnte ihn deine Mutter davon abhalten. Ein Nazi-Arsch ersten Ranges. Ich weiß nicht, was deine Mutter an ihm fand. Seine Totenkopfuniform, die stramme soldatische Haltung, alles war bei ihm auf Gehorsam und Töten getrimmt. Wir waren zwei total verschiedene Typen. Ich liebte meine Freiheit als junger Seemann und er war der Arsch, der die Hacken zusammenknallte und Heil Hitler schrie.“

„Aber warum ist er nach Kriegsende nicht zurückgekommen? War er in Kriegsgefangenschaft? Warum kam er danach nicht zu seiner Frau und seinem Sohn zurück?“ Hans Lehmann sah seinen Onkel fragend an. Der druckste herum, wollte seinem Neffen nicht erzählen, was er wusste. Aber was sollte die Geheimniskrämerei nach all den Jahren. Seine Schwester war tot. War er auch jetzt noch an sein Wort gebunden, nichts von seinem Wissen preiszugeben?

„Geh mal in die Küche und hol uns ein Bier aus dem Kühlschrank“, sagte er schroff. Er brauchte Zeit zum Überlegen. Hans folgte zögernd seiner Aufforderung. All die Scheiße kommt jetzt wieder hoch, ärgerte sich Paul Marschank. Der ganze Spuk der längst vergangenen Jahre. Er wollte sich nicht mehr daran erinnern. Seine Seefahrtzeit und die Internierungszeit auf Jamaika, ja, daran erinnerte er sich gerne, aber diesen Fritz und seinesgleichen, die würde er am liebsten für immer vergessen. Was konnte er seinem Neffen von dessen Vater berichten? Seine Schwester hatte ihn beschworen, nichts von dem, was sie ihm in verzweifelten Stunden gebeichtet hatte, irgendjemandem zu erzählen. Ihrem Sohn schon gar nicht. Und nun war dieser bei ihm, wollte die Wahrheit wissen. Wusste schon, dass sein Vater nicht, wie jeder zu hören bekam, im Winter vierundvierzig auf dem Rückzug gefallen war.

Zu schnell war Hans mit dem Bier aus der Küche zurück, dass Paul Marschank seine Gedanken beenden konnte. Und sein Neffe stellte sich nun vor ihn, reichte ihm die Flasche Astra und sah ihn auffordernd an. Der alte Mann griff nach dem Bier, wich dem Blick seines Verwandten aus und nahm einen kräftigen Schluck.

„Nun, was ist, Onkel Paul, willst du mir nicht endlich erzählen, was du weißt?“, forderte Hans Lehmann seinen Onkel auf.

Der seufzte tief und stellte die Bierflasche auf den Wohnzimmertisch. „Ach, Hans“, stöhnte er auf, „deine Mutter hat mir verboten, dir je über deinen Vater zu erzählen.“

„Meine Mutter lebt nicht mehr und mein Erzeuger war nicht tot, wie ihr mir weisgemacht habt. Also, was gibt es da noch zu verheimlichen?“

„Das Ganze ist nicht so einfach für mich, wie du denkst. Wie du weißt, hatten deine Mutter und ich immer ein sehr enges Verhältnis, das auch darin begründet war, dass unsere richtigen Eltern sehr früh bei einem Unfall starben und wir bei der Schwester unserer Mutter aufwuchsen. Caro wird dir ja sicher erzählt haben, dass deine Großeltern eigentlich nicht die wahren Großeltern sind. Du hast sie aber als solche erlebt. Und das war auch gut so. Nun, solch eine Geschichte schweißt Geschwister zusammen, und so waren deine Mutter und ich uns auch sehr verbunden. Als ich zur See fuhr und dann in Gefangenschaft geriet, hat mir deine Mutter lange Briefe geschrieben. Sie hat mir berichtet, wie sie deinen Vater kennen lernte, wie verliebt sie war, ja, wie glücklich sie auch war. Aber sie hat mir auch geschrieben, wie der Kriegswahn Fritz veränderte, wie fanatisch er seinem Führer und dessen Ideen folgte, immer an vorderster Front mit lautem Hurra. Die Geschichte mit mir war da nur eine kleine Episode. Den Bruch in der Beziehung zwischen deiner Mutter und diesem Menschen gab es dann endgültig 44, als der Herr Hauptmann verwundet wurde und zum Genesungsurlaub nach Hause kam. In der überschwänglichen Wiedersehensfreude wurdest du noch gezeugt. Dann sollte er wieder einrücken und deine Mutter brachte ihn in Altona zum Bahnhof. Auf dem Weg dorthin wurden sie Zeugen, wie Soldaten Juden in einen Lastwagen pferchten. Dabei wollte eine junge Mutter mit ihrem Kind fliehen. Fritz Hegenbühl entriss einem der blutjungen Häscher, der es nicht über sich brachte, der jungen Frau in den Rücken zu schießen, das Gewehr und streckte Mutter und Kind nieder. Dann schritt er auf die am Boden Liegenden zu und erschoss beide mit seiner Pistole. Deine Mutter erlitt einen Schock. Sie brachte Fritz noch zum Bahnhof, aber von da an wollte sie von diesem Mann nichts mehr wissen. Seine Briefe, die er ihr noch schrieb, beantwortete sie nicht mehr.“ Paul Marschank machte erschöpft eine Pause und griff zu seinem Bier, nahm einen kräftigen Schluck, dass der Schaum beim Abstellen aus dem Flaschenhals quoll. Er atmete keuchend. Hans Lehmann starrte betroffen durch das Zimmer. Ein Kloß verschnürte seinen Hals. Sein Vater eine Bestie, ging es ihm durch den Kopf, und es schien ihm, dass das noch nicht alles war, was ihm sein Onkel zu erzählen hatte. Es gab noch so viele Fragen, so viel Unklares und Ungereimtes. Aber konnte er seinem Onkel noch mehr zumuten? Der machte schon jetzt einen sehr erschöpften Eindruck.

„Willst und kannst du noch weiter erzählen, Onkel Paul? Ich habe den Eindruck, das war noch nicht alles, was du mir zu erzählen hast, stimmt’s?“

Paul Marschank winkte ab. „Lass gut sein, mien Jung“, stöhnte er. „Lass die alten Zeiten in Frieden ruhen. Es hilft dir heute ja sowieso nicht mehr, dass wir all das Schreckliche von damals wieder ausgraben.“

„Ich muss aber wissen, wer mein Vater war“, entgegnete Hans Lehmann trotzig. „Jetzt, wo er sich in mein Leben gedrängt hat, muss ich einfach mehr über ihn erfahren.“ Er nestelte den Brief aus seiner Jackentasche und reichte ihn seinem Onkel.

„Das hat er mir noch geschrieben. Aber ich komme mit seiner Schrift nicht klar. Kannst du ihn mir vorlesen?“

Paul Marschank nahm zögernd das Schriftstück entgegen, fingerte nach seiner Lesebrille, die auf dem Tisch lag.

„Das sieht ihm ähnlich“, seufzte er, als er die altmodische Handschrift wahrnahm. „Immer der Gestrige geblieben. Selbst seine letzten Zeilen muss er in der Handschrift des Vergangenen verfassen.“ Er blätterte das Papier auseinander, rümpfte die Nase, überflog die ersten Zeilen stumm.

„Was schreibt er?“, fragte Hans Lehmann neugierig.

„Willst du das wirklich wissen?“, brummte sein Onkel. „Das Papier taugt doch nur zum Arschabwischen.“

„Nun lies schon!“, wurde der Neffe ungeduldig.

„Alles nur Dünnpfiff, lass es dir gesagt sein. Von dem kann nichts Gutes kommen.“

„Nun mach endlich schon! Es ist Bedingung des Testamentes, dass ich den Brief erst lese.“

Paul Marschank räusperte sich, rückte seine Brille zurecht und begann, zögerlich zu lesen:

„Lieber Hans,

wenn Du diese Zeilen liest, haben wir die Chance verpaßt, uns kennen zu lernen. Wie gerne hätte ich Deinen Lebensweg begleitet, aber die Geschichte hat uns keine Chance gegeben

Ich sag’s dir doch, gequirlte Scheiße. Wenn er Mumm gehabt hätte, dann hätte er sich seiner Verantwortung gestellt und hätte sich nicht feige aus dem Staub gemacht.“

„Onkel Paul, bitte! Lass deine Kommentare, die kannst du ja später abgeben, wenn dir danach ist, aber lies jetzt …“

Der alte Mann grunzte unwillig und hob den Brief wieder zum Lesen. „Wo war ich? Ach, da: keine Chance gegeben. Ich weiß nicht, was dir deine Mutter über mich erzählt hat, aber du musst wissen, dass ich alles nur aus treuer Pflichterfüllung für mein Vaterland und meinen Führer gemacht habe. Wir haben den Krieg verloren, weil uns feige Verräter wie Oppenheim und seine Konsorten im Stich ließen und den Bau der Wunderwaffe, die uns geholfen hätte, den Kampf mit einem Schlag zu entscheiden, hinauszögerten, um sie dann dem Feind zu verkaufen. Da siehst du’s, was für `ne gequirlte Scheiße: Pflichterfüllung für Vaterland und Führer …“

„Onkel Paul!“

„Ja, ist ja schon gut. Aber dieser Blödsinn regt mich auf. Ein Arschkriecher war er, ein verfluchter Arschkriecher!“

„Onkel Paul, bitte!“

Er räusperte sich, suchte die verlorene Stelle im Brief und las schwerfällig weiter: „Du wirst das heute nicht verstehen, du bist anders erzogen, lebst in einer anderen Zeit, aber ich hatte eine Aufgabe zu erfüllen. Wir alle hatten unsere Aufgabe zu erfüllen, unser geliebtes Reich gegen unsere Feinde zu verteidigen. Schau Dir Deutschland heute an, was aus ihm geworden ist. Ein Jammer überfällt mich, wenn ich sehe, wie deutsche Werte mit Füßen getreten und unsere ureigensten Interessen verleugnet werden. Aber lass mich dir noch etwas erklären.

Als ich mich damals schweren Herzens entschied, das geliebte Vaterland zu verlassen, war mir klar, dass die Schergen, die unser Land eroberten, uns keine Chance zur Rechtfertigung geben würden. Ich wollte mich diesem feigen Mob nicht ergeben …Da frag ich mich, wer der Mob war? Diese Horde fanatischer Vaterlandsvernichter hat sich seiner Verantwortung durch feige Flucht entzogen …“

„Bitte, Onkel Paul, kannst du es erst einmal bei dem Brief belassen?“

„Ich krieg so `nen Hals“, deutete der alte Mann an, „vollkommen realitätsfremd und uneinsichtig.“

„Onkel Paul …“

„Schon gut. Wo war ich, ach ja …nicht ergeben. Ich hatte deiner Mutter angeboten, mir zu folgen. Ich hätte in Meran auf sie gewartet und euch beide dann mit nach Argentinien genommen. Aber deine Mutter hat mir nicht geantwortet. Es war sicherlich eine der schmerzhaftesten Entscheidungen meines Lebens, aber schließlich ging es um mein Überleben. Spinner, der hätte wie alle anderen Verbrecher seine gerechte Strafe absitzen können. Ums Überleben … absoluter Dünnpfiff …“

„Liest du bitte weiter?“

„Überleben, Spinner … Von Argentinien habe ich noch versucht, über Mittelsmänner Deine Mutter zu bewegen, mir zu folgen. Aber sie reagierte nicht auf meine Briefe. So habe ich mir mein eigenes, neues Leben aufgebaut. Mit meinen Kenntnissen in der Landwirtschaft und vor allem in der Rinderzucht konnte ich mir, dank der Unterstützung unserer Bruderschaft, eine neue Existenz aufbauen. Der Fleischbedarf der Amerikaner, vor allem durch ihre Kriege in Korea und Vietnam, hat mir zu einem recht ordentlichen Auskommen verholfen.

Ach ja, fast hätte ich vergessen zu erwähnen, dass ich nach fünf Jahren wieder geheiratet hatte. Aus dieser Ehe entstammen zwei Kinder, Walter und Karin, beide sind mittlerweile auch verheiratet und haben mir vier Enkelkinder geschenkt... Bigamie!“, platzte es aus dem Onkel heraus, „Er ist ja nie offiziell von Caro geschieden worden.“

„Er galt ja auch als tot“, erwiderte Hans Lehmann, „da bedurfte es keiner Scheidung.“

„Pah, Dreckskerl, Verräter!“

„Lies weiter, ich will es endlich zum Ende bringen.“

Paul Marschank rückte seine Brille zurecht, räusperte sich und hob die Briefbögen erneut zum Lesen. „Du hast also Geschwister und bist vierfacher Onkel. Deine Geschwister wissen nichts von Dir, vielleicht ist es auch besser so. Was ihr jetzt daraus macht, kann ich nicht mehr beeinflussen, aber bedenkt Euer Handeln gut.

Nun, mein Sohn, ich weiß, ich kann nicht alles wieder gutmachen, aber dennoch sollst Du einen Teil meiner Hinterlassenschaft erhalten. Doktor von Oesen liegt mein Testament vor, das er Dir eröffnen wird. Was darin steht, wirst Du von ihm erfahren. Von Oesen ist ein Vertrauensmann, der meine Interessen in Deutschland vertritt. Darüber hinaus ist er auch ein führendes Mitglied unserer Bruderschaft, der, wenn auch wohl über einen längeren Zeitraum, mit dafür sorgen wird, dass wir wieder Herren unseres eigenen Vaterlandes werden. Ich werde diesen Zeitpunkt wohl leider nicht mehr erleben, aber Du, als mein Sohn, kannst dazu beitragen, dass Deutsche wieder über Deutschland bestimmen. Daher bitte ich Dich, schließe Dich der Bruderschaft an und kämpfe für ein freies Deutschland …Also jetzt hört’s aber auf!“, empörte sich Paul Marschank, „Du willst dich doch wohl nicht diesen Immergestrigen anschließen?“

„Nun beruhige dich mal. Da brauchst du keine Angst zu haben, aber was will er noch?“

Der alte Mann nahm widerwillig den auf den Tisch geknallten Brief wieder in die Hand und las weiter: „Das ist eine der Bedingungen, die Du in meinem Testament vorfinden wirst. Aber ich denke, das zu erfüllen, wird Dir eine vaterländische Pflicht sein.

Zum Schluß will ich Dir noch sagen, daß ich gerne in meine geliebte Heimat zurückgekommen wäre. Argentinien ist ein schönes Land, aber eben nicht die Heimat. Ich habe oft daran gedacht, wie es geworden wäre, wenn wir rechtzeitig die Atombombe bekommen und den Endsieg damit erzwungen hätten. Keiner hätte uns unsere geliebten Landstriche geraubt, keiner hätte uns Ehre und Stolz genommen. Nun denn, du bist dazu auserkoren, dieses wieder zu richten.

Mach es gut, mein Sohn, vertraue Dich von Oesen an und kämpfe für eine gerechte Sache.

Dein Vater

Man, man, man, was für eine Scheiße der von sich gibt!“, sprudelte es aus Paul Marschank heraus. „Der glaubt tatsächlich an die Scheiße, die er da geschrieben hat. Und du willst doch wohl nicht … Lass dich bloß nicht mit diesen Brüdern ein! Das sind alles …“

„Onkel Paul, bitte … ich bin vollkommen erschlagen. Was kommt da auf mich zu? Ich will mit dem Mist nichts zu tun haben. Warum konnte er mich nicht in Ruhe lassen? Ich will nichts von ihm, er ist mir ein Fremder.“ Hans Lehmann begrub das Gesicht in seinen Händen. Wut stieg in ihm empor. Worte wie Ehre und Stolz, Vaterland, Bedingungen schwirrten wild durcheinander in seinem Kopf. Er verfluchte den Moment, da er den Brief von diesem Anwalt erhielt. Am liebsten hätte er alles rückgängig gemacht, sich in seine vier Wände verkrochen, die Bettdecke über den Kopf gezogen und alles nach einem Erwachen als bösen Traum abgetan. Aber dieses hier war Realität, bittere Realität.

„Was willst du machen?“, schreckte ihn der Onkel aus seinen Gedanken.

Hans Lehmann richtete sich langsam auf, rieb sich die brennenden Augen. „Ich werde mir anhören, was in dem Testament steht“, sagte er matt, „eines weiß ich aber ganz sicher, ich werde mich nicht irgendeinem Club anschließen, der die vaterländische Ehre wieder herstellen will.“

„Sei vorsichtig“, riet ihm der Onkel, „mit den Brüdern ist nicht zu spaßen.“

„Kennst du die Bruderschaft?“, fragte Hans Lehmann.

„Nein“, antwortete Paul Marschank, „aber Nazis sind Nazis, ob sie nun irgendeiner Partei oder Bruderschaft angehören, ihr gestriges Gedankengut verheißt nichts Gutes.“

„Wie konnte er eigentlich nach Argentinien fliehen?“, fragte Hans Lehmann.

„Die sind alle über die sogenannte Rattenlinie mit Hilfe des Roten Kreuzes und des Vatikans über Südtirol und Genua geflüchtet. In Südtirol haben sie Zwischenstation gemacht und das Rote Kreuz und der Vatikan haben ihnen geholfen, falsche Papiere zu bekommen, mit denen sie über Genua nach Südamerika flohen. Argentinien und Chile waren beliebte Ziele. Dort fanden sie genug Gesinnungsgenossen, die sie unterstützten und versteckten.“

„Ich verstehe das alles nicht. Aber wie auch immer. Ich werde mir morgen anhören, was der Anwalt zu sagen hat. Und dann hoffe ich, dass der Spuk recht schnell vorbei ist. Erst einmal besten Dank, Onkel Paul, dass du mir deine Zeit geopfert und den Brief vorgelesen hast.“ Hans Lehmann stand auf, reichte seinem Onkel die Hand.

„Dafür nicht, Hans“, erwiderte der, „Zeit hab ich ja genug. Wäre schön, wenn du mir berichtest, was dabei herausgekommen ist.“ Er erhob sich mühsam und schlurfte seinem Neffen hinterher. An der Tür verabschiedeten beide sich noch einmal, dann hörte Hans Lehmann, wie sein Onkel die Wohnungstür verriegelte. Langsam schritt er die Treppe hinunter. Er konnte nicht glauben, in was er da hineingeraten war. Alles schien so unwirtlich, so gespenstisch, dass er glaubte, in einen Film geraten zu sein. Oder war es doch nur ein Traum? Aber die kühle Nachtluft, in die er nun hineinschritt, verdeutlichte ihm, alles war real, alles war beängstigende Wahrheit.

2.

Als Hans Lehmann das Haus verließ, fiel ihm ein älteres Mercedes-Modell grauer Farbe auf, aus dessen geöffnetem Fahrerfenster Zigarettenqualm entstieg. Die Scheiben waren beschlagen. Hans Lehmann dachte an ein Liebespaar, das die Zigarette „danach“ genoss und schenkte dem Fahrzeug keinerlei weitere Beachtung. Er musste an die ersten Liebesversuche mit Uschi denken. Sie waren in einem alten Ford Capri in den Wald gefahren und hatten die Liegesitze ausprobiert. Aber das Ganze endete in einem Desaster. Es war ihm peinlich. Erst viel später konnte er darüber lachen. Das mit Uschi war sowieso nur eine kurze Romanze. Die hatte sich schließlich in Klaus Habermann verknallt, weil dem der Ford-Capri gehörte. Einige Jahre später hatte er dann Elke kennen gelernt. Ja, Elke, dieses Luder, hatte ihn auch verlassen, weil sie nach achtzehn Jahren Ehe mit ihm einen „Besseren“ fand, der ihr mehr bieten konnte, als ein langweiliges, aber sicheres Leben. Dabei hatte alles so romantisch begonnen. Er hatte sich in sie bereits in der Schule verliebt, nur wagte er nicht, sich ihr zu nähern und zu offenbaren. Sehnsüchtige Nächte hatte er wach gelegen und davon geträumt, dass sie seine Gefühle erwidern würde. Dann hatte ein Klassenkamerad sie beide, ohne dass er von Hans Lehmanns Gefühlen wusste, zu einer Party eingeladen. Und da hatte es endlich auch bei Elke geraschelt. Sie hatten sich den Abend in eine Ecke verkrochen, beieinander gesessen und sich vorsichtig genähert, scheue erste Berührungen, dann schoben sich die Hände ineinander, man rückte enger zusammen und Elke legte ihren Kopf auf seine Schulter. Er hätte vor Glück zerspringen können, wagte es aber noch nicht, sie zu küssen. Der erste Kuss folgte nach dem dritten Rendezvous und Elke war es, die die Initiative ergriffen hatte. Hätte sie es nicht gewagt, er wäre ungeküsst geblieben.

Ein Auto hupte und riss ihn aus seinen Gedanken, da die Ampel vor ihm bereits länger auf Grün umgeschaltet hatte. Nieselregen hatte eingesetzt. Die Scheibenwischer schmierten einen undurchsichtigen Film auf die Windschutzscheibe. Er betätigte die Scheibenwaschanlage, aber eine wesentliche Besserung war dadurch nicht erreicht. Er müsste wohl mal die Wischerblätter wechseln. Aber das hatte er schon länger vorgehabt, nur hatte er es immer wieder vergessen oder konnte sich nicht überwinden, den Kauf zu tätigen. So musste er seine Augen übermäßig anstrengen, um neben dem Schmierfilm auch die Blendungen der entgegenkommenden Fahrzeuge zu ertragen.

Endlich hatte er seine Straße erreicht und sogar ohne langes Suchen einen Parkplatz gefunden. Im Treppenhaus brannte Licht und als er vor seiner Wohnungstür stand, öffnete sich die gegenüberliegende Wohnungstür, und die alte Frau Oltmanns trat mit ihrem Mischlingshund heraus. Hans Lehmann begrüßte sie freundlich und streichelte den kleinen, schwarzen Hund, der freudig versuchte, an ihm hochzuspringen.

„Na, Frau Oltmanns, noch `ne Runde mit Fiete drehen? Das Wetter ist nicht gerade dazu geeignet.“

„Ach, Herr Lehmann, Sie wissen doch, Hundebesitzer kennen kein schlechtes Wetter, sie müssen immer mit ihren Tieren raus, ob es nun regnet oder schneit“, antwortete die grauhaarige, gebückt gehende Frau.

„Ja, ja, so ist es wohl, Frau Oltmanns. Noch einen schönen Abend.“ Damit schloss Hans Lehmann seine Wohnungstür auf und betrat seine Wohnung.

Nach der Trennung von Elke hatte er diese Zweizimmeraltbauwohnung bezogen. Es war erst ein Hort der Traurigkeit. Er brauchte lange, bis er den Schock der Trennung verkraftet hatte. Er hatte keine Ahnung, was sich da hinter seinem Rücken abspielte. Die vielen angeblichen Überstunden, die sie in der Klinik absolvieren musste, hatten sich zwar nicht in ihrer Lohnabrechnung und damit auf ihrem gemeinsamen Konto widergespiegelt, trotzdem war er nicht misstrauisch geworden. Es war halt so. Und er ging in seinem gewohnten Trott weiter, morgens zur Arbeit, am späten Nachmittag wieder nach Hause, häufig in die leere Wohnung, weil Elke Schicht in der Klinik hatte, dann bastelte er an seinen Schiffen, mit denen er schon ein ganzes Zimmer gefüllt hatte, sein Bastelzimmer, das eigentlich als Kinderzimmer geplant war, aber Elke wollte keine Kinder, versagte ihm den sehnlichen Wunsch nach Nachfahren. Auch das hatte er so hingenommen. Erst als Elke sich mit ihrem Chefarzt aus dem Staub gemacht und er dazu noch seine Arbeit verloren hatte, begann er langsam aus seiner Lethargie, seiner Lebenslethargie, aufzuwachen.

Er durchschritt das Wohnzimmer und öffnete die Balkontür, damit die Wohnung durchlüftet wurde und es nicht so zu riechen begann, wie in der Wohnung seines Onkels. Unten vor dem Haus stand wieder so ein älterer, grauer Mercedes mit beschlagenen Fenstern und etwas geöffnetem Fahrerfenster, aus dem Zigarettenqualm herausquoll. Hans Lehmann war zwar etwas erstaunt, aber das konnte doch nur ein Zufall sein. Und es fiel ihm wieder ein, woran er beim ersten Erblicken dieses Wagens gedacht hatte. Den Ford Capri hatte er sich von Hans Habermann geliehen. Uschi hatte zunächst gedacht, er hätte das Auto gekauft. Er ließ sie in dem Glauben, erst am nächsten Tag hatte er ihr gebeichtet, dass es nur geliehen war. Im Nachhinein betrachtet war schon damals erkennbar, dass sie einen Hang zum Luxus hatte, den weder er ihr bieten, noch sie sich leisten konnte. Und so war es dann auch mit Elke. Auch sie hatte einen unerfüllbaren Hang zum Luxuriösen. Kein Wunder, dass ihre spätere Ehe in ständiger Unzufriedenheit verlief. Wobei die Unzufriedenheit mehr auf Elkes Seite bestand. Er hatte sich mit seinem Leben arrangiert, ihm genügte es. Ihre Berufe als Speditionskaufmann und Krankenschwester reichten für ein beschauliches Leben in geordneten finanziellen Verhältnissen. Man leistete sich den „kleinen Luxus“ der „kleinen Leute“, eine für ihre Verhältnisse gut eingerichtete Vierzimmermietwohnung, alle vier fünf Jahre ein gebrauchtes Auto der unteren Mittelklasse und jährlich eine günstige Reise in den Süden. Das alles aber reichte Elke nicht mehr. Sie wollte ins Champagner-Land und schmiss sich diesem Heini von Chefarzt an den Hals. Wie hatte sie es nur zwanzig Jahre bei ihm aushalten können?, fragte er sich. Das Schlimme war, dass das nun auch schon wieder über zehn Jahre her war, es ihn aber immer noch beschäftigte. Nach Elke hatte er keine Beziehung mehr zu einer anderen Frau gehabt. Seine männlichen Bedürfnisse hatte er auf andere Weise befriedigt, eheähnliche Verhältnisse hatte es dazu nicht bedurft. Nun stand er in seiner Wohnung und all das Vergangene drängte sich in sein Gedächtnis, ausgelöst durch diese anstehende Erbschaft, die sein Leben erneut durcheinander zu bringen drohte. Warum musste sich dieser Mann aus dem Grab heraus noch an ihn wenden? Hätte er nicht verschweigen können, dass es ihn gab? Hans Lehmann hatte ihn aus seinem Gedächtnis gestrichen, ein für alle Mal, dachte er. Und nun war er präsenter, als je zuvor, zog ihn in eine Vergangenheit, von der Hans Lehmann nichts mehr wissen wollte, und schubste ihn in eine Zukunft, die er nicht gebraucht hätte. Er spürte, dass er mit Dingen konfrontiert werden würde, die ihn aus seiner geordneten, biederen Welt herauskatapultieren würde. Was immer ihm auch sein Erzeuger vermachen würde, es wäre mit dem Gestank einer unredlichen Zeit behaftet.

Hans Lehmann war versucht, den Brief wieder hervorzuholen, um die Zeilen noch einmal, ohne die Kommentare seines Onkels, zu lesen. Wenn das alles stimmte, was sein Onkel über Fritz Hegenbühl erzählte, was war dann dieser Mann für ein Mensch und was von dem steckte in ihm, steckte in Hans Lehmann? Das bereitete ihm Angstgefühle. Könnten diese negativen Eigenschaften denn nicht schon längst in ihm ausgebrochen sein? Wäre auch er in der Lage, einen Menschen kaltblütig zu ermorden? Nein, diese Eigenschaft seines … er mochte das Wort Vater nicht aussprechen, es musste beim Wort Erzeuger bleiben … hatte er nie verspürt. Im Gegenteil, er hielt alles Leben für schützenswert, tötete aus keiner Laune heraus auch nur das geringste Lebewesen, achtete darauf, dass er nicht versehentlich auf dem Boden herumkrabbelndes Getier zu Tode trat, rettete Spinnen aus der Wohnung, verscheuchte Fliegen und Brummer und tötete diese nur, wenn sie ihn ungebührlich belästigten. Und nun musste er erfahren, dass der Mann, der ihm sein Erbgut vermacht hatte, kaltblütig gemordet hatte. Dass ein Mann im Krieg Menschen tötete, war nicht verhinderbar, solange es nicht unschuldige Zivilpersonen betraf; aber das, was ihm sein Onkel berichtete, ließ ihn erschauern.

Hans Lehmann war bisher immer der Meinung, dass es ihm nicht zustand, die Generation der Hitlerzeit zu verurteilen, ob sie nun aktiv am Kriegsgeschehen teilgenommen hatte oder aber im lethargischen Wegsehen die Verläufe nicht zu beeinflussen versuchte. Wer weiß, wie er in dieser Zeit gehandelt hätte. Wäre er nicht auch dem Rattenfänger erlegen und hätte im Rausch des Gemeinschaftsgefühles den Arm ausgestreckt und seinem Führer zugejubelt? Er wäre vielleicht nicht der Typ gewesen, der den Mut aufgebracht hätte, sich gegen den Strom der Zeit zu stellen. Durfte er also jetzt den ersten Mann seiner Mutter verurteilen? Ja, er musste ihn verurteilen, denn mit dem Wissen der Nachgeborenen wusste man auch um humane Grenzen, die nicht übertreten werden durften. Und Fritz Hegenbühl hatte diese Grenzen überschritten. Denn was hatte dieser Mann offenbar noch alles verbrochen, von dem sein Nachfahre nichts wusste? Wer in der Lage war, Zivilisten zu töten, der war auch in der Lage mit dem Totenkopf an der Uniform andere Gräueltaten zu begehen, dachte er.

Je mehr Hans Lehmann sich hineinsteigerte, um so unwohler fühlte er sich. Er hatte nie mit den Nazis, weder mit denen der Vergangenheit, noch mit denen der Gegenwart, etwas zu tun haben wollen. Ihre menschenverachtende Anschauung hatte ihn abgeschreckt. Für ihn war es unvorstellbar, was Menschen Menschen angetan hatten. Mit welcher Grausamkeit im Namen Deutschlands gequält und gemordet wurde. Diese Nazis waren für ihn keine Menschen, das waren Bestien. Und sein Vater – jetzt trat das Wort doch in sein Gedächtnis, obwohl er sich dagegen sträuben wollte – war einer von ihnen, der bedauerte, dass mit der Atombombe auf deutscher Seite nicht noch mehr Menschen hätten vernichtet werden können. So also dachte sein Vater, der offensichtlich bis zum Schluss noch an den Endsieg geglaubt hatte. Wie bemitleidenswert, kam es Hans Lehmann in den Sinn. Die Unverbesserlichen wollten nicht aufgeben und folgten einem wahnsinnigen Diktator bis hin zur totalen Vernichtung.

Hans Lehmann griff zur Cognacflasche und schenkte sich ein Glas halbvoll ein. Das musste reichen, um in der Nacht Ruhe zu haben und die bösen Geister der Vergangenheit zu vertreiben. Doch dann erinnerte er sich daran, dass er morgen wieder in diese ominöse Anwaltskanzlei zur Testamentseröffnung kommen sollte. Sein Nachlassgeber hatte von Bruderschaft geschrieben und ihm wurde dabei sofort bewusst, dass es nur eine braune Bruderschaft sein konnte, die groß im Verdrängen und klein im Unrechtsbewusstsein war. Mit denen wollte er nichts zu tun haben. Aber, ob er wollte oder nicht, er musste sich anhören, was ihm als Erbe vermacht werden sollte. Da war wieder das Gefühl in ihm, das Neugier und Angst vermischte, aber die Angst schien sich immer weiter auszubreiten.

3.

Am Morgen wachte Hans Lehmann mit Kopfschmerzen auf. Er hatte mehr als nur ein halbes Glas Cognac gebraucht, um einschlafen zu können. So bestand sein Frühstück aus drei Tassen Kaffee und zwei Aspirin-Tabletten. Die Sonne schien und er setzte sich auf seinen schmalen Balkon zur Straße hinaus. Unten stand noch immer der graue Mercedes mit leicht geöffnetem Fahrerfenster. Die Scheiben des Wagens waren nicht mehr beschlagen und er konnte eine männliche Person hinter dem Steuer erkennen. Kopf und Beine waren verdeckt. Er sah nur Teile eines weißen Hemdes und den Ansatz einer schwarzen Hose. Sofort fiel ihm der Lakai des Rechtsanwaltes ein, aber was sollte der von ihm wollen? Oder ließ von Oesen ihn schon beschatten? Aber warum? Hans Lehmann verdrängte den Gedanken; der bevorstehende Nachmittag zwängte sich ihm wieder ins Gedächtnis und es lief ihm kalt und heiß den Rücken hinunter. Schließe dich der Bruderschaft an und kämpfe für ein freies Deutschland, das wird eine meiner Bedingungen sein, hatte sein – Erzeuger geschrieben. Mich diesem hirnlosen Pack anschließen, das kannst auch du nicht von mir verlangen, was immer du mir vererben willst, dachte Hans Lehmann. Wenn das deine Bedingung sein soll, dann verzichte ich gerne auf mein Erbe. Doch wusste er noch nicht, um was für einen Nachlass es gehen würde, und das steigerte ganz erheblich seine Verunsicherung.

Gegen Mittag verließ er das Haus. Der Mercedes stand noch immer in der Straße und Hans Lehmann konnte jetzt einen jungen Mann mit glatt gekämmten, schwarzen Haaren erkennen, der dem Diener des Anwalts in der Aufmachung sehr ähnelte. Als dieser merkte, dass Hans Lehmann ihn fixierte, blickte er sofort weg und tat, als würde er den Wagen starten wollen. Hans Lehmann wartete einen Moment und - da der junge Mann den Motor nicht zum Laufen brachte - ging auf den Wagen zu. Er merkte, wie der junge Mann hektisch wurde, nun das Auto startete und offensichtlich vor Hans Lehmann fliehen wollte. Das hätte fast zu einem Unfall geführt, denn in seiner Panik hatte der junge Mann ein sich näherndes Fahrzeug übersehen, sodass beide Fahrer scharf bremsen mussten, um einen Aufprall zu verhindern. Das gab Hans Lehmann die Chance, an den Mercedes heranzutreten und an die Scheibe zu klopfen. Der junge Mann sah ihn ängstlich, mit Schweißperlen auf der Stirn, an und nutzte die Gelegenheit, die Parklücke zu verlassen und davonzufahren, als sich das andere Fahrzeug entfernt hatte.

Hans Lehmann sah ihm nach. Der Bursche schien ganz offensichtlich auf ihn angesetzt zu sein und hatte unter Umständen soeben seinen Auftrag vermasselt. Nur - warum hatte der die Order, ihn zu beschatten? Was gab es so Wichtiges, dass es sich lohnte, ihn zu beobachten und zu kontrollieren? Er würde es von Oesen erfragen. Oder wussten einige Personen bereits, was in dem Testament stand? Wenn Fritz Hegenbühl mit von Oesen den Text aufgesetzt hatte, dann wusste der Anwalt Bescheid. Nur, hätte der dann nicht schon früher ein Interesse an Hans Lehmann haben müssen? Hatten sie ihn schon länger beobachtet und er hatte es nur nicht bemerkt?

Hans Lehmanns Verunsicherung wuchs von Minute zu Minute. Er fühlte sich von allen Seiten beobachtet und beschattet. Er ging zu seinem Auto, setzte sich hinein und wartete. Wenn er jetzt losführe und ein anderes Auto würde gleichzeitig die Parklücke verlassen, dann würde er allen Mut zusammennehmen, seinen Wagen mitten auf der Straße anhalten und seinen Beschatter fragen, was das zu bedeuten hätte. Aber kein Fahrzeug scherte hinter ihm aus und verfolgte ihn. Dennoch hatte er ständig das Gefühl, beobachtet zu werden. Und obwohl es erst 13 Uhr war, fuhr er nach Blankenese, vorbei an der Anwaltskanzlei und hinaus zur Busendstation, wo er sein Auto auf dem Parkplatz abstellte und hinunter an den Elbstrand ging. Hier hatte er oft mit seiner Familie, die damals noch aus vier Personen bestand, gebadet. Dabei hatte sein – Vater –, ja, sein Vater, immer darauf geachtet, dass die Jungen nicht in den Strom der abwärts ziehenden Elbe gerieten und sie immer wieder ermahnt, in Strandnähe zu bleiben. Mutter hatte Kartoffelsalat und gebratene Koteletts mitgenommen, die sie gemeinsam zur Mittagszeit vertilgten. Vater trank Bier und die Jungen durften ausnahmsweise Cola trinken. Dann spielten sie mit den anderen Jungen Fußball, obwohl Hans darin keine große Leuchte war, aber in der Gemeinschaft hatte es Spaß gemacht. Ja, das waren die warmen Sommerwochenenden, raus aus den Wohnsilos und an den Strand der Elbe. Keiner hatte nur im Entferntesten an einen anderen Mann gedacht, der sein Vater sein sollte. Oder hatte seine Mutter insgeheim an ihn gedacht? Das menschliche Gehirn ist in der Lage, hin und wieder die Vergangenheit zu reflektieren. Also musste seine Mutter doch ab und zu an ihren ersten Mann gedacht haben. Was für Gefühle hatte sie dabei? Hatte sie ihn wirklich gehasst? Hatte sie Sehnsüchte? Vermisste sie ihn sogar? Denn irgendwann musste sie ihn ja geliebt haben, sonst hätte sie sich wohl nicht mit ihm eingelassen. Doch all diese Gedanken waren ihr Geheimnis geblieben. Nie hat sie über ihre Gefühle und ihren ersten Mann gesprochen und Hans hatte sie auch nie danach gefragt.

Kurz vor ihrem Tod, als ihre Demenz schon fortgeschritten war, hatte sie in einem Anflug von Erwachen mit ihren ausdruckslos gewordenen Augen geflüstert, dass der Führer ihr übers Haar gestrichen hätte. Sein Vater und er hatten sich erst verdutzt, dann lächelnd angeschaut. Dann hatte sein Vater nachgefragt, wann und wo das denn gewesen sei. Aber die Mutter hatte nur stumm vor sich hingestarrt und keine Erklärung abgegeben. Erst Onkel Paul hatte das Geheimnis lüften können. In seiner ihm eigenen Sprache, wenn es um die Vergangenheit ging, hatte der erzählt: „Der Gröfaz hatte Hamburg besucht und die ganze Stadt war auf den Beinen, um diesem Scharlatan zuzujubeln. So mussten auch wir mit unseren Pflegeeltern fähnchenschwenkend am Straßenrand stehen. Da kam diese Witzfigur auf uns zu, beugte sich zu uns und tätschelte Caro den Kopf. Na, ihr könnt euch denken, was da los war. Das war so, als hätte der Papst das Jesuskind persönlich geküsst. Dabei wäre der Letztere, wenn auch nicht von unserer Fraktion, das kleinere Übel gewesen.“

Was für eine verblendete Jugend, kam es Hans Lehmann in den Sinn und es fiel ihm ein, dass in irgendeinem Zusammenhang, den er jetzt nicht mehr rekonstruieren konnte, die Rede vom BDM gewesen und wo seine Mutter Mitglied war. Aber ob BDM, Hitlerjugend oder FDJ, der Zwang der damaligen Zeit rechtfertigte heute keine Verurteilung, dachte Hans Lehmann. Der Jugend wurde in diesen Organisationen ein Zuhause gegeben, obgleich sie dort ideologisch verführt und vergewaltigt wurde. Sie, die Jugend, trug die wenigste Schuld daran. Es waren die Handlanger des unseligen Systems, das die jungen Menschen verdarb und für ihre Zwecke missbrauchte. Er, Hans Lehmann, hatte nun die verbriefte Entscheidungsfreiheit, sich dem Wahnsinn der Historie anzuschließen oder es sein zu lassen. Und was immer von Oesen ihm offerierte, er würde sich nicht zum Mitglied einer ominösen Sekte machen lassen.

Kurz vor 16 Uhr fuhr er seinen Wagen vor das Tor der Anwaltskanzlei. Ohne dass er seinen Ausweis vorzeigen musste, öffnete sich das Tor. Wie am Tage zuvor, knirschte der Kies unter seinen Autoreifen. Der Lakai im weißen Hemd und schwarzer Hose stand bereits vor der Haustür und erwartete ihn. Am liebsten hätte ihn Hans Lehmann von hinten gepackt, als dieser ihm voranschritt, und gefragt, was es mit der unsinnigen Beschattung auf sich habe. Aber er riss sich zusammen und sparte sich die Frage für von Oesen auf. Der kam ihm mit ausgestreckter Hand im Portal des Hauses entgegen. Sein Lächeln spiegelte sich wieder nicht in seinen Augen. „Schön, dass Sie gekommen sind“, sagte er.

„Haben Sie etwas anderes erwartet?“, fragte Hans Lehmann etwas schroff.

„Nein, nein“, antwortete von Oesen hastig, „wo denken Sie hin. Schließlich wollen Sie doch sicherlich wissen, was Ihnen Ihr Vater vermacht hat.“

„Ja, fürwahr, das hätte ich schon gerne gewusst.“

„Nun, dann wollen wir es hinter uns bringen.“

„Apropos hinter uns bringen, was soll eigentlich diese blöde Beschattung“, fragte Hans Lehmann.

Von Oesen tat überrascht. „Welche Beschattung? Ich weiß von keiner Beschattung.“

„Na, Ihre – sagen wir mal Mitarbeiter – verfolgen und beschatten mich doch die ganze Zeit.“

Von Oesen lachte zwanghaft. „Aber Herr Lehmann, warum sollten wir Sie verfolgen und beschatten? Erstens machen wir so etwas nicht und zweitens hätten wir doch auch keinen Grund dazu, oder?“

Hans Lehmann ließ die Frage unbeantwortet, während von Oesen sich in seinen Unterlagen versteckte und dieses ihm offensichtlich unangenehme Thema umgehen wollte.

„Nun“, unterbrach er die kurze Pause, „wir haben uns hier und heute getroffen, um den letzten Willen Ihres leiblichen Vaters zu verkünden. Auf Wunsch Ihres Vaters werde ich mich ausschließlich auf den Passus, der Sie betrifft, beschränken. Und auch nur dieser Passus steht Ihnen in Kopie zur Verfügung. Also …“

„Moment“, unterbrach ihn Hans Lehmann, „wieso darf ich nicht den Inhalt des gesamten Testamentes erfahren?“

„Weil Ihr Vater das so in seinem Nachlass bestimmt hat“, antwortete der Anwalt und wollte fortfahren.

„Ist das rechtens? Steht mir als Erbe nicht zu, den gesamten Inhalt zu erfahren?“

„Nicht, wenn der Nachlassgeber es in seinem Testament so bestimmt hat.“

„Ist das nicht anfechtbar?“, wollte Hans Lehmann wissen.

Von Oesen blickte ungeduldig auf. „Das steht mir nicht zu, Ihnen darüber Auskunft zu geben. Wenn Sie das anfechten wollen, sollten Sie sich mit Ihrem Anwalt in Verbindung setzen. Kann ich jetzt fortfahren?“, fragte er genervt.

Hans Lehmann machte eine joviale Geste als Zustimmung.

„Nun, dann“, - von Oesen suchte die betreffende Stelle des Testamentes und las vor: „Meinem Sohn Hans Hegenbühl, jetziger Name Hans Lehmann, aus erster Ehe mit Caroline Hegenbühl, geborene Marschank, vermache ich zweihundertfünfzigtausend Euro unter folgenden Bedingungen: Er schließt sich der Bruderschaft unter der Leitung von Dr. Herbert von Oesen für die Dauer von 6 Monaten an, in denen er an mindestens 3 Sitzungen der Bruderschaft teilnimmt, um die Ziele der Bruderschaft kennen zu lernen. Danach kann er frei entscheiden, ob er weiterhin der Bruderschaft angehören will. Sollte er diese Bedingung nicht erfüllen oder Rechtsschritte gegen dieses Testament einleiten, geht der vermachte Betrag automatisch in das Vermögen der Bruderschaft über. Bis zum Ablauf der gestellten Frist und Erfüllung der Bedingungen bleiben die zweihunderttausend Euro auf einem Notaranderkonto des Dr. Herbert von Oesen gesperrt. Danach kann die Auszahlung, nebst Zinsen, abzüglich Gebühren, an den Erben erfolgen.“

Von Oesen blickte auf und Hans Lehmann glaubte, ein leichtes Grinsen auf den Lippen des Notars gesehen zu haben. Ihm war mehr als schwindlig, ihm war kotzübel. So ein Schwein, dachte er, da will er mich doch mit aller Macht in den braunen Sumpf hineinziehen und bietet denen alle Möglichkeiten, sich das Geld anzueignen. Davon sehe ich nie etwas, das kann ich schon jetzt abschreiben.

„Nun, Herr Lehmann“, unterbrach von Oesen dessen Gedanken, „das ist der letzte Wille Ihres Vaters. Ich habe Ihnen eine Kopie des Testamentes anfertigen lassen. Dazu überreiche ich Ihnen hiermit einen Aufnahmeantrag zu unserer Bruderschaft, der Sie nach dem Willen Ihres Vaters doch sicherlich beitreten wollen, oder?“

Wieder eine Frage, die du nicht beantwortet bekommst, sagte sich Hans Lehmann, aber nahm Testamentsauszug und Aufnahmeantrag entgegen. Er hatte das Gefühl, dieses Gemäuer so schnell wie möglich verlassen zu müssen; also stand er schweigend auf, nahm die ihm entgegengestreckte Hand nicht zum Abschied an und folgte dem Lakaien, der in den Raum getreten war, zu seinem Auto.

Als er das Anwaltsgrundstück verlassen hatte, nutzte er die nächste freie Parkbucht, um anzuhalten und kräftig durchzuatmen. Das ganze Testament ist eine Farce, schimpfte er laut vor sich hin, eine Schenkung an diese ominöse Bruderschaft, nichts anderes. Denn selbst wenn er willens wäre, die Bedingungen zu erfüllen, würden die Burschen doch alles daran setzen, ihn davon abzuhalten, um an das Geld zu kommen. Also wird er auch nie nur einen Cent davon erhalten. Eine freche Taktik seines Erzeugers; hätte der doch stillschweigend sein Geld diesem Pack in den Rachen schieben sollen und besser verschwiegen, dass es ihn, Hans Lehmann, gibt, dann wäre seine Welt nach wie vor in bester Ordnung. Er brauchte sich nicht zu ärgern und wäre davon verschont geblieben, sich mit diesen Leuten auseinanderzusetzen. Wütend schlug er mit der flachen Hand auf das Lenkrad. Mit der Formulierung des Textes waren ihm die Hände gebunden und gab der Gegenpartei Handlungsfreiheit. Was blieb ihm also anderes übrig, als zu versuchen, die Bedingungen des Fritz Hegenbühl zu erfüllen. Einen Anwalt einschalten? Erstens kostete dieser Geld, das er nicht hatte, da es mehr als unsicher war, dass er je etwas von den zweihunderttausend Euro erhalten würde und zweitens würde das Erbe bei einer Anfechtung sofort der Bruderschaft in die Hände fallen. Und er war sich sicher, dass die sofort erfahren würden, wenn er sich anwaltlich beraten ließe. Wen hatte er denn im Bekanntenkreis, der sich in solchen Dingen auskannte? Er ging seine wenigen Freunde und Bekannten in Gedanken durch. Da war keiner dabei, der Jura studiert hatte oder in einer Anwaltskanzlei tätig war. Bei der Scheidung von Elke hatte er es mit einem Dr. Schubert zu tun, der kräftig an seinem Unglück verdiente. Und der würde sofort wieder die Hand aufhalten und abkassieren wollen. Er konnte es drehen und wenden, wie er wollte, er war der Betrogene, der hier nach Strich und Faden über den Tisch gezogen wurde.

Wieder fiel ihm dieser graue Mercedes auf, der ein paar Parkbuchten vor ihm parkte. Die konnten doch nicht so dumm sein, ihn mit demselben Fahrzeug weiterhin zu beschatten, wo er sie bereits entlarvt hatte! Er wartete, bis die Straße frei von nahendem Verkehr war und wendete abrupt, gab Gas und fuhr in die nächste rechts führende Straße. Dort parkte er halb auf dem Bürgersteig und wartete. Es dauerte nicht lange, da bog der Mercedes auch schon in die Straße ein. Der Fahrer hatte aber nicht damit gerechnet, dass Hans Lehmann unmittelbar hinter der Einbiegung parkte und fuhr in rasantem Tempo an ihm vorbei. Obwohl ihm nicht zum Lachen zu Mute war, grinste Hans Lehmann, setzte rückwärts in die Elbchaussee und drehte stadteinwärts ab.

Wohin sollte er fahren? Mit wem konnte er in dieser Angelegenheit sprechen? Onkel Paul schien ihm keine große Hilfe mehr zu sein. Bei dem Gedanken an Elke musste er lachen. Wenn die von dem Erbe erfahren würde, hätte sie sofort die großen Dollarzeichen in den Augen und würde sich überlegen, was sie sich alles Schönes dafür leisten könnte. „Nichts“, schrie er in den Wagen, „nichts wirst du davon erhalten.“ Und leise fügte er hinzu: „Und ich auch nicht.“