Wenn der Schläfer erwacht - Herbert George Wells - E-Book

Wenn der Schläfer erwacht E-Book

Herbert George Wells

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Beschreibung

Mit 15 Zeichnungen Wenn ein Mann aus der Vergangenheit die Zukunft regiert. Graham verfällt in einen totenähnlichen Schlaf und wacht 203 Jahre später im London der Zukunft wieder auf. Plötzlich ist er der reichste Mann auf Erden, denn während seines "Todes" ist sein Vermögen ins Unermessliche gestiegen. Doch kann er seinen Reichtum nicht genießen, denn schnell wird er zum Spielball verschiedenster Interessengruppen. Schließlich stellt sich Graham auf die Seite der Unterprivilegierten und Armen – es kommt zur Konfrontation mit den Mächtigen. Dieses Buch ist das prophetischte Buch Wells' und gleichzeitig auch eines seiner unterhaltsamsten und spannendsten. Wieder einmal beschäftigt sich der Autor mit seinen Lieblingsfragen: Müssen wir die Zukunft fürchten oder können wir sie gestalten und als Chance verstehen? Was passiert mit uns? Ist der technische Fortschritt ein Segen oder ein Fluch? Und kann der menschliche Geist mithalten oder wird er das Opfer einiger weniger Auserwählter? Wells fabuliert bereits 1899 über Flugmaschinen, Massenhysterien, Medienmanipulationen und Wirtschaftsmacht. Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 408

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H. G. Wells

Wenn der Schläfer erwacht

Illustrierte Fassung

H. G. Wells

Wenn der Schläfer erwacht

Illustrierte Fassung

(When the Sleeper Awakes)Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected] 2. Auflage, ISBN 978-3-962810-14-6

null-papier.de/neu

Inhaltsverzeichnis

1. Schlaf­lo­sig­keit

2. Schein­tod

3. Das Er­wa­chen

4. Der Lärm ei­nes Aufruhrs

5. Die glei­ten­den Stra­ßen

6. Die Hal­le des At­las

7. In den stil­len Zim­mern

8. Die Dachräu­me

9. Das Volk mar­schiert

10. Die Schlacht des Dun­kels

11. Der Alte, der al­les wuss­te

12. Ostrog

13. Das Ende der al­ten Ord­nung

14. Aus dem Krä­hen­nest

15. Her­vor­ra­gen­de Leu­te

16. Der Ae­ro­pi­le

17. Drei Tage

18. Gra­ham be­sinnt sich

19. Ostrogs Ge­sichts­punkt

20. Auf den We­gen der Stadt

21. Un­ten

22. Der Kampf im Rat­haus

23. Wäh­rend die Ae­ro­pla­nen her­an­zo­gen

24. Die An­kunft der Ae­ro­pla­nen

Dan­ke

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Ihr Jür­gen Schul­ze

Science Fic­ti­on & Fan­ta­sy bei Null Pa­pier

Auf zwei Pla­ne­ten

Der Herr der Welt

Der Brand der Che­ops­py­ra­mi­de

Die Macht der Drei

Be­fehl aus dem Dun­kel

Die Spur des Dschin­gis-Khan

Der ge­stoh­le­ne Ba­zil­lus

Der Krieg der Wel­ten

Der Un­sicht­ba­re

Die ers­ten Men­schen auf dem Mond

und wei­te­re …

1. Schlaflosigkeit

Ei­nes Nach­mit­tags ging Mr. Is­bis­ter, ein jun­ger Künst­ler, der in Bos­cast­le wohn­te, zur Eb­be­zeit von die­sem Ort nach der ma­le­ri­schen Bucht von Pen­tar­gen, weil er die Höh­len dort zu un­ter­su­chen wünsch­te. Halb­wegs den stei­len Pfad zum Strand von Pen­tar­gen hin­un­ter traf er plötz­lich auf einen Men­schen, der in der Stel­lung tie­fen Gra­mes un­ter ei­ner vor­sprin­gen­den Fels­mas­se saß. Die Hän­de hin­gen die­sem jun­gen Mann schlaff her­ab, sei­ne Au­gen wa­ren rot, er starr­te vor sich hin, und sein Ge­sicht war von Trä­nen nass.

Bei dem Geräusch von Is­bis­ters Schrit­ten blick­te er sich um. Bei­de Män­ner wa­ren aus der Fas­sung ge­bracht, Is­bis­ter am meis­ten, und um die Ver­le­gen­heit sei­ner un­will­kür­li­chen Pau­se zu über­win­den, be­merk­te er mit ei­ner Mie­ne rei­fer Über­zeu­gung, das Wet­ter sei heiß für die Jah­res­zeit.

»Sehr«, ant­wor­te­te der Frem­de kurz, zö­ger­te eine Se­kun­de und füg­te in farb­lo­sem Tone hin­zu: »Ich kann nicht schla­fen.«

Is­bis­ter blieb ab­rupt ste­hen. »Nein?« war al­les, was er sag­te, aber sei­ne Hal­tung ver­riet sei­nen hilf­rei­chen Im­puls.

»Es mag un­glaub­lich klin­gen«, sag­te der Frem­de, in­dem er müde Au­gen auf Is­bis­ters Ge­sicht wand­te und sei­nen Wor­ten mit ei­ner schlaf­fen Hand Nach­druck lieh, »aber ich habe kei­nen Schlaf, über­haupt kei­nen Schlaf, schon seit sechs Näch­ten.«

»Rat ein­ge­holt?«

»Ja. Schlech­ten Rat zum größ­ten Teil. Me­di­zi­nen. Mein Ner­ven­sys­tem … Sie sind für die meis­ten Leu­te ja recht schön und gut. Es ist schwer zu er­klä­ren. Ich wage nicht … ge­nü­gend star­ke Do­sen zu neh­men.«

»Das macht es schwie­rig«, sag­te Is­bis­ter.

Er stand hilf­los auf dem en­gen Pfad, in Ver­le­gen­heit, was er tun soll­te. Of­fen­bar woll­te der Frem­de re­den. Ein un­ter den Um­stän­den ziem­lich na­tür­li­cher Ge­dan­ke trieb ihn, das Ge­spräch in Gang zu hal­ten. »Ich sel­ber habe nie un­ter Schlaf­lo­sig­keit ge­lit­ten«, sag­te er im Ton der All­tags­plau­de­rei, »aber in den Fäl­len, die ich ge­kannt habe, ha­ben die Leu­te ge­wöhn­lich et­was ge­fun­den –«

»Ich wage nicht zu ex­pe­ri­men­tie­ren.«

Er sprach müde. Er mach­te eine Ges­te der Ab­wei­sung, und eine Zeit lang wa­ren bei­de Män­ner still.

»Be­we­gung?« reg­te Is­bis­ter ohne Ver­trau­en an, in­dem er von des an­de­ren elen­dem Ge­sicht auf den Tou­ris­ten­an­zug blick­te, den er trug.

»Das habe ich ver­sucht. Unklu­ger­wei­se, viel­leicht. Ich bin Tag für Tag der Küs­te ge­folgt – von New Quai her. Das hat zu der geis­ti­gen Er­mü­dung nur die der Mus­keln hin­zu­ge­fügt. Die Ur­sa­che die­ser Un­rast war Über­ar­bei­tung – Auf­re­gung. Ich hat­te et­was –«

Er hielt wie vor blo­ßer Er­mü­dung inne. Er rieb sich mit ei­ner ha­ge­ren Hand die Stirn. Er be­gann wie­der zu spre­chen, wie ei­ner, der mit sich sel­ber re­det.

»Ich bin ein ein­zel­ner Wolf, ein ein­sa­mer Mensch, der durch eine Welt wan­dert, an der er kei­nen Teil hat. Ich habe kei­ne Frau – kein Kind – wer spricht doch noch von den Kin­der­lo­sen als den to­ten Zwei­gen auf dem Baum des Le­bens? Ich habe kei­ne Frau, kein Kind – ich konn­te kei­ne Auf­ga­be fin­den, die ich zu er­fül­len hat­te. Nicht ein­mal einen Wunsch in mei­nem Her­zen. Eins nahm ich mir schließ­lich vor. – Ich sag­te, ich will dies tun, und um es zu tun, um die Träg­heit die­ses stump­fen Kör­pers zu über­win­den, nahm ich mei­ne Zuf­lucht zu Arz­nei­en! Ich weiß nicht, ob Sie füh­len, wie schwer und un­be­quem der Kör­per ist, wie sei­ne For­de­rung der Zeit vom Geist – der Zeit – des Le­bens er­bit­tert! Le­ben! Wir le­ben nur stoß­wei­se. Wir müs­sen es­sen, und dann kommt die stump­fe Selbst­ge­fäl­lig­keit der Ver­dau­ung – oder ihre Ge­reizt­heit. Wir müs­sen Luft schöp­fen, oder un­se­re Ge­dan­ken wer­den träg, stu­pid, sie lau­fen in Ab­grün­de und blin­de Gas­sen. Tau­send Ablen­kun­gen stei­gen drin­nen und drau­ßen auf, und dann kommt die Schläf­rig­keit und der Schlaf. Die Men­schen schei­nen für den Schlaf zu le­ben. Wie we­nig vom Tag des Men­schen ge­hört ihm – selbst im bes­ten Fal­le! Und dann kom­men die­se falschen Freun­de, die­se Taghel­fer, die Al­ka­loi­de, die die na­tür­li­che Er­mat­tung er­sti­cken und die Ruhe tö­ten – schwar­zer Kaf­fee, Ko­kain –«

»Ich ver­ste­he«, sag­te Is­bis­ter.

»Ich habe mei­ne Ar­beit ge­tan«, sag­te der schlaflo­se Mann mit kla­gen­dem Ton­fall.

»Und dies ist der Preis?«

»Ja.«

Eine klei­ne Zeit lang ver­harr­ten die bei­den schwei­gend.

»Sie kön­nen sich das Ver­lan­gen nach Ruhe, das ich füh­le, nicht vor­stel­len – einen Hun­ger und Durst. Seit sechs lan­gen Ta­gen, seit mei­ne Ar­beit ge­tan war, ist mein Geist ein Wir­bel ge­we­sen, rasch, un­auf­hör­lich, ohne von der Stel­le zu rücken, ein Gieß­bach von Ge­dan­ken, der nir­gends hin­führt, der sich schnell und ste­tig her­um­wir­belt –«

Er mach­te eine Pau­se. »Auf den Ab­grund zu.«

»Sie müs­sen schla­fen«, sag­te Is­bis­ter ent­schie­den und mit der Mie­ne, als habe er ein Mit­tel ent­deckt. »Auf je­den Fall müs­sen Sie schla­fen.«

»Mein Geist ist voll­kom­men klar. Er ist nie kla­rer ge­we­sen. Aber ich weiß, ich schie­ße auf den Wir­bel zu. Plötz­lich –«

»Ja?«

»Sie ha­ben Din­ge einen Wir­bel hin­un­ter­schie­ßen se­hen? Aus dem Licht des Ta­ges, aus die­ser fri­schen Welt der Ge­sund­heit – hin­un­ter –«

»Aber«, pro­tes­tier­te Is­bis­ter.

Der Frem­de streck­te eine Hand ge­gen ihn aus, und sei­ne Au­gen wa­ren wild, und sei­ne Stim­me plötz­lich stark. »Ich wer­de mich tö­ten. Wenn auf kei­ne an­de­re Art – am Fuße des dunklen Ab­hangs da, wo die grü­nen Wel­len sind, und wo sich die wei­ße Bran­dung hebt und senkt, und der klei­ne Was­ser­fa­den hin­ab­zit­tert. Da ist auf je­den Fall … Schlaf.«

»Das ist un­ver­nünf­tig«, sag­te Is­bis­ter, er­schreckt durch den hys­te­ri­schen Ge­fühls­aus­bruch des Men­schen. »Da sind Arz­nei­en im­mer noch bes­ser.«

»Auf je­den Fall gibt es mir Schlaf«, wie­der­hol­te der Frem­de, ohne auf ihn zu ach­ten.

Is­bis­ter blick­te ihn an und frag­te sich flüch­tig, ob wohl wirk­lich ir­gend­ei­ne kom­pli­zier­te Vor­se­hung sie an die­sem Nach­mit­tag zu­sam­men­ge­führt habe. »Das ist nicht so si­cher, wis­sen Sie«, be­merk­te er. »In Lul­worth Cove steht eine ähn­li­che Klip­pe – auf je­den Fall eben­so hoch – und da ist ein klei­nes Mäd­chen von oben bis un­ten hin­un­ter­ge­fal­len. Und lebt heu­te noch – ge­sund und mun­ter.«

»Aber die­se Fel­sen?«

»Da könn­te man eine kal­te Nacht hin­durch ziem­lich un­an­ge­nehm lie­gen, wenn ei­nem die zer­bro­che­nen Kno­chen knir­schen, so­bald man frös­telt, und kal­tes Was­ser über einen spritzt. Eh?«

Ihre Au­gen be­geg­ne­ten sich. »Tut mir leid, Ihre Idea­le zu zer­stö­ren«, sag­te Is­bis­ter mit ei­nem Ge­fühl ke­cken Glan­zes. »Aber ein Selbst­mord über die Klip­pe da (oder über ir­gend­ei­ne Klip­pe) – wahr­haf­tig – als Künst­ler –« Er lach­te. »Es ist so ver­dammt di­let­tan­tisch.«

»Aber das an­de­re«, sag­te der Schlaflo­se ge­reizt, »das an­de­re. Kein Mensch kann ge­sund blei­ben, wenn er Nacht für Nacht –«

»Sind Sie die­se Küs­te ent­lang ge­wan­dert?«

»Ja.«

»Das tö­rich­tes­te, was man tun kann. Ent­schul­di­gen Sie, dass ich das sage. Al­lein! Wie Sie sa­gen: Kör­per­er­mü­dung ist kein Mit­tel ge­gen Ge­hirn­er­mü­dung. Wer hat Ih­nen das ge­ra­ten? Kein Wun­der; Ge­hen! Und die­se Son­ne auf dem Kopf, Hit­ze, An­stren­gung, Ein­sam­keit, den gan­zen Tag lang, und dann, denk ich mir, ge­hen Sie zu Bett und ge­ben sich rech­te Mühe – eh?«

Is­bis­ter hielt inne und blick­te zwei­fel­haft auf den Lei­den­den.

»Se­hen Sie die­se Fel­sen an!« rief der Sit­zen­de mit ei­ner plötz­li­chen Kraft der Ges­te. »Se­hen Sie die See an, die da seit ewig ge­glänzt und ge­zit­tert hat! Se­hen Sie den wei­ßen Schaum da un­ter der großen Klip­pe ins Dun­kel stür­zen. Und dies blaue Ge­wöl­be, aus des­sen Kup­pel die blen­den­de Son­ne hin­un­ter­strahlt. Sie neh­men das hin. Sie freu­en sich dar­über. Es wärmt und stützt und er­götzt Sie. Und für mich –«

Er wand­te den Kopf und zeig­te ein ge­spens­ti­sches Ge­sicht, blut­un­ter­lau­fe­ne, blei­che Au­gen und blut­lo­se Lip­pen. Er sprach fast flüs­ternd. »Das ist das Kleid mei­nes Elends. Die gan­ze Welt … ist das Kleid mei­nes Elends.«

Is­bis­ter blick­te auf die gan­ze wil­de Schön­heit der son­nen­be­leuch­te­ten Klip­pen rings und zu­rück auf je­nes Ge­sicht der Verzweif­lung. Ei­nen Mo­ment schwieg er.

Er fuhr zu­sam­men und mach­te eine Ges­te un­ge­dul­di­ger Ab­wehr. »Sie sol­len eine Nacht schla­fen«, sag­te er, »und da se­hen Sie hier drau­ßen nicht mehr viel Elend. Neh­men Sie mein Wort drauf.«

Er war jetzt ganz si­cher, dass dies eine Be­geg­nung der Vor­se­hung war. Noch vor ei­ner hal­b­en Stun­de hat­te er sich furcht­bar ge­lang­weilt ge­fühlt. Hier war Be­schäf­ti­gung, an die nur zu den­ken, auf­rich­ti­ger Selbst­bei­fall war. Er er­griff als­bald Be­sitz. Ihm schi­en, das ers­te Be­dürf­nis die­ses er­schöpf­ten We­sens war Ge­sell­schaft. Er warf sich auf die steil ab­fal­len­de Wie­se ne­ben der reg­los sit­zen­den Ge­stalt hin und ent­fal­te­te als­bald eine schar­müt­zeln­de Li­nie von Ge­plau­der.

Sein Zu­hö­rer schi­en wie­der in Apa­thie ver­sun­ken zu sein; er starr­te fins­ter aufs Meer und sprach nur, wenn er Is­bis­ter auf di­rek­te Fra­gen ant­wor­te­te – und auch da nicht bei al­len. Aber er gab kein Zei­chen des Pro­tes­tes ge­gen die­se wohl­wol­len­de Un­ter­bre­chung sei­ner Verzweif­lung von sich.

Auf eine hilflo­se Art schi­en er so­gar dank­bar, und als dann Is­bis­ter, der fühl­te, dass sein Ge­spräch ohne die Hil­fe des an­dern an Kraft ver­lor, vor­schlug, den Ab­hang wie­der hin­auf­zu­stei­gen und nach Bos­cast­le zu­rück­zu­keh­ren, in­dem er die Aus­sicht nach Blacka­pit rühm­te, füg­te er sich ru­hig. Halb­wegs hin­auf, be­gann er mit sich selbst zu re­den und wand­te sei­nem Hel­fer un­ver­mu­tet ein ge­spens­ti­sches Ge­sicht zu. »Was kann nur los sein?« frag­te er, wäh­rend sei­ne ha­ge­re Hand il­lus­trier­te, »was kann nur los sein? Spinn, spinn, spinn, spinn. Es geht rund und rund, im­mer­fort rund und rund.«

Er stand still und be­schrieb mit der Hand Krei­se.

»Al­les in Ord­nung, al­ter Jun­ge«, sag­te Is­bis­ter mit der Mie­ne ei­nes al­ten Freun­des. »Pla­gen Sie sich nicht. Ver­trau­en Sie mir.«

Der Frem­de ließ den Kopf sin­ken und dreh­te sich wie­der um. Sie gin­gen hin­ter­ein­an­der den Kamm ent­lang, und dann zu der Land­zun­ge hin­ter Pen­al­ly, und im­mer ges­ti­ku­lier­te der Schlaflo­se von Zeit zu Zeit und sag­te frag­men­ta­ri­sche Din­ge über sein wir­beln­des Ge­hirn. Auf dem Vor­ge­bir­ge stan­den sie eine Zeit lang ne­ben der Bank, von der man in die schwar­zen Ge­heim­nis­se von Blacka­pit hin­abblickt, und dann setz­te er sich. Is­bis­ter hat­te sein Ge­spräch wie­der auf­ge­nom­men, so oft der Pfad breit ge­nug ge­we­sen war, dass sie ne­ben­ein­an­der ge­hen konn­ten. Er er­ging sich dar­über, wie schwie­rig es sei, Bos­cast­le Ha­fen bei schlech­tem Wet­ter zu neh­men, als sein Ge­fähr­te ihn plötz­lich und ganz un­ver­mit­telt von neu­em un­ter­brach.

»Mein Kopf ist nicht, wie er war«, sag­te er und ges­ti­ku­lier­te aus Man­gel an aus­drucks­vol­len Wor­ten. »Er ist nicht mehr, wie er war. Ich füh­le eine Art von Druck, ein Ge­wicht. Nein – kei­ne Schläf­rig­keit, woll­te Gott, das wäre es! Es ist wie ein Schat­ten, ein tiefer Schat­ten, der plötz­lich und schnell über et­was Ge­schäf­ti­ges fällt. Es spinnt und spinnt ins Dun­kel. Der Tu­mult der Ge­dan­ken, der Wirr­warr, der Wir­bel und Wir­bel! Ich kann es nicht aus­drücken. Ich kann kaum den Geist dar­auf kon­zen­trie­ren – nicht ste­tig ge­nug, um es Ih­nen zu sa­gen.«

Er hielt vor Schwä­che inne.

»Kei­ne Angst, al­ter Jun­ge«, sag­te Is­bis­ter. »Ich glau­be, ich kann es ver­ste­hen. Auf je­den Fall kommt es vor­läu­fig nicht sehr dar­auf an, ob Sie’s mir sa­gen kön­nen.«

Der Schlaflo­se drück­te sich die Fin­ger in die Au­gen und rieb sie. Is­bis­ter re­de­te eine Wei­le, wäh­rend die­ses Rei­ben fort­dau­er­te, und dann hat­te er einen neu­en Ge­dan­ken. »Kom­men Sie in mein Zim­mer hin­un­ter und ver­su­chen Sie eine Pfei­fe. Ich kann Ih­nen ein paar Skiz­zen von die­sem Blacka­pit zei­gen. Wenn Sie mö­gen?«

Der an­de­re stand ge­hor­sam auf und folg­te ihm den Ab­hang hin­un­ter.

Meh­re­re Male hör­te Is­bis­ter ihn stol­pern, als sie hin­un­ter­stie­gen, und sei­ne Be­we­gun­gen wa­ren lang­sam und zö­gernd. »Kom­men Sie mit hin­ein«, sag­te Is­bis­ter, »und pro­bie­ren Sie ein paar Zi­ga­ret­ten und die ge­seg­ne­te Gabe des Al­ko­hols. Wenn Sie Al­ko­hol trin­ken?«

Der Frem­de zö­ger­te an der Gar­ten­pfor­te. Er schi­en sich sei­ner Hand­lun­gen nicht mehr klar be­wusst zu sein. »Ich trin­ke nicht«, sag­te er lang­sam, als er den Gar­ten­pfad ent­lang ging, und nach ei­ner mo­men­ta­nen Pau­se wie­der­hol­te er geis­tes­ab­we­send: »Nein – ich trin­ke nicht. Es geht her­um. Spinn, geht es – spinn –«

Er stol­per­te auf der Schwel­le und trat in der Hal­tung ei­nes Men­schen, der nichts sieht, ins Zim­mer.

Dann setz­te er sich plötz­lich und schwer in den Lehn­stuhl, schi­en fast hin­ein­zu­fal­len. Er lehn­te sich mit der Stirn in den Hän­den nach vorn und wur­de re­gungs­los.

Dann gab er ein leich­tes Geräusch in der Keh­le von sich. Is­bis­ter ging mit der Ner­vo­si­tät ei­nes un­er­fah­re­nen Gast­ge­bers im Zim­mer um­her und ließ klei­ne Be­mer­kun­gen fal­len, die kaum ei­ner Ant­wort be­durf­ten. Er ging durchs Zim­mer zu sei­ner Map­pe, leg­te sie auf den Tisch und sah auf die Ka­min­uhr.

»Ich weiß nicht, ob Sie bei mir zu Nacht es­sen mö­gen«, sag­te er mit ei­ner noch nicht an­ge­zün­de­ten Zi­ga­ret­te in der Hand – sein Geist brü­te­te un­ru­hig über dem Plan, dem Frem­den heim­lich Chlo­ral bei­zu­brin­gen. »Nur kal­ter Ham­mel, wis­sen Sie, aber wun­der­voll frisch. Aus Wa­les. Und eine Pas­te­te, glau­be ich.« Er wie­der­hol­te dies nach ei­nem kur­z­en Schwei­gen.

Der Sit­zen­de gab kei­ne Ant­wort. Is­bis­ter un­ter­brach sich mit dem Streich­holz in der Hand und sah ihn an.

Die Stil­le dau­er­te fort. Das Streich­holz er­losch, die Zi­ga­ret­te wur­de un­an­ge­zün­det hin­ge­legt. Der Frem­de war auf je­den Fall sehr still. Is­bis­ter nahm die Map­pe auf, öff­ne­te sie, leg­te sie wie­der hin, zö­ger­te, schi­en spre­chen zu wol­len. »Vi­el­leicht«, flüs­ter­te er zwei­felnd. Er blick­te auf die Tür und wie­der auf die Ge­stalt zu­rück. Dann stahl er sich auf den Ze­hen­spit­zen aus dem Zim­mer, in­dem er bei je­dem vor­sich­ti­gen Schritt auf sei­nen Ge­fähr­ten blick­te.

Er schloss die Tür ge­räusch­los. Die Haus­tür stand of­fen, und er trat hin­aus und blieb da ste­hen, wo an der Ecke des Gar­ten­bee­tes der Ei­sen­hut stand. Von die­sem Punkt aus konn­te er durch das of­fe­ne Fens­ter den Frem­den se­hen, der still und dun­kel, mit dem Kopf auf der Hand, da­saß. Er hat­te sich nicht ge­rührt.

Eine An­zahl Kin­der, die die Stra­ße ent­lang gin­gen, blie­ben ste­hen und sa­hen den Künst­ler neu­gie­rig an. Ein Boots­mann tausch­te Höf­lich­kei­ten mit ihm aus. Er emp­fand, die­se um­sich­ti­ge Stel­lung und Hal­tung moch­te ei­gen­tüm­lich und un­er­klär­lich er­schei­nen. Wenn er rauch­te, wür­de es viel­leicht na­tür­li­cher er­schei­nen. Er zog die Pfei­fe und den Ta­baks­beu­tel aus der Ta­sche und füll­te die Pfei­fe lang­sam.

»Ich möch­te wis­sen« … sag­te er mit ei­ner kaum merk­li­chen Ein­bu­ße an Selbst­ge­fäl­lig­keit. »Auf je­den Fall muss man ihm eine Mög­lich­keit ge­ben.« Er zün­de­te sich an der Fuß­soh­le ein Streich­holz und mit ihm sei­ne Pfei­fe an.

Plötz­lich hör­te er sei­ne Wir­tin hin­ter sich, die mit sei­ner bren­nen­den Lam­pe aus der Kü­che kam. Er dreh­te sich um und ges­ti­ku­lier­te mit der Pfei­fe und brach­te sie an der Tür sei­nes Wohn­zim­mers zum Ste­hen. Er hat­te ei­ni­ge Mühe, die Si­tua­ti­on im Flüs­tern aus­ein­an­der­zu­set­zen, denn sie wuss­te nicht, dass er Be­such hat­te. Sie zog sich mit der Lam­pe zu­rück, im­mer noch, nach ih­rem We­sen zu ur­tei­len, ein we­nig my­sti­fi­ziert, und er trat wie­der in die Tür, leicht er­regt und we­ni­ger un­be­fan­gen.

Lan­ge, nach­dem er sei­ne Pfei­fe aus­ge­raucht hat­te, und als schon die Fle­der­mäu­se her­um­flo­gen, be­sieg­te sei­ne Neu­gier all die kom­pli­zier­ten Be­den­ken, und er stahl sich in sein dunkles Wohn­zim­mer zu­rück. Er blieb in der Tür ste­hen. Der Frem­de saß noch in der­sel­ben Hal­tung dun­kel vorm Fens­ter. Ab­ge­se­hen da­von, dass ein paar See­leu­te an Bord der klei­nen Schie­fer­trans­port­schif­fe im Ha­fen san­gen, war der Abend sehr still. Drau­ßen stan­den die Spit­zen des Ei­sen­huts und Del­phi­ni­ums reg­los und auf­recht vor dem Schat­ten des Hü­gels. Ir­gend et­was blitz­te in Is­bis­ters Geist auf; er fuhr zu­sam­men, lehn­te sich über den Tisch und lausch­te. Ein un­an­ge­neh­mer Ver­dacht wur­de stär­ker, wur­de Über­zeu­gung. Er­stau­nen fass­te ihn und wur­de zur – Angst!

Die sit­zen­de Ge­stalt gab kein Geräusch des At­mens von sich.

Er schlich lang­sam und ge­räusch­los um den Tisch und hielt zwei­mal inne, um zu lau­schen. Schließ­lich konn­te er die Hand auf den Rücken des Lehn­stuhls le­gen. Er bück­te sich, bis die bei­den Köp­fe mit den Ohren ne­ben­ein­an­der stan­den.

Dann bück­te er sich noch tiefer, um von un­ten her in das Ge­sicht sei­nes Be­su­chers zu bli­cken. Er fuhr hef­tig zu­sam­men und stieß einen Aus­ruf aus. Die Au­gen wa­ren lee­re wei­ße Fle­cken.

Er blick­te noch ein­mal hin und sah, dass sie of­fen, und dass die Pu­pil­len un­ter das Lid hin­auf­ge­rollt wa­ren. Er fürch­te­te sich plötz­lich. Von der Un­heim­lich­keit der Lage des Man­nes über­wäl­tigt, fass­te er ihn an der Schul­ter und schüt­tel­te ihn. »Schla­fen Sie?« sag­te er, und sei­ne Stim­me schnapp­te über; und noch­mals: »Schla­fen Sie?«

Sei­nen Geist er­griff die Über­zeu­gung, dass der Mann tot war. Er wur­de plötz­lich be­weg­lich und ge­räusch­voll, ging durchs Zim­mer und schell­te.

»Bit­te, brin­gen Sie so­fort Licht«, sag­te er im Gang. »Mit mei­nem Freund ist et­was nicht in Ord­nung.«

Dann kehr­te er zu der reg­lo­sen, sit­zen­den Ge­stalt zu­rück, fass­te die Schul­ter, schüt­tel­te sie und schrie. Das Zim­mer wur­de von gel­bem Licht über­flu­tet, als sei­ne er­staun­te Wir­tin mit der Lam­pe ein­trat. Sein Ge­sicht war weiß, als er sich ihr blin­zelnd zu­wand­te. »Ich muss so­fort einen Dok­tor ho­len«, sag­te er. »Es ist ent­we­der der Tod oder ein An­fall. Gibt es einen Dok­tor im Dorf? Wo ist ein Dok­tor zu fin­den?«

Es ist entweder der Tod oder ein Anfall

2. Scheintod

Der Zu­stand ka­ta­lep­ti­scher Starr­sucht, in den die­ser Frem­de ver­fal­len war, dau­er­te eine noch nie da­ge­we­se­ne Zeit, und dann ging er lang­sam in den schlaf­fen Zu­stand über, in eine lose Hal­tung, die an tie­fe Ruhe er­in­ner­te. Da erst konn­te man ihm die Au­gen schlie­ßen.

Aus dem Ho­tel wur­de er in das Ho­spi­tal von Bos­cast­le ge­schafft, und aus dem Ho­spi­tal ei­ni­ge Wo­chen dar­auf nach Lon­don. Aber noch wi­der­stand er je­dem Ver­such der Wie­der­be­le­bung. Nach ei­ni­ger Zeit wur­den die­se Ver­su­che aus Grün­den, die sich spä­ter zei­gen wer­den, nicht mehr fort­ge­setzt. Lan­ge lag er in je­nem selt­sa­men Zu­stand, reg­los und still – we­der tot noch le­ben­dig, son­dern gleich­sam in der Schwe­be, auf­ge­hängt zwi­schen dem Nichts und dem Da­sein. Sein Dun­kel war durch kei­nen Strahl des Ge­dan­kens oder der Emp­fin­dung ge­bro­chen, es war eine traum­lo­se Lee­re, ein un­ge­heu­rer Raum des Frie­dens. Der Tu­mult sei­nes Geis­tes war zu ei­ner un­ver­mit­tel­ten Kli­max des Schwei­gens ge­schwellt und ge­stie­gen. Wo war der Mann? Wo ist der Mensch, wenn die Be­sin­nungs­lo­sig­keit ihn fasst?

»Es ist, als sei es ges­tern ge­we­sen«, sag­te Is­bis­ter. »Ich weiß noch al­les, wie wenn es ges­tern ge­we­sen wäre – kla­rer viel­leicht, als wenn es ges­tern ge­we­sen wäre.«

Es war der Is­bis­ter des letz­ten Ka­pi­tels. Aber er war kein jun­ger Mann mehr. Das Haar, das braun und ein we­nig län­ger ge­we­sen war, als die ele­gan­te Mode er­for­der­te, war ei­sen­grau und kurz ge­scho­ren, und das Ge­sicht, das rosa und weiß ge­we­sen war, war le­der­braun und rot. Er trug einen spit­zen und grau­ge­spren­kel­ten Bart. Er sprach mit ei­nem ält­li­chen Herrn, der einen Som­mer­an­zug aus Dril­lich an­hat­te (der Som­mer die­ses Jah­res war un­ge­wöhn­lich heiß). Das war War­ming, ein Lon­do­ner An­walt und der nächs­te Ver­wand­te Gra­hams, des Frem­den, der in den Starr­krampf ge­fal­len war. Und die bei­den Män­ner stan­den Sei­te an Sei­te in ei­nem Hau­se in Lon­don und blick­ten auf sei­ne lie­gen­de Ge­stalt.

Es war eine gel­be Ge­stalt, die lose auf ei­nem Was­ser­bett lag und ein lan­ges Hemd trug, eine Ge­stalt mit ver­run­zel­tem Ge­sicht und lan­gem Stop­pel­bart, mit ha­ge­ren Glie­dern und lan­gen Nä­geln, und ihn um­gab ein Ge­häu­se aus dün­nem Glas. Die­ses Glas schi­en den Schlä­fer von der Rea­li­tät des Le­bens um ihn ab­zu­tren­nen, er war ein Ding für sich, eine selt­sa­me, iso­lier­te Anor­ma­li­tät. Die bei­den Män­ner stan­den nah am Glas und späh­ten hin­ein.

»Die Sa­che gab mir einen Stoß«, sag­te Is­bis­ter. »Ich spü­re noch jetzt ein son­der­ba­res über­rasch­tes Grau­en, wenn ich an sei­ne wei­ßen Au­gen den­ke. Sie wa­ren ganz weiß, wis­sen Sie, nach oben ge­dreht. Jetzt, da ich hier vor ihm ste­he, kommt mir all das ins Ge­dächt­nis zu­rück.«

»Ha­ben Sie ihn seit der Zeit nie ge­se­hen?« frag­te War­ming.

»Woll­te oft kom­men«, sag­te Is­bis­ter; »aber das Ge­schäft ist heut­zu­ta­ge eine zu ernst­haf­te Sa­che, als dass es viel Fe­ri­en zu ma­chen er­laub­te. Ich bin die meis­te Zeit in Ame­ri­ka ge­we­sen.«

»Wenn ich mich recht er­in­ne­re«, sag­te War­ming, »wa­ren Sie Künst­ler.«

»War. Und dann wur­de ich Ehe­mann. Ich sah sehr bald, dass es mit der Schwarz- und Weiß­kunst aus war – we­nigs­tens für einen mit­tel­mä­ßi­gen Künst­ler, und ging mit dem Fort­schritt wei­ter. Die Pla­ka­te auf den Klip­pen bei Do­ver sind von mei­nen Leu­ten.«

»Gute Pla­ka­te«, gab der An­walt zu, »ob­gleich es mir leid tat, sie da zu se­hen.«

»Hal­ten so lan­ge wie die Klip­pen, wenn’s sein muss«, rief Is­bis­ter mit Ge­nug­tu­ung aus. »Die Welt än­dert sich. Als er vor zwan­zig Jah­ren ein­sch­lief, saß ich da un­ten in Bos­cast­le mit ei­nem Kas­ten voll Was­ser­far­ben und ei­nem ed­len, alt­mo­di­schen Ehr­geiz. Ich er­war­te­te nicht, dass mei­ne Pig­men­te noch ein­mal die gan­ze eng­li­sche Küs­te von Lands End her­um bis wie­der zum Li­zard schmücken wür­den. Das Glück kommt oft zum Men­schen, wenn er nicht dar­an denkt.«

War­ming schi­en zu zwei­feln, ob dies ein Glück war. »Ich ver­fehl­te Sie nur ge­ra­de, wenn ich mich recht er­in­ne­re.«

»Sie ka­men mit dem Wa­gen zu­rück, der mich zum Ca­mel­ford-Bahn­hof ge­bracht hat­te. Es war kurz vor dem Ju­bi­lä­um, Vik­to­ri­as Ju­bi­lä­um, denn ich er­in­ne­re mich der Tri­bü­nen und Fah­nen in West­mins­ter und des Streits mit dem Kut­scher in Chel­sea.«

»Das Dia­mant­ju­bi­lä­um war es«, sag­te War­ming; »das zwei­te.«

»Ah ja! bei dem ei­gent­li­chen Ju­bi­lä­um – der Fünf­zig Jahrs-Ge­schich­te – war ich un­ten in Woo­key – als Jun­ge. All das hab’ ich ver­säum­t… Was für eine Auf­re­gung wir mit ihm hat­ten! Mei­ne Wir­tin woll­te ihn nicht ha­ben – woll­te ihn nicht blei­ben las­sen – er sah so wun­der­lich aus, als er starr war. Wir muss­ten ihn auf ei­nem Stuhl ins Ho­tel hin­auf­tra­gen. Und der Dok­tor in Bos­cast­le – es war nicht der jet­zi­ge Bur­sch’, son­dern der vor ihm – war bis fast zwei Uhr an der Ar­beit, und ich und der Wirt hiel­ten ihm die Lam­pen und so wei­ter.«

»Es war erst eine ka­ta­lep­ti­sche Starr­sucht, nicht wahr?«

»Steif! – wie man ihn auch bog, so blieb er. Man hät­te ihn auf den Kopf stel­len kön­nen, und er wäre da ge­blie­ben. Sol­che Steif­heit hab ich nie wie­der­ge­se­hen. Na­tür­lich ist dies« – er zeig­te mit ei­ner Be­we­gung des Kop­fes auf die lie­gen­de Ge­stalt – »ganz an­ders. Und na­tür­lich hat­te der klei­ne Dok­tor – wie hieß er gleich?«

»Smit­hers?«

»Ganz recht, Smit­hers – nach al­len Be­rich­ten voll­stän­dig un­recht, als er ver­such­te, ihn so schnell wie mög­lich zu we­cken. Was er al­les an­fing! Noch jetzt fühl ich mich ganz – uh! Senf, Schnupf­ta­bak, Na­deln. Und eins von den scheuß­li­chen klei­nen Din­gen – nicht Dy­na­mos –«

»In­duk­ti­ons­ap­pa­ra­ten.«

»Ja. Man konn­te sei­ne Mus­keln zu­cken und sprin­gen se­hen, und er wand sich um­her. Wir hat­ten ge­ra­de zwei fla­ckern­de Ker­zen, und all die Schat­ten zit­ter­ten, der klei­ne Dok­tor war ner­vös und auf­ge­regt, und er – wand sich auf die un­na­tür­lichs­ten Ar­ten, trotz sei­ner Starr­heit. Ah, ich habe noch lan­ge da­von ge­träumt.«

Pau­se.

»Es ist ein un­heim­li­cher Zu­stand«, sag­te War­ming.

»Es ist eine Art voll­stän­di­ger Ab­we­sen­heit«, sag­te Is­bis­ter. »Hier ist der Kör­per, leer. Tot kei­ne Spur und doch nicht le­ben­dig. Er ist wie ein lee­rer Stuhl, auf dem ›be­leg­t‹ steht. Kein Ge­fühl, kei­ne Ver­dau­ung, kein Herz­schlag, kei­ne Zu­ckung. Das gibt mir nicht das Ge­fühl, wie wenn ein Mensch an­we­send wäre. In ge­wis­sem Sinn ist er voll­stän­di­ger tot als der Tod sel­ber, denn die Dok­to­ren sa­gen mir, selbst das Haar habe zu wach­sen auf­ge­hört. Aber bei den rich­ti­gen To­ten wächst das Haar wei­ter fort –«

»Ich weiß«, sag­te War­ming mit ei­nem Blitz des Schmer­zes in sei­nem Aus­druck.

Sie blick­ten wie­der durch das Glas. Gra­ham war frei­lich in ei­nem selt­sa­men Zu­stand, er lag in der schlaf­fen Pha­se ei­nes Starr­krampfs da, aber ei­nes in der Ge­schich­te der Me­di­zin un­er­hör­ten Starr­krampfs. Starr­krämp­fe hat­ten wohl schon bis zu ei­nem Jahr ge­dau­ert – aber nach der Zeit war ent­we­der das Er­wa­chen oder der Tod ein­ge­tre­ten; bis­wei­len erst das eine und dann das an­de­re. Is­bis­ter sah die Stel­len, wo der Arzt die Nah­rung inji­ziert hat­te, denn um die Ent­kräf­tung hin­aus­zu­schie­ben, hat­te man zu die­sem Aus­weg ge­grif­fen; er zeig­te sie War­ming, der ver­sucht hat­te, sie nicht zu se­hen.

»Und wäh­rend er hier ge­le­gen hat«, sag­te Is­bis­ter mit dem Wohl­ge­fühl ei­nes frei ver­brach­ten Le­bens, »habe ich mei­ne Le­ben­splä­ne ge­än­dert, ge­hei­ra­tet, eine Fa­mi­lie ge­grün­det, mein äl­tes­ter Jun­ge – da­mals hat­te ich noch nicht an­ge­fan­gen, an Söh­ne zu den­ken – ist ame­ri­ka­ni­scher Bür­ger und soll dem­nächst Har­vard ver­las­sen. In mei­nem Haar ist eine Spur von Grau. Und die­ser Mensch, kei­nen Tag äl­ter oder klü­ger (tat­säch­lich), als ich in mei­nen Flaum­ta­gen war. Es ist ein wun­der­li­cher Ge­dan­ke.«

War­ming dreh­te sich um. »Und ich bin auch alt ge­wor­den. Ich habe mit ihm Kricket ge­spielt, als ich ein Bursch war. Und er sieht trotz­dem jung aus. Gelb viel­leicht. Aber er ist trotz­dem ein jun­ger Mensch.«

»Und dann liegt der Krieg da­zwi­schen«, sag­te Is­bis­ter.

»Von An­fang bis zu Ende.«

»Und die­se Leu­te vom Mars.«

»Ich habe ge­hört«, sag­te Is­bis­ter nach ei­ner Pau­se, »er hat­te sel­ber ein be­schei­de­nes Ver­mö­gen?«

»Das ist rich­tig«, sag­te War­ming. Er hus­te­te ge­zwun­gen. »Zu­fäl­lig habe ich die Ver­wal­tung.«

»Ah!« Is­bis­ter dach­te nach, zö­ger­te und sprach: »Ohne Zwei­fel – sein Un­ter­halt hier ist nicht sehr teu­er – ohne Zwei­fel wird es sich auf­bes­sern – sich ver­meh­ren?«

»Das tut es. Wenn er auf­wacht – wenn er eben auf­wacht – wird er sich viel bes­ser ste­hen, als zur Zeit sei­nes Ein­schla­fens.«

»Als Ge­schäfts­mann«, sag­te Is­bis­ter, »hat mich der Ge­dan­ke na­tür­lich be­schäf­tigt. Ich habe so­gar bis­wei­len ge­meint, na­tür­lich kom­mer­zi­ell ge­spro­chen, die­ser Schlaf kön­ne für ihn eine sehr gute Sa­che sein. Er wird wis­sen, wor­an er ist, so­zu­sa­gen, dass er so lan­ge be­sin­nungs­los bleibt. Wenn er ru­hig wei­ter ge­lebt hät­te –«

»Ich zweifle, ob er sich das über­legt hät­te«, sag­te War­ming. »Er war kein weit­sich­ti­ger Mann. Kurz –«

»Ja?«

»Wir wa­ren da ver­schie­de­ner An­sicht. Ich ver­trat ihm ge­gen­über ein we­nig die Stel­le des Vor­munds. Sie ha­ben wahr­schein­lich ge­nug von der Welt ge­se­hen, um an­zu­er­ken­nen, dass ge­le­gent­lich eine ge­wis­se Rei­bung – Aber selbst wenn das der Fall wäre, so ist es zwei­fel­haft, ob er je er­wa­chen wird. Die­ser Schlaf er­schöpft lang­sam, aber er er­schöpft. Of­fen­bar glei­tet er lang­sam, sehr lang­sam und läs­sig einen lan­gen Hang hin­un­ter, wenn Sie mich ver­ste­hen?«

»Es wäre scha­de, wenn man um sei­ne Über­ra­schung käme. In die­sen zwan­zig Jah­ren hat sich eine Men­ge ver­än­dert. Es wäre, als wür­de das Mär­chen von Rip Van Winkle zur Wirk­lich­keit.«

»Es wäre Bel­la­my«, sag­te War­ming. »Si­cher­lich hat sich eine Men­ge ver­än­dert. Und un­ter an­de­rem habe ich mich ver­än­dert. Ich bin ein al­ter Mann.«

Is­bis­ter zö­ger­te und spiel­te dann ein nach­träg­li­ches Er­stau­nen. »Das hät­te ich nicht ge­dacht.«

»Ich war drei­und­vier­zig, als sein Ban­kier – Sie wis­sen, Sie te­le­gra­fier­ten an sei­nen Ban­kier – zu mir schick­te.«

»Ich fand sei­ne Adres­se in dem Scheck­buch in sei­ner Ta­sche«, sag­te Is­bis­ter.

»Nun, die Ad­di­ti­on ist nicht schwie­rig«, sag­te War­ming.

Es folg­te wie­der eine Pau­se, und dann gab Is­bis­ter ei­ner un­ver­meid­li­chen Neu­gier nach. »Er kann noch Jah­re so lie­gen blei­ben«, sag­te er und zö­ger­te einen Mo­ment. »Das ha­ben wir zu be­den­ken. Sie wis­sen, sei­ne An­ge­le­gen­hei­ten kön­nen ei­nes Ta­ges in die Hän­de von – von je­mand an­ders fal­len, wis­sen Sie.«

»Das, wenn Sie mir glau­ben wol­len, Mr. Is­bis­ter, ist eins von den Pro­ble­men, die mir be­stän­dig vor Au­gen ste­hen. Wir sind – tat­säch­lich exis­tie­ren kei­ne sehr ver­trau­ens­wür­di­gen Ver­wand­ten von uns mehr. Es ist eine gro­tes­ke und un­er­hör­te Lage.«

»Das ist es«, sag­te Is­bis­ter. »Es ist wirk­lich ein Fall für einen öf­fent­li­chen Be­trau­ten, wenn wir nur einen sol­chen Be­am­ten hät­ten.«

»Mir scheint, es ist ein Fall für eine öf­fent­li­che Kör­per­schaft, für einen prak­tisch un­s­terb­li­chen Ver­wal­ter. Wenn er wirk­lich wei­ter­le­ben soll­te – wie die Dok­to­ren, ei­ni­ge von ih­nen, glau­ben. Ich bin auch tat­säch­lich schon da­mit an ein oder zwei Leu­te der Öf­fent­lich­keit her­an­ge­tre­ten. Aber bis­lang ist nichts ge­sche­hen.«

»Es wäre kein schlech­ter Ge­dan­ke, ihn ei­ner öf­fent­li­chen Kör­per­schaft zu über­ge­ben – der Ver­wal­tung des Bri­ti­schen Mu­se­ums oder dem kö­nig­li­chen Ärz­te­kol­le­gi­um. Klingt na­tür­lich et­was wun­der­lich, aber der gan­ze Fall ist wun­der­lich.«

»Die Schwie­rig­keit ist die, sie zu ver­an­las­sen, dass sie ihn neh­men.«

»Be­am­ten­zopf, ver­mut­lich?«

»Zum Teil.«

Pau­se. »Es ist auf je­den Fall eine son­der­ba­re Ge­schich­te«, sag­te Is­bis­ter. »Und Zin­ses­zin­sen ha­ben eine Art, in die Höhe zu lau­fen!«

»Ja«, sag­te War­ming. »Und jetzt, wo die Gold­zu­fuhr aus­geht, ist die Ten­denz stei­gend … Preis­er­hö­hung.«

»Das hab ich füh­len müs­sen«, sag­te Is­bis­ter mit ei­ner Gri­mas­se. »Aber für ih­n wird es da­durch nur bes­ser.«

»Wenn er er­wacht.«

»Wenn er er­wacht«, echo­te Is­bis­ter. »Se­hen Sie, wie ein­ge­knif­fen sei­ne Nase aus­sieht, und wie son­der­bar sei­ne Au­gen­li­der zu­ge­fal­len sind?«

War­ming blick­te eine Zeit lang hin und sann. »Ich zweifle, ob er auf­wa­chen wird«, sag­te er schließ­lich.

»Ich habe nie recht ver­stan­den«, sag­te Is­bis­ter, »wel­che Ur­sa­che dies ei­gent­lich her­bei­ge­führt hat. Er sag­te mir et­was von Über­ar­bei­tung. Ich habe mich oft ge­wun­dert.«

»Er war ein Mensch von be­deu­ten­den Ga­ben, aber ner­vös, von Ge­füh­len ab­hän­gig. Er hat­te schwe­ren, häus­li­chen Kum­mer, ließ sich von sei­ner Frau schei­den, und ich glau­be, um sich da­von zu er­ho­len, be­gann er Po­li­tik von der wil­des­ten Art zu trei­ben. Er war ein fa­na­ti­scher Ra­di­ka­ler – So­zia­list – oder, wie sie sich zu nen­nen pfleg­ten, ein ty­pi­scher Li­be­ra­ler von der Fort­schritts­schu­le. Ener­gisch – fan­tas­tisch – un­dis­zi­pli­niert. Über­ar­bei­tung in ei­ner Streit­sa­che hat­te die­se Fol­gen. Ich er­in­ne­re mich sei­ner Bro­schü­re noch – eine merk­wür­di­ge Pro­duk­ti­on. Wil­des, wir­beln­des Zeug. Ein oder zwei Pro­phe­zei­un­gen stan­den drin. Ei­ni­ges da­von ist schon ex­plo­diert, an­de­res ist an­er­kann­te Tat­sa­che. Aber meist, wenn man sol­che Sät­ze liest, fühlt man, wie voll die Welt von un­ge­ahn­ten Din­gen ist. Er wird viel zu ler­nen ha­ben, wenn er er­wacht, viel zu ver­ler­nen. Wenn ein Er­wa­chen je­mals kommt.«

»Ich wür­de al­les dar­um ge­ben, wenn ich da­bei sein könn­te«, sag­te Is­bis­ter, »nur um zu hö­ren, was er zu all dem sa­gen wür­de.«

»Ich auch«, sag­te War­ming. »Ah ja, ich auch«, mit der plötz­li­chen Wen­dung des al­ten Man­nes zum Selbst­mit­leid. »Aber ich wer­de ihn nie er­wa­chen se­hen.«

Er stand da und blick­te nach­denk­lich auf die wäch­ser­ne Ge­stalt. »Er wird nie er­wa­chen«, sag­te er schließ­lich. Er seufz­te. »Er wird nie wie­der auf­wa­chen.«

3. Das Erwachen

Aber dar­in hat­te War­ming un­recht. Es kam ein Er­wa­chen.

Was für ein wun­der­bar kom­pli­zier­tes We­sen! Die­se ein­fach schei­nen­de Ein­heit – das Selbst! Wer kann sei­ne Nach­bil­dung ver­fol­gen, wie wir Mor­gen für Mor­gen er­wa­chen, den Fluss und Zu­sam­men­strom sei­ner zahl­lo­sen Fak­to­ren, die sich ver­schlin­gen und wie­der auf­bau­en, die dunklen, ers­ten Re­gun­gen der See­le, das Wachs­tum und die Syn­the­se des Un­be­wuss­ten zum Un­ter­be­wuss­ten, des Un­ter­be­wuss­ten zur däm­mern­den Be­wusst­heit, bis wir uns schließ­lich sel­ber wie­der­er­ken­nen. Und wie es den meis­ten von uns nach dem Schlaf der Nacht geht, so war es mit Gra­ham am Schluss sei­nes un­ge­heu­ren Schla­fes. Eine dunkle Wol­ke der Emp­fin­dung, die Ge­stalt an­nahm, eine wol­ki­ge Öde, und er fühl­te sich un­be­stimmt ir­gend­wo, wo er lag, schwach, aber le­ben­dig.

Die Pil­ger­fahrt zu ei­nem per­sön­li­chen Sein schi­en durch un­ge­heu­re Ab­grün­de zu ge­hen, Epo­chen zu dau­ern. Gi­gan­ti­sche Träu­me, die zu der Zeit furcht­ba­re Wirk­lich­kei­ten wa­ren, hin­ter­lie­ßen un­be­stimm­te, ver­wir­ren­de Erin­ne­run­gen selt­sa­mer Ge­schöp­fe, selt­sa­mer Land­schaft, wie von ei­nem an­dern Pla­ne­ten. Auch ein deut­li­cher Ein­druck von ei­ner ge­wich­ti­gen Un­ter­hal­tung war vor­han­den, von ei­nem Na­men – er konn­te nicht sa­gen, von wel­chem Na­men – der spä­ter wie­der auf­tau­chen soll­te, von ei­ner wun­der­li­chen, lang ver­ges­se­nen Emp­fin­dung der Adern und Mus­keln, von ei­nem Ge­fühl rie­si­ger, hoff­nungs­lo­ser An­stren­gung, der An­stren­gung ei­nes Men­schen, der im Dun­keln na­he­zu er­trinkt. Dann kam ein Pa­n­ora­ma von blen­den­den, un­sta­bi­len, ver­schwim­men­den Sze­nen.

Das Erwachen

Gra­ham merk­te, dass sei­ne Au­gen of­fen wa­ren und et­was Un­ge­wohn­tes an­sa­hen.

Es war et­was Wei­ßes, ir­gend­ein Rand, ein Holz­rah­men. Er be­weg­te den Kopf ein we­nig, in­dem er dem Um­riss die­ses Ge­gen­stan­des folg­te. Er ging über den Be­reich sei­ner Au­gen hin­aus. Er ver­such­te nach­zu­den­ken, wo er sein moch­te. Kam es dar­auf an, wo er so elend war? Die Far­be sei­ner Ge­dan­ken war die düs­te­rer De­pres­si­on. Er fühl­te das aus­drucks­lo­se Elend des­sen, der ge­gen die Stun­de der Däm­me­rung auf­wacht. Er hat­te die un­be­stimm­te Emp­fin­dung, dass Ge­flüs­ter und Schrit­te sich rasch ent­fern­ten.

Die Be­we­gung sei­nes Kop­fes deu­te­te auf das Be­wusst­sein äu­ße­rer phy­si­scher Schwä­che. Er nahm an, er lie­ge im Bett des Ho­tels in dem Ort im Tal – aber er konn­te sich nicht auf den wei­ßen Rand be­sin­nen. Er muss­te ge­schla­fen ha­ben. Er er­in­ner­te sich jetzt, dass er hat­te schla­fen wol­len. Er ent­sann sich wie­der der Klip­pe und des Was­ser­falls, und dann be­sann er sich auf et­was wie ein Ge­spräch mit ei­nem Vor­über­ge­hen­den …

Wie lan­ge hat­te er ge­schla­fen? Was war das für ein Geräusch von klap­pern­den Fü­ßen? Und dies Stei­gen und Fal­len, wie das Mur­meln bre­chen­der Wel­len und Kie­sel? Er streck­te sei­ne mat­te Hand aus, um sei­ne Uhr von dem Stuhl zu neh­men, auf den es sei­ne Ge­wohn­heit ge­we­sen war, sie zu le­gen, und er be­rühr­te eine glat­te har­te Ober­flä­che, et­was wie Glas. Das war so un­er­war­tet, dass es ihn au­ßer­or­dent­lich er­schreck­te. Ganz plötz­lich wälz­te er sich her­um, starr­te einen Mo­ment um sich und ar­bei­te­te sich dann in eine sit­zen­de Stel­lung em­por. Die An­stren­gung war un­er­war­tet schwer, und er war schwind­lig und schwach – und ver­blüfft.

Er rieb sich die Au­gen. Das Rät­sel sei­ner Um­ge­bung war ver­wir­rend, aber sein Geist war ganz klar – of­fen­bar hat­te sein Schlaf ihm wohl­ge­tan. Er lag über­haupt in kei­nem Bett, wie er das Wort ver­stand, son­dern er lag nackt auf ei­ner sehr wei­chen und nach­gie­bi­gen Ma­trat­ze in ei­ner Mul­de aus dunklem Glas. Die Ma­trat­ze war zum Teil durch­sich­tig, eine Tat­sa­che, die er mit ei­nem selt­sa­men Ge­fühl der Un­si­cher­heit be­ob­ach­te­te, und dar­un­ter lag ein Spie­gel, der ihn grau zu­rück­warf. Um sei­nen Arm – und er sah mit ei­nem Schreck, dass sei­ne Haut selt­sam tro­cken und gelb war – war ein merk­wür­di­ger Gum­mi­ap­pa­rat ge­bun­den, so kunst­voll ge­bun­den, dass er oben und un­ten in die Haut über­zu­ge­hen schi­en. Und die­ses selt­sa­me Bett lag in ei­nem Ge­häu­se aus grün­lich ge­färb­tem Glas (wie ihm schi­en), zu des­sen weißem Rah­men­werk die Leis­te ge­hör­te, die zu­erst sei­ne Auf­merk­sam­keit ge­fes­selt hat­te. Im Win­kel des Ge­häu­ses stand ein Stän­der mit glit­zern­den und fein ge­ar­bei­te­ten Ap­pa­ra­ten, zum größ­ten Teil ihm ganz fremd­ar­ti­gen Er­fin­dun­gen, ob­gleich er ein Ma­xi­mal- und Mi­ni­malt­her­mo­me­ter er­kann­te.

Der leicht grün­li­che Ton der glas­ar­ti­gen Sub­stanz, die ihn auf al­len Sei­ten um­gab, ver­dun­kel­te, was da­hin­ter lag, aber er sah, dass es ein rie­si­ges Ge­mach von pracht­vol­ler Archi­tek­tur war, das ihm ge­gen­über einen sehr großen und ein­fa­chen wei­ßen Bo­gen­durch­gang zeig­te. Nah an den Wän­den sei­nes Kä­figs stan­den Ein­rich­tungs­ge­gen­stän­de, ein mit ei­nem silb­ri­gen Tuch ge­deck­ter Tisch – silb­rig wie die Sei­te ei­nes Fi­sches, ein Paar an­mu­ti­ger Stüh­le, und auf dem Tisch eine An­zahl von Schüs­seln, auf de­nen al­ler­lei lag, eine Fla­sche und zwei Glä­ser. Er wur­de sich be­wusst, dass er in­ten­si­ven Hun­ger hat­te.

Er konn­te kein mensch­li­ches We­sen se­hen, und nach ei­ner Zeit des Zö­gerns klet­ter­te er von der durch­schei­nen­den Ma­trat­ze her­un­ter und ver­such­te auf dem sau­be­ren, wei­ßen Bo­den sei­nes klei­nen Ge­ma­ches zu ste­hen. Er hat­te sich je­doch mit sei­ner Kraft ver­rech­net, stol­per­te und streck­te die Hand nach ei­ner glas­ar­ti­gen Schei­be aus, um sich zu stüt­zen. Ei­nen Mo­ment wi­der­stand sie sei­ner Hand, in­dem sie sich wie eine auf­ge­bla­se­ne Bla­se nach au­ßen bog, dann zer­brach sie mit ei­nem lei­sen Knall und ver­schwand – wie eine an­ge­sto­che­ne Sei­fen­bla­se. Er tau­mel­te in den Raum der Hal­le hin­aus. Er war sehr er­staunt. Er griff nach dem Tisch, um sich zu hal­ten und warf da­bei eins der Glä­ser zu Bo­den – es klang, zer­brach aber nicht. Dann setz­te er sich in einen der Ses­sel.

Als er sich ein we­nig er­holt hat­te, füll­te er das an­de­re Glas aus der Fla­sche und trank – es war eine farb­lo­se Flüs­sig­keit, aber kein Was­ser – von an­ge­neh­mem, leich­tem Aro­ma und Ge­schmack und un­mit­tel­bar kräf­ti­gend und an­re­gend. Er setz­te das Ge­fäß hin und blick­te sich um.

Das Ge­mach ver­lor nichts an Grö­ße und Pracht, jetzt, wo der grü­ne, durch­schei­nen­de Stoff, der da­zwi­schen ge­le­gen hat­te, be­sei­tigt war. Der Bo­gen, den er sah, führ­te zu ei­ner Trep­pen­flucht, die ohne tren­nen­de Tür zu ei­nem ge­räu­mi­gen Qu­er­gang hin­ab­führ­te. Die­ser Gang lief zwi­schen po­lier­ten Pfei­lern aus ei­ner weiß­ge­äder­ten, tief ul­tra­ma­rin­blau­en Sub­stanz hin und von dort drang der Schall mensch­li­cher Be­we­gun­gen und Stim­men, und ein tiefer, un­abläs­si­ger, sum­men­der Ton her­auf. Er saß jetzt völ­lig wach da und lausch­te auf­merk­sam; er ver­gaß in sei­ner Span­nung die Spei­sen.

Dann be­sann er sich mit ei­nem Schreck, dass er nackt war, und als er sich nach ei­ner Be­de­ckung um­blick­te, sah er ein lan­ges, schwar­zes Ge­wand, das auf einen der Stüh­le ne­ben ihm ge­wor­fen war. Das hüll­te er um sich und setz­te sich zit­ternd wie­der nie­der.

Sein Geist war noch im­mer eine wo­gen­de Ver­wir­rung. Of­fen­bar hat­te er ge­schla­fen und war in sei­nem Schlaf an­ders­wo­hin ge­bracht wor­den. Aber wo­hin? Und wer wa­ren die­se Men­schen, die fer­ne Men­ge hin­ter den tief­blau­en Pfei­lern? Bos­cast­le? Er schenk­te sich ein zwei­tes Glas von der farb­lo­sen Flüs­sig­keit ein und trank es halb aus.

Was für ein Ort war dies? Die­ser Ort, der sei­nen Sin­nen so fein wie ein le­ben­dig Ding zu be­ben schi­en? Er blick­te um sich auf die sau­be­re und schö­ne Form des Ge­machs, das durch kei­nen Zier­rat be­fleckt wur­de, und sah, dass das Dach an ei­ner Stel­le von ei­nem kreis­run­den Schacht vol­ler Licht durch­bro­chen wur­de, und wäh­rend er hin­sah, kam ein ste­ti­ger, flie­gen­der Schat­ten und lösch­te es aus und ver­schwand, und kam wie­der und ver­schwand wie­der. »Schlag, Schlag;« die­ser Schat­ten hat­te in dem ge­dämpf­ten Tu­mult, der die Luft er­füll­te, einen ei­ge­nen Ton.

Er woll­te ru­fen, aber sei­ner Keh­le ent­rang sich nur ein lei­ser Ton. Dann stand er auf, und mit den un­si­che­ren Schrit­ten ei­nes Be­trun­ke­nen ging er auf das Bo­gen­tor zu. Er stol­per­te die Stu­fen hin­un­ter, trat auf einen der Zip­fel des schwar­zen Man­tels, den er um sich ge­schlun­gen hat­te, und hielt sich auf­recht, in­dem er nach ei­nem der blau­en Pfei­ler griff.

Der Gang lief an ei­ner küh­len Hal­le aus Blau und Pur­pur hin und en­de­te fern in ei­nem wie ein Bal­kon um­frie­dig­ten Raum, der hell er­leuch­tet war und in einen Raum des Ne­bels vor­sprang, einen Raum, der dem In­ne­ren ei­nes gi­gan­ti­schen Bau­es glich. Da­hin­ter und in der Fer­ne sah er rie­si­ge und un­be­stimm­te Archi­tek­tur­for­men. Der Tu­mult der Stim­men stieg jetzt laut und klar her­auf, und auf dem Bal­kon stan­den, den Rücken ihm zu­ge­kehrt, ges­ti­ku­lie­rend und of­fen­bar in leb­haf­ter Un­ter­hal­tung, drei reich in lose und leich­te Ge­wän­der von hel­len, wei­chen Far­ben ge­klei­de­te Ge­stal­ten. Der Lärm ei­ner großen Volks­men­ge ström­te über den Bal­kon her­auf, und ein­mal schi­en es, als zie­he die Spit­ze ei­nes Ban­ners vor­über und ein­mal blitz­te ein hell­far­be­ner Ge­gen­stand, viel­leicht eine in die Luft ge­wor­fe­ne blass­blaue Müt­ze oder ein Ge­wand quer über den of­fe­nen Raum und fiel wie­der nie­der. Die Rufe klan­gen wie Eng­lisch: das Wort »Er­wa­che!« kam häu­fig vor. Er hör­te einen un­deut­li­chen schril­len Schrei, und plötz­lich be­gan­nen die­se drei Män­ner zu la­chen.

»Ha, ha, ha!« lach­te ei­ner – ein rot­haa­ri­ger Mensch in ei­nem kur­z­en Pur­pur­ge­wand. »Wenn der Schlä­fer er­wacht – Wenn!«

Er wand­te die Au­gen la­chend den Gang ent­lang. Sein Ge­sicht ver­wan­del­te sich, der gan­ze Mensch ver­wan­del­te sich, wur­de starr. Die bei­den an­de­ren wand­ten sich auf sei­nen Aus­ruf rasch um und stan­den reg­los da. Ihre Ge­sich­ter nah­men den Aus­druck der Be­stür­zung an, einen Aus­druck, der sich bis zur Scheu ver­tief­te.

Plötz­lich knick­ten Gra­hams Knie un­ter ihm zu­sam­men, sein ge­gen den Pfei­ler ge­lehn­ter Arm sank schlaff her­ab, er tau­mel­te vor­wärts und fiel aufs Ge­sicht.

4. Der Lärm eines Aufruhrs

Gra­hams letz­ter Ein­druck, ehe er ohn­mäch­tig wur­de, war der ei­nes lär­men­den Glo­cken­läu­tens. Er er­fuhr spä­ter, dass er den grö­ße­ren Teil ei­ner Stun­de be­sin­nungs­los zwi­schen Tod und Le­ben hing. Als er zu Sin­nen kam, lag er wie­der auf sei­nem durch­schei­nen­den La­ger, und er fühl­te in Herz und Keh­le eine be­le­ben­de Wär­me. Der dunkle Ap­pa­rat an sei­nem Arm war, wie er sah, ab­ge­nom­men und durch einen Ver­band er­setzt. Das wei­ße Rah­men­werk um­gab ihn noch, aber die grün­li­che, durch­sich­ti­ge Sub­stanz, die es ge­füllt hat­te, war fort. Ein Mann in ei­nem tief vio­let­ten Ge­wand, ei­ner von de­nen, die auf dem Bal­kon ge­stan­den hat­ten, blick­te ihm scharf ins Ge­sicht.

Fern aber be­harr­lich hör­te er ein Glo­cken­läu­ten und wir­re Töne, die in sei­nem Geist das Bild ei­ner großen An­zahl durch­ein­an­der­schrei­en­der Leu­te weck­ten. Ir­gend et­was schi­en sich über die­sen Aufruhr zu sen­ken, eine Tür schloss sich plötz­lich.

Gra­ham be­weg­te den Kopf. »Was be­deu­tet dies al­les?« sag­te er lang­sam. »Wo bin ich?«

Er sah den rot­haa­ri­gen Men­schen, der ihn zu­erst ent­deckt hat­te. Es schi­en, als frag­te eine Stim­me, was er ge­sagt habe, und dann wur­de sie plötz­lich zum Schwei­gen ge­bracht.

Der Mann in Vio­lett ant­wor­te­te, in­dem er das Eng­li­sche mit ei­nem leich­ten aus­län­di­schen Ak­zent sprach – oder we­nigs­tens schi­en es den Ohren des Schlä­fers so –: »Sie sind ganz si­cher. Sie sind von da aus, wo Sie ein­sch­lie­fen, hier­her­ge­bracht. Sie sind ganz si­cher. Sie ha­ben ei­ni­ge Zeit hier ge­le­gen – ge­schla­fen. In ei­nem Starr­krampf.«

Er sag­te noch et­was, was Gra­ham nicht hö­ren konn­te, und ihm wur­de eine klei­ne Phio­le ge­reicht. Gra­ham fühl­te küh­len­de Trop­fen, ein duf­ti­ger Ne­bel spiel­te ihm einen Mo­ment über die Stirn, und das Ge­fühl der Er­fri­schung wuchs. Er schloss be­frie­digt die Au­gen.

»Bes­ser?« frag­te der Mann in Vio­lett, als Gra­ham die Au­gen wie­der auf­schlug. Es war ein Mann von drei­ßig Jah­ren, mit hei­te­rem Ge­sicht, spit­zem Flachs­bart und ei­ner gol­de­nen Schnal­le am Hals sei­nes vio­let­ten Ge­wan­des.

»Ja«, sag­te Gra­ham.

»Sie ha­ben ei­ni­ge Zeit ge­schla­fen. In ei­nem ka­ta­lep­ti­schen Starr­krampf. Sie ha­ben da­von ge­hört? Ka­ta­lep­sie? Es mag Ih­nen zu­erst selt­sam er­schei­nen, aber ich kann Sie ver­si­chern, dass al­les gut ist.«

Gra­ham ant­wor­te­te nicht, aber die­se Wor­te er­füll­ten ih­ren be­ru­hi­gen­den Zweck. Sei­ne Au­gen schweif­ten von Ge­sicht zu Ge­sicht über die drei Män­ner, die ihn um­ga­ben. Sie sa­hen ihn son­der­bar an. Er wuss­te, er soll­te ir­gend­wo in Corn­wall sein, aber er konn­te all dies nicht da­mit in Ein­klang brin­gen.

Et­was, was ihm wäh­rend sei­ner letz­ten wa­chen Mo­men­te in Bos­cast­le im Sinn ge­le­gen hat­te, fiel ihm wie­der ein, et­was, was er be­schlos­sen aber ir­gend­wie ver­nach­läs­sigt hat­te. Er räus­per­te sich.

»Ha­ben Sie mei­nem Vet­ter ge­drah­tet?« frag­te er. »E. War­ming, 27, Chan­ce­ry Lane.«

Sie müh­ten sich alle, ihn zu ver­ste­hen. Aber er muss­te es wie­der­ho­len. »Was für ein ko­mi­sches Zie­hen in sei­nem Ak­zent!« flüs­ter­te der Rot­haa­ri­ge. »Ge­drah­tet, Herr?« frag­te der jun­ge Mann mit dem Flachs­bart in of­fen­ba­rer Ver­le­gen­heit.

»Er meint, ein elek­tri­sches Te­le­gramm ge­schickt«, er­klär­te der drit­te, ein an­ge­neh­mer Jüng­ling von neun­zehn oder zwan­zig. Der Flachs­bär­ti­ge stieß einen Ruf des Ver­ste­hens aus. »Wie stu­pid von mir! Sie kön­nen si­cher sein, dass al­les ge­sche­hen soll, Sir«, sag­te er zu Gra­ham. »Ich fürch­te, es wäre schwie­rig, Ihrem Vet­ter zu – drah­ten. Er ist nicht mehr in Lon­don. Aber ma­chen Sie sich noch kei­ner­lei Sor­ge um ir­gend­wel­che Ar­ran­ge­ments; Sie ha­ben sehr lan­ge ge­schla­fen, und die Haupt­sa­che ist, dar­über fort­zu­kom­men, Sir.« (Gra­ham sag­te sich, er müs­se »Sir« ge­sagt ha­ben, aber die­ser Mann sprach das Wort wie »Sire« aus.)

»O!« sag­te Gra­ham und ver­stumm­te.

Es war al­les sehr rät­sel­haft, aber of­fen­bar wuss­ten die­se Leu­te in der un­ge­wohn­ten Klei­dung, wor­an sie wa­ren. Aber sehr son­der­bar wa­ren sie, und auch der Raum war son­der­bar. Es schi­en, er war in ei­nem neu er­rich­te­ten Ge­bäu­de. Ihm blitz­te ein plötz­li­cher Arg­wohn auf. Dies war doch nicht etwa eine öf­fent­li­che Aus­s­tel­lungs­hal­le? Wenn ja, woll­te er War­ming ein­mal sei­ne Mei­nung sa­gen. Aber da­nach sah sie kaum aus. Und an ei­nem öf­fent­li­chen Aus­s­tel­lungs­ort hät­te er nicht nackt ge­le­gen.

Dann plötz­lich, ganz un­ver­mit­telt, wur­de ihm klar, was ge­sche­hen war. Er mach­te kei­nen merk­li­chen Über­gang des Arg­wohns durch, kei­ne Däm­me­rung bis zu die­sem Wis­sen. Plötz­lich wuss­te er, dass die­ser Starr­krampf eine un­ge­heu­re Zeit ge­dau­ert hat­te; als hät­te er durch ge­hei­me Pro­zes­se des Ge­dan­ken­le­sens die Ehr­furcht in den Ge­sich­tern ge­deu­tet, die ihm in sei­nes blick­ten. Er blick­te sie selt­sam, voll in­ten­si­ver Er­re­gung an. Es schi­en, sie la­sen in sei­nen Au­gen. Er be­weg­te die Lip­pen zum Spre­chen und konn­te nicht. Ein wun­der­li­cher Im­puls, sein Wis­sen zu ver­ber­gen, trat fast im Mo­ment sei­ner Ent­de­ckung in sei­nen Geist. Er blick­te auf sei­ne nack­ten Füße und sah sie schwei­gend an. Sein Ver­lan­gen zu re­den ging vor­über. Er zit­ter­te stark.

Sie ga­ben ihm eine ro­si­ge Flüs­sig­keit mit grün­li­cher Fluo­res­zenz und von Fleisch­ge­schmack, und die Ge­wiss­heit zu­rück­keh­ren­der Kraft wuchs.

»Das – das macht mir bes­ser«, sag­te er hei­ser, und er hör­te Ge­mur­mel re­spekt­vol­len Bei­falls. Jetzt wuss­te er es ganz klar. Er müh­te sich noch ein­mal, zu spre­chen, und wie­der konn­te er nicht.

Er drück­te sich die Keh­le und ver­such­te ein drit­tes Mal. »Wie lan­ge?« frag­te er mit ru­hi­ger Stim­me. »Wie lan­ge habe ich ge­schla­fen?«

»Eine be­trächt­li­che Zeit«, sag­te der Flachs­bär­ti­ge und warf einen ra­schen Blick auf die an­de­ren.

»Wie lan­ge?«

»Eine sehr lan­ge Zeit.«

»Ja – ja«, sag­te Gra­ham plötz­lich ei­gen­sin­nig. »Aber ich will – sind es – sind es – ein paar Jah­re? Vie­le Jah­re? Da war et­was – ich weiß nicht mehr. Ich füh­le mich – wirr. Aber Sie –« Er schluchz­te. »Sie brau­chen nicht mit mir fech­ten. Wie lan­ge –?«

Er hielt un­re­gel­mä­ßig at­mend inne. Er press­te die Au­gen mit den Fin­gern und saß und war­te­te auf eine Ant­wort.

Sie spra­chen im Flüs­ter­ton.

»Fünf oder sechs?« frag­te er schwach. »Mehr?«

»Sehr viel mehr als das.«

»Mehr?«

»Mehr.«

Er sah sie an, und es war, als zuck­ten Fä­den in sei­nen Ge­sichts­mus­keln. Er blick­te sei­ne Fra­ge.

»Vie­le Jah­re«, sag­te der Mann mit dem ro­ten Bart.

Gra­ham ar­bei­te­te sich in sit­zen­de Stel­lung em­por. Er wisch­te sich mit ei­ner ha­ge­ren Hand eine nas­se Trä­ne aus dem Ge­sicht. »Vie­le Jah­re!« wie­der­hol­te er. Er schloss die Au­gen fest, öff­ne­te sie wie­der und saß da und blick­te von ei­nem un­ge­wohn­ten Ding aufs an­de­re.

»Wie vie­le Jah­re?«

»Sie müs­sen auf eine Über­ra­schung ge­fasst sein.«

»Ja?«

»Mehr als ein Gros Jah­re.«

Ihn reiz­te das frem­de Wort. »Mehr als ein was?«

Zwei von ih­nen spra­chen mit­ein­an­der. Ei­ni­ge schnel­le Be­mer­kun­gen, die über das »De­zi­mal­sys­tem« ge­macht wur­den, ver­stand er nicht.

»Wie lan­ge, sag­ten Sie?« frag­te Gra­ham. »Wie lan­ge? Bli­cken Sie nicht so. Sa­gen Sie es mir!«

Un­ter den Be­mer­kun­gen im Flüs­ter­ton fing sein Ohr fünf Wor­te auf: »Mehr als ein Paar Jahr­hun­der­te.«

»Was?« rief er und wand­te sich dem Jüng­ling zu, der, wie er mein­te, ge­spro­chen hat­te. »Wer sagt –? Was war das? Ein Paar Jahr­hun­der­te?«

»Ja«, sag­te der Rot­bär­ti­ge. »Zwei­hun­dert Jah­re.«

Gra­ham wie­der­hol­te die Wor­te. Er war dar­auf ge­fasst ge­we­sen, von ei­ner sehr lan­gen Ruhe zu hö­ren, und doch ent­nerv­ten ihn die­se kon­kre­ten Jahr­hun­der­te.

»Zwei­hun­dert Jah­re«, sag­te er noch ein­mal, und in sei­nem Geist öff­ne­te sich sehr lang­sam das Bild ei­nes großen Ab­grunds; und dann: »O, aber –!«

Sie sag­ten nichts.

»Sie – sag­ten Sie –?«

»Zwei­hun­dert Jah­re. Zwei Jahr­hun­der­te«, sag­te der Mann mit dem ro­ten Bart.

Es folg­te eine Pau­se. Gra­ham blick­te auf ihre Ge­sich­ter und sah, dass das, was er ge­hört hat­te, wirk­lich wahr sei.

»Aber es ist un­mög­lich«, sag­te er kla­gend. »Ich träu­me. Starr­krämp­fe. Starr­krämp­fe dau­ern nicht. Das ist nicht recht – dies ist ein Scherz, den Sie mit mir trei­ben! Sa­gen Sie mir – – noch vor viel­leicht ein paar Ta­gen ging ich an der Küs­te von Corn­wall ent­lang –«

Ihm ver­sag­te die Stim­me.

Der Mann mit dem Flachs­bart zö­ger­te. »Die Ge­schich­te ist nicht mei­ne star­ke Sei­te«, sag­te er lei­se und blick­te auf die an­de­ren.

»Ganz rich­tig, Sir«, sag­te der Jüng­ling. »Bos­cast­le im al­ten Her­zog­tum Corn­wall – es liegt im Süd­wes­ten, hin­ter den Milch­wei­den. Es steht noch heu­te ein Haus. Ich bin da­ge­we­sen.«

»Bos­cast­le!« Gra­ham wand­te sei­ne Au­gen auf den jun­gen Mann. »So hieß es – Bos­cast­le. Das klei­ne Bos­cast­le. Ir­gend­wo da her­um – bin ich ein­ge­schla­fen. Ich weiß nicht mehr ge­nau.«

Er drück­te sich die Stirn und flüs­ter­te: »Mehr als zwei­hun­dert Jah­re!«

Er be­gann rasch und mit zu­cken­dem Ge­sicht zu spre­chen, aber das Herz in ihm war kalt. »Aber wenn es zwei­hun­dert Jah­re her ist, so muss jede See­le, die ich ken­ne, je­des mensch­li­che We­sen, das ich je ge­se­hen oder ge­spro­chen habe, ehe ich ein­sch­lief, tot sein.«

Sie ant­wor­te­ten ihm nicht.

»Die Kö­ni­gin und die kö­nig­li­che Fa­mi­lie, ihre Mi­nis­ter, die Kir­che und der Staat. Hoch und nied­rig, reich und arm, ei­ner wie der an­de­re –«

»Exis­tiert Eng­land noch?«

»Das ist ein Trost! Und Lon­don?«

»Dies ist Lon­don, eh? Und Sie sind mein as­sis­tie­ren­den Auf­se­her; Auf­se­heras­sis­te­ten. Und die­se –? Eh? Auch Auf­se­heras­sis­te­ten?«

Er saß mit ent­setz­tem Star­ren da. »Aber warum bin ich hier? Nein! Re­den Sie nicht. Sein Sie still. Las­sen Sie mich –«

Er ver­stumm­te, rieb sich die Au­gen und fand, als er sie wie­der auf­schlug, dass man ihm wie­der ein klei­nes Glas voll ro­si­ger Flüs­sig­keit hin­hielt. Er nahm die Do­sis. Sie stärk­te fast un­mit­tel­bar. So­wie er sie ge­nom­men hat­te, be­gann er na­tür­lich und er­fri­schend zu wei­nen.

Dann blick­te er ih­nen ins Ge­sicht und lach­te plötz­lich durch sei­ne Trä­nen, ein we­nig tö­richt. »Aber zwei – hun – dert Jah­re!« sag­te er. Er schnitt hys­te­ri­sche Gri­mas­sen und ver­barg das Ge­sicht von neu­em.